Heteronormativität als Ursache queerer Unterdrückung?

von Sani Maier, März 2024, aus der revolutionären Frauenzeitung FIGHT! Nr. 12

Gesellschaftliche Konventionen

Egal ob in Kinderbüchern, Märchen, Videospielen, der Werbung oder unseren Lieblingsfilmen: Seit jeher strahlen uns dort glücklich verliebte Pärchen entgegen und präsentieren uns die traumhafte Partner:innenschaft, nach der viele dann ihr ganzes Leben lang suchen. In unserer Gesellschaft scheinen erst die Beziehung, dann die Ehe, Kind(er) und ein gemeinsam geführtes Leben, am besten im Eigenheim, besondere Ziele zu sein. Wer kennt nicht die ewigen Fragereien der Familie danach, wann man denn endlich mal den/die Partner:in mitbringe und für Frauen ab Mitte Zwanzig gibt es die übergriffige Frage nach der Kinderplanung gleich gratis dazu. Dabei ist es jedoch alles andere als egal, wie besagte Partner:innenschaft oder Familie konkret aussiehen, sondern streng vorgegeben: Das „ideale“ Paar besteht auch heute noch aus einem Mann und einer Frau: Adam und Eva, Romeo und Julia, Dornröschen und der Prinz, Bonnie und Clyde … etc. Dabei ist sowohl das gegenteilige Geschlecht beider Partner:innen wichtig, setzt also eine klar abgrenzbare Vorstellung von zwei Geschlechtern voraus, aber auch die Tatsache, dass die Beziehung aus genau zwei Personen besteht. Offene Beziehungen oder Polygamie werden nach wie vor kritisch beäugt und in der Ehe schonmal gar nicht berücksichtigt (bis auf bestimmte religiöse und kulturelle Ausnahmen, bei denen aber meistens nur männliche Polygamie erlaubt ist). Unsere Kultur und Bildung, aber auch juristische und institutionelle Strukturen sind also durchzogen von dieser spezifischen Liebes- und Sexualitätsvorstellung und prägen uns von klein auf, ohne dass wir uns dessen überhaupt bewusst sind. Es ist irgendwie einfach „normal“. Der Fachbegriff für dieses Phänomen heißt Heteronormativität. Unsere Entwicklung und unser Selbstverständnis werden also darauf gelenkt, heterosexuelle Partner:innenschaften als normal, natürlich und erstrebenswert anzusehen – sie sind die Norm. Homo- und Bisexualität sowie transgender und Intergeschlechtlichkeit werden als Abweichungen davon je nach gesellschaftlichem Kontext diskriminiert bis gewaltsam unterdrückt. Gleichgeschlechtliche Liebe wird in vielen Staaten kriminalisiert und intergeschlechtliche Säuglinge werden chirugisch an „eindeutig“ binäre Standards angepasst, obwohl keinerlei medizinische Notwendigkeit besteht. Dabei herrscht sowohl in Bezug auf Geschlechter als auch sexuelle/romantische Orientierungen die Annahme, beides sei von Geburt an festgeschrieben und könne sich nicht immer wieder wandeln. Heteronormative Identitäten und Beziehungen stehen in der Hierarchie ganz oben und werden durch verschiedene Privilegien gefördert (z. B. Steuererleichterungen wie Ehegattensplitting oder umfassende und vergleichsweise unkomplizierte Adoptionsrechte). Viele Frauen haben diese Vorstellungen so sehr internalisiert, dass es sich für sie oft so anfühlt, als könnten sie nur in einer Beziehung mit einem Mann wirklich glücklich sein, und suchen deshalb konstant nach männlicher Anerkennung und Bestätigung. Der Begriff Heteronormativität wird dabei oft dem Aufkommen der Queer Studies zugeschrieben, existiert aber bereits seit mehreren Jahrzehnten und wird von unterschiedlichen politischen und philosophischen Theorien mit variierenden Schwerpunkten benutzt. Spätestens seit die Beliebtheit postmoderner Theorien zugenommen hat und das Interesse an Philosophen wie Michel Foucault und der Queer Theory gestiegen ist, kam es zu einer stärkeren Hinwendung zu diskursbezogenen Konzepten von Heteronormativität. Der Diskurs bezeichnet hierbei die gesellschaftliche Produktion von Bedeutungen und „Wahrheiten“, aus denen sich konkrete Machtverhältnisse ergeben wie unter anderem die Heteronormativität. Bis heute liefern die postmoderne oder auch poststrukturalistische Theorie die dominante Erklärung für den Druck, in heteronormativen Verhältnissen zu leben. Während diese Verwendung von Heteronormativität viele Symptome des Phänomens durchaus treffend darstellt, liegen ihr einige problematische Annahmen zugrunde, welche im Folgenden erklärt werden.

Schwächen postmoderner Erklärungsansätze

Grundsätzlich liegt das Problem dieser Ansätze darin, dass der Diskurs Machtverhältnisse erzeuge und in diesem, also in Strukturen des Wissens, die Ursache von Unterdrückung ausgemacht wird. Während wir durchaus zustimmen, dass sich heteronormative Standards und Kriterien durch (unter anderem) unser Bildungs- und Gesundheitssystem ziehen und diese immer weiter verankert werden, so fehlt dieser Feststellung die Erklärung, wie es eigentlich dazu kommen konnte. Gesellschaftliche Institutionen wurden von Menschen erschaffen und werden von diesen fortgeführt. Welche Überzeugungen und Ziele sie dabei mit einfließen lassen, ist nicht willkürlich, sondern abhängig von ihren Umständen und dem Kontext, unter denen sie leben. In den Worten von Marx: „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Wie wir leben, welche Probleme wir haben und wie wir glauben, diese lösen zu können, spielt also eine Rolle in unseren Interessen und Entscheidungen. Betrachtet man die Gesellschaft aus einer materialistischen Perspektive, fokussiert man sich zuerst auf die Produktionsverhältnisse, da die Art und Weise, wie wir arbeiten, in jeder Phase der menschlichen Entwicklung von entscheidender Bedeutung war und das Zusammenleben bis heute maßgeblich strukturiert. Der Kapitalismus zeichnet sich durch die Tatsache aus, dass wenige Menschen Produktionsmittel besitzen und die Mehrheit ihre Arbeitskraft an diese verkaufen muss, um zu überleben. Kapitalist:innen kaufen diese, bezahlen den Arbeiter:innen aber nicht das volle Äquivalent ihrer geleisteten Arbeit und eignen sich die Differenz selbst an, was die Quelle ihres Profits darstellt. Der Lohn, den sie zahlen, muss allerdings ausreichen, damit die Arbeiter:innen all das kaufen können, was nötig ist, um weiterhin arbeiten zu können: Miete, Essen, Strom, Fahrkarten etc. Wofür sie allerdings nicht zahlen, ist die Arbeit, die privat in den Haushalten geleistet wird: sogenannte Hausarbeit. Kochen, Putzen, Kinder erziehen und versorgen, Sorgearbeit, Kranken- und Altenpflege, Wäsche waschen und vieles mehr zählt zu diesen unbezahlten Arbeiten und ist für die Kapitalist:innen weitestgehend gratis. Den Grund dafür bildet die geschlechtliche Arbeitsteilung, durch welche Frauen über Jahrhunderte hinweg rechtlich und ideologisch in die private häusliche Sphäre verdrängt und zu unentlohnten Hausarbeiterinnen erzogen wurden. Sie sorgen dafür, dass sich die Arbeitskraft ihrer Partner reproduziertund ihre Kinder sichern den Nachschub an Arbeitskräften. All das, was hierfür nicht gezahlt werden muss, vergrößert den Profit der Kapitalist:nnen und macht sie zu Profiteur:innen dieses Systems. So wie es hier beschrieben wurde, würden sich wohl die wenigsten Frauen freiwillig in diese Rolle fügen wollen. Finanzielle Abhängigkeit und die moderne Doppelbelastung aus Haus- und Lohnarbeit sind nur einige der gravierenden Konsequenzen dieser Form der Arbeitsteilung. Es gab also die Notwendigkeit, diese ideologisch aufzuwerten und somit wurde das Konzept der bürgerlichen Kleinfamilie mit klarer geschlechtlicher Rollenverteilung idealisiert, romantisiert und als natürlich verkauft. Gleiches gilt für die Ehe: Was ursprünglich zur Sicherstellung von Monogamie und Vererbung durch eindeutige Abstammungslinien eingeführt wurde, gilt heute als romantischster Tag im Leben eines Paares. Die Kapitalist:innen haben es also erfolgreich geschafft, durch Gesetze, Kultur und Religion, ihre Profitinteressen als „natürliche“ Tatsachen zu etablieren. Es lässt sich nun also auch erklären, warum die Unterdrückung von allen nicht-heterosexuellen, nicht-cis und -monogam lebenden Menschen eine notwendige Konsequenz der kapitalistischen Produktionsweise und ihr vorausgehender Klassengesellschaften ist: All diese Lebensformen und Identitäten passen nicht ins Schema der bürgerlichen Kleinfamilie (Vater, Mutter, Kind) und stellen deren vermeintlich natürlichen Charakter in Frage. Um ihre Profite weiterhin maximieren zu können, werden sich Kapitalist:innen niemals ernsthaft für die Interessen queerer Menschen einsetzen können. Heteronormativität ist also ein Symptom der Klassenverhältnisse und beschreibt die Gesamtheit der Rollenzuschreibungen, die benötigt werden, um den Kapitalismus am Laufen zu halten. Diskurse, Wissensstrukturen, Gesetze und kulturelle Erzeugnisse machen Mittel zum Zweck der Durchsetzung patriarchaler Verhältnisse aus und bilden nicht deren Ursache. Eine Politik, die sich lediglich auf diese Mittel fokussiert, wird nicht in der Lage sein, die Wurzeln des Problems zu lösen, und ewige Symptombekämpfung betreiben. Der Kampf gegen Heteronormativität muss also ein antikapitalistischer sein und das Patriarchat in seinen Grundfesten, also dem Privateigentum an Produktionsmitteln, angreifen. Die private Kontrolle der Produktion muss gemeinschaftlich und demokratisch von den Arbeiter:innen übernommen werden. Nur dann wird es möglich sein, Hausarbeit kollektiv und gemeinschaftlich zu bewältigen und geschlechtliche Arbeitsteilung und damit zusammenhängende Geschlechterrollen zu überwinden.




Berliner Polizei löst Palästinakongress auf – Meinungsfreiheit wird zur Farce

von Martin Suchanek, zuerst erschienen in der Infomail 1251 der Gruppe Arbeiter:innenmacht, April 2024

Einschränkungen demokratischer Rechte gehören mittlerweile zum Normalzustand der „Demokratie“. Die von Merkel und Scholz zur Staatsräson erklärte „bedingungslose Solidarität“ mit Israel verträgt sich offenkundig schlecht mit der Meinungsfreiheit.

Diese kam am 12. April unter die Räder wie selten zuvor in Berlin, einer Stadt, die durchaus auf eine lange Geschichte polizeilicher Gewalt und Willkür zurückblicken kann.

Doch während sich Repression „normalerweise“ auf Demonstrationen, Besetzungen, Blockaden, Akte zivilen Ungehorsams oder das Aufbegehren prekär Beschäftigter konzentriert, galt der Anschlag auf die Meinungsfreiheit diesmal einer Saalveranstaltung, einer demokratisch organisierten Konferenz, dem Palästinakongress.

Staatsräson

Dieser richtet sich nämlich direkt gegen die zur Staatsräson er- und verklärte Solidarität mit Israel, auch wenn dieser Staat gerade rund 40.000 Menschen durch Bombardements und Bodentruppen getötet hat, weit über eine Million Menschen in Gaza vertrieben wurden und akut Hunderttausende vom Hunger bedroht sind. Mit tödlichem Ernst halten die deutsche Regierung wie die bürgerliche Opposition und die faktisch gleichgeschalteten Medien an der Fiktion fest, dass Israel keinen genozidalen Angriffskrieg führe, sondern sein „Recht auf Selbstverteidigung“ ausübe. Und damit nicht genug, Deutschland unterstützt den Krieg nicht nur politisch, diplomatisch, sondern auch militärisch. Allein im Jahr 2023 haben sich die Rüstungsexporte verzehnfacht.

Dieser Krieg wird folgerichtig auch im Inneren weitergeführt. Damit soll einerseits die Schuld des deutschen Imperialismus am Holocaust ideologisch entsorgt werden, andererseits verfolgt der deutsche Staat damit handfeste ökonomische und vor allem geostrategische Interessen.

So gerät schon die Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit zur quasi kriminellen Betätigung. Seit Wochen wird in den Medien, von reaktionären wie „demokratischen“ Stimmungsmacher:innen, nach dem Verbot der Veranstaltung gerufen. Nachdem das rechtlich nicht ging, wurde tagelang gefordert und gedroht, was am 12. April von der Polizei durchgezogen wurde. Berlins rechtskonservativer Bürgermeister Wegner hatte schon lange ein „rigoroses Einschreiten“ beim „kleinsten Verdacht“ gesetzwidriger Aussagen angekündet. Im Klartext heißt das nichts anderes als die angedrohte Kriminalisierung jeder offenen Kritik am Staat Israel und seiner rassistischen Grundlagen, jeder Solidarisierung mit Palästina, jedes Antizionismus und jedes Eintretens für die demokratischen Rechte des palästinensischen Volkes, insbesondere dessen auf nationale Selbstbestimmung.

Provokation

Daher begann der Tag schon mit abstrusen und absurden Schikanen. Die Brandschutzverordnung und das Bauamt wurden bemüht, um einen Vorwand zu finden, nur 250 Personen in die für 600 Menschen ausgelegten Räumlichkeiten zu lassen. Hunderte Menschen konnten daher an der Veranstaltung erst gar nicht teilnehmen. Zudem zog die Polizei den gesamten Prozess des Einlassens der Teilnehmer:innen über Stunden hin. Während hunderten Menschen mit Eintrittskarten der Zutritt von der Obrigkeit verwehrt wurde, schleuste die Polizei – unter frecher Missachtung des Hausrechtes der Veranstalter:innen – prozionistische, hetzerische Journalist:innen von Welt und Co. ein. Darüber hinaus machten die Cops die massive Präsenz uniformierter und aller möglichen Polizist:innen in Zivil zur Bedingung, dass die Veranstaltung überhaupt beginnen konnte.

Trotz all dieser Schikanen, Provokationen und polizeistaatlicher Mittel, von denen Putin und Erdogan, Netanjahu und Biden, aber auch Meloni und Macron noch einiges lernen könnten, begann der Kongress.

Rede von Habh Jamal

In einer ergreifenden Rede entlarvte Hebh Jamal die Lügen, aber auch die Kooperation der Unterdrücker:innen weltweit, eine Kooperation, die keine Verschwörung ist, sondern die das gemeinsame Interesse der herrschenden Klassen an einer imperialistischen Ordnung deutlich macht, die auf Ausbeutung und Unterdrückung basiert. Vor allem machte sie deutlich, dass eine Konferenz, die die Verbrechen der Nakba, die Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser:innen verdeutlicht und die Komplizenschaft des deutschen Imperialismus hervorhebt, auch einen Akt des Widerstandes darstellt.

Denn in der Anklage gegen diese Politik, die die Konferenz schon im Vorfeld erhob, liegt notwendig und untrennbar ein Durchbrechen des Schweigens, ein Moment der Solidarisierung, die zur Aktion, zum Handeln drängt, zur Vertiefung und besseren Koordinierung unserer Bewegung.

Das wollen die deutsche Regierung sowie das gesamte politische Establishment, ob nun Ampelkoalition oder Unionsparteien, ja selbst die AfD und Teile der Linkspartei verhindern. Die Berliner Polizei rückte mit gut 900 Einsatzkräften an, um diesen politischen Auftrag umzusetzen. Und sie tat es.

That’s what imperialist „democracy“ looks like

Die Videobotschaft von Salman Abu Sitta, über den der deutsche Staat wegen seines Engagements ein Einreiseverbot verhängt hatte, wurde schon nach wenigen Minuten und ohne ersichtlichen Grund von der Polizei gestoppt. Dafür wurden schließlich gegenüber der Anwältin der Veranstalter:innen mehrere, einander widersprechende, selbst nach bürgerlichem Recht überaus fragwürdige Gründe geliefert. So erklärte die Polizei einmal, dass die Rede Passagen enthalten könnte, die volksverhetzerisch sein könnten. Dies würde geprüft werden. Frei nach dem Motto „Viel hilft viel“ hieß es später, dass Salman Abu Sitta ein politisches Betätigungsverbot in Deutschland habe. Seit wann und woher, wussten die Polizeikräfte ebenso wenig zu erklären wie die Frage, ob das Abspielen einer Videobotschaft überhaupt darunter falle. Doch wer braucht schon Gründe, wenn er das Gewaltmonopol auf seiner Seite hat? Und um gleich alle Unklarheiten aus der Welt zu schaffen, dass hier das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit mit Füßen getreten wird, wurde der Kongress auch gleich für Samstag und Sonntag samt sämtlicher Nachfolgeveranstaltungen verboten.

Die Polizei konnte den Kongress sprengen und auflösen. Doch sie wird uns weder zum Schweigen bringen noch wird sie ihr Ziel erreichen, unsere Bewegung, die wächst und stärker wird, zu zerstören.

Im Gegenteil. Die willkürliche Auflösung des Kongresses und der Anschlag auf die Meinungsfreiheit offenbaren nicht nur den repressiven Charakter der Polizei. Sie verdeutlichen auch den antidemokratischen Charakter der deutschen Regierungspolitik. Und sie zeigen die enge Verbindung von imperialistische Politik und der monopolisierten öffentlichen Meinung. Denn neben der Repression stehen wir auch einer orchestrierten Hetze und Verleumdung samt einer massiven Welle antipalästinensischen, antimuslimischen und antiarabischen Rassismus’ entgegen.

Dass die deutschen Medien auch gegen Genoss:innen der Gruppe Arbeiter:innenmacht und von REVOLUTION hetzen, zeigt unserer Meinung nach nur, dass wir etwas richtig gemacht haben. Wir wollen aber nicht vergessen, dass das deutsche Establishment in den letzten Wochen auch seine antisemitische Seite zeigt, wenn sie antizionistische Juden und Jüdinnen, vor allem die Genoss:innen der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“, öffentlich diffamiert und die Berliner Sparkasse ihr Vereinkonto sperrt. Vor allem aber dürfen wir nicht vergessen, dass es vor allem unsere palästinensischen Genoss:innen sind, die auf das Brutalste angegriffen, deren Vereine und Organisationen bedroht und kriminalisiert werden und über denen das Damoklesschwert der Abschiebung hängt, während zugleich ihre Freund:innen und Angehörigen sterben oder vertrieben werden.

Heute, am 12. April 2024, haben die Wegners und Giffeys, die Scholz’ und Baerbocks unseren Kongress auflösen können. Sie verfügen über die Machtmittel, dies zu tun. Doch sie mögen sich ihres „Erfolges“, ihres „Sieges“ über unsere demokratischen Rechte nicht zu sicher sein – und gewiss werden sie sich nicht zu lange darüber erfreuen. Auch wenn sie vermochten, unseren Kongress aufzulösen, so wurde er – und dies ist ein Stück Ironie der Geschichte – weltweit bekannter. Vor allem hat die Repression weit mehr Menschen den  reaktionären, antidemokratischen Charakter des deutschen Kapitalismus vor Augen geführt, als es unsere Reden, Beiträge, Diskussionen, Beschlüsse allein vermocht hätten. Gerade der deutsche Imperialismus hat sich über Jahrzehnte das Image aufgebaut, vergleichsweise „demokratisch“ und „wertebasiert“ zu sein. Diese selbstgefällige Lüge entlarvt er gerade selbst.

Wir werden dafür sorgen, dass sie ihm im Halse steckenbleibt. Sie können einen Kongress verbieten, unseren Widerstand, Kampfeswillen, unsere Entschlossenheit werden sie nicht brechen. Denn wir kämpfen im Gegensatz zu ihnen für eine gerechte Sache, für Freiheit und Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes, für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung.




Die Geschichte der Kufiya – Modeaccessoir und Widerstandssymbol

Von Bailey Zirvena, Februar 2024

Die Kufiya, auch Palästinensertuch genannt, existiert im arabisch-sprachigen Kulturraum in verschiedenen Farben, unterschiedlichen Mustern und kann sowohl als Kopftuch als auch als Schal getragen werden. Ihre Geschichte reicht weit zurück. Ihren Namen erhält sie von der Irakischen Stadt Kufa.

Die palästinensische Kufiya oder كوفية Keffiyah ist leicht wieder zu erkennen: Meistens in schwarz und weiß gehalten, das Netzmuster, das für Fischerei und dadurch für die Verbindung zum Mittelmehr steht, die gebogenen Olivenblätter, die an die lange Geschichte der palästinensischen Olivenbäume erinnern und die breiten Streifen am Rand, die die historischen Handelsrouten repräsentieren.

Als Kopftuch schützte sie vor der Sonne, doch in den 30er Jahren schützte sie ebenfalls die Identität ihrer Träger:innen. Im Arabischen Aufstand ab 1936 gegen die Kolonialmacht Großbritannien verhüllten Freiheitskämper:innen mit der Kufiya ihre Gesichter. So ist sie ein etabliertes Symbol für Wiederstand und Selbstbestimmung.

Mit der Gründung Israels 1948 und den folgenden Widerstandsbewegungen wurde die Kufiya vor allem in den 70er Jahren durch den Vorsitzenden der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) Jassir Arafat bekannt, der selten ohne Kufiya zu sehen war.

Seit den 68ern hat sich die Bedeutung der Kufiya als Palituch, als Zeichen der Solidarität mit dem palästinensischen Freiheitskampf und dem Kampf gegen Imperialismus in Deutschland etabliert.

In den 2010ern führte die Beliebtheit dazu, dass die westliche Modeindustrie versuchte das inzwischen hoch politische Muster der Kufiya zu kommerzialisieren, wodurch die Kufiya zu einem Trend-Gegenstand wurde. Statt damit die Aufmerksamkeit auf die Unterdrückung der Palästinenser:innen zu lenken, wurde die Kufiya auf einmal völlig von ihrer Bedeutung und Geschichte gelöst und zu einem stumpfen Mittel der Ausbeutung arabischer und palästinensischer Kultur. Heute würde man das einen klassischen Fall kultureller Aneignung nennen. Westliche Konzerne aus Ländern, die die israelische Besatzung unterstützen, nehmen sich die Widerstandssymbole der Unterdrückten, verdrängen deren Bedeutung und machen damit am Ende Profit. Doch die wahre Bedeutung der Kufiya überstand auch diese Phase.

Heute richtet sich der Genozid in Palästina nicht nur gegen die Palästinensische Bevölkerung, sondern auch gegen ihre Kultur, Traditionen und die Spuren ihrer Existenz. Nichts ist sicher: Moscheen, Kirchen, Archive, Olivenbäume… und auch die traditionelle Herstellungsweise der Kufiya. Es gibt kaum noch traditionell hochwertig produzierte Kufiyas, im Westjordanland gibt es nur noch eine einzige Fabrik.

Währenddessen riskieren junge Menschen in den USA sogar ihre Gesundheit durch öffentliches Tragen der Kufiya, wo in Vermont drei palästinensisch-amerikanische Studenten, die ihre Kufiya trugen, auf offener Straße angeschossen wurden. Die Rhetorik, die durch die Medien besonders seit dem 7. Oktober verbreitet wird, entmenschlicht Palästinenser:innen und stellt sie als terroristisch dar. Solche Mittel führen in einer Gesellschaft, in der arabisch-sprechende Menschen oder Muslim:innen schon lange angefeindet werden dazu, dass der Hass in Taten umschlägt.

An Berliner Schulen darf das Tragen einer Kufiya seit dem 16.10.23 verboten werden. Dieses Verbot stellt ein weiteres Mittel in dem Versuch, alle Symbole des Anti-Zionistischen Kampfes zu tabuisieren oder sogar zu kriminalisieren, dar. Viele mutige Schüler:innen haben sich von diesem Verbot nicht abhalten lassen ihre Solidarität offen zu zeigen. Sie trotzen damit dem Versuch der Schulen, die Thematik zu ignorieren oder einseitig zu behandeln. Durch das offene Tragen des Palituchs lässt sich die Gewalt, die in Palästina geschieht nicht so einfach im Alltag verdrängen.

Da die Schule ein politischer Raum ist und gleichzeitig der Ort an dem sich Jugendliche am meisten aufhalten, müssen wir auch dort die Möglichkeit haben politische Symbole zu tragen und sich politisch auszudrücken. Deutschland versucht durch Einschränkungen des Versammlungsrechts, der Meinungsfreiheit und auch durch das Verbot palästinensischer Freiheitssymbole der Welle an Solidarität in Deutschland Reichweite zu rauben und es damit so schnell wie möglich hinter anderen Themen verschwinden zu lassen. Doch man kann unseren Kampf nicht weg verbieten oder verstecken. Wir bleiben laut und wir bleiben sichtbar.

Die Kufiya muss sowohl ein Symbol für die palästinensische Kultur und Geschichte als auch für die Befreiung der palästinensischen Bevölkerung bleiben. Ihre Verbot stellt einen rassistischen Angriff auf ihre Träger:innen dar, ebenso wie das kategorische Abstempeln jeglicher Palästina-Solidarität als Antisemitismus. Um an unseren Schulen dagegen vorgehen zu können, brauchen wir unabhängige Antidiskriminierungsstellen, die unsere Kämpfe und Erfahrungen ernst nehmen und für unsere Rechte einstehen.




Erste Hilfe bei Antisemitismusvorwurf

Von Felix Ruga, März 2023

„Du weißt schon, dass das gerade ziemlich antisemitisch von dir war?“

Eine Antwort, die fast alle antiimperialistisch eingestellten Linken irgendwann schon mal ertragen mussten, während sie mit Freund:innen, in der Familie oder der Schule mit irgendwem diskutiert haben, praktisch immer im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Und da muss man erstmal schlucken: Antisemitismus ist einer der heftigsten Vorwürfe, die man in politischen Debatten überhaupt bekommen kann. Sofort blitzen Bilder von schäumenden Wutreden, Videos und Tweets gegen jüdische Weltverschwörungen, marschierenden Nazis oder gar Vernichtungslagern auf. Für einen selbst ist es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass man Antisemitismus nicht im Entferntesten gutheißen kann oder damit irgendwas zu tun haben will, es viel mehr in der antifaschistischen Praxis aktiv bekämpft. Trotzdem steht man jetzt da und muss sich auf einmal gegen so einen Vorwurf rechtfertigen. Ärger, Frust, Angst steigen auf und, vor allem wenn man damit nicht gerechnet hat, kann man eigentlich gar nicht so recht glauben, was gerade passiert ist. Wie sollte man also damit umgehen?

Zunächst auf jeden Fall erstmal durchatmen und sich nicht direkt einschüchtern lassen. Es hilft, sich ins Bewusstsein zu rufen, dass gerade die Heftigkeit des Antisemitismusvorwurfs der Hintergrund ist, warum er politisch missbraucht wird, beziehungsweise mittlerweile so definiert ist, dass man ihn leichtfertig missbrauchen kann. Man sollte dabei auf einer fortschrittlichen Definition beharren: Antisemitismus bedeutet Rassismus gegen Jüd:innen, also Diskriminierung, Unsichtbarmachung, Entrechtung, physische und verbale Angriffe und so weiter. Speziell am Antisemitismus ist die herbeikonstruierte „jüdische Verschwörung“, mit der angeblich die Gesellschaft zersetzt werden würde. Mehr könnt ihr dazu in unserem Artikel „Wie können wir Antisemitismus beenden?“ lesen. Es gibt aber auch eine gegenläufige Definition, und zwar die sogenannte IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus, die sich vor allem in westlichen Staaten verbreitet. Hierbei werden bestimmte Aussagen oder Formen von Kritik gegenüber Israel als antisemitisch festgehalten. Hierbei floss auch der sogenannte 3D-Test ein: Antisemitismus sei es dann, wenn man Israel dämonisiert, delegitimiert oder Doppelstandards anlegt.

Das Problem hierbei: Diese Aussagen können zwar auch aus antisemitischen Beweggründen getroffen werden, aber insgesamt ist die ganze Definition so schwammig, dass sie auch gegen absolut legitime Kritik oder einer Solidarisierung mit dem palästinensischen Widerstand verwendet werden. Diese Antisemitismus-Definition ist eine extrem wichtige Waffe für reaktionäre Kräfte in der ideologischen Auseinandersetzung rund um den Nahostkonflikt, weil der Antisemitismusvorwurf so heftige Reaktionen hervorruft oder der bürgerliche Staat damit seine Angriffe auf demokratische Rechte oder die militärische Unterstützung Israels verteidigen kann. Die IHRA-Arbeitsdefinition ist also abzulehnen.

Deswegen sollte man, wenn ein Vorwurf dieser Definition folgt, dies erstmal zurückweisen und klarmachen, dass das so erstmal eine Unterstellung ist und es argumentativ abwehren, indem man bei der Sache bleibt. Aber natürlich ist auch klar: Antisemitische Vorurteile gehören ähnlich wie andere Formen des Rassismus‘ zur bürgerlichen Ideologie. Niemand kann in dieser Gesellschaft aufwachsen, ohne zumindest Bruchstücke rassistischen, sexistischen oder sonst wie diskriminierenden Denkens verinnerlicht zu haben. Das ist keine Entschuldigung, sich nicht zu reflektieren, sondern gerade der Ansatz dazu. Deswegen sollte man mit sich und zusammen mit den Genossis Reflexionsräume über die eigenen diskriminierenden Anteile ermöglichen, auch wenn man sich dafür erstmal schämt. Aber, wie bereits gesagt, ist in aller Regel der Antisemitismusvorwurf aufgrund von Palästinasolidarität tatsächlich eine bloße Unterstellung und wird nicht selten leichtfertig rausgehauen. Hier kann es helfen, direkt einige gute Antworten parat zu haben, die ich jetzt anhand von 3 beispielhaften Zitaten durchgehen würde.

„Kufiyas wurden auch von Attentätern getragen, dann solidarisiert man sich mit Antisemiten.“

Kufiyas sind sehr weit verbreitet im arabischen Raum und stehen seit dem Nahostkonflikt zumeist für die Solidarisierung mit dem palästinensischen Befreiungskampf. Wir haben hier auch einen eigenen Artikel zu der Geschichte der Kufiya geschrieben. Diese Argumentation, man würde sich mit irgendwem gemein machen, weil man bestimmte Symbolik verwendet, lässt sich auf alles Mögliche übertragen: Die Palästinafahne, bestimmte Parolen, Früchte, teilweise schon überhaupt die Forderung nach einem freien Palästina. Manchmal wird das verbunden mit der Aufforderung, wenn dann doch bitte eigene Symbolik des palästinensischen Widerstands zu verwenden, die nur von linken Kräften verwendet wird. Das ist letztendlich aber ein Versuch, Spaltungslinien innerhalb des Widerstands aufzumachen und folgt einer Logik von Kollektivschuld. Es ist gerade eine Stärke der Solidaritätsbewegung, dass sie bekannte Symbole und Parolen hat. Aufgabe muss es sein, diese mit fortschrittlichem Inhalt zu füllen. Und unsere Solidarität zu zeigen, indem wir sie verbreiten. Alles andere isoliert uns nur. Hat das Gegenüber ein Verständnis für soziale Bewegung, müsste dies einleuchten. Ansonsten müsste man eher darüber gehen, wie auch Symbole unliebsamer Bewegungen medial geframet werden und dass Kollektivschuld in diesem Kontext Unsinn ist.

„Vor 2000 Jahren wurden die Juden dort vertrieben und wenn du ihnen die Rückkehr nicht zugestehst, dann hast du offensichtlich was gegen sie!“

Es kann zwar ganz interessant sein, über die Geschichte der Region zu sprechen und was auch davor und danach dort passiert ist und was die Geschichte des europäischen und arabischen Judentums angeht. Aber es kann gut sein, dass die andere Person einen damit aufs Glatteis führt im Sinne von: „Wenn du die Völkerwanderung der letzten 3000 Jahre nicht nachzeichnen kannst, solltest du besser nichts zum Nahostkonflikt sagen.“ Davon sollte man sich nicht einschüchtern lassen. Klar, irgendwo beginnt die Geschichte und man kann immer weiter zurückgehen und lernt dadurch immer mehr über den Konflikt. Aber zum einen sollte Unerfahrenheit nicht zum Ausschluss aus Debatten führen, zum anderen ist der Konflikt heute sehr präsent und man kann und muss dementsprechend auch im Hier und Jetzt Lösungen finden, diskutieren und erkämpfen. Dementsprechend kann man nicht ein irgendwie historisch konstruiertes Recht hernehmen, um die Vertreibung durch Siedler:innen oder die Besatzung Palästinas und damit sehr reales Leid zu rechtfertigen. Sowieso sollte man aber für offene Grenzen einstehen und das bedeutet auch, dafür einzutreten, dass Jüd:innen ein freies Leben in der Region führen können – aber Palästinenser:innen eben auch.

„Free palestine bedeutet, man will alle Juden ermorden!“ oder „Weil Israel der Schutzraum der Juden ist, ist Antizionismus gleich Antisemitismus.“

In beiden Fällen wird impliziert, dass es unmöglich ist, dass die arabische zusammen mit der jüdischen Bevölkerung im Nahen Osten in Frieden leben kann und es daher absolut notwendig sei, einen militarisierten und unterdrückerischen israelischen Nationalstaat zu haben. In einer Argumentation dagegen könnte man beispielsweise darauf eingehen, inwiefern Antisemitismus und Rassismus aus dem Kapitalismus entstehen und dementsprechend in einem revolutionären Kampf auch wieder aufgelöst werden können. Oder dass Israel als Schutzraum in Wahrheit eine Farce ist und Israel eigentlich einer der gefährlichsten Orte für Jüd:innen überhaupt ist und man sich dementsprechend fragen muss, wie man diesen Status Quo auflöst. So oder so sind solche Argumente ganz oft nach dem Schema „wenn du A sagst, kannst du in den engen Grenzen meines politischen Bewusstseins nur B sagen“ gestrickt und dem sollte man entschlossen widersprechen: Eine andere Welt ist möglich und erreichbar, denn so, wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehen.




Wahlen Türkei: Erdoğan verliert!

von Dilara Lorin, April 2024, zuerst erschienen in der Arbeiter:innenmacht Infomail 1250

Die Kommunalwahlen in der Türkei vom 31. März endeten mit einem Sieg der CHP als stärkste Kraft, während die AKP eine Niederlage hinnehmen musste. Von insgesamt 81 Bürgermeisterämtern errangen die CHP 31 und die AKP 24. Die CHP gewann auch in den fünf größten Städten des Landes, darunter Istanbul, Ankara und Izmir. Nach Wahlerfolgen in diesen Städten äußerte Erdoğan einst: „Wer Istanbul und Ankara gewinnt, hat das Land in der Hand.“ Heute, einige Kommunalwahlperioden später, hat sich die Situation jedoch geändert und der „Große Mann am Bosporus“ hat an Macht verloren. Dabei kommt der Erfolg der CHP für viele Menschen unerwartet.

Nur wenige Monate, nachdem Erdoğan am 28. Mai zum Präsidenten des Landes gewählt wurde, scheint seine Popularität zu schwanken und das Volk scheint ihn und die aktuelle Politik abzustrafen. Insbesondere der wiederholte Erfolg von Ekrem İmamoğlu (CHP) in Istanbul, mit einem größeren prozentualen Abstand als davor, hat die Unbesiegbarkeit der AKP erschüttert.

Unmut in der Bevölkerung

Die wirtschaftliche Lage hat sich in den letzten Jahren kaum erholt. Die Coronapandemie, das Erdbeben vom 6. Februar im letzten Jahr, die globale Wirtschaftskrise und der Einbruch der Baubranche in der Türkei sowie die fatale Wirtschaftspolitik und Instabilität Erdoğans haben dazu beigetragen. Im Februar belief sich die Inflationsrate auf 67 %. Grundnahrungsmittel sind für einen Großteil der Arbeiter:innen kaum noch erschwinglich.

Die anhaltend schlechte Wirtschaftslage in der Türkei trifft insbesondere die Mittelschicht und führt zu einer verstärkten Prekarisierung von Arbeiter:innen und Arbeitslosen. Während des Wahlkampfes spricht Erdoğan in seinen Reden von einer starken Wirtschaft und einer positiven Zukunftsaussicht. Allerdings wird bei genauerer Betrachtung der Zahlen eine Tendenz immer deutlicher: Die Armut nimmt mit jedem Monat zu. Der aktuelle Mindestlohn von 17.000 TL (487 Euro) liegt bereits unter der Armutsgrenze von 20.098 TL für eine vierköpfige Familie. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein/e Alleinverdiener:in aufgrund der seit fünf Jahren steigenden Kosten für Nahrungsmittel nicht mehr in der Lage ist, eine Familie zu ernähren.

Der Anteil der Menschen, die unter der Hungers- und Armutsschwelle leben müssen, ist im März, im Monat der Kommunalwahlen, um 5,9 % bzw. 11 % angestiegen. Dabei stellt die Hungerschwelle die Minimumausgaben für Lebensmittel einer vierköpfigen Familie dar, wenn diese sich ausgewogen ernähren soll; die Armutsschwelle ist eine Kennzahl, welche die Minimalausgaben einer vierköpfigen Familie beschreibt. Diese alarmierende Nachricht wurde im März von der Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Birlesik Kamu-is Konfederasyonu veröffentlicht. Eine wichtige Wählerbasis für Erdoğan und die AKP waren unter anderem auch Rentner:innen, deren Lage sich ebenfalls verschlechtert hat. Laut der Gewerkschaft DISK liegt die Durchschnittsrente bei einem Sechstel im Vergleich zu den Renten in den zentraleuropäischen Ländern. Im Vergleich zum Mindestlohn war die Rente in der Türkei im Jahr 2002 noch um 22 % höher. Im Jahr 2023 lag sie jedoch etwa 26 % darunter.

Aber auch die Konkurrenz von rechtskonservativer Seite führte zur Niederlage der AKP. Die Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei), die in der Vergangenheit vor allem den religiösen Teil der Bevölkerung, der sich aufgrund der wirtschaftlichen Misere zunehmend von der AKP abwandte, für sich gewinnen konnte, erhielt 6 % der Stimmen und gewann die Wahlen in den Städten Yozgat und Sanliurfa. Dabei war die Yeniden Refah Partisi bei den Präsidentschaftswahlen noch Teil von Erdoğans „Volksallianz“, entschied sich bei diesen Wahlen jedoch, eigene Kandidat:innen aufzustellen, nachdem in Gesprächen mit der AKP anscheinend keine Kompromisse gefunden wurden. Auch Kandidat:innen, die aus der AKP ausgetreten sind oder auf deren Listen keinen Platz erhalten haben, lassen sich auf denen der YRP wiederfinden. Somit ist es nicht verwunderlich, dass enttäuschte Wähler:innen der AKP zur YRP übergehen, wenn sie nicht die CHP wählen. Dabei ist es auch die YRP gewesen, die unter anderem im Parlament die AKP und ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel anprangerte und dadurch auch viele Stimmen gewann, die sich aus islamischer Hinsicht mit dem palästinensischen Volk solidarisieren.

DEM – ein Jubelschrei der Kurd:innen wird laut

Die DEM-Partei (Die Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie), welche vor Dezember 2023 noch HEDEP (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker), davor HDP (Demokratische Partei der Völker) hieß, gewann vor allem in den kurdischen Provinzen. Dabei konnten in 10 Bezirken Bürgermeisterämter geholt werden, wobei sie dadurch zur viertstärksten Kraft des Landes wurde. In über 65 Landkreisen, Bezirken und Gemeinden konnte sich DEM als die stärkste Kraft etablieren. Eine große Freude breitete sich vor allem in den kurdischen Gebieten über den Sieg aus, der trotz erzwungener Umbenennung der Partei, starker Repressionen, Haftstrafen, Einschüchterungen und Verbotsverfahren zu einer Stärkung und Ausweitung der Stimmen für sie geführt hat.

In Manisa, Mersin und Izmir sowie in vielen Bezirken Istanbuls und anderen Orten hat die DEM-Partei keine Kandidat:innen aufgestellt, nachdem Gespräche mit der CHP bezüglich der Wahl geführt wurden. Diese Orte sind vor allem diejenigen, in denen die CHP stärker vertreten ist. Die Politik der „kleinen Helferin“ ist für die DEM-Partei fatal, da sie der CHP in diesen Gebieten ihre Wähler:innenschaft überlässt. Es war schließlich auch die CHP, die die AKP bei der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten unterstützte, um viele von ihnen, einschließlich des Co-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas, ins Gefängnis zu brachte.

Ein Wolf im Schafspelz: CHP

Die Liste der Unterstützung der Unterdrückung des kurdischen Volkes seitens der CHP ist lang und geht weit in die Geschichte der Türkei zurück. Aufgrund ihrer nationalistischen und bürgerlichen Ausrichtung kann diese Partei keineswegs als progressiv eingestuft werden.

Obwohl es verständlich ist, dass viele Menschen und Arbeiter:innen in der Nacht vom 31.03. auf den 01.04.2024 auf den Straßen waren und die Niederlage der AKP gefeiert haben, so sollte der Sieg der CHP für linke und revolutionäre Kräfte kein Grund zur Freude sein. Die CHP ist bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 durch rassistische und hetzerische Kommentare und Forderungen gegenüber geflüchteten Menschen und Asylbewerber:innen aufgefallen, wobei sie Erdoğan mit der Forderung nach sofortiger Ausweisung von drei Millionen Menschen sogar rechts zu überholen versucht hat.

Im Wahlprogramm für die Kommunalwahlen 2024 wird unter anderem festgehalten, dass Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr von Geflüchteten und Asylbewerber:innen in enger Zusammenarbeit mit „zuverlässigen“ NGOs vorangetrieben werden sollen. Die Stimmungsmache zeigt Folgen: Täglich werden Geflüchtete auf der Straße angegriffen, und diese Taten enden tragischerweise oft in Mord. Die indirekte Wahlunterstützung in einigen Orten, welche die DEM-Partei als linke Opposition der CHP geleistet hat, indem sie keine eigenen Kandidat:innen aufstellen ließ, ist zu kritisieren und zeigt selbst den kleinbürgerlichen Charakter der Politik der DEM.

Aktuelle Erhebungen in Wan und anderen Städten – ein erster Erfolg

Im Vergleich zu den Kommunalwahlen 2019, bei denen die HDP 65 Kommunen gewinnen konnte, konnte sich die DEM behaupten. Nach den Erfolgen vor 5 Jahren wurden jedoch in 48 Kommunen die Bürgermeister:innen von der Regierung abgesetzt und durch AKP-nahe Verwalter:innen ersetzt und dadurch staatlich zwangsverwaltet.

Auch in diesem Jahr wurde der Erfolg der DEM-Partei in den kurdischen Provinzen schon am 2. April seitens der Regierung in Frage gestellt. Schon während der Wahl wurden Wahlbetrug und Wahlfälschung angewandt. Dabei berichtete die DEM noch am selben Tag, dass bis zu 46.000 Staatbedienstete – darunter vor allem Polizist:innen und Soldat:innen – in den kurdischen Gebieten ihre Stimme abgegeben hatten, obwohl diese nicht aus diesen Orten stammen, sondern dahin transferiert wurden, um die Stimmabgabe zu Gunsten der Regierung zu beeinflussen.

Am Morgen des 2. April folgte dann der erste Schlag der Regierung gegen die DEM. In Wan (türkisch: Van) wurde nicht dem gewählten DEM-Politiker Abdullah Zeydan (55 %), sondern dem AKP-Kandidaten Abdulahat Arvas, welcher lediglich 25 % der Stimmen für sich gewinnen konnte, die Ernennungsurkunde überreicht. Zeydan wurden auf Anordnung der türkischen Regierung die Bürgerrechte entzogen, die er erst im vergangenen Jahr wiedererlangt hatte, nachdem er 2016 als HDP-Abgeordneter verhaftet worden war und fünf Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Wan ist die Provinz, in der die DEM in allen Bezirken die Mehrheit errungen hat, was noch deutlicher macht, dass seit diesem bürokratischen und undemokratischen Akt der AKP die Menschen auf die Straße gehen, um dagegen zu protestieren.

Die DEM-Partei rief richtigerweise kurzerhand zu Protesten auf und erklärte in ihrer Pressemitteilung, dass Respekt vor den Wähler:innen eingefordert werden soll. Der Co-Vorsitzende der DEM-Partei erklärte in einer Ansprache in Wan: „Wan ist das Herz Kurdistans und die Menschen in Wan haben zu Newroz, bei den Wahlen und heute hier auf diesem Platz deutlich gemacht, dass die Forderung der Kurdinnen und Kurden nach Freiheit und Demokratie nicht mit Gewalt und Zwangsverwaltung unterdrückt werden kann. Seit zwei Wahlperioden werden unsere Rathäuser von Treuhänder:innen zwangsverwaltet und jetzt soll ein weiteres Mal der Willen der Bevölkerung mit einem politischen und juristischen Komplott ausgeschaltet werden. Das werden wir nicht zulassen. Dieser Putsch wird keinen Erfolg haben, wenn wir trotz Repression, Knüppeln und Tränengas weiter zusammenhalten. Wir werden die von uns gewonnenen 14 Rathäuser in der Provinz Wan verteidigen.“ Am selben Tag fand eine Sondersitzung des Vorstands der Partei statt, welcher auch der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu beiwohnte. Straßenbarrikaden wurden errichtet und Tausende Menschen folgten diesem Aufruf. Die Geschäfte in Wan blieben größtenteils geschlossen. Der Staat reagiert mit massiver Gewalt und Repression und stürmt das Parteigebäude der DEM. Doch der Protest weitete sich rasch aus: Weitere Städte, darunter Colemêrg (türkisch: Hakkari), Gever (Yüksekova) und Amed (Diyarbakir) schlossen sich dem Ausstand an.

Die Ausweitung der Proteste und der Druck, den sie auf die Regierung ausübten, hatten Erfolg: Noch am Mittwoch, dem 3. April, entschied der Hohe Wahlausschuss, welche zuvor den Kandidaten der AKP zugelassen hatte, über den Einspruch der Partei DEM und beschloss, den Wahlsieger Zeydan anzuerkennen.

Ein Funke ist entfacht

Die Proteste zeigen, dass sich das kurdische Volk seiner Stärke in diesem Land bewusst ist. Sie zeigen aber auch die Schwäche der AKP und ihren mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung. Denn als die Regierung 2016 nach den Kommunalwahlen in den mehrheitlich kurdischen Kommunen die Bürgermeister:innen absetzte und durch eigene Kandidat:innen zwangsverwalten ließ, brachen ebenfalls starke Proteste aus, die jedoch blutig niedergeschlagen wurden. Über die Städte des stärksten Widerstandes wurden Ausgangssperren verhängt, Journalist:innen der Zutritt verweigert und mehr als 200 Menschen ermordet. Der Versuch, den gewählten Bürgermeister der DEM in Wan abzusetzen, ist daher ein Versuch der Demonstration der Unterdrückung und Repressionsmaschinerie. Dass dies innerhalb eines Tages wieder zurückgenommen wurde, zeigt aber auch die Angst vor einer Ausweitung der Proteste und davor, dass der Funke des Aufbegehrens weitere Gebiete erfassen und sich auch über ganz Kurdistan ausbreiten könnte. Dabei sollten die Proteste nicht stehenbleiben, denn die nächsten Wahlen sind erst in 4 Jahren. In der Zwischenzeit kann der Staat trotzdem seine repressiven und unterdrückerischen Handlungen ausüben. Denn eines muss klar sein: kein Vertrauen in staatliche Strukturen!

Die DEM-Partei kann dabei eine tragende Rolle einnehmen und hat als Massenpartei auch die Aufgabe, die aktuellen Proteste auszuweiten. Aufgabe von reformistischen, aber auch radikalen kleinbürgerlichen Parteien ist es dabei nicht, lediglich in Parlamenten und anderen Gremien Sitzplätze zu gewinnen, sondern den Raum der Wahl zu nutzen, um Bewegungen und Forderungen publik zu machen. Sie muss Vorreiterin der aktuellen Proteste sein und diese weiter über das ganze Land ausweiten.

Dabei muss sie aber vor allem versuchen, die Unterstützung der türkischen, progressiven Teile der Arbeiter:innenklasse wieder für sich zu gewinnen, denn die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung hat in den letzten Wahlen stagniert. Gegen die Krisen, die Armut und Unterdrückung müssen Gewerkschaften unter Druck gesetzt werden, um landesweit für ein Sofortprogramm gegen die Preissteigerungen, für einen Mindestlohn und Mindestrenten, die die Lebenshaltung decken, und für eine automatische Anpassung dieser an die Inflation zu kämpfen. Dies muss von Ausschüssen der Gewerkschaften und Lohnabhängigen kontrolliert werden.

Um dieses Ziel umzusetzen, sind politische Massenstreiks (bis hin zum Generalstreik) sowie massive Demonstrationen notwendig, die von lokalen Aktionskomitees organisiert und kontrolliert werden. Gegen die Repression und Provokationen durch Staat und Rechte müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden.

Es kann letztendlich nur eine starke Bewegung der Unterdrückten und Arbeiter:innen gegen die zukünftigen  Komplotte der Regierung, die Wirtschaftskrise, Unterdrückung und Armut vorgehen. Um solch eine Bewegung aufzubauen, welche auch in den wirtschaftlich stärkeren Städten im Westen des Landes die Arbeiter:innen und Unterdrückten für sich gewinnt, müssen die DEM und andere linke Parteien und Organisationen anfangen, vermehrt Basisstrukturen in den Städten, an Unis und in Betrieben aufzubauen. Auch die Basis der CHP muss angesprochen werden, um die Politik der Partei zu entlarven, welche mittels Rassismus versucht, die Bevölkerung zu spalten, und deren nationalistische Ausrichtung keine Lösungen bieten kann. Vor allem aber müssen die Gewerkschaften in den Kampf gezogen werden – ihnen kommt eine Schlüsselrolle bei einer wirklichen Konfrontation mit der Regierung zu.

Es braucht außerdem Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten- und Arbeiter:innen, die die Parteigebäude, Rathäuser etc., die von der DEM gewonnen wurden, gegen Repression verteidigen. Die Türkei sitzt schon lange auf einem absteigenden Ast und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung den Druck von Armut, Hunger und Rassismus nicht mehr aushalten kann. Aufflammende Bewegungen gegen die Regierung dürfen aber keine Hoffnung in die CHP vorheucheln und müssen die Unterdrückten des Landes mit den Arbeiter:innen vereinen. Dies kann letztlich nur eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Programms vorantreiben.




Irland und der Verrat des Befreiungskampfes

von Urs Hecker, April 2024

Die Woche nach Ostern hat in Deutschland eigentlich keine größere Bedeutung. In Irland allerdings ist kaum eine Zeit im Jahr so politisch aufgeladen wie die Osterwoche, kein Wunder, denn der Osteraufstand 1916 und die auf ihn folgenden Kriege sind wahrscheinlich die prägenden Momente der modernen irischen Geschichte.

In diesem Text wollen wir uns mit dem Ablauf dieser auseinandersetzen, nicht (nur) aus reinem historischen Interesse, sondern weil wir der Meinung sind dass gerade aus dem irischen Befreiungskampf viele wichtige Lehren für den antiimperialistischen Kampf heute gewonnen werden können.

Historische Situation vor dem Osteraufstand

Irland hat eine lange Geschichte von Besatzung, Unterdrückung und Kolonialisierung. Aber auch des Widerstands gegen diese. Vor dem Osteraufstand war Irland bereits über 700 Jahre durch England besetzt. In ganz Irland siedelte sich ein englisch/normannischer Landadel an, der so gut wie alles Land besaß und es in seinem Interesse regierte. Da die Ir:innen ihre Ausbeutung und Unterdrückung jedoch nicht einfach hinnahmen kam es in regelmäßigen Abständen zu blutigen Aufständen. Um Irland zu befrieden, setzte die britische Krone auf Siedlungskolonialismus (sog. Plantations). Erfolgreich war dabei jedoch nur die Plantation of Ulster. Im heutigen Nordirland wurden die lokalen Clans enteignet und vertrieben, auf ihrem Land wurden schottische Siedler:innen angesiedelt. Diese waren besonders treu zur Krone und hatten anders als die katholischen Ir:innen protestantischen Glauben. Während die Mehrheit der Schott:innen auch katholisch war und Irland näher stand als England, waren die sog. Ulster Scots zum Protestantismus konvertiert in der Hoffnung so ihre nationale Unterdrückung in Folge des gescheiterteten Jakobitenaufstands zu überwinden, der zur gewaltsamen Vertreibung der Schott:innen aus den Highlands und Zerschlagung der schottischen Kultur geführt hatte. Dieser Versuch gelang: Aus Unterdrückten wurden Unterdrücker im Dienst ihrer vormaligen Schlächter.

Als der aufsteigende Kapitalismus nationalistisches Bewusstsein in ganz Europa verbreitete häuften sich die Aufstände, seit 1798 gab es ungefähr einen pro Generation.  Neben der Aufstände war das 19. Jahrhundert aber vor allem durch Hungersnot, Genozid und Emigration geprägt. Die große Hungersnot konnte nur entstehen da die Ir:innen, welche nur wenig Land hatten, Kartoffeln anbauen mussten um sich zu versorgen. Die größten Landflächen wurden zum Export von Weizen genutzt. Die britische Regierung stoppte diese Exporte selbst dann nicht, als Millionen von Ir:innen den Hungertod starben.  Auch heute ist die Bevölkerung Irlands immer noch kleiner als vor der Hungersnot.

Die fehlgeschlagenen Aufstände führten dazu, dass sich ein auf Reformen gestütztes Bewusstsein durchsetzte: Die sog. „Home-Rule“ Bewegung. Ihr Ziel war es dass Irland einige Zugeständnisse aus London erhielt und die irische Bourgeoise ihr eigenes Parlament in Dublin gründen könne. Dass dies alles als Teil von Großbritannien geschehen müsse wurde nicht in Frage gestellt. Die Protestant:innen im Norden sahen durch die Home Rule Bewegung ihr Privilegien bedroht und gründeten als erstes bewaffnete Organisationen um diese zur verteidigen. Ihre Massenbasis bestand aus Kleinbürger:innen und der Arbeiter:innenaristrokratie des Nordens. Als Antwort darauf und aus Selbstverteidigung gründeten irische Nationalist:innen selbst bewaffnete Milizen, die Irish-Volunteers. Die Mehrheit dieser und vor allem ihre Führung gehörten der reformistischen Home-Rule Bewegung an. Es war also kein Zufall als sich zum Ausbruch des ersten Weltkriegs die Irish Volunteers freiwillig für die britische Armee meldeten. Die Führung erhoffte sich so Londons „guten Willen“ zu verdienen.

Irischer Republikanismus

Eine Minderheit der irischen Nationalist:innen war allerdings radikaler. Der sog. Irische Nationalismus setzte sich aus Radikalliberalen, Sozialist:innen und anderen fortschrittlicheren Nationalist:innen zusammen. Ihr Ziel war eine gesamt irische Republik unabhännig von Großbritannien. Folglich lehnten sie auch den Beitritt in die britische Armee scharf ab. Während einigen Republikaner:innen eine sozialistische Republik vorschwärmte, war die Mehrheit klar für einen bürgerlichen Staat, welcher ein paar soziale Reformen mittragen sollte.
Organisiert waren die Republikaner:innen in der Geheimorganisation Irish Republican Brotherhood (IRB), der Partei Sinn Fein und in der Frauenorganisation Cumann na mBan.

Osteraufstand und Befreiungskampf der IRA

Nach 2 Jahren Weltkrieg entschied die IRB, dass der Zeitpunkt zum Aufstand gekommen war. Am Ostermontag 1916 besetzten sie mit kleineren Gruppen von Irish Volunteers prestigeträchtige und militärstrategisch wichtige Gebäude in Dublin. Im Hauptpostamt wurde die irische Republik proklamiert und die Anführer der IRB erklärten sich zur provisorischen Regierung dieser. Diese neue Republik stellte im Sinne der Proklamation einen fortschrittlichen bürgerlichen Staat dar. Das Wahlrecht für Frauen wurde betont und die Freiheit aller Religionsgemeinschaften, ein proletarischer Standpunkt fehlte allerdings. Dennoch waren Sozialist:innen am Osteraufstand beteiligt. Allen Voran: James Connolly ein ehemaliger Gewerkschafter aus Schottland welcher Teil der provisorischen Regierung wurde. 
Die britische Regierung reagierte erbarmungslos auf den Aufstand. Die Armee marschierte in Dublin ein und für den Rest der Osterwoche herrschte Krieg in der Stadt. Als die britische Armee durch Artilleriebeschuss begann die Stadt zu zerstören und die Situation der aufständischen ausweglos schien ergaben sich diese. Ihre Hoffnung, dass sich der Aufstand auf die breite Bevölkerung ausbreiten würde hatte sich zunächst nicht erfüllt.  
Bis auf Eamon de Valera, welcher amerikanische Staatsbürgerschaft besaß wurden alle Unterzeichner der Proklamation zu Tode verurteilt und hingerichtet.

Durch unermüdliche Propagandaarbeit, allen voran von der Frauenorganisation Cumann na mBan, wendete sich aber nun das Bewusstsein in Irland. Immer mehr Menschen wandten sich von der Home Rule ab und unterstützen den Unabhängigkeitskampf. Dies zeigte sich auch bei den Wahlen zum britischen Unterhaus  im Dezember 1918. 76 der 106 irischen Sitze wurden von der republikanischen Partei Sinn Fein gewonnen, der Republikanismus war zur Mehrheitsideologie geworden. Die Abgeordneten von Sinn Fein erkannten das britische Parlament nicht an, im Januar 1919 gründeten sie ein irisches Parlament (Dail) und erklärten die Unabhängigkeit. Großbritannien erkannte diese nicht an und der Befreiungskrieg brach aus. Die Irish Volunteers wurden umformiert zur irisch-republikanischen-Armee (IRA) welche offiziell dem Dail unterstand. Die IRA führte von nun an einen Guerillakrieg für die Befreiung Irlands. Großbritannien regierte mit Terror und Mord und ließ ehemalige Soldaten des ersten Weltkriegs als paramilitärische Todesschwadronen auf die Zivilbevölkerung los.

Vertrag und Verrat

Es entsteht eine Patt-Situation, die Besatzungsmacht kann die Guerillas nicht besiegen, diese können aber auch nicht eigenmächtig die Besatzungsmacht vertreiben.
Deswegen schlägt die britische Regierung 1921 einen Friedensvertrag vor.
Irland soll ein „Freistaat“ werden der weiter der britischen Krone untersteht, aber hohe Autonomie besitzt. Der Norden Irlands soll nicht Teil des Freistaats werden.
Letztendlich werden durch den Vertrag alle Ziele des Osteraufstands und des republikanischen Kampfes verraten. Es wir keine unabhängige irische Republik geben, der Norden bleibt direkt von Großbritannien kontrolliert, in ihm wird sich die Unterdrückung der Ir:innen sogar verschärfen. Die Situation der irischen Arbeiter:innen und armen Bäuer:innen verbessert sich kaum.

Verständlicher und richtiger Weise reagiert die republikanische Basis den Vertrag empört ab. Für die irischen Massen gab es nichts zu gewinnen. In einer parteiinternen Abstimmung stimmt die Mehrheit der Sinn Fein Mitglieder gegen den Vertrag. 
Aber der Dail, das irische Parlament lässt sich davon nicht aufhalten. Er stimmt dem Vertrag zu, der Verrat der irischen Bourgeoisie am Befreiungskampf ist perfekt. Sie wählt vermeintliche  Autonomie über dem Kampf für echte Unabhängigkeit.

Bürgerkrieg und Konterrevolution

Die Basis rebelliert gegen den Verrat. Der linke Flügel der Republikaner:innen und der große Teil der IRA lehnen sich gegen das Parlament auf. Es bricht ein Bürgerkrieg aus. 
Der neu entstandene Freistaat wird dabei von Großbritannien militärisch unterstützt.  Dadurch gelingt es ihm die IRA zurückzudrängen und letztendlich zu besiegen. Viele republikanische Anführerinnen werden in dieser Zeit von ihren ehemaligen Mitstreitern ermordet.
Nach der Niederlage der IRA geben auch die meisten Republikaner:innen die Republik auf und akzeptieren den Freistaat. Nur eine kleine Minderheit verbleibt in Sinn Fein, die sich weiterhin weigert die Legitimität des Freistaats anzuerkennen.
Der Sieg des Freistaats war faktisch der Sieg der Konterrevolution.
Die Ir:innen wurden demobilisiert und die Unterordnung unter den Imperialismus wurde akzeptiert. Der Freistaat selbst wurde zu einem der rückständigsten und reaktionärsten Staaten in Europa. Republikaner:innen wurden verfolgt und jedes fortschrittliche Bewusstsein wurde an den Rand gedrängt. Es entstand eine erzkatholische Hegemonie, die sehr sexistisch war und in den Ir:innen selbst reaktionäres Bewusstsein festigte. Der Freistaat war entsprechend auch sehr arbeiter:innenfeindlich und kooperierte im Norden zusammen mit Großbritannien gegen die Republikaner:innen.
Jedes Ziel des Befreiungskampfes wurde verraten Irland blieb politisch und wirtschaftliche vom Imperialismus abhängig.

Fazit

Aber worin lagen die Gründe des Verrats und der Niederlage und welche Lehren können wir heute für den antiimperialistischen Kampf daraus ziehen?

Was auffällt ist, dass es im damaligen Irland keine große Arbeiter:innenorganisationen und -parteien gab, die in den nationalen Befreiungskampf intervenierten. Es gab zwar sehr prominente Sozialist:innen an der Spitze der republikanischen Bewegung wie James Connolly, aber der Republikanismus ist keine sozialistische Strömung sondern eine „fortschrittliche“ bürgerlich nationalistische. Die Sozialist:innen im irischen Befreiungskampf gründeten keine unabhängigen Organisationen für das revolutionäre Proletariat sondern ordneten sich diesen „fortschrittlichen“ Teilen der Bourgeoisie unter. Das stellte sich als fataler Fehler heraus. Durch das Unterordnen unter die Bourgeoisie in der gleichen Partei (Sinn Fein) war es den Sozialist:innen nicht möglich effektiv gegen den Verrat ebendieser anzukämpfen und dem Freistaat etwas entgegenzusetzen. Außerdem konnte es ohne proletarische Organisationen auch keinen Weg zum Aufbau echter Doppelmacht geben. Das Parlament konnte den Kampf verraten, da es das einzige Organ mit Regierungsanspruch war und so in der Lage war den Kampf zu führen. Hätte die Arbeiter:innenklasse eigene Organe, wie Räte, geschaffen und sich dabei mit dem armen Bäuer:innen gegen die britischen Landbesitzer:innen verbündet, hätte es die Chance gegeben den Kampf weiter zu führen und ihn von einem Kampf für einen bürgerlichen Nationalstaat in eine sozialistische Revolution wandeln. 
Nur so hätte Irlands Unabhängigkeit verwirklicht werden können. Im nationalen Befreiungskampf wird die Bourgeosie immer, sobald sie ein für sich tragbares Ergebnis erzielt hat, den Kampf verraten. Denn sie hat immer noch kapitalistische Interessen, ihre Existenz beruht immer noch auf der Ausbeutung der Arbeiter:innen, sie muss sich immer noch dem Weltmarkt unterwerfen und sie ist in Kolonien und Halbkolonien oft so schwach, dass sie ihre Herrschaft auf Kollaboration mit den imperialistischen Staaten stützen muss. Nur die Arbeiter:innenklasse ist in der Lage den Kampf gegen den Imperialismus und für Unabhängigkeit zum Ziel zu führen, indem sie Imperialismus und Kapitalismus selbst aus dem Weg räumt.

Das heißt aber nicht, dass wir bürgerliche Bewegungen im antiimperialistischen Kampf einfach ignorieren können, oder dass wir uns nicht mit ihnen als Teil des Kampfes solidarisch zeigen. Oft haben sie nämlich noch die organisatorische und ideologische Führung dieser Kämpfe inne. Würden wir sie einfach ignorieren und uns komplett abspalten, könnten wir kaum Zugang zu den Massen der Arbeiter:innen und armen Bäuer:innen erhalten. Wir würden ihnen so erst Recht die Führung im Kampf überlassen. Um den Befreiungskampf also zum Sieg zu führen, müssen wir eine antiimperialistische Einheitsfront bei organisatorischer Unabhängigkeit mit den bürgerlichen, antiimperialistischen Kräften bilden. Das ist jedoch nicht mit einer Volksfront zu verwechseln, welche die Interessen der Arbeiter:innen denen der Bourgeiosie unterordnet. Gleichzeitig bezieht sich die antiimperialistische Einheitsfront auf konkrete gemeinsame Aktionen und spezifische Abkommen, die den Kampf gegen den Imperialismus vorantreiben. Nur so können wir die Ausgebeuteten und Unterdrückten davon überzeugen, dass die revolutionäre Arbeiter:innenklasse die einzige Kraft ist, die ihre vollständige Befreiung verwirklichen kann.
können wir die Ausgebeuteten und Unterdrückten davon überzeugen, dass die revolutionäre Arbiter:innenklasse die einzige Kraft ist, die ihre vollständige Befreiung.




Frühlingsbeginn in Jordanien?

von Jona Everdeen, April 2024, zuerst veröffentlicht in der Infomail 1250 der Gruppe Arbeiter:innemacht

Die meisten von uns freuen sich vermutlich gerade sehr, dass der Frühling wieder kommt und Sonnenschein und wärmere Temperaturen mit sich bringt. Doch kann es sein, dass die Freude bald noch viel größer ausfällt, wenn auch der Arabische Frühling zurückkehrt und revolutionäre Erhebungen und internationale Solidarität mit sich bringt? Die Massenproteste, die gerade in Jordanien gegen die de facto Unterstützung Israels durch die Haschimitenmonarchie stattfinden, könnten zumindest zum Auslöser eines solches Prozesses werden.

Die Lage in Jordanien

Während die Lage im Land zwischen Jordan und Mittelmeer, in Palästina, noch immer in vielen Medien Thema ist und sich auch in den westlichen Metropolen zahlreiche Menschen mit den Palästinenser:innen solidarisieren, die noch immer unter Israels genozidalem Krieg leiden, erfährt man kaum etwas über das Land östlich des Jordans. Dabei könnten die aktuellen Ereignisse in Jordanien für die Lage in Palästina und der ganzen Region eine große Bedeutung gewinnen.

Seit etwas mehr als einer Woche demonstrieren in unmittelbarer Nähe zur israelischen Botschaft, einer von wenigen überhaupt in einem arabischen Land, täglich zigtausende Jordanier:innen in Amman, der Hauptstadt des Landes. Ihre Forderungen: die Schließung der Botschaft und das Ende der Kooperation der herrschenden Regierung um den Haschimitenkönig Abdullah II. bin al-Hussein mit Israel. Konkret fordern sie auch die Aufhebung des Friedensvertrags zwischen Israel und Jordanien, der 1994 geschlossen wurde und die Beziehungen normalisierte.

Diese Proteste sind nicht die ersten im von König Abdullah II. bonapartistisch regierten Jordanien, so war dieses bereits ein Nebenschauplatz des (ersten) Arabischen Frühlings. Massive Proteste zwangen den König, einige Reformen zuzugestehen, was damals die Lage beruhigen konnte. Im vergangenen Jahr gab es jedoch erneut große Proteste in Jordanien, die sich, wie bereits die des Arabischen Frühlings, gegen die Folgen der Krise richteten, die die Jordanier:innen hart trafen.

Wie in fast allen arabischen Ländern gab es auch hier in den ersten Wochen des Krieges riesige Solidaritätsdemonstrationen mit den Menschen in Gaza. Allerdings litten auch diese unter demselben Problem wie in anderen Ländern, indem sie sich zu großen Teilen nicht gegen die eigenen Regierungen richteten, die, mal mehr, mal weniger versteckt, mit Israel und dessen Verbündeten kooperieren.

Heute sieht das anders aus. Doch nicht nur richten sich die Demonstrationen jetzt in Amman gegen die Politik der Regierung, auch scheinen sie gut organisiert zu sein. So bilden gezielt Ärzt:innen und Anwält:innen die ersten Reihen in der Hoffnung, die Demos so vor Gewalt durch Repressionskräfte zu schützen. Diese antworten nämlich mit Härte. In den letzten Tagen kam es zu zahlreichen Verhaftungen von Demonstrierenden. Doch gelang es auch immer wieder, die Polizei zurückzudrängen. Auch sieht es nicht so aus, als würden sich die Proteste schnell beruhigen, sondern eher, als hätte die Bewegung gerade erst begonnen. Doch wer sind überhaupt die Haschimiten, die in Jordanien die Politik bestimmen? Und in welchem Verhältnis stehen sie zu Israel und der Besetzung und Unterdrückung Palästinas?

Die Haschimiten, Palästina und Israel

Jordanien und Palästina teilen sich nicht nur einen Fluss, sondern auch eine lange, gemeinsame Geschichte. Die Haschimiten spielten in dieser jedoch nie eine rühmliche Rolle. So erlangten sie die Macht über das Gebiet Transjordanien, nachdem sie eine zentrale Rolle in der arabischen Revolte gegen das Osmanische Reich gespielt hatten, welche Britannien nutzen konnte, um die mit Deutschland verbündete Regionalmacht im Ersten Weltkrieg zu besiegen. Anders jedoch als versprochen, wurde das „befreite“ arabische Gebiet nicht unabhängig, sondern in ein französisches und ein britisches Mandatsgebiet aufgeteilt, letztendlich nur ein anderes Wort für Kolonie. So wurde auch Jordanien nicht unabhängig, sondern lediglich zu einem Emirat der Haschimiten, die die Oberhoheit Britanniens anerkannten. Nach der Unabhängigkeit 1946 als Königreich intervenierte Jordanien zwar in den Krieg gegen das neu gegründete Israel, das gerade die Nakba begonnen hatte, allerdings eher aus Machtinteresse denn aus internationaler Solidarität. So verleibten sich die Haschimiten nach dem Krieg, unter Verurteilung anderer arabischer Staaten, die Westbank als eigenes Territorium ein. Im Angriffskrieg Israels gegen seine Nachbarn (Sechstagekrieg) im Jahr 1967 verlor Jordanien zwar die Westbank, seine verräterische Rolle jedoch nicht. In das Land waren nach Beginn der Nakba und im Zuge des Sechstagekriegs hunderttausende Palästinenser:innen geflohen, die einen signifikanten Teil der Bevölkerung stellten. So wurde Jordanien zum Schwerpunkt der PLO, die von hier aus den palästinensischen Befreiungskampf zu organisieren versuchte. Der Haschimitenkönig Hussein I. sah in der nationalistischen PLO eine Gefahr für seine Macht und führte einen brutalen Bürgerkrieg gegen die Palästinenser:innen (Schwarzer September 1970). 1994 dann unterzeichnete Jordanien mit Israel einen Friedensvertrag, der die Beziehungen der beiden Länder normalisierte und die israelische Herrschaft über Palästina anerkannte. Jordanien wurde zum engsten Verbündeten Israels in der Region. Das Haschimitenkönigshaus pflegt ebenfalls enge Beziehungen mit den USA. So unterhält der US- Imperialismus wichtige Militärbasen in Jordanien, die für seine Kontrolle über den Nahen Osten zentral sind.

Doch während das bonapartistische Haschimitenregime, aus Gründen seines Machterhalts, mit den Feind:innen der arabischen Völker klüngelt, sind die jordanischen Menschen mit Palästina solidarisch, nicht zuletzt auch deshalb, weil so viele wie in keinem anderen Land selber ihre Wurzeln in Palästina haben, ihre Großeltern während der Nakba vertrieben wurden und ihre Familienangehörigen heute in Gaza bombardiert oder in der Westbank von Siedler:innen angegriffen werden.

Die Haschimiten haben bisher alles getan zu verhindern, dass die Menschen östlich des Jordans ihre Geschwister westlich des Flusses in ihrem Befreiungskampf unterstützen, haben sich aktiv mit deren Unterdrücker:innen zusammengetan, um ihre Macht zu erhalten und auszubauen. Jetzt ist es an der Zeit, die Macht dieses korrupten Clans endlich zu brechen!

Nur der Frühling kann den Winter beenden

Wenn die Proteste in Jordanien siegen, die mit westlichem Imperialismus und Zionismus kooperierende Bourgeoisie absetzen wollen, muss die Bewegung Organisationen der Gegenmacht aufbauen, sich anders als die Massenproteste des Arabischen Frühlings in den Betrieben und Stadtteilen, an den Schulen, Universitäten organisieren. Die in Jordanien durchaus relevante Gewerkschaftsbewegung kann hier die entscheidende Rolle spielen, denn nur eine massive Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse ist in der Lage, einen dauerhaften Sieg des Volkes gegen seine Unterdrücker:innen zu erringen! Dabei könnte diese Bewegung zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: endlich zu einer Politik der internationalen Solidarität und Unterstützung der Palästinenser:innen aus Jordanien führen und auch die Folgen der kapitalistischen Krise für die Bevölkerung reduzieren und deren Lebensbedingungen mittels einer gezielten Planung der wirtschaftlichen Produktion verbessern. Dabei spielen die Gewerkschaften zwar ein wichtige Rolle, aber im Kampf ist es vor allem Zentral, eine politische Kraft, eine Revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen, die den Kampf gegen die Dynastie mit dem Kampf für eine sozialistische Revolution verbindet.

Doch kann dies nicht isoliert geschehen, eine kleine jordanische Arbeiter:innenrepublik wäre kaum lebensfähig, sondern nur als Teil einer erneuten revolutionären Massenbewegung im Nahen Osten und darüber hinaus – letztlich in einer Föderation sozialistischer Staaten des Nahen Ostens.

Während Jordanien vielleicht das extremste Beispiel für Kooperation eines arabischen Landes mit Israel verkörpert, ist es nicht das einzige. Auch Ägypten hat seine Beziehungen mit Israel im späten 20. Jahrhundert normalisiert und trägt die Unterdrückung der Palästinenser:innen faktisch mit. Doch auch Regierungen, die Solidarität mit Palästina vorgeben, tun dies in der Regel nur, um ihre Bevölkerung ruhigzustellen. Von praktischer Solidarität sieht man wenig. De facto haben sich alle Staaten des Nahen Ostens mit der Existenz des israelischen Staates in seiner derzeitigen Form abgefunden, das heißt mit Apartheid und Besatzung, und akzeptieren auch den genozidalen Krieg in Gaza größtenteils, bei lediglich symbolischer Verurteilung. Schließlich will man es sich ja auch nicht mit Israels westlichen Verbündeten verderben. Denn die bonapartistischen Regierungen der Region sind vom Wohlvollen imperialistischer Mächte abhängig, deren Vormachtstellung sie stützen, und von denen sie, im Gegenzug für die Durchsetzung der Ausbeutung der eigenen proletarischen Massen und die Plünderung ihrer Ressourcen durch internationale Konzerne, eine Teil der Beute erhalten.

Für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens!

Diese Unterdrückung beenden können die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Nahen Osten, auf der arabischen Halbinsel und in Nordafrika sowie in jeder Region der Welt nur, indem sie ihre eigenen Regierungen stürzen und Regierungen der Arbeiter:innen und Kleinbäuer:innen errichten, die in Räten die Kontrolle über Politik und Wirtschaft übernehmen. Um gegen Imperialismus und von diesem unterstützte Konterrevolution gewappnet zu sein, müssen sich diese zu einer sozialistischen Förderation zusammenschließen und gemeinsame Wirtschaftsplanung und Verteidigung in Form von Arbeiter:innen- und Bäuer:innenmilizen etablieren. So kann ein zweiter Arabischer Frühling die Macht des Imperialismus in der Region brechen und zur Inspiration für Unterdrückte auf der ganzen Welt werden. Die derzeitigen Massenproteste in Jordanien haben zumindest das Potential, eine solche Dynamik anzustoßen.




Legalize it! Und zwar alle Drogen!

von Clay Ikarus, April 2024

Seit Jahren wird auf sie gewartet und ab heute scheint sie endlich da: die Legalisierung von Cannabis. Aber ist das neue Gesetz wirklich die ersehnte Legalisierung und wieso setzen wir uns als Revolutionär:innen überhaupt für die Legalisierung von Drogen ein?

Wieso berauschen wir uns?

Diese Frage dürfte so viele Antworten haben, wie Menschen, die es gibt. Auf die ein oder andere Art und Weise berauschen sich nämlich fast alle Menschen und Rausch gehört letztendlich zum Leben dazu. Es bringt zumindest zeitweise Entlastung, Entspannung, Euphorie und außeralltägliche Erfahrungen und ist auch überhaupt nicht an Substanzen gebunden, auch wenn es in diesem Text vor allem darum gehen wird. Doch in einer unfreien Gesellschaft wie dem Kapitalismus ist letztendlich auch der Rausch unfrei: Sucht droht gerade deswegen, weil viele Menschen kaum wirkliche Erfüllung in ihrem Leben erreichen können und unter Arbeitsdruck, Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung leiden. Drogenkonsum kann kurzzeitig für Befriedigung sorgen und dabei helfen, sich aus der Realität zu flüchten. Da der Kapitalismus keinen leichten Zugang zu Hilfe in (psychischen) Notlagen liefert und dadurch eine nachhaltige Lösung unmöglich wird, kann der Drogenkonsum eine notwendige psychische Funktion übernehmen, weil sonst keine Entlastung erfahren werden kann. Doch langfristig verhindert das eine innere Aufarbeitung und bringt noch mehr Probleme mit sich, aber dann stecke viele schon drin in der Sucht nach dem kleinen bisschen Glück. Solange wir also in einer Welt leben, in der Menschen ausgebeutet und unterdrückt werden und sich nicht frei entfalten können, wird es auch Sucht geben. Und solange es überhaupt Menschen gibt, wird es auch den Wunsch nach Rausch und dementsprechend eine Nachfrage nach Rauschmitteln geben, unabhängig von irgendwelchen Verboten. Wir müssen also eine Perspektive im hier und jetzt erkämpfen, Antworten auf die Probleme geben und gleichzeitig aufzeigen, dass wir dieses mörderische System beenden müssen, damit Menschen nicht mehr in die Sucht getrieben werden. Wir stimmen also nicht nur einer Legalisierung von Cannabis zu, sondern setzen uns dafür ein, dass alle Drogen legalisiert werden, denn die Argumente sind nicht an einzelne Substanzen gebunden, sondern an die Drogenpolitik als Ganzes!

Auswirkungen der Illegalisierung

Heute existieren in der Illegalität auf der gesamten Welt milliardenschwere Märkte für illegale Drogen. Daraus ergeben sich vielfältige Probleme. Alle Arbeiter:innen, die irgendwie an diesem Geschäft beteiligt sind, arbeiten außerhalb von jeglichem Arbeitsrecht und haben keine Sozialversicherungen. Das Geschäft wird meistens von gewalttätigen Gangs kontrolliert, die ihre eigenen Mitglieder bedrohen und oftmals im Kampf um Schmuggelruten blutige Feden mit anderen Gangs austragen. Durch das lukrative Drogengeschäft können diese ihre Macht ausweiten, was mit einer Terrorisierung der Zivilbevölkerung einhergeht. Doch auch für die Konsument:innen sieht es nicht besser aus. Da es keine Qualitätskontrollen gibt werden Drogen gestreckt. Dadurch wird der Konsum extrem riskant und es kann (besonders bei Opiaten) zu tödlichen Überdosen kommen. Doch auch Gras wird gestreckt, um das Gewicht zu erhöhen, mit giftigen Substanzen optisch aufgehübscht oder mit gefährlichen synthetischen Cannabinoiden besprüht.

Die Strafverfolgung selbst stellt ein weiteres großes Problem da. So können Konsument:innen schnell ihren Führerschein verlieren, ohne durch das THC in ihrem Blut fahruntüchtig zu sein. Die Kriminalisierung kann auch weiterhin empfindliche Geldstrafen für den Besitz von Gras nach sich ziehen. Dabei ist auffällig, dass die Verfolgung von Cannabiskonsum und -besitz bis heute eine rassistische Komponente hat: Migrantisierte Menschen sind oft von Armut betroffen oder haben keine Arbeitserlaubnis, weshalb sie gezwungen sind, illegal Geld dazu zu verdienen, sei es durch Schwarzarbeit oder eben kriminalisierte Geschäfte. Menschen, die in Armut leben und so kaum die Chance haben, an der Gesellschaft teilzunehmen, gehören auch verstärkt zum Konsument:innenkreis. Durch Racial Profiling werden überdurchschnittlich viel People of Color in diesem Zusammenhang angezeigt. Sowieso ist die Geschichte der Drogenprohibition eng verknüpft mit rassistischer Unterdrückung.

Besonders international sitzen viele Menschen wegen dem Schmuggel von Cannabis und anderen Drogen im Gefängnis, wodurch ihre Biografien zerstört werden. Insgesamt sind die Kosten für die polizeiliche Strafverfolgung, die Arbeit der Gerichte und zum Teil auch den geschlossenen Vollzug im Zusammenhang mit Cannabis gewaltig. Dieses Geld könnte viel besser in Prävention und Therapie gesteckt werden. Auch eine Ausweitung von Jugendarbeit mit diesen Mitteln könnte den Konsum von Cannabis eher reduzieren als ein Verbot.

Dass ein Verbot den Konsum von Drogen reduzieren würde, ist ein Irrglaube. Studien aus den USA, die den Konsum von Cannabis nach der Legalisierung in den einzelnen Staaten untersucht haben, kamen zu dem Schluss, dass eine Legalisierung wahrscheinlich keine Auswirkung auf das Konsumverhalten hat. Und selbst wenn: Unser Ziel ist nicht, dass sich möglichst niemand berauscht, sondern unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der die Menschen möglichst wenig unter ihrem Konsum leiden! Das heißt: Ein aufgeklärtes, freies, kontrolliertes, aber selbstbestimmtes Verhältnis zum eigenen Konsum.

Inhalt und Schwächen des beschlossenen Gesetzes

Der Gesetzesvorschlag, der am 1. April in Kraft getreten ist, sieht vor, dass jede/r 3 Cannabispflanzen privat zuhause oder im Cannabis-Club mit anderen zusammen anbauen und sharen darf. Der Besitz von 50 g Cannabis ist jetzt legal, von denen 25 g mitgeführt werden dürfen. Für Vielkiffer:innen ist diese Menge allerdings zu gering, um ihren jährlichen Bedarf mit einem Anbau zu decken. Ursprünglich sollte Gras auch verkauft werden, doch dies soll zunächst nur in Modellprojekten erprobt werden, wofür es jedoch noch keinen Gesetzesentwurf gibt. Das ist problematisch, weil so immer noch viele Menschen auf den Schwarzmarkt angewiesen sind.  

In weniger als 100 m Entfernung von Schulen, Kitas und Spielplätzen darf nicht geraucht werden. Wenn man auf Karten anschaut, welche Gegenden gebannt sind, scheint es so, dass gerade in Großstädten in der Öffentlichkeit kiffen verboten bleibt. Für Jugendliche und junge Erwachsene gelten andere Regelungen, trotz der hohen Konsument:innenzahlen. Es soll wie Alkohol erst ab 18 konsumiert werden dürfen und bis 21 Jahre nur 30 Gramm besessen werden können. Der Verkauf an Minderjährige wird nun sogar härter bestraft.

Es soll zudem auch eine große Aufklärungskampagne zu den Risiken von Cannabis geben und die Länder sollen sich auch um Präventions- und Interventionsmaßnahmen kümmern, Extragelder werden hierfür jedoch nicht bereitgestellt. Das ist ein großes Problem, weil gerade hier ein großes Potential liegt, tatsächlich besonders Jugendliche über Risiken, Langzeitfolgen, Safer Use usw. aufzuklären, damit sie einen gesunden Umgang mit dem Graskonsum finden können. Obwohl wir für die Legalisierung eintreten, ist uns nämlich durchaus bewusst, dass der Konsum von Cannabis gefährlich ist und im Idealfall (wenn überhaupt) in einem sehr beschränkten Rahmen stattfinden sollte. Für Süchtige braucht es zudem eine ernsthafte Ausweitung der Suchthilfe, wie z.B. mehr Therapieplätze. Dafür muss Geld in die Hand genommen werden, welches z.B. bei den Strafverfolgungsbehörden eingespart werden kann.

Auch eine Erhöhung der Grenzwerte des THCs im Blut ist bisher nicht beschlossen, weshalb das Gesetz für alle, die ein Fahrzeug führen und mind. einmal die Woche kiffen im Prinzip wertlos ist. Der Grenzwert sollte von 1,5 Nanogram pro Mililiter auf 3,5 Nanogramm erhöht werden. Dies wurde Ende März auch von der vom Verkehrsministerium eingesetzten Arbeitsgruppe vorgeschlagen. Bleibt zu hoffen, dass eine Umsetzung dessen zeitnah erfolgt. Falls nicht, kann man den niedrigen Grenzwert als „Prohibition durch die Hintertür“ bezeichnen!

Perspektive

Auch mit dem neuen Gesetz sollte unser Engagement für eine bessere Drogenpolitik nicht aufhören. Richtigerweise wird es auch nur als eine Teillegalisierung bezeichnet und die Prohibition für alle anderen Substanzen gehen weiter inklusive Schwarzmarkt und staatlicher Verfolgung. Wichtig ist jedoch, dass die Betriebe von Herstellung bis Vertrieb durch Arbeiter:innenhand und nicht privatwirtschaftlich geregelt sind. Durch das Profitstreben des Marktes wären beschissene Arbeitsbedingungen, das Unterlaufen der Qualität und ein Interesse am Süchtigmachen der Konsument:innen nicht gebannt.

Wir fordern deshalb:

– Die Legalisierung aller Drogen, um den Schwarzmarkt und die Verfolgung der Konsument:innen zu beenden!

– Gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter:innen, die bisher auf dem Schwarzmarkt arbeiten. So könnten sie für Arbeitsrechte und auch für eine demokratische Kontrolle des Drogenmarktes gemeinsam mit Wissenschaft und Konsument:innen kämpfen. 

– Verbot von Werbung für Drogen jeglicher Art! Verkauft werden sollen sie nur im speziellen Shops, das inkludiert Tabak und Alkohol, um Menschen nicht so einfach zum Kauf zu verleiten und Support einfacher zu machen!

– Massiven Ausbau von Präventionsmaßnahmen und sinnvoller Aufklärung ohne Verteuflung oder Beschönigung!

– Massiven Ausbau und kostenloser Zugang von Suchthilfen und Therapieplätzen! 

– Gegen racial Profiling! Offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für Alle!

– Für die Freilassung aller Gefangenen! Hilfen und Resozialisierung statt Strafe!

Nachwort von der Autorin:

Ich verstehe die Debatte um Drogen sehr gut und klar am Ende ist ein aktiv süchtiger Mensch auch nur bedingt für den Klassenkampf zu gewinnen, doch die Zahlen zeigen, dass ein Weg aus der Sucht nur mehr Hilfe sein kann und eben die Überwindung dieses Klassensystems, dass uns erst in die Sucht bringt, braucht. Kriminalisierung durch den Staat muss bekämpft werden, nur die organisierte Arbeiter„lnnenbewegung sollte Verbote umsetzen und das auch nur, wo sie nötig sind!

Ich bin selbst süchtig, mein Hauptsuchtmittel ist Cannabis und ich weiß, dass es schädlich für mich und mein Leben ist. Doch ich habe jahrelang konsumiert, weil ich der Welt, meinen Traumatas und Emotionen entfliehen wollte und nie gelernt habe, wie ich das auch ohne Konsummittel hinbekomme, es fällt mir heute noch schwer. Ich habe meine politische Arbeit dadurch weniger gut ausführen können, am Ende ging kaum noch was außer konsumieren, weder Alltag noch Schlaf waren möglich nach meinen Bedürfnissen statt nach den Bedürfnissen der Sucht auszurichten und es hat mich an den Rand meines Lebenswillen geführt. Daher möchte ich hier nochmal klar sagen, dass keine Droge zu unterschätzen ist und es wichtig ist, sich mit sich selbst, seinem Leben und Gefühlen auseinanderzusetzen und bewusst zu konsumieren oder eben garnicht. Ich möchte hier auch jede„n bestärken sich Hilfe zu suchen, wenn auch ihr betroffen von Sucht seid! Es ist natürlich im Kapitalismus keine perfekte Hilfe aber ihr habt zumindest hier in Deutschland die Chance, egal bei welcher Droge, medizinische und psychische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aus der Sucht kommt man auch schlecht alleine raus, auch das hab ich versucht und nicht geschafft und auch wenn es immer mal Rückschläge geben kann, weiß ich doch, dass ich nur ohne Konsum ich selbst bin, dass ich nur ohne Konsum die Kraft und Energie entwickeln kann mir und anderen zu helfen, dass ich nur ohne Konsum gegen dieses System kämpfen kann. Daher lasse ich euch hier noch ein paar Nummern für Hilfe da:

  • Bundesweite Sucht- und Drogen-Hotline (24 Stunden): 01806 – 31 30 31 (kostenpflichtig, 0,20 € pro Anruf aus dem Festnetz und aus dem Mobilfunknetz), www.sucht-und-drogen-hotline.de
  • Die Telefonseelsorge bietet kostenlose und anonyme Beratung rund um die Uhr und kann an geeignete Beratungsstellen weiter verweisen. Telefonisch zu erreichen unter 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222;  Es gibt zudem auch die Möglichkeit einer Online- bzw. Chatseelsorge. Weitere Infos unter www.telefonseelsorge.de
  • Nummer gegen Kummer: Kinder und Jugendtelefon 116 111, Elterntelefon 0800-111 0 550. Hier kann man sich auch online beraten lassen: www.nummergegenkummer.de/online-beratung
  • Informationstelefon zur Suchtvorbeugung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) unter 0221-89 20 31. (Preis entsprechend der Preisliste Ihres Telefonanbieters für Gespräche in das deutsche Festnetz). Auf Wunsch wird Ihnen hier eine Beratungseinrichtung in Ihrer Nähe genannt.



Aktionsprogramm für trans Jugendliche

von Jaqueline Katherina Singh, März 2024

Weltweit werden trans Menschen unterdrückt.  Ob nun Konservative, die in Talkshows deren Existenz leugnen, Radikalfeminist:innen, die Geschlecht allein an Genitalien ablesen wollen oder CDU-Poliker:innen, die Gendern für das größte Problem unserer Zeit halten, weil sie die Klimakrise nicht ernst nehmen. Es wird deutlich: Die Sichtbarkeit von trans Personen in der Öffentlichkeit hat sich in den letzten Jahren zwar verbessert, doch an der Unterdrückung hat sich wenig geändert. Schließlich ist diese in der gesamten Gesellschaftsstruktur verankert. Das Erstarken der Rechten bringt zudem gesellschaftliche Rollbacks mit sich wie in den USA oder Pakistan, die dafür sorgen, dass Queer- und insbesondere Transfeindlichkeit weiter zunehmen. Das beginnt mit reaktionären Argumentationen bezüglich Dragqueens und angeblicher „woker” Indoktrination in der Schule, kann dann auch zur Rücknahme erkämpfter Rechte und schließlich auch zu einer Zunahme von körperlichen Übergriffen gegen trans Personen führen. Dass diese Stimmung längst auch in Deutschland angekommen ist, können wir daran sehen, dass 2023 die Meldungen von körperlichen Angriffen auf Paraden zum Christopher Street Day (CSDs) die Nachrichten fluteten, während die CSU in Bayern diesen Kulturkampf der US-Amerikaner:innen versuchte zu adaptieren, indem auch sie gegen Auftritte von Dragqueens hetzten.  Im Folgenden wollen wir uns daher die Situation von trans Jugendlichen anschauen, die von vielen Unterdrückungsmechanismen nochmal stärker betroffen sind.

Unterdrückung in der Familie

Probleme mit der Familie sind für viele Jugendliche Alltag. Doch trans zu sein, kann diese noch mal verschärfen. Denn es geht nicht darum, einfach „nur” nicht verstanden zu werden.  Stell dir vor: Du kannst dich nicht so kleiden, wie du willst. Alle sprechen dich mit einem Namen an, der nicht dein eigener ist. Kurzum – man sieht dich nicht so, wie du wirklich bist. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass laut einer Studie des Deutschen Jugendinstituts 69,4 % der trans Jugendlichen befürchten, dass ihre Familie sie nicht akzeptieren wird. Doch was bedeutet das konkret?

Das Coming-out kann eine große Hürde sein, da die finanzielle und juristische Abhängigkeit von der Familie es nahezu unmöglich machen kann, sich frei auszudrücken oder notwendige medizinische Behandlungen wie Hormontherapie zu erhalten. Denn letzten Endes bestimmst nicht du über deinen Körper, sondern deine Erziehungsberechtigten. Das ist der Kern des Problems: Wenn deine Eltern kein Verständnis haben (wollen), dich nicht ernst nehmen – oder einfach nur hilflos sind, dann wird es schwierig. Die juristische, sowie finanzielle Abhängigkeit erschwert es vielen trans Personen massiv, einfach so das Elternhaus zu verlassen und auszuziehen. Ganz zu schweigen von der emotionalen Belastung, die damit einhergeht, wenn die eigenen Eltern/Erziehungsberechtigten einen nicht unterstützen können oder wollen. rans Menschen, v.a. Jugendliche haben eine viel zitierte enorm hohe Rate an Suizidversuchen (je nach Studie um die 40%). Wenn mindestens eine erwachsene Person sie unterstützt, sinkt die Wahrscheinlichkeit um etwa 30% Doch die Beratungsangebote für trans Jugendliche sowie ihre Eltern sind selten – und die wenigen, die es gibt, sind oft überlastet oder gar nicht unvoreingenommen. Deswegen treten wir nicht nur für den Ausbau von Beratungsstellen ein, für Jugendliche braucht es auch die Möglichkeit, bei Bedarf ihr Leben unabhängig vom Elternhaus gestalten zu können!

  • Für die ökonomische Unabhängigkeit von Schüler:innen, Studierenden und Jugendlichen in Ausbildung! Für ein monatliches Mindesteinkommen, angepasst an die Inflation, von 1.100 Euro plus Warmmiete, finanziert durch Besteuerung von Reichtum und Kapital!

  • Für selbstverwaltete Freiräume für Jugendliche, den massiven Ausbau von Jugendzentren und kostenlose Zugang zu einem ausgebauten Freizeit- und Kulturangebot, bezahlt durch die Besteuerung der Reichen!

  • Ausbau von flächendeckenden Beratungsstellen von und für LGBTIA+ und ihre Angehörigen!

  • Für den Ausbau von Schutzhäusern für Kinder und Jugendliche! Niemand soll bei seiner Familie bleiben müssen, wer das nicht möchte! Für die Förderung neuer Formen des Zusammenlebens, beispielsweise durch den Ausbau und die Weiterentwicklung des sozialen Wohnungsbaus! 

Schule und Ausbildung

Doch nicht nur in der Familie, sondern auch an Orten, wo man den Großteil seiner Lebenszeit verbringen muss – also Schule oder Ausbildungsstätte – wird man eingeschränkt. Eine weitere Studie des Bundesverbands Trans* aus dem Jahr 2017 zeigt, dass fast 90 % der trans Schüler:innen in Deutschland in der Schule diskriminiert werden. Dazu gehören u. a. die Verwendung des Deadnames und von falschen Pronomen, Belästigungen, Mobbing und auch physische Übergriffe. Die Studie zeigt auch auf, dass nur ein Bruchteil der betroffenen Schüler:innen sich an Lehrkräfte oder Schulleitungen wendet, da sie Angst haben, dadurch noch stärker stigmatisiert zu werden. Denn die wenigsten Schulen bieten Unterstützung gegen Mobbing und Diskriminierung an, auch wenn sich viele von ihnen das Abzeichen von Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage ans Tor hängen lassen. Aus einer weiteren Studie des Bundesverbandes geht hervor, dass nur 18 % der trans Schüler:innen das Gefühl haben, dass ihre Schule ein sicherer Ort für sie ist. Dies liegt auch daran, dass die Idee des binären Geschlechtersystems in der Gesellschaft vorherrschend ist und ebenso in der Schule reproduziert wird. Sei es durch Unterrichtsinhalte, bei denen Frau Meier den Wocheneinkauf für ihre Familie tätigt als Einleitung für eine Textaufgabe in Mathe, die klassische, heteronormative Sexualkunde im Biologieunterricht, lediglich ausgelegt auf Verhütung und Reproduktion, oder die Abwesenheit von queeren Lebensrealitäten in der Pflichtlektüre, die wir in Deutsch oder Englisch lesen müssen. Das gilt auch für Regelungen, die über den bloßen Unterricht hinausgehen, aber den Schulalltag prägen wie z. B. fehlende geschlechtsneutrale Toiletten oder Umkleideräume sowie die allgemeine Adressierung der Schüler:innenschaft in Rundbriefen. Das Verbot. an Schulen zu gendern, wie es in Sachsen und Sachsen-Anhalt bereits umgesetzt wurde, oder in Berlin durch die CDU-Regierung zumindest diskutiert wird, tut sein Übriges. Auch wenn Gendern nicht automatisch zur Befreiung von trans Personen führt, so ist dennoch die Repräsentation in der Sprache auch ein mögliches Kampffeld.

  • Schluss mit Deadnames auf Klassenarbeiten, Schüler:innenausweisen und Klassenbüchern! 

  • Für die Möglichkeit, den Namen und Geschlechtseintrag in der Schule einfach und unbürokratisch zu ändern! 

  • Wir bestimmen, was wir lernen wollen: Rahmenlehrpläne unter Kontrolle der Lernenden, Lehrenden, Arbeiter:innenbewegung und Vertreter:innen von Diskriminierten! Für angemessenen, verpflichtenden Aufklärungsunterricht vor der Geschlechtsreife und die gleichberechtigte Darstellung aller Formen von Geschlecht, Geschlechtsidentität, Sexualität und des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs!

  • Kampf der Diskriminierung an der Schule: Für breite Aufklärungskampagnen durch die Gewerkschaften von Lehrkräften und Schüler:innen und für eine von der Schulleitung unabhängige Antidiskriminierungsstelle, kontrolliert von Lernenden, Lehrenden und Organen der Arbeiter:innenklasse, die jederzeit wähl- und abhwähbar sind!

  • Von Schüler:innen selbstorganisierte Freiräume, die in den Pausen für alle frei zugänglich sind, an jeder Schule und den Ausbau von Unisextoiletten sowie Umkleideräumen!

Ähnlich sieht die Situation in der Ausbildung aus. Hier kommt jedoch der ökonomische Druck hinzu, der es vielen erschwert, sich selbst auszuleben oder dies sogar komplett unmöglich macht. Eine Studie – ebenfalls aus dem Jahr 2017 – von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat ergeben, dass trans Personen in der Ausbildung häufiger diskriminiert werden als ihre cis-geschlechtlichen Kolleg:innen. 48 Prozent der befragten trans Personen gaben an, bereits Diskriminierung am Arbeitsplatz erlebt zu haben, während es bei cis Personen nur 24 Prozent waren. 

Die Diskriminierung reichte von Mobbing über das Ausgrenzen aus dem Team bis hin zu sexueller Belästigung. Dabei ist klar: Ob nun Kolleg:innen, die durch mangelndes Wissen mit Stammtischparolen um sich werfen, oder beispielsweise Kund:innen, die eine/n missgendern oder gar offen ausgelebte Transfeindlichkeit: Als Azubi für die eigenen Rechte einzustehen, ist um ein Vielfaches vertrackter. Das liegt aber nicht (nur) am Alter an sich, sondern der Status als Azubi ist hier das entscheidende Moment – Lehrjahre sind schließlich keine Herrenjahre. Dass man als ungleiche Arbeitskraft angesehen wird, die erstmal „richtig ausgebildet” werden muss, bevor man als gleichrangig angesehen wird, wirkt sich auch auf den Umgang miteinander aus. Herablassende Bemerkungen, gar Beleidigungen statt konstruktiver Kritik sind in bestimmten Branchen ganz offen an der Tagesordnung, in anderen existieren sie eher versteckt. Das kann soziale Unterdrückung verstärken und den Rahmen, wie man sich dagegen wehren kann, erheblich einschränken. Wenn wir also in der Ausbildung gegen Transfeindlichkeit kämpfen wollen, dann müssen wir das mit dem Kampf für bessere Ausbildungsrechte verbinden!

  • Tarifliche und rechtliche Gleichstellung aller Auszubildenden! Mindestausbildungsvergütung in Höhe des Mindestlohns und Anhebung dessen auf 15 Euro die Stunde!

  • Gegen alle Versuche und Regelungen wie „Job aktiv“ und „Kombilohn“, die den Billiglohnsektor ausweiten! Übernahme aller befristeten und Leiharbeits- in Normalarbeitsverhältnisse statt Ausdehnung der Flexibilisierung und des Niedriglohnsektors!

  • Probezeit? Nein Danke: Volle wirtschaftliche Rechte – inklusive des auf Streik – für Azubis!

  • Übernahme garantiert: Volle und unbefristete Übernahme aller Jugendlichen nach der Ausbildung – bei Verweigerung der Übernahme Strafzahlung! Für die Abschaffung aller Quoten, die die Übernahme beschränken! 

  • Für das Recht, in Job und Ausbildung den gewählten Namen zu nutzen, auch wenn dieser noch nicht im Ausweis steht!

Um die Situation am Arbeitsplatz nachhaltig zu verbessern, muss sich auch was in den Gewerkschaften ändern. Es ist ein erster Schritt gewesen, dass man auch „divers” im Mitgliedsausweis angeben kann – aber mal ehrlich, ausreichend ist das nicht. Erstmal sollte es nicht verpflichtend sein, das eigene Geschlecht überhaupt angeben zu müssen. Darüber hinaus müssen Gewerkschaften an Betrieben und Berufsschulen präsent sein. Das heißt, zum einen Aufklärungskampagnen gegen Diskriminierung an Betrieben, Schulen und Unis organisieren und zum anderen auch, die Präsenz durch Beratungsstellen an Berufsschulen sowie die Vertrauenskörperstruktur in den Betrieben flächendeckend auszubauen. Zusätzlich ist es ein Problem, dass für Länder wie Deutschland Datenerhebungen fehlen, wenn es darum geht, die Verbindung von Einkommen und Unterdrückung zu erfassen. Zahlen aus den USA belegen, dass dort insbesondere schwarze trans Frauen weniger als der US-Durchschnitt verdienen. Solche Erhebungen wären ein erster Schritt, um auch passende Forderungen aufwerfen zu können und würde zudem klar zeigen, dass Gewerkschaften sich bewusst positionieren.

  • Flächendeckender Ausbau der Vertrauenskörperstrukturen und Antidiskriminierungsstellen!

  • Für das Recht auf gesonderte Treffen in den Organisationen der Arbeiter:innenbewegung, um den Kampf für Gleichberechtigung voranzutreiben und gegen diskriminierendes und chauvinistisches Verhalten vorzugehen!

  • Breite Kampagnen zur gewerkschaftlichen Organisierung von Jugendlichen! Wir wollen uns nicht bevormunden lassen: Gerechte Repräsentanz in den Gremien der Gewerkschaften! 

  • Regelmäßige Erhebungen bzgl. Einkommen und Diskriminierungserfahrungen, kontrolliert durch Gewerkschaften!

Medien, Alltag und Gewalt

Ob Bahnhofstoiletten, Behördengänge, Bekleidungsgeschäfte oder das umfangreiche Sortiment an Waren, die man erwerben kann: Wenn man mal darauf achtet, dann wird deutlich, wie viel in unserer Gesellschaft eigentlich von der binären Geschlechterordnung bestimmt wird. Daraufhin einfach mal abschalten und eine Serie schauen, um den Stress in der Schule oder Familie zu vergessen? Das ist aber nur bedingt möglich. In den letzten Jahren wurden zwar immer mehr trans Charaktere in Serien und Filme integriert. Dennoch: Die Sichtbarkeit ist umkämpft und noch längst nicht ausreichend. Diversität heißt übrigens nicht, so viele unterdrückte Gruppen wie möglich zu zeigen, sondern auch eine Varianz dieser mit einzubeziehen. 

Ansonsten werden immer wieder Stereotype reproduziert. Was bedeutet das in der Praxis? Es ist legitim, sich mit dem Thema Transition auseinanderzusetzen. Aber genauso notwendig ist es, unterschiedliche Erfahrungen mit einzubeziehen: Nicht-binäre trans Personen sind eher unterrepräsentiert und Menschen, die trans sind, aber sich nicht in die jeweilige Geschlechterrolle stecken lassen wollen, werden meistens negativ dargestellt. Die Charaktere, die am positivsten wegkommen, sind jene, die der binären Geschlechterordnung am meisten entsprechen. Das zu zeigen, ist nicht per se falsch, das ausschließlich zu zeigen, allerdings schon. Flache Charakterarchs hin zur Akzeptanz der eigenen Transidentität oder das bloße Darstellen von körperlicher und sozialer Transition oder dem Umgang mit Diskriminierung sind vielleicht für cis Personen interessante Geschichten, aber für trans Menschen ist das einfach unser selbstverständlicher Alltag und damit totlangweilig. Wir wollen trans Held:innen, Bösewichte, Mütter, Nebencharaktere, Kolleg:innen etc. in Serien und Filmen, deren Transidentität sie nicht definiert – aber eben selbstverständlicher Teil ihrer Geschichte und Lebensrealtität ist.

Besser wird es jedoch auf keinen Fall, wenn man die meisten Nachrichtenseiten aufruft. Die vermehrte Repräsentation von trans Personen, die Bevormundung von Jugendlichen, die Krise der bürgerlichen Familie, der allgemeine gesellschaftliche Rechtsruck und der Misserfolg des bürgerlichen Feminismus hinsichtlich der Überwindung von Frauenunterdrückung, haben unter anderem dazu geführt, dass (vermeintliche) Feminist:innen wie Alice Schwarzer vom „Transtrend“ sprechen. In Nachrichten – insbesondere in populistischen Blättern –   werden fiktive Szenarien beleuchtet, in denen angebliche Feminist:innen vor allem trans Frauen unglaubliche Dinge unterstellen, anstatt über die reale Gewalt, die trans Personen angetan wird, zu berichten. Die Kriminalstatistik zeigt jedoch: Zwischen 2018 und 2021 hat sich die Gewalt gegen queere Menschen mehr als verdoppelt. Das führt uns zur eigentlichen Gefahr: Während man in größeren Städten zwar etwas „sicherer” als in ländlicheren Gegenden ist, so ist es nicht gegeben, dass man mal „einfach so” Bahn fahren kann. Komische Blicke, Beleidigungen und die Angst vor Gewalt gehören in der Regel dazu, wenn man nicht so aussieht, wie die klassischen Geschlechterrollen es verlangen.  Das wird verstärkt durch den stetigen Rechtsruck, den wir erleben, und so steigt auch die Gefahr für gezielte Übergriffe. Selbst in vermeintlich „queerfreundlichen” Großstädten wie Berlin kommt es mittlerweile nicht nur zu verbalen, sondern auch körperlichen Angriffen.

  • Enteignet die „kulturschaffende“ Industrie (Gameentwickler, Filmproduktionen, …) und organisiert die Produktion durch Räte aus Arbeiter:innen, Zuschauer:innen und Unterdrückten!

  • Gewalt stoppen: Demokratisch organisierte und gewählte Selbstverteidigungskomitees gegen Übergriffe auf LGBTIA+! Für den Ausbau von Schutzräumen für LGBTIA+ und Unisexorte in der Öffentlichkeit!

Medizinische Versorgung

Arz-/Ärztinttermine sind generell ein rares Gut. Wer versucht hat, einen Beratungstermin beispielsweise beim/bei der Endokrinolog:in zu bekommen, weiß, dass Wartezeiten von über einem halben Jahr keine Seltenheit sind. Deswegen bedeutet der Kampf für Selbstbestimmung auch ein Kampf für die Verbesserung des Gesundheitssystems insgesamt. Das bedeutet:

  • Weg mit Privatisierung der Krankenhäuser! Nein zu deren Schließungen auf dem Land!

  • Für einen höheren Personalschlüssel und Verkürzung der Arbeitszeit für alle Beschäftigten bei  vollem Lohnausgleich!

Finanziert werden sollte das Ganze durch die Abschaffung des DRG-Systems, Abschaffung des Zweiklassen-Gesundheitssystems (also nur gesetzliche Krankenkassen statt privater), Besteuerung der Reichen und Enteignung der Klinik- und Pharmaziekonzerne. So können eine schnellere Terminvergabe sowie qualitativ bessere Betreuung gewährleistet werden. Doch nicht nur Termine sind ein Problem: Arzt-/Ärztinbesuche bei Gynäkolog:innen sowie Urolog:innen sind für viele nicht nur mit emotionalem Stress verbunden sind – sondern können auch mit Ablehnung und Unverständnis seitens Praxismitarbeitenden oder anderen Patient:innen begleitet werden. So hat laut einer Studie der deutschen AIDS-Hilfe und des RKI von 2023 fast jeder fünfte nicht-binäre oder trans Mensch (17 Prozent) bereits aus Angst vor Diskriminierung lieber auf bestimmte medizinische Leistungen verzichtet. Auch in der Apotheke kann es unangenehm werden, wenn die Mitarbeiter:innen beispielsweise einem trans Mann keine Pille danach rausgeben möchten, da in manchen Apotheken die Vorgehensweise üblich ist, dass sie Pille nur an die betroffene Frau verkauft wird. In einer Situation, wo sich viele sowieso schon gedemütigt aufgrund des gesellschaftlichen Stigmas bei Notfallverhütung fühlen, müssen trans Personen nun auch noch ihr Anliegen zusätzlich begründen.

Die Transition an sich ist auch mit vielen Hindernissen verbunden. So müssen sich trans Menschen vor einer Hormonbehandlung oder chirurgischen Eingriffen in zwei unabhängigen Gutachten unangenehmen psychosozialen Befragungen stellen, wo unter anderem intime Details über das Sexualleben und den mentalen Gesundheitszustand abgefragt werden, damit Ärzt:innen bestätigen können, dass die Person für eine solche Behandlung in Frage kommt. Das kann auch dazu führen, dass nicht-binäre trans Personen, welche den Wunsch nach einer Hormonbehandlung hegen, ihre Ärzt:innen anlügen müssen, da sie diese Hormone nur bei einer binären Transgeschlechtlichkeit verschreiben (können). Mit diesem unnötigen und beschämenden Herumstochern im Privatleben muss Schluss sein! Beratungsstellen müssen ausgebaut werden, aber die Beratung sollte sich nicht wie eine Prüfung anfühlen und letztendlich sollte es keine Fremdbestimmung durch das ärztliche Personal geben.

Für trans Jugendliche spielt auch die Frage von Pubertätsblockern eine Rolle, die verhindern sollen, dass sie in die Pubertät kommen und diesem Leidensdruck, der damit einhergeht, ausgesetzt werden, obwohl sie bereits beginnen, ihre Geschlechtsidentität zu hinterfragen. Es zu begrüßen, dass trans Jugendlichen so eine Möglichkeit geboten wird, die Selbstbestimmung über die Entwicklung ihres Körpers erlangen zu können. Statt Panikmache von Alice Schwarzer und Co. und Bevormundung durch die Eltern, braucht es gute Aufklärung über die bestehenden Studien (die existieren, da Hormonblocker schon seit Jahrzehnten in anderen medizinischen Fragen eingesetzt werden) und einfach medizinische Studien für Hormon Replacement Therapie. 

Zudem ist – wie auch woanders – die Medizin von gesellschaftlicher Unterdrückung geprägt. Das wird deutlich daran, dass viele Patient:innenstudien, Symptome und Medikamentenvorgaben auf Basis cis-männlicher Körper stattfinden – was beispielsweise dazu führt, dass Personen mit biologisch weiblichem Körper vermehrt an Herzinfarkten sterben, weil sie andere Symptome aufweisen oder nicht ernst genommen werden, insbesondere wenn sie nicht-weiß sind. Falsche Kategorisierung des Geschlechts der Betroffenen oder die Annahme, es würde sich um einen cis Körper handeln, können auch fatale Folgen hinsichtlich der Beratung bei Verhütungsmethoden sowie der Behandlung von Geschlechtskrankheiten oder der HIV-Prävention haben, da manche Beratungen aufgrund der Vermutung einer Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung nicht durchgeführt werden und auch hier die Präparate unterschiedlich auf die Körper wirken. Nach einer Personenstands- und Namensänderung zahlt die Krankenkasse teilweise „geschlechtsspezifische“ Behandlungen wie HPV Impfungen nicht mehr (bzw. man muss sich ihnen extra erklären und damit rumschlagen). 

Viele Ärzt:innen wissen außerdem schlicht nicht, was eine HRT (Hormone Replacement Therapy) an einem Körper ändern kann und ignorieren z.B. dass bei einer Testosterontherapie das Risiko von Herzerkrankungen auf das eines cis Mannes steigt, andere körperliche Vorgänge eher wie bei cis Frauen funktionieren und wieder andere Dinge mit beidem nur noch wenig zu tun haben. Faktisch führt das dazu, dass trans Menschen oft zu Ärzt:innen gehen und ihnen erstmal ihren Körper erklären müssen. Da an der Stelle aber zu wenig Forschung existiert, es sehr kompliziert werden kann, die Beschäftigung mit dem eigenen Körper mental schwierig sein kann und die Ressourcen begrenzt sind, sind viele trans Menschen dazu verständlicherweise nicht in der Lage. Der erschwerte Zugang führt aber dazu, dass manche trans Personen sich über inoffizielle Wege Hormone besorgen müssen. Ohne medizinische Überwachung der Dosierung und Nebenwirkungen kann das aber auch sehr gefährlich für die Betroffenen enden. Das heißt, wir brauchen Forschung, Lehre und Praxis, die die Auswirkungen gesellschaftlicher Diskriminierung mit einbeziehen, sowie eine Medizin, die eine biologische Bipolarität  der Geschlechter anerkennt! Des Weiteren brauchen wir auch eine Auseinandersetzung mit der Produktion von Medikamenten und Präparaten in der Pharmazie. Die Devise heißt hier Enteignung unter Arbeiter:innenkontrolle und die Aufhebung des Patentrechts, um zu gewährleisten, dass die Produktion von Pubertätsblockern und Hormonpräparaten nicht unter Profitinteresse steht und sie auch in einer Langzeitanwendung so sicher wie möglich sind!

  • Für Selbstbestimmung über den eigenen Körper: Für das Recht auf kostenfreien und unbürokratischen Zugang zu medizinischer Geschlechtsangleichung!

  • Schluss mit Diskriminierung: Rahmenlehrpläne in der medizinischen Ausbildung unter Kontrolle von Ärzt:innen, Arbeiter:innen und Vertreter:innen von Unterdrückten! Für breite Sensibilisierungskampagnen gegen Diskriminierung im Gesundheitssystem und den Ausbau von Gesundheitszentren speziell für Frauen und LGBTIA+! 

  • Intersex vollständig legalisieren: Verbot medizinisch nicht notwendiger, kosmetischer
    Genitaloperationen an Kindern!

  • Rekommunalisierung und Verstaatlichung aller privatisierten Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und Patient:innen, die ein Interesse an guten Arbeitsbedingungen und guter Gesundheitsversorgung haben!

  • Freier und kostenloser Zugang zu Verhütungsmitteln! Massiver Ausbau der Beratung und Forschung in diesem Bereich!

Staatliche Diskriminierung

Seit August 2023 ist das TSG (Transsexuellengesetz) Geschichte und wurde durchs sogenannte „Selbstbestimmungsgesetz” ersetzt. Erst einmal das Positive: Das Selbstbestimmungsgesetz ermöglicht es trans, intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen, ihren Namen und Geschlechtseintrag auf Antrag beim Standesamt zu ändern. Während man früher vor Gericht gehen musste sowie zwei psychologische Gutachten brauchte , nur um die Personenstandsänderung durchzusetzen, kann man ab Herbst 2024 Namen und Geschlecht angleichen, indem man sich 3 Monate vor der sogenannten „Erklärung mit Eigenversicherung“ beim Standesamt anmeldet. Doch für Minderjährige ist der Prozess der „Selbstbestimmung“ weitaus weniger frei und eigenständig möglich. Personen ab 14 Jahren haben zwar das Recht, ihren Antrag auf Geschlechtsänderung selbst einzureichen. Seine Wirksamkeit hängt jedoch von der Zustimmung der sorgeberechtigten Person oder des Familiengerichts ab. 

Alle jüngeren Personen dürfen nicht mal den Antrag selber einreichen und haben wenig mitzureden, welches Geschlecht oder welcher Name angegeben wird. Ausgeschlossen werden ebenso Personen, deren Visum bald abläuft – um zu verhindern, dass sie sich vor der Abschiebung „drücken” können. Auch im „Spannungs- und Verteidigungsfall“ kann die Angleichung auch „ausgesetzt” werden, um Menschen in den Wehrdienst einzuziehen. Besonders fatal ist, dass mit dem Selbstbestimmungsgesetz eine Liste erstellt wird. Das heißt: Alle trans Personen (mit ihren Deadnames und Adressen) sind den staatlichen Strukturen wie BKA, Polizei und Geheimdienst bekannt. Man benötigt keine Datenschutzexpertise, um zu wissen, dass das überhaupt nicht nötig ist, sondern vielmehr eine Gefährdung darstellt .

  • Für Selbstbestimmung über die eigene Geschlechtsidentität: Für Recht auf kostenfreien und unbürokratischen Zugang zur offiziellen Namens- und Personenstandsänderung! Gegen den Zwang, das Geschlecht in amtlichen Dokumenten anzugeben!

  • Keine Weitergabe dieser Informationen an Bundeskriminalamt (BKA), die Landeskriminalämter, die Bundespolizei, das Bundesamt für Verfassungsschutz und den Militärischen Abschirmdienst!

  • Volle rechtliche Gleichstellung von LGBTIA+! Gleichstellung aller Partnerschaften und Lebensgemeinschaften mit der Familie! Für die automatische Eintragung queerer Eltern auf die Geburtsurkunden ihrer Kinder: mit ihren gewünschten Namen und Geschlecht!

Ursprung der Unterdrückung

Die Beispiele zeigen: Die Unterdrückung von trans Menschen ist überall zu finden. Doch wenn wir sie nicht nur oberflächlich bekämpfen wollen, müssen wir uns fragen: Woher kommt sie eigentlich?  Für uns als Marxist:innen ist die Diskriminierung von trans und anderen queeren Personen eng mit der Frauenunterdrückung verbunden. Letztere wird in der kapitalistischen Gesellschaft durch die Auslagerung von Reproduktionsarbeit (beispielsweise Kindererziehung, Pflege, Kochen, Waschen etc.) ins Private manifestiert. Kollektive Küchen, Waschhäuser oder auch Pflege könnte man gesamtgesellschaftlich organisieren und dadurch massiv Zeit einsparen (und so auch die Qualität verbessern). Doch um Kosten zu sparen, wird diese Arbeit in das Privatleben von Individuen gedrängt. Frauen tragen dabei oftmals die Hauptlast der reproduktiven Arbeit aufgrund der geschlechtlichen Arbeitsteilung, die vorherrscht. Der Stereotyp der bürgerlichen Familie macht das besonders deutlich: 

Hier hat „alles seine Ordnung” und die Rollen sind klar verteilt: Der Mann ernährt als Hauptverdiener die Familie, während die Frau bestenfalls noch etwas dazuverdienen darf, sich aber hauptsächlich um den Haushalt und die Kindererziehung kümmert. Wer sich jetzt denkt, dass die 1960er Jahre angerufen haben und ihre verstaubte Lebensrealität zurückhaben wollen, hat recht. Jedoch wird diese Aufteilung nach wie vor vielerorts reproduziert: Sei es in Medien, durch Religionen, konservative Politiker:innen oder durch Gesetze, die Hetero-Zweierbeziehungen bevorzugen. Kurzum: Die bürgerliche Familie nimmt im Kapitalismus einen ideologischen Stellenwert ein, der geschützt wird. Dies geschieht nicht rein zufällig, sondern ist einfach eine Ideologie und Praxis, die für den Kapitalismus besonders profitabel ist. So werden durch das Idealbild der Familie die Erbschaftsverhältnisse der Herrschenden geregelt, während die ganze Reproduktionsarbeit der Arbeiter:innenklasse unentgeltlich im Privaten stattfindet. Menschen, die nun nicht in dieses cis- und heteronormative Gesellschaftsbild hineinpassen, sind der bürgerlichen Gesellschaft natürlich ein Dorn im Auge. Denn mit ihrer bloßen Existenz stellen sie eine Gesellschaftsordnung in Frage, in der es „natürlich„ scheint, dass Männer arbeiten, Frauen Hausarbeit verrichten, und es normal ist, dass nur heterosexuelle Paare Kinder bekommen. Das erklärt auch, warum insbesondere Rechte und andere Reaktionär:innen so vehement gegen Queers eintreten.  Gleichgeschlechtliche Partner:innen lieben, mehr als eine/n Partner:in haben oder eben das eigene Geschlecht angleichen lassen – all das greift die geschlechtliche Arbeitsteilung an. Diese ist jedoch notwendig, um die Familie und somit die Auslagerung der Reproduktionsarbeit ins Private aufrechtzuerhalten und somit auch der Ursprung der Unterdrückung von LGBTIA+.

  • Kampf für Reduzierung der Arbeitszeit für die gesamte Arbeiter:innenklasse, damit die
    Reproduktionsarbeit auf alle  verteilt werden kann und den Frauen die Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben erleichtert wird!

  • Kampf den Geschlechterrollen: Schluss mit geschlechtlicher Arbeitsteilung: Für die Vergesellschaftung der Haus- und Reproduktionsarbeit; gleichmäßige Aufteilung der übrigbleibenden privaten Tätigkeiten!

Was tun?

All diese Forderungen zu erkämpfen, wäre ein wichtiger Schritt in der Verbesserung der Situation von trans Personen. Unser Ziel muss jedoch sein, der Unterdrückung die materielle Grundlage zu entziehen. Deswegen ist für uns der Kampf für die Befreiung von LGBTIA+ verbunden mit der Notwendigkeit, die Reproduktionsarbeit zu vergesellschaften und die kapitalistische Gesellschaft zu zerschlagen!

In der Praxis setzen wir uns für einen gemeinsamen Kampf von Frauen-, LGBTIA+- und Arbeiter:innenbewegung ein. Zum einen, weil Erstere genauso Teil der Arbeiter:innenklasse sind und das Bild des „Arbeiters im Blaumann” als diese vollständig repräsentierendes veraltet ist. Zum anderen nimmt die Arbeiter:innenklasse eine Schlüsselposition ein, wenn es darum geht, Forderungen durchzusetzen. Durch ihre Stellung im Produktionsprozess kann sie durch Streiks ökonomischen Druck aufbauen und so sichern, dass Reformen durchgesetzt werden können. Sie ist auch zentral, wenn es darum geht, den Kapitalismus zu zerschlagen. Deswegen ist es unsere Aufgabe, revolutionäres Bewusstsein in die Klasse zu tragen und den gemeinsamen Kampf zu führen, um gegen existierende Vorurteile sowie Diskriminierung zu kämpfen und letzten Endes die Grundlage von LGBTIA+-Unterdrückung zu beseitigen. Um das zu ermöglichen, glauben wir, dass es notwendig ist, dass in den Organisationen der Arbeiter:innenklasse – ob nun Gewerkschaft, revolutionärer Organisation oder Partei – das Recht für gesellschaftlich Unterdrückte besteht, einen Caucus zu bilden, d. h. einen Ort, an dem sie sich unter ihresgleichen treffen können, um sich über erlebte Unterdrückung auszutauschen, ob nun innerhalb oder außerhalb der Strukturen. Dafür benötigen wir auch ein revolutionäres Programm, welches alle Forderungen, die sich auf die unterschiedlichen Ausgebeuteten und Unterdrückten beziehen, zu einem gemeinsamen Kampf verbindet.




Gegen Diskriminierung kämpfen heisst Gegenmacht aufbauen!

von Dilara Lorin, März 2023

Als Jugendliche sind wir gezwungen, uns tagein tagaus in der Schule aufzuhalten. Doch obwohl wir einen Großteil unserer aktuellen Lebenszeit dort verbringen und zahlenmäßig die größte Gruppe sind, die sich dort aufhält, haben wir kaum Rechte zu bestimmen, wie unsere Schule aussieht und was dort passiert. Lerninhalte, Pausenzeiten, Essen, die Gestaltung des Schulgebäudes … – alles wird jenseits unserer Kontrolle von anderen bestimmt. Dass das eine große Scheiße ist, merken wir gerade jetzt, wo der gesellschaftliche Rechtsruck und die Krise des Kapitalismus dafür sorgen, dass sich unsere Lernbedingungen durch Sozialkürzungen, Krieg, Sexismus und Rassismus stetig weiter verschlechtern. Doch wir werden den transfeindlichen Spruch eines Lehrers nicht widerstandslos hinnehmen und auch nicht schweigend zusehen, wenn unsere Mitschüler:innen aufgrund von Rassismus gezwungen werden, ihre Kuffiyas nicht mehr zu tragen. Unsere individuelle Empörung braucht einen Ort, an dem sie gebündelt und in einen kollektiven Kampf dagegen übersetzt werden kann. Lasst uns deshalb gemeinsam Antidiskriminierungsstellen in den Schulen erkämpfen – eine selbstverwaltete Stelle, in der Schüler:innen und Schulbeschäftigte anonym über diskriminierendes Verhalten und Situationen berichten und gemeinsam dagegen vorgehen können.

Was bedeutet Gegenmacht?

Gegenmacht bedeutet im Allgemeinen, eine demokratische und kollektive Macht durch Organisationen und Strukturen aufzubauen, die parallel zur autoritären und herrschenden Macht von Staaten und Regierungen existiert. Dabei ist die von Revolutionär:innen aufgebaute Gegenmacht jene, die von der Arbeiter:innenklasse, der Bauernschaft und den Unterdrückten gebildet wird. Ihr Ziel ist es, die Macht der Herrschenden für ihren Sturz herauszufordern und im Kern schon die Perspektive für eine demokratischere und freiere Gesellschaft darzustellen. Das bedeutet, dass die Organe der Gegenmacht politische Fragen gemeinsam entscheiden und verfolgen müssen. Sie müssen eine Einheit der Interessen der Arbeiter:innen und Unterdrückten wiederspiegeln und der vereinzelnden Macht der Herrschenden ihre kollektive Stärke entgegensetzen. Solche Gegenmachtorgane haben aber auch im Kleinen die Aufgabe, eine Alternative zu bestehenden Strukturen und Herrschaftsformen darzustellen.

Das Prinzips des Aufbaus von Gegenmacht stammt historisch von den Räten oder Sowjets. Ein bekanntes Beispiel sind die russischen Sowjets von 1905-1917, welche die Keimzellen der sozialistischen Oktoberrevolution waren. Die Bolschewiki betrachteten den Sowjet als den besten und direktesten organisatorischen Ausdruck der Macht des Proletariats und seiner Verbündeten. Der Sowjet war ein Rat, der alle ausgebeuteten und unterdrückten Gruppen repräsentierte und auf dem Prinzip der direkten Wahl, ständiger Abwählbarkeit und Abschaffung bürokratischer Privilegien beruhte. Er bildete die bestmögliche Grundlage für die Diktatur des Proletariats – für den demokratischen Rätestaat. Im Kampf um die Macht ist der Rat das Werkzeug, um alle gegen den Kapitalismus kämpfenden Kräfte zu vereinen und dem parlamentarischen System der bürgerlichen Klassenherrschaft die proletarische Macht der demokratischen Räte entgegenzustellen. Die Räte zeichnet ebenfalls aus, dass sie Wirtschaft und Politik nicht künstlich trennen, wie es im kapitalistischen politischen System der Fall ist. Hier werden im Parlament nur politische Reglungen und Gesetze festgelegt und wird die Masse der Menschen der Anarchie des Marktes unterworfen. Die Räte dagegen vereinen politischen und ökonomischen Kampf, denn nur durch das Mittel des Streiks kann die Arbeiter:innenklasse sich ihrer eigenen Stärke bewusst werden. Auch in Deutschland gab es im Zuge der Novemberrevolution 1919 eine starke Rätebewegung und sogar kurzzeitig eine Räterepublik, welche jedoch durch den Verrat der SPD gemeinsam mit kaisertreuen Kräften zum Erhalt der kapitalistischen Ordnung blutig gestürzt wurde. Die Beispiele der russischen Sowjets oder deutschen Räte zeigen auch, dass bürgerliche Macht und proletarische Gegenmacht in sogenannten „Doppelmachtsituationen“ nie beide über einen längeren Zeitraum parallel existieren können, sondern sich das herrschende Kräfteverhältnis immer zu Gunsten des Einen oder des Anderen auflösen muss.

Wichtig ist dabei zu verstehen, dass der Aufbau von Gegenmacht kein Selbstzweck ist. Er ist eingebettet in den Kampf für die Zerschlagung des Kapitalismus und den Aufbau einer befreiten Gesellschaft. Dafür braucht es ein revolutionäres Programm, für das auch in den Räten gekämpft werden muss. Denn nur weil diese demokratischer sind als das bürgerliche Parlament bedeutet das nicht, dass sie automatisch die richtigen Entscheidungen treffen. So haben die Bolschewiki vorerst eine Minderheit in den Sowjets dargestellt, sodass viele Sowjets lange auch eine nicht-revolutionäre Linie vertreten haben. Erst durch ihr unermüdliches Eintreten für ihr revolutionäres Programm ist es ihnen gelungen, die Sowjets in eine siegreiche sozialistische Revolution zu führen.

Was hat das mit Antidiskriminierungsstellen zu tun?

Das Prinzip des Aufbaus von Gegenmacht wurde in der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung nicht nur den in revolutionären Räten angewendet, sondern auch auf kleineren Ebenen: in den Schulen, Unis und Betrieben. Für uns bedeutet das, den Kampf um Antidiskriminierungsstellen als Kampf um Gegenmacht in den Schulen zu verstehen. Deshalb ist es wichtig zu betonen, dass solche Stellen unabhängig von Staat, Schulaufsicht und Schulleitung sein müssen, denn diese sind es, die in Zeiten von Druck und Krisen jede erkämpfte Chance wieder zurücknehmen würden. Fortschrittliche Reformen, die in Schulen umgesetzt werden, können vom Staat also auch wieder zurückgenommen werden, wenn sich Regierungen und damit zusammenhängend auch Kräfteverhältnisse ändern. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist das Genderverbot in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Bayern und Schleswig-Holstein, das zwischen Juli 2023 und März 2024 in den Schulen eingeführt wurde. Lehrpersonen ist es damit untersagt ihre Sprache zu gendern. Vorsichtige Versuche ein kleines bisschen Antisexismus in der Schule zu etablieren, will der Staat rigide zerschlagen. Im Kampf gegen Diskriminierung können wir uns also nicht auf den Staat und seine Institutionen verlassen. Wenn fortschrittliche Reformen erkämpft werden, dürfen diese also nicht aus der Hand gegeben werden, sondern wir müssen auch um ihre Kontrolle kämpfen. Der Kampf um die Kontrolle geht einher mit dem Kampf um die Durchsetzungsfähigkeit. Unser Kampf für Antidiskriminierungsstellen muss also mit den Forderungen nach Unabhängigkeit von der Schulleitung und den nötigen Mitteln, um beschlossene Maßnahmen auch im Schulalltag umsetzen zu können, verbunden werden.

Klar ist aber auch, dass es unter den Jugendlichen und Lehrer:innen unterschiedliche Ansichten darüber gibt, wie Diskriminierung definiert wird, welche Konsequenzen diskriminierendes Verhalten haben sollte und wie damit umgegangen wird. Deshalb muss es auch hier offene Debatten darüber geben. Historisch hat schon die Oktoberrevolution gezeigt, dass Räte allein nicht ausreichen, weil auch superdemokratische Räte falsche Entscheidungen treffen können. Darum ist es die Aufgabe von Revolutionär:innen innerhalb von Gegenmachtstrukturen, egal ob in der Schule oder im Betrieb, auch für ein revolutionäres Programm zu kämpfen. Dies bedeutet in diesem Fall konkret die Unabhängigkeit der Antidiskriminierungsstelle zu verteidigen und für eine materialistische Analyse von Diskriminierung einzutreten. Dem Definitionsmachtansatz setzt diese das doppelte-Beweislastausgleichverfahren entgegen.

Wie kann die Praxis von Antidiskriminierungsstellen aussehen?

Ein Beispiel für diskriminierendes Verhalten brauchen wir hier wahrscheinlich nicht zu nennen, denn jedem:jeder von uns fällt nach kurzem Nachdenken sicher eines ein und niemand wird behaupten können: „Meine Schule ist frei von Sexismus/Rassismus/Querfeindlichkeit etc“. Denn auch die Schule befindet sich nicht im luftleeren Raum, sondern ist Teil des kapitalistischen Systems, das die Wurzel aller Unterdrückungsformen darstellt. Somit ist es eine Frage des Willens aller von uns, unseren Alltag in der Schule selbst in die Hand zu nehmen und sich diesen nicht bestimmen zu lassen.

Im Idealfall gibt es an deiner Schule ein Schulkomitee oder eine linke und antirassistische Schulgruppe, die die miserablen und diskriminierenden Zustände an der Schule erkennt und handeln will. Wenn nicht, lässt sich diese mit ein paar Gleichsinnten schnell etablieren. Diese Struktur ruft eine Vollversammlung an deiner Schule ein und organisiert sie. Vollversammlungen sind schulrechtlich abgesicherte Versammlungen aller Schüler:innen der Schule und können prinzipiell an jeder Schule stattfinden. Von wem und in welchen Abständen ist jedoch von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich geregelt. Bei diesen Vollversammlungen kommt die ganze Schule zusammen, was die Möglichkeit bietet, mit allen über Formen der Diskriminierung zu diskutieren und aufzuklären. Wenn entschieden wird, dass man dies nicht mehr einfach so hinnehmen möchte, sollte es die Möglichkeit geben, auf einberufenen Vollversammlungen als Schüler:innen und Lehrer:innen für eine Antidiskriminierungsstelle zu kandidieren. Alle potenziell von Diskriminierung Betroffenen sollten sich zur Wahl aufstellen und abstimmen können: Das heißt mit Ausnahme der Schulleitung alle Schüler:innen, Lehrer:innen und anderen Schulbeschäftigten (Hausmeister, Mensapersonal, Reinigungskräfte, Sekretariar etc.). Gemeinsam können wir entscheiden, wen wir mit welchen Ansichten für die Arbeit in der Antidiskriminierungsstelle für geeignet halten. Wichtig ist jedoch, dass die gewählten Personen rechenschaftspflichtig und jederzeit auch abwählbar sind und der Schule in einem bestimmten Zeitraum Bericht erstatten müssen. Dadurch kann die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle kontrolliert werden und es besteht die Möglichkeit, sie neu zu wählen und zu besetzen, wenn sie Fehleinschätzungen oder falsche Entscheidungen trifft. Es ist wichtig, dass sie Entscheidungen über Fälle trifft und auch klare Konsequenzen für die Täter:innen bestimmt, damit sie nicht zu einem reinen Kummerkasten verkommt. Aus der Antidiskriminierungsstelle können dabei auch Entscheidungen getroffen werden, die einen Großteil der Schüler:innen und Lehrer:innen betreffen kann, ein Beispiel können Präventionsworkshops sein.

Wir sehen, die Antidiskriminierungsstelle kann sich zu einem festen Bestandteil im Schulalltag formieren, in welchem durch die Frage des Kampfes gegen Diskriminierung und die Frage der Kontrolle darüber auch die Macht von Schulleitung und Staat, alles bestimmen zu können, herausgefordert wird. Isoliert kann der Kampf um demokratische Gegenmacht in der Schule jedoch nicht allein durch Antidiskriminierungsstellen gewonnen werden. Er muss eingebettet werden in den Kampf um eine demokratische Kontrolle der Lehrpläne durch Schüler:innen und Lehrer:innen sowie die Verwaltung des Schulgebäudes. Dafür braucht es Schul(streik)komitees, welche einen Pol bilden für Aktivist:innen in der Schule, um für sämtliche ihrer Interessen und politischen Fragen im Schulalltag zu kämpfen. Die Rolle der Schulstreikkomitees ist dabei anleitend und intervenierend. Der Pol an linken, antikapitalistischen Aktivsit:innen muss seine Aufgabe darin sehen, mit einer materialistischen Analyse in die Debatten der Antidiskriminierungsstelle einzuwirken, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen und diese auf weitere Felder wie die Kontrolle über die Lehrpläne oder das Schulgebäude auszudehnen. Lasst uns gemeinsam der Fremdbestimmung ein Ende bereiten und Gegenmacht aufbauen!