Von Problemvierteln und Brennpunktschulen: Gegen bürgerliche Klischees!

von Jona Everdeen, März 2024

„Das ist aber eine ganz üble Gegend, in der du wohnst!“ oder „Von der Schule hört man auch nur Schlechtes!“ So wird immer wieder über bestimmte Stadtteile oder Schulen gesprochen. Und zwar nicht über die Parallelgesellschaften der Superreichen, sondern über die Viertel, in denen wir leben.

Doch woher kommt der Mythos vom „Brennpunkt“, über den es regelmäßig BILD-Schlagzeilen gibt? Und welche Rolle spielt die Stigmatisierung von Stadtteilen und ihren Bewohner:innen für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft?

„Ghetto“ als Stigma

Als Ghetto, Problemviertel oder Brennpunkt werden in der Regel Orte benannt, die unterdurchschnittliche Sozialindexwerte aufweisen, z.B. ein geringes Durchschnittsgehalt oder eine hohe Arbeitslosigkeit. Allerdings muss das Stigma nicht an reale Gegebenheiten gekoppelt sein, bzw. ist keine unmittelbare Folge davon. Es gibt Orte mit niedrigen Werten, die nicht als „Problemviertel“ bekannt sind, sowie unauffällige Viertel, die den Ruf eines „Brennpunkts“ haben.

Entscheidend dafür sind in erster Linie Medienberichte, von Dokumentationen bis Reality-TV, über eine vermeintlich hohe Kriminalität sowie andere „katastrophale Zustände“, wie Müll auf der Straße. Dabei werden Ursache und Wirkung vertauscht: Wenn im „Ghetto“ Müll auf der Straße liegt, während es im Reichenviertel sauber ist, dann liegt das in der Regel an der unterfinanzierten Stadtreinigung, die im Zweifelsfall die Viertel der Armen zuerst vernachlässigt.

Wenn an Schulen Mülltonnen umgetreten, Wände beschmiert und Scheiben eingeworfen werden, dann ist das auch keine jugendliche Willkür, sondern ein fehlgeleiteter Akt des Protests, gerichtet gegen die Orte, die sowieso schon dreckig und abgenutzt sind und für die keine bessere Zukunft vorstellbar scheint.

Häufig werden arme Stadtteile als „riskant“ oder „gefährlich“ dargestellt, weil es dort mehr Kriminalität geben soll. Doch diese Statistiken werden durch ungleich verteilte Polizeiüberwachung sowie auch Fahrkartenkontrollen verzerrt. In ärmeren Stadtteilen, in denen die Menschen dicht an dicht leben und kaum Rückzugsmöglichkeiten haben, ist Kriminalität einfacher zu entdecken. Doch auch in den reichen Stadtteilen wird mit Drogen gehandelt – nur dass die Bonzen sich dafür ins Private zurückziehen können, während arme Menschen dafür keinen anderen Ort haben als das Gebüsch im Park.

Auch hinter den Zäunen der Stadtvillen schlagen und vergewaltigen Männer ihre Frauen – nur dass bürgerliche Frauen eher als proletarische Frauen die finanziellen Mittel haben, um der Situation zu entfliehen. Und ganz generell findet im bürgerlichen Verständnis Kriminalität ja sowieso nur dort statt, wo im Supermarkt geklaut wird, und nicht dort, wo Steuerhinterziehung und Kunstraub auf der Tagesordnung stehen.

Die realen Gefahren der ärmeren Stadtteile werden in den Brennpunkt-Darstellungen hingegen einfach ignoriert, zum Beispiel, dass Kinder aus armen Familien sehr viel häufiger Opfer von Verkehrsunfällen werden, weil sie häufiger an großen Straßen mit viel Verkehr leben.

Doch wenn die Faktenlage so dürftig ist, warum schreiben dann Zeitungen wie die BILD andauernd über angebliche Problemviertel, und welchen Zweck verfolgen sie damit?

Sozialchauvinismus und Klassenspaltung

Stadtteile, die den Ruf haben, „Elendsviertel“ zu sein, gibt es schon, seit das Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital zum dominanten Widerspruch der Gesellschaft geworden ist. Bereits damals hatten diese Viertel und ihre Bewohner:innen einen üblen Ruf.

Bessergestellte Arbeiter:innen bildeten sich etwas darauf ein, nicht ganz so weit unten zu stehen. Lieber zahlten sie für ähnliche Lebensbedingungen mehr Miete, wenn es bedeutete, dort nicht leben zu müssen. Hier haben wir die ideologische Funktion des Geredes vom Brennpunkt: Es soll die Klasse spalten.

So wird die Grenze gezogen zwischen den „normalen“ Stadtteilen und den „Problemvierteln“, welche negativ aus der Norm herausstechen. Die bürgerliche Klasse versucht, den bessergestellten Teil des Proletariats auf ihre Seite zu ziehen, als Teil eines „Volkes“ oder eben der „Normalen“. So sollen sie dazu gebracht werden, ihre Faust nicht nach oben zu richten, wo ihre Unterdrücker:innen und Ausbeuter:innen in ihren Villen sitzen. Ihre Wut soll sich stattdessen gegen diejenigen richten, die in schimmligen Altbauten und sanierungsbedürftigen Platten noch etwas schlechter dastehen als sie selbst. Diese werden als „Asoziale“ stigmatisiert, die nicht dazu bereit oder in der Lage wären, sich in die Gesellschaft einzugliedern, sondern in einer nach bürgerlicher Moral verachtenswerten Parallelgesellschaft leben würden.

Die Wahrheit ist eine andere. Es ist die bürgerliche Klasse, die freiwillig und beabsichtigt in Parallelgesellschaften lebt, in Villenvierteln wie Blankenese oder Grunewald, abgetrennt von der gesellschaftlichen Mehrheit der Arbeiter:innen, Armen und Mittelständler:innen.

Gegen diese reichen Ausbeuter:innen gilt es, alle Arbeiter:innen und Armen, ganz gleich ob sie aus Charlottenburg, Pankow, Neukölln oder von sonst wo kommen, zu vereinen. Der zentrale Klassenwiderspruch zwischen Produktionsmittelbesitzenden und Lohnabhängigen muss aufgelöst werden, indem das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft und diese unter Kontrolle der Arbeiter:innen vergesellschaftet werden!

Standortbezogener Rassismus

Auch früher schon war das Stigma des „Elendsviertels“, das genutzt wurde um Arbeiter:innen in prekarisierte und bessergestellte zu spalten, mit Rassismus aufgeladen. Ein Beispiel dafür ist die Ansiedlung von jüdischen Geflüchteten, die in Lübeck kein Aufenthaltsrecht bekamen, in Moisling. Antisemitische Arbeitsverbote und Gewalt ließen die Gemeinde vor den Stadttoren der Hansestadt zu einem Zwangsghetto verarmen, das einen extrem schlechten Ruf hatte.

Heute wird gerade in der Debatte um Kriminalität das Klischee von kriminellen Ausländer*innen bedient, die sich in „Ghettos“ aktiv von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen und die „Integration“ verweigern würden.

Viel seltener wird darauf hingewiesen, dass gerade Geflüchtete häufig gar nicht arbeiten dürfen, und dass Jugendliche in der Perspektivlosigkeit versinken, weil sie aufgrund der andauernden kapitalistischen Krise wenig Aussichten darauf haben, ihre miesen Lebensbedingungen zu verbessern.

Es wird nicht davon gesprochen, dass die Mieten in den Städten so teuer sind, dass Menschen mit Migrationsgeschichte, die in mies bezahlte Jobs gedrängt werden, sich gar keine andere Wohnung leisten können als die in den heruntergekommenen und günstigeren Vierteln. Denn dann müsste man ja zugeben, dass Rassismus und das kapitalistische System, das ihn hervorgebracht hat, Schuld an den Missständen sind.

Deutschen Arbeiter:innen soll suggeriert werden, dass sie mehr mit ihrem deutschen Boss vereint, als mit ihrem türkischen Kollegen aus Wilhelmsburg. Die Klassenspaltung des Rassismus bekommt eine räumliche Komponente.

Bildungskrise: Sind die „Assis“ Schuld?

Auch das Gerede von „Brennpunktschulen“ reiht sich in die Stigmatisierung und Spaltung ein. Zusätzlich soll von der neoliberalen Sparpolitik abgelenkt werden, die zu Kürzungen in der Bildung sowie sämtlichen sozialen Bereichen führt. Diese werden demnächst wohl noch verstärkt werden, denn während die Doktrin der „Schwarzen Null“ weiter Bestand hat, wird eine Menge zusätzliches Geld für die Aufrüstung der Bundeswehr „benötigt“.

Aber warum sollte man sich ernsthaft Gedanken machen, wie man die Bildungskrise mit Investitionen in Lehrmaterial und Mensaessen bekämpfen kann, wenn man die Schuld auch einfach den Jugendlichen geben kann?

In Springerblättern liest man durchgehend, dass die Jugendlichen aus den „Assivierteln“ sich einfach nicht benehmen können. Mobbing unter Schüler:innen wird als Naturzustand dargestellt, nicht als Folge von Konkurrenz- und Leistungsdruck, Zukunftsangst und verinnerlichter Unterdrückung.

Wenn das mit einer rassistischen Komponente gepaart wird, kann man leicht dem Glauben verfallen, dass das Problem nicht Lehrkräftemangel und marode Gebäude wären, sondern respektlose und faule Jugendliche, die sich nicht bilden wollen. Daraus wird der Schluss gezogen, dass es einfach mehr Disziplinierung und Drill bräuchte, um den „Ghettokids“ Manieren beizubringen.

Anstatt materielle Armut beim Namen zu nennen, wird immer weiter von „bildungsfernen“ oder „sozial schwachen“ Milieus gesprochen. Es wird als Tatsache dargestellt, dass als „Ghettoschulen“ gebrandmarkte Bildungseinrichtungen dreckig sind, weil das eben dem „asozialen“ Charakter der Schüler:innen entspräche – irgendetwas an den Lernbedingungen in Billstedt verbessern zu wollen, wäre also völlig sinnlos.

Der Begriff „asozial“ ist dabei kein lustiges Klischee, sondern steht eng in Verbindung mit dem Hitlerfaschismus und der sogenannten „Aktion Arbeitsscheu Reich“, bei der 20.000 Menschen, darunter z.B. Süchtige, Bettler*innen und Prostituierte unter dem „Schwarzen Winkel“ in Konzentrationslager deportiert wurden. Die Vorstellung, dass das Elend einiger Menschen „genetisch programmiert“ wäre, ist keine neue, dafür aber eine sehr gefährliche.

Für solidarische und selbstorganisierte Stadtteile!

So wie die Arbeiter:innen, die sich gemeinsam gegen ihre Bosse organisieren müssen, müssen auch wir zusammenstehen, gegen den Versuch der bürgerlichen Propaganda, uns bereits in der Jugend zu spalten. Wir müssen als Jugendliche vereint stehen und die Hetze gegen bestimmte Schulen und ihre Schüler:innen energisch zurückweisen. Stattdessen müssen wir uns schul- und stadtteilübergreifend organisieren. Wir müssen für gerechte Bildung für alle kämpfen, anstelle von Investitionen in die Kriegstüchtigkeit der imperialistischen BRD. Für die Kontrolle der Schüler:innen und Lehrer:innen über die Lehrpläne!

Um dafür zu sorgen, dass es keine benachteiligten Stadtteile mehr gibt und dass wir als Arbeiter:innen und Jugendliche gut in unseren Vierteln leben können, ist es nötig, dass wir die Infrastruktur unter unsere Kontrolle bringen. Wir müssen die Immobilienhaie und Großkonzerne enteignen und unsere Wohnungen unter Kontrolle von Mieter:innenkomitees stellen. Es ist nötig, dass städtischen Dienstleistungen, wie Stadtreinigung, ÖPNV, Verwaltung etc. unter die Kontrolle der Beschäftigten gestellt werden, damit wir uns auch für abgelegene und isolierte Stadtteile eine zuverlässige Anbindung an U- und S-Bahn erkämpfen können.

Des Weiteren sollten wir auch Stadtteilkomitees einberufen, die selbst demokratisch entscheiden und planen, wie ihr Viertel aussehen soll. Teil dieser Komitees sollten auch Ausschüsse gesellschaftlich Unterdrückter sein, z.B. Queers und Migrant:innen, die ihre Bedürfnisse und Interessen einbringen können, um die Reproduktion bürgerlicher Unterdrückungsverhältnisse zu verhindern.

Lassen wir uns nicht spalten – Kämpfen wir dafür, dass unsere Viertel und Städte uns gehören!