Sexismus tötet, Macht korrumpiert und die Regierung vertuscht das Problem: Protestwelle in Bulgarien gegen Gewalt gegen Frauen

von Leonie Schmidt, September 2023, zuerst veröffentlicht in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Сексизмът убива, власта прекрива!

Nach einem versuchten Femizid im Juni 2023 in Bulgarien, bei welchem eine 18-Jährige von ihrem Ex-Freund mit 21 Wunden durch ein Teppichmesser zugerichtet und mit Knochenbrüchen übersät wurde, flammte eine Protestwelle gegen Gewalt gegen Frauen auf. Besonders schockierend für die Protestierenden: Der mutmaßliche Täter kam einige Tage später wieder auf freien Fuß und wurde wegen angeblich „leichter“ Verletzungen des Opfers freigesprochen!

Seitdem gehen die Menschen auf die Straße. Das ist gerade für dieses Land etwas Ungewöhnliches, denn wie Organisator_Innen des 8. März berichteten, kamen in den vergangenen Jahren nur wenige Personen zu ihren Kundgebungen. Jedoch begann die Entwicklung, dass es mehr und mehr Leute auf Proteste für Frauenrechte zog, bereits 2018, nachdem ein Schulmädchen mit Säure überkippt wurde. Auf den aktuellen Protesten sind vor allem junge Akivist_Innen anzutreffen. Veranstaltet wird das Ganze unter anderem von der Organisation Feminist Mobilization. Sie fordert in erster Linie eine Verschärfung der Gesetzeslage, denn zum Zeitpunkt der Tat gab es noch nicht einmal einen Paragraphen, welcher häusliche Gewalt im Strafgesetzbuch definierte. Aber in ihren Reihen finden sich auch Personen, die einen Kampf gegen Kapital und patriarchale Strukturen fordern.

Druck auf die Regierung wirkt – oder?

Mittlerweile hat sich die europaorientierte rechte Regierung Bulgariens dazu bequemt, einige Gesetzesänderungen durchzuführen. Täter und Betroffene müssen nun nicht mehr zusammenwohnen, damit es sich um häusliche Gewalt handelt. Eine zweite Reform wurde trotz Sommerpause durchgebracht: Künftig gilt es als Beziehungstat, wenn Täter und Opfer seit mindestens 60 Tagen in einer „intimen Beziehung“ zueinander stehen. Das ist offensichtlich ein Gesetz, das viele Schlupflöcher für die Täter beinhaltet. Die Tat ist nicht weniger schlimm, wenn sie am 40. Tag oder 1. Tag passierte. Der Nachweis, wann die Beziehung begann und ob es sich wirklich um eine intime (also sexuelle) Beziehung handelt, ist unfassbar schwierig. Wenn man als Betroffene vor Gericht eine Chance haben will, braucht man also einen guten anwaltlichen Beistand, den sich besonders Frauen der Arbeiter_Innenklasse wohl kaum leisten können.

Aber dass es nun zu so einer Laissez-faire-Reform kommt, ist leider nicht verwunderlich: In Bulgarien richten sich Politiker_Innen nicht erst seit heute gegen Frauen und explizit Betroffene häuslicher Gewalt. Seit Jahren mobilisieren rechte Parteien, aber auch die sog. sozialistische Partei Bulgariens, die linksnationalistisch und linkspopulistisch einzuordnen ist, gegen die Istanbul Konvention (ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt), da damit die Grundlage zur Einführung für die „Ehe für alle“ geschaffen werden würde.

Warum es zu häuslicher Gewalt kommt

Um einen effektiven Weg zur Bekämpfung häuslicher Gewalt zu finden, muss erst einmal geklärt werden, wie es überhaupt dazu kommt. Kleinbürgerliche Feminist_Innen versuchen, das entweder mit der Natur des Mannes oder der Rückschrittlichkeit der Kultur oder Klasse zu erklären, in welchen die Gewalt stattfindet. Als Marxist_Innen ist uns bewusst, dass häusliche Gewalt nur mit Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse erklärt werden kann. Denn sie findet nicht außerhalb der Gesellschaft statt, das Private ist nicht einfach unpolitisch, im Gegenteil: Häusliche Gewalt findet im Rahmen der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung statt, welche als Institution elementar für das Fortbestehen des Kapitalismus ist.

Während die bürgerliche Familie in der herrschenden Klasse eine andere Funktion hat, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, übernimmt sie in der Arbeiter_Innenklasse wesentliche Aufgaben zur Reproduktion der Klasse selbst und somit letztendlich auch des Kapitalismus. Denn hier findet die Reproduktion der Ware Arbeitskraft statt, was alle Tätigkeiten meint, die notwendig sind, damit die Arbeitenden am nächsten Tag wieder am Arbeitsplatz erscheinen und ihrer Arbeit nachgehen können. Darunter zählt also Kochen, Putzen, Wäsche Waschen, aber auch emotionale Sorgearbeit. Auch die Erziehung von Kindern fällt mit unter diese Kategorie, damit sich so die Arbeiter_Innenklasse als Ganze neu reproduzieren kann.

Um eine für das Kapital so günstig wie mögliche Reproduktion durchzusetzen, wird diese ins Private gedrängt. Die Arbeiten werden vor allem von Frauen unentlohnt verrichtet. Dies bildet die Basis für reaktionäre Rollenbilder, so dass diese ihrerseits stetig zur Reproduktion der geschlechtlichen Arbeitsteilung beitragen. Das beginnt schon im Kleinkindalter durch Sozialisierung und erstreckt sich über das ganze Leben.

Die Familie existierte aber nicht schon immer, sondern entwickelte sich über die Klassengesellschaften zur heutigen Form hin und die konkrete Ausprägung heutzutage ist von der jeweiligen Gesellschaftsverfassung abhängig. Im Allgemeinen gilt der Mann als Ernährer der Familie, wohingegen die Frau als Hausfrau tätig wird. Das ist natürlich ein Ideal, was besonders für die Arbeiter_Innenklasse schwer zu erreichen ist, jedoch zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs zumindest für die bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen ansatzweise etabliert werden kann. Zugleich wird sowohl mit der Expansion des Kapitalismus wie auch in der Krise die ökonomische Basis der lohnabhängigen Familie massiv unterhöhlt.

Betrachten wir Bulgarien, so geht es vor allem um die Auswirkungen der Krise. Die Frauen müssen auch Lohnarbeit nachgehen, um die Existenz der Familie abzusichern, während gleichzeitig der Lohn des Mannes nicht mehr zu deren Ernährung ausreicht. Hinzu kommen Angriffe auf die Rechte der Arbeiter_Innnenklasse und die sozialen Absicherungen wie Sozialleistungen oder Krankenkassen, um die Profite des imperialistischen Finanzkapitals zu sichern und dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken. Solche Krisen sind ein Kennzeichen für die Periode, in welcher wir uns aktuell befinden.

Die Krise der Familie bildet also die strukturelle Grundlage der Gewalt gegen Frauen in der Arbeiter_Innenklasse innerhalb von Familien oder partnerschaftlichen Beziehungen, welche der Familie ähneln. Denn durch diese hat der Mann das Problem, dass er der Rollenerwartung als Ernährer der Familie nicht mehr nachkommen kann, während die Frauen einerseits in die Lohnarbeit gezwungen werden und andererseits aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor, in welchem sie oft tätig sind, nicht die Möglichkeit haben, dem Täter zu entfliehen. Dieses widersprüchliche Verhältnis zwischen Idealbild, Geschlechterrolle und Notwendigkeit der Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht im Rahmen des Kapitalismus aufzulösen und sorgt letzten Endes in seiner Unabdingbarkeit und Perspektivlosigkeit auch dafür, dass die extremste Form der häuslichen Gewalt, der Femizid, zu Tage dringt. Somit kann sich der Täter noch ein letztes Mal über das Opfer stellen.

Durch diese Analyse wird also auch klar, warum die herrschende Klasse gar kein Interesse hat, grundlegend gegen häusliche Gewalt vorzugehen, denn auf der einen Seite gehört die Einsparung im Sozialsicherheitssystem schließlich zum Rettungsschirm des Finanzkapitals und auf der anderen Seite müsste sie sonst die Institution der bürgerlichen Familie angreifen, welche zu den Grundfesten des kapitalistischen Systems gehört. Des Weiteren ist es auch im Sinne des herrschenden Klasse, wenn Frauen auch in ihrer Familie unterdrückt bleiben und sich nicht von ihren Geschlechterrollen zu befreien versuchen. Diesen Punkt kann man gut erkennen an den Teilen der herrschenden Klasse Bulgariens, welche an der bürgerlichen Familie festhalten wollen, indem sie sich gegen die Istanbuler Konvention stellen. Diese Analyse macht auch klar, warum besonders die Ärmsten und am stärksten unterdrückten Teile der Arbeiter_Innenklasse von jener Gewalt betroffen sind.

Lage in Bulgarien

Schauen wir uns nun die Lage in Bulgarien an. Tatsächlich gilt dies als ärmstes Land der EU. Das Bruttoinlandsprodukt liegt bei der Hälfte des EU-weiten Durchschnitts. 2022 betrug das jährliche  BIP/Kopf 13.079 Euro gegenüber 25.650 in der EU und 29.180 in der Euro-Zone. Des weiteren stagnieren die Löhne und Gehälter auf einem niedrigen Niveau. Interessant ist diesbezüglich auch, dass der Dienstleistungssektor dominiert: Vor allem outgesourcter Kundendienst in Form von Callcentern für imperialistische Staaten ist hier ansässig, welcher die Lohnabhängigen hier noch mehr ausbeuten kann. Dementsprechend müssen die Löhne auch auf einem derartig niedrigen Niveau bleiben, damit sich das Outsourcing für die Imperalist_Innen der EU überhaupt lohnen kann.

Über 2,2 Millionen Lohnabhängige (mehr als die Hälfte!) verkaufen ihre Arbeitskraft in anderen EU-Ländern. Viele Frauen, welche aus Bulgarien emigrieren, übernehmen in reichen imperialistischen EU-Staaten Carearbeit im Niedriglohnsektor, also als Putzkräfte, Krankenpflegerinnen und so weiter. Auch hier sind sie vor ökonomischer Abhängigkeit, Gewalt und Ausbeutung nicht sicher, im Gegenteil. All das verdeutlicht die halbkolonialen Verhältnisse in Bulgarien.

Hinsichtlich der Gewalt gegen Frauen in Bulgarien kann festgehalten werden, dass jede 3. Frau laut Befragungen bereits Opfer partnerschaftlicher Gewalt wurde. Des Weiteren wurden dieses Jahr bereits 14 Frauen Oper von Femiziden (Stand: August 2023). Es ist an dieser Stelle jedoch anzumerken, dass dies keine offiziellen Zahlen sind, da in Bulgarien diese von niemandem/r erhoben werden. Lediglich Frauenrechtsorganisationen sammeln sie. Dementsprechend ist also auch klar, dass die Dunkelziffer deutlich höher sein dürfte. Denn wie bereits eingangs erwähnt, gab es vor der aktuellen Protestwelle noch nicht einmal eine Definition im Strafgesetzbuch hinsichtlich häuslicher Gewalt!

Außerdem ist die sozialstaatliche Absicherung in Bulgarien besonders prekär, was Frauen am meisten trifft. Es fehlt an Kindergartenplätzen, was dazu führt, dass sie gezwungen sind, sich entweder unbezahlt „freizunehmen“, um ihre Kinder zu betreuen, oder flexiblere Arbeitsverhältnisse inklusive besonders schlechter Bezahlung anzunehmen. So oder so werden sie damit umso mehr an ihre Familie und ihre potentiell gewalttätigen Oberhäupter gebunden.

Perspektive der Proteste

Obwohl die Regierung versucht, durch Reformen die Protestierenden ruhigzustellen, gehen diese weiterhin auf die Straße und bringen auch antipatriarchale und antikapitalistische Forderungen mit ein, werfen die Frage auf, wem es am Ende nützt, dass Gewalt gegen Frauen herrscht und diese nur mehr als unzureichend vom bürgerlichen Staat bekämpft wird. Klar ist, die Proteste dürfen nicht bei dieser einen Frage stehen bleiben. Es gilt, eine breite Massenbewegung aus Frauen, Lohnabhängigen, und sozial Unterdrückten aufzubauen, welche für klare Forderungen und ein klares Programm hinsichtlich der Unterdrückung von Frauen und LGBTIA+-Personen eintritt. Hierbei müssen auch die Gewerkschaften aufgefordert werden, sich zu beteiligen. Des Weiteren darf diese Bewegung auch nicht im nationalen Rahmen stehen bleiben, sondern muss international aufgebaut werden. Diese Forderungen könnten sein:

  • Beendigung der Gewalt gegen Frauen und die LGBTQIA+-Gemeinschaft! Wir müssen freie Frauenhäuser, Hilfs- und Selbstverteidigungskomitees gegen Femizid, Genitalverstümmelung, häusliche und andere Formen von Gewalt organisieren.
  • Volle reproduktive Rechte und körperliche Selbstbestimmung für alle, überall! Alle Frauen sollten Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln und Abtreibung auf Verlangen haben. Frauenhäuser müssen vom Staat finanziert, aber von den Frauen selbst verwaltet werden.
  • Gleicher Lohn für Frauen! Für einen Mindestlohn und Renten, die Frauen ein unabhängiges Leben ohne Armut ermöglichen! Kampf gegen Preissteigerungen bei Wohnen, Energie und Waren des täglichen Bedarfs – für eine gleitende Skala bei Löhnen, Renten und Arbeitslosengeld, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken!
  • Massive Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Dienste von angemessener Qualität und kostenlos für alle als Schritt zur Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit!
  • Lasst die Kapitalist_Innen und die Reichen zahlen, um gleiche Rechte und gleichen Lohn zu gewährleisten!

Natürlich dürfen wir uns aber auch keine Illusion machen, dass wir patriarchale Gewalt im Kapitalismus einfach wegreformieren könnten. Es gilt, den Kapitalismus mitsamt seinen Institutionen zur Unterdrückung von Frauen, LGBTIA-Personen und der Arbeiter_Innenklasse zu zerschlagen und für eine solidarische Gesellschaft auf Basis von vergesellschafteter und demokratisch geplanter Produktion und Reproduktion sowie Rätemacht einzutreten. Das heißt auch, dass das Ideal der bürgerlichen Familie dann das Zeitliche gesegnet hat und sich Rollenbilder auflösen werden dadurch, dass die Reproduktionsarbeit bspw. durch gemeinsame Mensen und Waschküchen vergesellschaftet wird. Dazu braucht es mehr als Bewegungen – eine politische Kraft, die gegen alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung führt, eine revolutionäre Arbeiter_Innenpartei.




Was ist eigentlich ECOWAS?

Von Lia Malinovski, September 2023

Im Zuge des Putsches im Niger und der darauf folgenden Diskussionen kommt immer wieder das Akronym ECOWAS auf. Doch was ist ECOWAS, wie ist es entstanden und welche Funktion hat es im imperialistischen Weltsystem? Das versuchen wir im folgenden Artikel zu beantworten.

ECO – was?

ECOWAS ist ein Akronym für Economic Community of West African States (dt. Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft). Es ist also ein Bündnis zwischen verschiedenen westafrikanischen Ländern, um die Wirtschaft zwischen den Staaten zu fördern. Teil der ECOWAS sind 15 Staaten, unter anderem Nigeria, Ghana, die Elfenbeinküste und der Senegal. Direkt auffallend ist, dass die Amtssprache in den meisten Ländern Französisch ist, an zweiter stelle steht Englisch und an dritter Portugiesisch (gesprochen nur in Kap Verde und Guinea-Bissau), in den aller meisten Fällen ist die Amtssprache abhängig davon, welche Kolonialmacht das Land einst unterdrückte. Zusätzlich zur französischen Sprache ist in den meisten ECOWAS-Staaten auch der CFA-Franc offizielle Währung, ein weiteres Relikt des Französischen Kolonialismus und heute wichtiges Werkzeug des Französischen Imperialismus.

Führender Staat in der ECOWAS ist Nigeria. Es hat das höchste BIP mit 376.400 Mio. US-Dollar und die mit Abstand höchste Einwohner_Innenzahl. Im Parlament der ECOWAS werden die Sitze nach Bevölkerungsgröße vergeben. Nigeria besetzt 35 der 115 Sitze, gefolgt von Ghana (8) und der Elfenbeinküste (7). Die anderen Staaten entsenden jeweils 6 bzw 5 Abgeordnete.

Neben dem Parlament gibt es noch weitere wichtige Strukturen, insbesondere die ECOMOG sollte hier genannt werden. Kurz für ECOWAS Monitoring Group (dt. ECOWAS-Überwachungsgruppe), bildet sie einen Militärverband der ECOWAS Staaten, offiziell um für Sicherheit in der Region zu sorgen. Den Großteil der Truppen stellt Nigeria – also auch hier hat Nigeria die Hegemonie. Drei größere Einsätze hatte sie, als sie in die Bürgerkriege in Liberia, in Sierra Leone und in Guinea-Bissau bewaffnet intervenierte. Dabei waren ausschlaggebende Gründe antiwestliche Putsch-Versuche oder eine Stärkung antiwestlicher Politik – also schwindender Einfluss der USA oder Frankreichs in der Region. Besonders wichtig sind diese Interventionen für Frankreich, da die meisten ECOWAS-Länder wichtige wirtschaftliche Funktionen für Frankreich inne haben, aufgrund ihrer natürlichen Rohstoff-Vorkommen und der Geschichte des französischen Kolonialismus.

Wegen dem Putsch im Niger und antifranzösischen Regierungen wurden die Staaten Niger, Mali, Burkina Faso und Guinea suspendiert, sie können also nicht mitbestimmen was die ECOWAS tut, haben aber weiterhin Verpflichtungen. Das ist besonders für die aktuellen Entwicklungen rund um den Niger wichtig, denn nur so kann die ECOWAS Drohungen und Angriffe gegen den Niger durchbringen.

Wie entstand die ECOWAS?

Das gibt uns gewisse Antworten über den Zweck von ECOWAS. Dieser wird noch deutlicher, wenn wir uns die Geschichte angucken. Nachdem Frankreich seine Kolonien in Westafrika abgeben musste und diese formal-politisch unabhängig wurden, musste eine Lösung gefunden werden um die Kontrolle über die Region beizubehalten. Ein entscheidender Faktor war die Beibehaltung des CFA-Franc, der an die Französische Währung gekoppelt war und ist, sodass eine eigenständige Abwertung der Währung für die CFA-Franc Staaten unmöglich wurde. Zusätzlich müssen diese Staaten etwa die Hälfte der Finanzmittel in Französischen Banken lagern, sodass eine starke Kontrolle über die Region gewährleistet ist. Wenn eine Regierung nicht im Interesse Frankreichs handelt, kann dieses Geld beschlagnahmt und damit die Wirtschaft des Landes ruiniert werden. Folge wären Hungersnöte und ökonomischer Kollaps – Folgen die Frankreich schon öfters in Kauf genommen hat, um seinen Status in der Region zu sichern.

Mit ECOWAS kann dieses Verhältnis zu Frankreich verstärkt und die französische Kontrolle über die Region noch leichter verschleiert werden. Es macht sich einfach besser, wenn eine scheinbar unabhängige Instanz im Interesse Frankreichs sich in Bürgerkriege einmischt, Regierungen stürzt oder Sanktionen erhebt – wie es gerade beim Niger der Fall ist. Die ECOWAS muss ebenfalls die Hälfte des Vermögens in Frankreich lagern, sodass die Kontrolle über ECOWAS gesichert ist. Mit der aktuellen Regierung Nigerias hat die ECOWAS auch eine stark prowestliche Führung, was den politischen Status Frankreichs, aber auch der USA, weiter verstärkt. Die ECOWAS ist also vor allem ein Mittel Frankreichs, den eigenen Einfluss in der Region zu verschleiern und nach Möglichkeit zu vertiefen.

Mit der Einführung des Euros und der Abschaffung des Französischen Francs wurde der CFA-Franc an den Euro gekoppelt, welcher noch starrer ist, als der Franc, da hier nicht ein Staat sondern gleich mehrere über den Wert bestimmen. Dadurch und durch französische Unternehmen in der Region werden die ECOWAS Staaten wirtschaftlich am Boden gehalten (Niger ist auf Platz 189 von 191 was die Entwicklung der Staaten anbelangt) und der Import von Rohstoffen nach Frankreich/in die EU ist einfacher, als wenn die Staaten alle eine eigene Währung hätten.

ECOWAS im Niger

Das zeigt auch die generelle Funkton der ECOWAS. Als Staatenbündnis sichert sie die Interessen Frankreichs und marschiert im Zweifel sogar in die Staaten ein, die sich gegen Frankreich stellen, setzt Regierungen ab und bestimmt neue. Mit angeblichen westlichen Werten von Demokratie und Menschenrechten hat das alles rein gar nichts zu tun, auch wenn das immer wieder behauptet wird wie aktuell im Konflikt im Niger. Nach dem Putsch der Regierung wurden Sanktionen verhängt, die die EU unterstützt. Es gibt Pläne, ins Land einzumarschieren – scheinbar um den demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum wieder an die Macht zu bekommen. Sicher, er wurde demokratisch gewählt (soweit das in einer Halbkolonie überhaupt möglich ist) und die ECOWAS und die EU/Frankreich wollen ihn wieder in der Regierung haben. Das hat aber nichts mit Demokratie zu tun, sondern, wie wir es bereits von US-amerikanischen Kriegen kennen, mit Rohstoffen. Der Niger hat ein extrem hohes Uranaufkommen, welches von französischen Unternehmen gebraucht wird um die Stromproduktion Frankreichs zu sichern deren Großteil aus Atomkraftwerken stammt, die größtenteils mit nigrischem Uran betrieben werden.

Es ist also nicht die Demokratie, die hier verteidigt werden soll, sondern die Wirtschaft Frankreichs. Nachdem bereits Burkina Faso, Mali und Guinea aus französischem Einfluss herausgebrochen sind und sich nun Russland anbiedern, könnte diese Entwicklung auch den Niger treffen. Frankreich kann diesen weiteren Verlust einer Halbkolonie jedoch nicht mehr einfach so zulassen: Einmal aus dem oben beschriebenen Grund, aber auch weil das eine weitere Stärkung Russlands, und möglicherweise mittelfristig auch Chinas, in der Region bedeuten und damit die generelle Konkurrenz im Weltsystem und die eh schon schwindende Hegemonie des westlichen Blocks unter Führung der USA weiter bedrohen würde. Kein Wunder also, dass die ECOWAS, als Marionette dieses westlichen Blocks und vor allem Frankreichs, hier Sanktionen verhängt und mit einem militärischen Einmarsch droht.

Was tun?

Die Spannungen im Niger und innerhalb der ECOWAS-Staaten könnten zu einem Flächenbrand und einem neuen großen afrikanischen Krieg führen, einem weiterer Brandherd im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten. Hier könnten sich im schlimmsten Fall NATO Soldat_Innen und russischen Wagner-Truppen gegenüberstehen, was unkalkulierbare Konsequenzen nach sich ziehen könnte.

Für uns ist klar, dass ein solches Szenario nicht im Interesse der Arbeitenden, Unterdrückten und der Jugend sein kann, weder im Niger oder Nigeria noch in Europa. Unsere Perspektive muss eine Überwindung der imperialistischen Ausbeutung sein. Dies kann nur revolutionär gelingen, nur ein demokratisches Bündnis aus Bäuer_Innen und Arbeiter_Innen, organisiert als Rätemacht, kann die Abhängigkeit überwinden. Es dürfen keine Illusionen in Frankreich, aber auch nicht in Russland existieren, keine dieser Mächte steht für Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie sondern nur für weiteres Auspressen Afrikas im Interesse von Großkonzernen aus den imperialistischen Zentren.

Der Kampf gegen diese imperialistischen Mächte und ihr System der Unterdrückung halbkolonialer Länder darf nicht beschränkt sein auf den Niger oder Westafrika. Insbesondere in den imperialistischen Zentren selber, in Frankreich und in Deutschland, müssen wir für eine ersatzlose Streichung der Schulden einstehen, sowie dafür, dass die Gelder der Staaten die französischen Banken verlassen und unter die Kontrolle einer Räteregierung der westafrikanischen Arbeiter_Innen und Bäuer_Innen gelangen. Dabei muss auch der Kampf gegen den Imperialismus auf der militärischen Ebene geführt werden, sodass eine Invasion erschwert oder gar verunmöglicht wird, Waffenfabriken müssen bestreikt und Waffenlieferungen blockiert werden!

Weder die Putschisten im Niger noch die ECOWAS finden in dieser Perspektive eine progressive Rolle, wollen beide doch nur die Abhängigkeit von dem einen oder dem anderen imperialistischen Zentrum. Was es stattdessen braucht ist eine Föderation aus Westafrikanischen Räterepubliken die alle Imperialisten, ihre Streitkräfte, ihre Unternehmen und ihre Banken, aus ihren Ländern schmeißt und in einem Bündnis mit Räteregierungen, mit Arbeiter_Innenstaaten, in Deutschland, Frankreich und Russland, gerechte Handelsbeziehungen schließen die alle weiterbringen und nicht Konzernen gigantische Profite durch Ausbeutung verschaffen.




Wehrpflicht?! Nein danke! – Keinen Cent, keinen Menschen dem Militarismus!

Von Stephie Murcatto, August 2023, REVOLUTION Zeitung September 2023

Mein etwas pazifistischer Deutschlehrer hat uns jahrelang gewarnt, dass die „Wehrpflicht nur ausgesetzt“ sei und wir deswegen auf uns aufpassen sollten. Damals haben wir etwas mit den Augen gerollt, jetzt hat er recht: Nach der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 ist die Frage noch nie so groß diskutiert worden wie jetzt. Es ist eine Frage, die besonders uns Jugendliche betrifft und für uns wichtig ist, da wir diejenigen sind, die letztendlich eingezogen werden und als Kanonenfutter für das deutsche Kapital agieren sollen. Aber wie man es kennt, werden in der Debatte natürlich nicht wir Jugendliche gefragt, sondern es wird von den Politik_Innen der verschiedenen Parteien über unsere Köpfe hinweg diskutiert.

Angefangen hat die Debatte mit unserem jetzigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. So sagte er in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“, Zitat: „(…) ich wünsche mir, dass wir eine Debatte über eine soziale Pflichtzeit führen.“ Der Bundespräsident möchte damit der Jugend helfen, indem er ihnen die Möglichkeit gibt, „aus der eigenen Blase herauszukommen“ und „neue Menschen kennenzulernen“. Diese Debatte wurde dann von verschiedenen Seiten aufgenommen, unter anderem von unserem Verteidigungsminister Boris Pistorius aus der ach so sozialen SPD, der sagte: „Die Aussetzung der Wehrpflicht war ein Fehler“, und sich für die Wiedereinführung der Wehrpflicht einsetzte.

Am stärksten aber kamen die Stimmen für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht von Seiten der AfD, die das sogar in ihrem Grundsatzprogramm festgeschrieben hat, und aus der Bundeswehr selbst, wo der Reservistenverband sich immer wieder für die Notwendigkeit einer Wehrpflicht ausspricht. Man merkt also: Die Wehrplicht-Freund_Innen werden lauter.

Dass Jugendliche nur selten zu diesen gehört, verwundert nicht, denn für uns ist klar, dass vom Ausbilder angeschnautzt zu werden oder gar an der Front zu sterben, nicht das erstrebenswerte Leben ist. Darüber hinaus ist es nicht in unserem Interesse, die Aufrüstung zu unterstützen, da die Bundeswehr am Ende des Tages ein Militär ist, das die Interessen des deutschen Kapitals vertritt. Die „Verteidigung Deutschlands“, was ja ihr Zweck ist, ist letztendlich eine Verteidigung deutscher Profite und keine Verteidigung der Arbeiter_Innenklasse und der Jugend.

Aber warum kommt die Debatte gerade jetzt wieder auf?

Diese Frage beantworten die bürgerlichen Politiker_Innen ausnahmsweise mal ehrlich: Es liegt an der Zuspitzung der Weltlage, unter anderem durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. In solchen Zeiten des Krieges soll laut den bürgerlichen Politiker_Innen Deutschland wieder die Möglichkeit bekommen, sich zu verteidigen und ein Heer aufzubauen, was Abschreckungspolitik gegenüber Putin machen kann. Denn nur so könne man die Sicherheit Deutschlands und „des Westens“ gewährleisten. Doch die Realität sieht etwas anders aus: 100 Milliarden für die Bundeswehr kommen dann plötzlich ganz schnell, während es lautet, dass für unsere soziale Absicherung eigentlich gar kein Geld bleibt, weswegen Sozialleistungen und die Reallöhne sinken. Natürlich geht es eigentlich um Aufrüstung. Denn nicht nur Russland, sondern auch die Nato hat innerhalb des Ukraine-Kriegs klare Interessen. Die NATO versucht mit diesem Krieg eine Stärkung des russischen Imperialismus zu verhindern, während sie gleichzeitig sich auf verstärkte weltweite Konfrontation vorbereiten und ihren Machtbereich ausweitet.

Hierbei kann die Wiedereinführung der Wehrpflicht eine Rolle spielen, denn mit Geld allein gewinnt man kein Krieg. Der Bundeswehr fehlen seit Jahren die Rekrut_Innen, weswegen sie einen überall mit ihrer Werbung nervt. Man hat sie ursprünglich zu einer Berufsarmee gemacht, weil man mit den neuartigen Waffensystemen eigentlich viele Jahre Ausbildung braucht und sich der finanzielle Aufwand nicht mehr gelohnt hat, Hundertausende jedes Jahr grundständig auszubilden. Mit der drohenden Eskalation will man wohl nicht mehr auf Freiwilligkeit setzen.

Denn immer mehr steuert die Weltlage auf eine Konfrontation zwischen den Machtblöcken zu, ob es nun mit Russland oder China sein mag. Als Reaktion auf die sich verstärkende Blockbildung rüstet der westliche Imperialismus immer mehr auf, um auch am Ende als Sieger dazustehen zu können. Ein Krieg zwischen fügt uns Jugendlichen und jungen Arbeiter_Innen nur Schaden zu, während die Kapitalist_Innen aktiv davon profitieren. Für uns sollte also klar sein, dass wir einer solchen Aufrüstung und einer solchen Verschärfung der Lage entgegentreten müssen!

Aber wie setzen wir uns diesen Angriffen auf unsere Rechte entgegen?

Zur Verteidigung unserer Rechte bietet uns die bürgerliche Politik keine Perspektive. Sie verfolgt ja gerade diese nationalistische Machtpolitik und kann dabei keine Rücksicht auf uns Jugendliche nehmen, welche am akutesten von der Wehrpflicht und der Aufrüstung betroffen ist. Wir müssen uns für eine unabhängige und internationale Politik der Jugend und der Arbeiter_Innen einsetzen, denn nur wenn wir selbst die Entscheidungskraft an uns reißen, können wir auch Antworten finden.

Aber um das zu erreichen, müssen wir erst einmal eine größere und internationalistische Bewegung gegen den Krieg und gegen die Aufrüstung aufbauen. Konkret sollten dabei unsere Bündnispartner_Innen die Gewerkschaften und die traditionellen Organisationen der Arbeiter_Innenklasse sein, die mit konkreten Forderungen einen Kampf führen. Denn letztendlich ist es die Arbeiter_Innenklasse, die die Macht hat, mit Aktionen des Klassenkampfes dieses System, den Kapitalismus zu überwinden, der immer wieder Kriege und Krisen hervorgebracht hat und es immer wieder wird.

Aber es braucht nicht nur eine Perspektive der Arbeiter_Innenklasse dafür, sondern auch wir Jugendliche müssen uns gegen die Aufrüstung und für soziale Verbesserungen einsetzen. Dafür müssen wir uns organisieren, konkret an den Orten, wo wir sind, also in der Schule, an der Uni und in der Ausbildung.

Aber das Problem lässt sich nicht national lösen, denn die verschärfte Blockbildung und Aufrüstung passieren nicht nur hier in Deutschland, sondern international. Gerade die, die nicht von den Profiten leben, sondern zu diesen benutzt werden, tragen in sich die Perspektive der internationalen Vereinigung. Deshalb brauchen wir auch eine internationale Organisation der Jugend gegen Krieg und Krise und fordern:

  • Für eine revolutionäre Jugendinternationale! Die Jugend braucht eine unabhängige und internationale Vertretung. Für den Aufbau einer Schüler_Innengewerkschaft, die unsere Interessen gemeinsam mit der Arbeiter_Innenklasse vertritt und durchsetzt!
  • Nein zur Wehrpflicht! Wir wollen kein Kanonenfutter sein!
  • 100 Milliarden für Soziales, Bildung und die Jugend und nicht für die Bundeswehr! Gegen jede Aufrüstung aller imperialistischen Nationen, ob Russland oder Deutschland!
  • Für eine Antikriegsbewegung international! Nur die Arbeiter_Innen können den Konflikt lösen.



Erneute rassistische Angriffe der EU – Die neue Asylrechtsreform und das Abkommen mit Tunesien

Von Pauline P., August 2023, REVOLUTION Zeitung September 2023

Die Asylrechts“reform“

Die EU-Innenminister_Innen beschlossen am 8. Juni eine „Reform“ des Gemeinsamen Europäischen Asylrechts (GEAS), welche für ein Inkrafttreten nun nur noch die gesetzgebenden Institutionen passieren muss. Diese Reform sieht eine faktische Abschaffung des ohnehin schon eingeschränkten Asylrechts hunderttausender Geflüchteter vor.

Was besagt die Reform?

Während Politiker_Innen die Reform als „politischen Durchbruch“ feiern, sehen sich Geflüchtete mit neuen riesigen Einschnitten in ihre Freiheit und Sicherheit konfrontiert. Faktisch Gefängnisse, sogenannte „Asylzentren“, sollen schon jetzt an den EU-Außengrenzen dafür sorgen, Antragsteller_Innen auf Asyl – darunter auch Familien mit Kindern – bis zu drei Monate unter miserablen humanitären und hygienischen Bedingungen auf engstem Raum festzuhalten, um sie möglichst schnell wieder abzuschieben. In den Asylzentren festgehaltene Geflüchtete werden umfangreich registriert und identifiziert. Diese Daten sollen in einer EU-Datenbank gesammelt und gesichert werden, auf die alle Asyl- und Strafverfolgungsbehörden der EU-Staaten Zugriff erhalten. Versprochen wird sich dadurch eine Verhinderung von sogenannter „Sekundärmigration“, also die Chance auf Asyl in einem anderen EU-Land. Im gesamten Prozess wird Asylsuchenden der Zugang zu Asylberatung oder rechtlichem Beistand verwehrt. Die EU-Staaten lassen Geflüchtete an den Außengrenzen spüren, dass sie in der Festung Europa nicht erwünscht sind. Insbesondere Menschen aus vermeintlich „sicheren Herkunftsstaaten“ (z. B. Türkei, Indien oder Tunesien) werden so schnell wie möglich dorthin abgeschoben. Auch für Menschen aus Staaten, auf die diese Kategorie nicht zutrifft, finden die EU-Innenminister_Innen einen Weg, der an einem Asyl für diese vorbeiführt. Die Reform besagt, dass nun auch eine Abschiebung in ein „sicheres Drittland“, welches auf dem Fluchtweg passiert worden ist oder auf andere Weise mit der geflüchteten Person assoziiert wird (z.B. über entfernte Verwandtschaft), möglich sei.

Widerstand in Basis von SPD und Grünen?

Für uns steht fest: Die geplante Asylrechts-„Reform“ ist nicht tolerierbar. Doch wie sehen das SPD und Grüne? Auch hier ist der Rechtsruck mal wieder deutlich zu spüren. Während 2020 die SPD-Bundestagsfraktion noch die EU-Asylrechtsreform mitsamt „Massenlager[n] an der EU-Außengrenze” und einem „abgeschwächten Asylverfahren” ablehnte, zeigen sie heute ein ganz anderes Gesicht. Auch die Grünen beweisen durch ihre diesjährige Zustimmung, dass Menschenleben für sie einen geringeren Stellenwert haben, als die imperialistischen Interessen Deutschlands und der EU. Gibt es denn gar keinen Widerstand innerhalb der Parteien? Doch, aber einen sehr verhaltenen – 24 Abgeordnete der SPD und der Grünen sowie ein paar wenige aus den Landtagen sprachen sich gegen die Reform aus – die Politik tragen sie jedoch faktisch mit. Für uns ist klar: Es handelt sich hierbei um gezielte Verteidigung des Kapitals vertreten durch die Politiker_Innen.

Die Linkspartei ist die einzige Partei, welche die Reform konsequent als Angriff auf die Menschenrechte begreift und diese folglich ablehnt. CDU sowie CSU bilden dazu das Gegenstück: Sie bezeichnen die Reform als „guten Schritt“, dem weitere folgen sollten. Dass der AfD auch eine Aushebelung des Asylrechts nicht weit genug geht, ist leider nicht überraschend.

Es ist unsere Aufgabe, eine Bewegung, deren Ziel die Bekämpfung der menschenverachtenden Asylgesetze ist, aufzubauen.

Wir müssen für ein uneingeschränktes Asylrecht kämpfen! Es braucht Massenbewegungen, welche sich auf antirassistische Organisationen, Migrant­­_Innenorganisationen und Organisationen der Arbeiter_Innenklasse stützen. Dabei müssen wir die Abgeordneten, welche sich gegen diesen rassistischen Hammer ausgesprochen haben, dazu aufrufen, solch eine Mobilisierung zu unterstützen – nicht nur deutschlandweit, nicht nur EU-weit, sondern weltweit!

Abkommen mit Tunesien

Als sei dieser rassistische Angriff noch nicht ausreichend, so schloss die EU vor Kurzem eine Vereinbarung mit Tunesien, welche auch ein Abkommen zur Begrenzung der Migration über das Mittelmeer beinhaltet. Für das Vorgehen gegen „Schlepper“ und „illegale Überfahrten“ sicherte die EU Tunesien 100 Millionen Euro zu. Versprochen wird sich, das „zynische Geschäftsmodell von Schmugglern und Menschenhändlern zu brechen“, so von der Leyen. Die Koalition in Berlin sprach „volle Unterstützung“ für das Abkommen aus, während vereinzelte Stimmen aus den Grünen Bedenken äußerten, aber auch hier die Entscheidung letztendlich mittrugen. Dass Kritik seitens der Grünen vor allem Bedenken wie eine nicht gelungene Bindung des globalen Südens an die EU und verfehlte Zurückdrängung des russischen Einflusses in Afrika beinhaltet, zeigt, dass es den Grünen auch hier in erster Linie um die imperialistischen Interessen Deutschlands und der EU und nicht um die Rettung von Menschenleben geht.  Konsequenter sieht es bei den Linken aus, doch auch diese Partei schafft es nicht, sich ernsthaft gegen die Abmachung mit Tunesien zu stellen.

Gegen die Reform – für die Vereinigten sozialistischen Staaten!

Statt der menschenverachtenden EU-Außenpolitik braucht es eine menschenwürdige Alternative in der Hand von Arbeiter_Innen, Geflüchteten und anderen unterdrückten Menschengruppen und deshalb fordern wir:

  • Volles Asylrecht für alle Geflüchtete! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen!
  • Ein Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes für alle!
  • Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder Staatsangehörigkeit!
  • Volle Staatsbürger_Innenrechte für alle, inklusive des passiven wie des aktiven Wahlrechts!
  • Statt des Europas der Imperialist_Innen ein Europa des Widerstands, der Unterdrückten und Ausgebeuteten! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!



Niger: Putsch legt akute Krise offen

Dave Stockton in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Am 26. Juli verhaftete in Niamey, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Niger, die Präsidentengarde unter der Führung von Brigadegeneral Abdourahamane (Omar) Tchiani Präsident Mohamed Bazoum und setzte ihn ab. Nach kurzem Zögern folgte der Rest der Armee diesem Beispiel.

Staatsstreich

Den Staatsstreich begrüßten zahlreiche Demonstrant_Innen, von denen viele von der M62-Allianz (M62: Heilige Union zur Wahrung der Souveränität und der Würde des Volkes) politischer und sozialer Bewegungen organisiert wurden, die sich während der Straßenproteste gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise im vergangenen Jahr gebildet hatte. Sie schwenkten nicht nur die Flagge Nigers, sondern auch die der Russischen Föderation und trugen Plakate mit der Aufschrift „Frankreich raus!“ Die Redner_Innen forderten, dass die Wagner-Truppen nach Niger kommen sollten, wie sie es in Mali getan haben. Auslöser für den Putsch waren offenbar die Pläne von Präsident Bazoum, die Chefs der Präsidentengarde und der Armee auszutauschen.

Unter den jungen Offizieren der westafrikanischen Streitkräfte gibt es eine Tradition der antikolonialen Politik, die auf Persönlichkeiten wie Thomas Sankara, der Burkina Faso von 1983 – 1987 regierte, oder Jerry Rawlings in Ghana zurückgeht. Sie waren beide von panafrikanistischen Idealen motiviert und von der kubanischen Revolution beeinflusst.

Es ist unwahrscheinlich, dass die heutigen Putschisten durch eine solche Radikalität motiviert sind. Die Vorstellung, dass die Hinwendung zu Wagner oder Putins Russland den Staaten der Region zu Unabhängigkeit oder Entwicklung verhilft, ist in der Tat eine völlige Illusion. Aber das ist auch die Vorstellung, dass Frankreich oder die EU/USA für Demokratie stehen. Sie sind gegen den Putsch, weil Bazoum ihr Mann war.

Kein Wunder also, dass seine größte Hoffnung auf Wiederherstellung seiner Präsidentschaft aus dem Ausland kommt. Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht, hat den Staatsstreich sofort verurteilt und jegliche Hilfe für Niger eingestellt. Ein erhebliches wirtschaftliches Druckmittel, da 40 Prozent des nigrischen Staatshaushalts aus ausländischer Hilfe stammen. Emmanuel Macron drohte, dass „jeder Angriff auf Frankreich und seine Interessen nicht geduldet wird“. Seine Verurteilung wurde von der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten unterstützt.

Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) verhängte Sanktionen, darunter eine Flugverbotszone und Grenzschließungen, und ihr dominierender Staat Nigeria, der 70 Prozent der nigrischen Elektrizität liefert, unterbrach die Stromversorgung, so dass das Land in nächtliche Dunkelheit fiel.

Die Verteidigungsminister der ECOWAS, die in der nigerianischen Hauptstadt Abuja zusammentrafen, drohten mit einer militärischen Intervention, falls Bazoum nicht bis zum 6. August an die Macht zurückkehren würde. Die Frist ist bereits verstrichen, aber bisher gibt es keine Anzeichen für einen Angriff. Als Reaktion auf die Drohungen haben Nigers Nachbarstaaten Mali, Tschad und Burkina Faso jedoch versprochen, dem Land im Falle einer Invasion zu Hilfe zu kommen, wodurch ein umfassender regionaler Krieg droht.

Imperialistische Interessen

Frankreich ist mit 1.500 Soldat_Innen in Niger vertreten, die USA mit 1.100. Angeblich sollen sie die nigrischen Streitkräfte ausbilden und bewaffnen, um islamistische Rebellen zu bekämpfen. Brigadier Tchiani hat alle Militärabkommen mit Frankreich aufgekündigt.

Der Grund für die Feindseligkeit gegenüber Frankreich liegt nicht nur in seiner brutalen kolonialen Vergangenheit und auch nicht in den wiederholten militärischen Interventionen in den ehemaligen Kolonien zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“ oder zur Rettung französischer Zivilist_Innen, sondern in der wirtschaftlichen Ausbeutung der Region und dem Versagen, eine ernsthafte wirtschaftliche Entwicklung herbeizuführen.

Frankreich hat derzeit rund 30 Unternehmen oder Tochtergesellschaften in Niger, darunter das Konglomerat Orano, das die riesige Uranmine im Tamgakgebirgsmassiv betreibt. Niger ist der siebtgrößte Uranproduzent der Welt, und seine Produktion ist seit langem für die französische Atomindustrie, die 68 Prozent des Stroms des Landes produziert, von großer Bedeutung. Das Land verfügt auch über große Lithiumvorkommen, die aufgrund der schnell wachsenden Elektrofahrzeugindustrie immer wertvoller werden.

Trotz oder gerade wegen dieses immensen natürlichen Reichtums und derjenigen, die ihn ausbeuten, rangiert Niger im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen für 2022 immer noch auf Platz 189 von 191 Ländern. 40 Prozent der Bevölkerung leben in extremer Armut.

Ein Wegfall von Niger wäre ein schwerer Schlag für Frankreich und die USA, Großbritannien und Länder wie Deutschland und Italien, die die französischen Streitkräfte in Afrika im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ unterstützt haben. Seit den US-geführten Interventionen in Afghanistan, Irak und Libyen hat sich das Zentrum der islamistischen Guerillabewegungen in die Regionen rund um die Sahara verlagert.

Die Anwesenheit der imperialistischen Truppen hat die Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber Frankreich und seinen Verbündeten neu entfacht, zum einen, weil die versprochene Sicherheit ausblieb, zum anderen, weil französische Unternehmen die Region weiter ausbeuten, wo die Armut zunimmt und der Klimawandel (z. B. Ausweitung der Wüste) die Spannungen zwischen der bäuerlichen und der nomadischen Bevölkerung verschärft hat.

Imperialistische Konkurrenz

Diese Bedingungen haben das Vordringen Russlands in die Region begünstigt, und zwar in Form der russischen Söldnergruppe Wagner, die bereits im benachbarten Mali und in der Zentralafrikanischen Republik operiert, wo sie auch die Goldminen des Landes ausbeutet. Vor dem Ukrainekrieg verfügte Wagner über schätzungsweise 5.000 Operationskräfte in Afrika. Bemerkenswert ist auch, dass der Anführer der Organisation, Jewgeni Prigoschin, den Staatsstreich in Niger sofort begrüßte, während Putin vorsichtig vor einer Militärintervention der ECOWAS warnte.

Niger ist ein besonders schwerer Schlag für Macron. Nachdem er gezwungen war, die gemeinsamen „Antiterror“-Operationen mit den fünf Sahel-Staaten aufzugeben, und nachdem er seine Truppen auf demütigende Weise aus Mali zurückziehen musste, hatte er das Land zum Zentrum einer niedrigschwelligeren Operation bestimmt, die sich auf westafrikanische militärische Vertreter_Innen mit französischen „Ausbilder_Innen“ stützen sollte. Diese sollte die diskreditierte und verhasste Opération Barkhane (2014 – 2022) ersetzen, an der bis zu 3.500 französische Soldat_Innen beteiligt waren. Der stark profranzösische Bazoum sollte der gehorsame Erfüllungsgehilfe dieser Politik sein.

Das gesamte Staatensystem, das früher als „Françafrique“, Frankreichs „Hinterhof“, bezeichnet wurde, ist in den letzten Jahren zusammengebrochen. Frankreichs Banken und Rohstoffkonzerne dominieren jedoch nach wie vor die Wirtschaft dieser Länder. Die westafrikanischen Staaten haben es trotz wiederholter Versuche nicht geschafft, ein gemeinsames, von der französischen Zentralbank unabhängiges Währungssystem zu schaffen. Der CFA-Franc ist nach wie vor die gemeinsame Währung der 14 afrikanischen Länder und dieses System erfordert, dass jedes Land die Hälfte seiner Reserven in Paris hält.

Die Staatsstreiche in Niger und in den umliegenden Staaten sind ein Resultat des halbkolonialen Systems in seiner unverhüllten und ausbeuterischen Form. Aber die Hinwendung zum russischen (oder chinesischen) Imperialismus ist keine Lösung für die Überausbeutung und Plünderung der Region, die Hunderttausende dazu bringt, die Überquerung der Sahara und des Mittelmeers zu riskieren, um Europa zu erreichen. Auch die Militärregime werden sich nicht als resistent gegen Korruption oder Anstiftung dazu durch westliche oder russische Imperialist_Innen erweisen.

Die Jugend und die Arbeiter_Innenklassen dieser Länder müssen sich über die künstlichen kolonialen Grenzen, über die frankophonen und anglophonen staatlichen Trennlinien hinweg zusammenschließen und dafür kämpfen, die Kontrolle über die enormen Ressourcen dieser Länder zu übernehmen und sie so zu nutzen, dass der Lebensstandard der Bevölkerung massiv angehoben wird. Kurz gesagt, eine wirklich antiimperialistische Revolution muss auch eine sozialistische werden, aber eine, die auf der Demokratie und Herrschaft der Arbeiter_Innen in den Städten und auf dem Lande, auf Räten der Arbeiter_Innen, Bäuer_Innen und der einfachen Soldat_Innen und nicht auf ihrem Offizierskorps beruht.




Nein zur EU-Asylrechtsreform! Offene Grenzen für alle!

Von Paul Dreher, Juni 2023, zuerst erschienen in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Am 8. Juni verständigten sich die EU-Innenminister_Innen auf eine „Reform“ des Gemeinsamen Europäischen Asylrechts (GEAS). Faktisch stellt sie eine Abschaffung des ohnedies schon massiv eingeschränkten Asylrechts für Hunderttausende Geflüchtete dar. Ohnehin ist der Status einer geflüchteten Person längst äußerst prekär. So sind Geflüchtete der Hetze bürgerlicher Medien sowie rechter Gewalt ausgesetzt und haben in der Regel weder das Recht zu arbeiten noch ihren Wohnort zu wählen.

Und auch das nur, wenn sie den tödlichsten Fluchtweg der Welt, das Mittelmeer mit seiner Festung Europa, überleben. Keine Woche nach dem Beschluss nahm die rassistische Außenpolitik der EU 500 – 600 weitere Tote in Kauf, als ein überfülltes Fischerboot vor der Küste Griechenlands kenterte. Laut Aussagen von Geflüchteten aufgrund der griechischen Küstenwache, welche im Rahmen eines Pushbacks das Boot aus dem Gleichgewicht brachte.

Der Beschluss der Innenminister_Innen stellt einen weiteren massiven rassistischen Angriff dar. Bevor er in Kraft tritt, muss er noch durch die gesetzgebenden Institutionen – EU-Kommission, -Rat und -Parlament. Eine Verteidigung des Asylrechts ist von diesen nicht zu erwarten, zumal die Regierungen der EU-Staaten wie auch alle größeren Fraktionen des EU-Parlaments in den Beschluss der Innenministerkonferenz eingebunden waren.

Aber die Verhandlungen und Beratungen der EU-Organe können und müssen noch genutzt werden, um eine Bewegung zur Verhinderung der „Reform“ und zum Kampf für ein uneingeschränktes Asylrecht aufzubauen.

Was haben die Innenminister_Innen beschlossen?

Die Reform, welche von der Bundesregierung als „politischer Durchbruch” gesehen wird, bedeutet eine quasi Abschaffung des geltenden Asylrechts. Sie sieht unter anderem die Nutzung von großen Asylzentren an den EU-Außengrenzen mit Einschränkung der Bewegungsfreiheit – praktisch Gefängnisse für Antragssteller_Innen auf Asyl – vor.

In diesen sollen Geflüchtete, worunter ebenfalls Familien mit Kindern zählen, bis zu drei Monate lang eingesperrt, jedoch möglichst schnell wieder abgeschoben werden.

Insbesondere,  wenn es sich um Menschen aus sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten” handelt oder aus Staaten, aus denen Antragssteller_Innen in der Vergangenheit mit einer ziemlich geringen Wahrscheinlichkeit Erfolg auf Asyl hatten (darunter fallen z. B. die Türkei, Indien oder Tunesien). Sollte eine Abschiebung in das Herkunftsland nicht möglich sein (zum Beispiel, weil dort Krieg herrscht), so ist jetzt auch eine in ein „sicheres Drittland” möglich, welches auf dem Fluchtweg passiert worden ist oder auf andere Weise (wie entfernte Verwandtschaft) mit der geflüchteten Person assoziiert wird.

An den Außengrenzen inhaftierte Geflüchtete werden registriert und möglichst gründlich identifiziert.

Die entsprechenden Daten, darunter neben biometrischen Fingerabdrücken auch Gesichtsfotos, sollen in einer EU-Datenbank gesichert und von Asyl- und Strafverfolgungsbehörden aller EU-Staaten abgerufen werden können, damit sogenannte „Sekundärmigration”, d. h. die Chance auf Asyl in einem anderen Land der EU (mit möglicherweise menschengerechteren Lebensgrundlagen), verhindert wird. Ein Recht auf Asylberatung oder rechtlichen Beistand wird den Menschen dabei nicht gewährt.

Widerstand in Basis von SPD und Grünen?

Während die SPD-Bundestagsfraktion 2020 noch Horst Seehofer kritisierte und die EU-Asylrechtsreform mitsamt „Massenlager[n] an der EU-Außengrenze” und einem „abgeschwächten Asylverfahren” ablehnte, sieht es heute ganz anders aus, von den Grünen ganz zu schweigen. Wieder einmal beweisen beide Parteien mit ihrer Zustimmung, dass ihnen die imperialistischen Interessen der EU, insbesondere Deutschlands, wichtiger sind als Menschenleben.

Zwar sprachen sich 24 Abgeordnete der SPD und der Grünen aus dem Bundestag sowie eine Handvoll aus Landtagen gegen die aktuelle Fassung der Asylreform aus, tragen die Politik aber faktisch mit. Überhaupt fällt die parteiinterne Kritik sehr schwach aus, auch wenn die Berichterstattung mancher bürgerlichen Medien das anders sieht. Von grünen Kritiker_Innen der Parteispitze fallen Aussagen wie, dass die Verhandlungssituation „sicherlich schwierig” sei und man sich sicher sei, dass doch trotzdem irgendwie für die richtige Politik gekämpft werde. Erik Marquardt, ein Mitglied der Grünen, welcher dafür bekannt ist, sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen zu wollen, spricht trotzdem von „Vertrauen in die Bundesregierung”, und dass eben alle Menschen Fehler machen. Dass es sich hier jedoch nicht um einen alltäglichen menschlichen Fehler handelt, sondern um die systematische Vertretung der Politik des Kapitals, wird von den parteiinternen Kritiker_Innen verkannt. Im Bundestag lehnte nur die Linkspartei die Reform grundlegend als Angriff auf die Menschenrechte ab.

Während SPD, FPD und auch die Grünen die faktische Aushebelung des Asylrechts als „geringeres Übel“ (für wen???) verteidigten, bezeichnen CDU und CSU die Verschärfungen als „guten Schritt“, dem weitere folgen müssten. Damit will sich die AfD erst gar nicht aufhalten. Für sie stellt selbst dieser rassistische Hammer eine „bloße Alibiveranstaltung“ dar, denn noch immer könnten Geflüchtete aus einzelnen Ländern wie Afghanistan und Syrien Asyl erhalten. Auch wenn die AfD-Forderungen im EU-Parlament keine große Rolle spielen werden, so verweisen sie darauf, dass längst nicht das Ende der rassistischen Fahnenstange erreicht ist, selbst wenn die „Reform“ angenommen wird.

Widerstand ist nötig!

Auch wenn von den EU-Institutionen nichts zu erwarten ist, so können und müssen die Beratungen und Verhandlungen der kommenden Monate genutzt werden, um eine Bewegung zur Verhinderung der „Reform“ und zum Kampf für ein uneingeschränktes Asylrecht aufzubauen.

Der Protest gegen den rassistischen Angriff darf nicht weiter auf Petitionen und Kundgebungen von Menschenrechtsorganisationen, von NGOs und antirassistischen Initiativen beschränkt sein wie beim bundesweiten Protesttag am 15. Juni.

Wir brauchen eine Massenbewegungen, von antirassistischen,  Migrant_Innenorganisationen, Gewerkschaften, der Linkspartei. Die Abgeordneten, die sich im Parlament gegen die rassistischen Maßnahmen ausgesprochen haben, müssen eine solche Mobilisierung unterstützen – und zwar nicht nur EU-weit!

Was braucht es stattdessen?

Statt Internierungslagern an den Außengrenzen, Toten im Mittelmeer und einer insgesamt menschenverachtenden EU-Außenpolitik braucht es eine menschenwürdige Alternative in der Hand von Arbeiter_Innen, Geflüchteten und anderen unterdrückten Menschengruppen.

Deshalb fordern wir:

• Volles Asylrecht für alle Geflüchtete! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen!

• Ein Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes und staatliche Unterstützung für Geflüchtete, solange sie keine Arbeit gefunden haben!

• Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder Staatsangehörigkeit!

• Volle Staatsbürger_Innenrechte für alle, die in Deutschland leben, inklusive des passiven und aktiven Wahlrechts!

• Statt des Europas der Imperialist_Innen ein Europa des Widerstands, der Unterdrückten und Ausgebeuteten! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!




Air Defender 2023: dunkle Kriegswolken über Europa

von Jürgen Roth, zuerst erschienen in der Infomail 1226 der Gruppe Arbeiter:innemacht, 14. Juni 2023

Vom 12. bis zum 23. Juni 2023 trainieren rund 10.000 Soldat:innen aus 25 Nationen mit ca. 250 Luftfahrzeugen v. a. über Deutschland im größten Luftkampfmanöver seit Bestehen der NATO. 2.000 Flüge sind an den 10 Manövertagen geplant. Die wollen nicht nur spielen!

Das Szenario

Dem Manöver liegt ein Szenario zugrunde, dem zufolge jahrelange Konfrontation zum Krieg geführt hat. Occasus, eine fiktive östliche Militärallianz, hat den unabhängigen Kleinstaat Otso überrannt und greift nun NATO-Gebiet an. Eine von Coronapandemie, Verknappung von Energielieferungen geschwächte, von bisher unbekannt hoher Inflation gebeutelte Bundesrepublik erscheint dem Aggressor als leichte Beute. Reguläre Truppen und die Spezialeinheit Organisation Brückner fallen daraufhin ins Land ein und besetzen im Blitzkrieg die Region Klebus. Ein Viertel der Republik ist besetzt. Aus der Luft wird Rostock angegriffen. Die Einnahme seines Hafens soll mehr Nachschub ins Kampfgebiet bringen. Die NATO ruft gemäß Beistandsartikel 5 den Verteidigungsfall aus. An diesem Punkt startet das Riesenmanöver.

Einschätzung und Ausmaß des Manövers

Die beteiligten Militärs werten die Luftkampfübung bereits jetzt als Erfolg, gelang doch in recht kurzer Zeit die Mobilmachung von 25 Ländern, v. a. NATO-Mitgliedern, und 250 Flugzeugen, v. a. Kampfjets. Rund 100 davon stellen die USA. Die Bundesluftwaffe beteiligt sich mit 64 Maschinen: Eurofighter, Tornados, A400M-Transporter, A330-Tanker und Hubschrauber. Learjets der Gesellschaft für Zieldarstellung und A-4 einer kanadischen Firma mimen das Aggressorluftpotential.

Ähnliche gewaltige Manöver wurden bereits zu Zeiten des Kalten Kriegs abgehalten, doch damals hatten die USA, Großbritannien und Kanada ihre Flugmaschinen direkt in Deutschland stationiert. Nun erfolgte deren Verlegung schnell über Tausende Kilometer.

Die Übung erfolgt dennoch nicht im Namen des westlichen Militärbündnisses. Es war von der BRD geplant und wird von ihr geleitet. Generalleutnant Ingo Gerhartz, seines Zeichens Bundesluftwaffenoberbefehlshaber, betont, sekundiert von US-Generalleutnant Michael Rose, Direktor der Air National Guard, die Übung sei keine direkte Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine. Nur wenige Einsätze würden über Estland, Polen und Rumänien geflogen. Es gehe darum, sich selbst die eigene Verteidigungsfähigkeit zu beweisen. Eine Provokation Russlands durch Flüge in Richtung Kaliningrad solle vermieden werden. US-Botschafterin Amy Gutmann verhielt sich weniger vorsichtig und bekräftigte, dass die Übung auch ein Signal der Stärke aussenden solle. Wohin wohl?

Das Szenario nimmt bis aufs i-Tüpfelchen den sehr realen russischen Überfall als Anlass zum Gegenschlag wahr. In ihrem Bemühen, das Feinbild Russland abzutun, vergessen die NATO-Militärs auch, dass bis zum 5. Juni ein ähnliches Manöver namens Arctic Challenge an der russischen Nordgrenze lief und sich derzeit rund 50 NATO-Schiffe und über 45 Flugzeuge im Rahmen der Übung Baltops in der Ostsee konzentrieren. Und schließlich muss man aus Zeiten des Kalten Kriegs wissen, wie schnell eine Übung als Bedrohung wahrgenommen wurde. Nun wütet ein heißer Krieg. Die Militärs betreiben also Desinformationspolitik.

Geschehen in den Flugzonen

Für Air Defender 2023 sind über Deutschland 3 Flugzonen eingerichtet, die zu gewissen Zeiten für jeglichen anderen Luftverkehr gesperrt sind. Das Militär beansprucht dann hier den Luftraum zwischen 2.500 und 15.000 Metern Höhe. Tiefflüge sollen über dem nördlichen Brandenburg, Teilen Mecklenburg-Vorpommerns, der Ostsee sowie den Truppenübungsplätzen Baumholder (Rheinland-Pfalz, südlicher Hunsrück) und Grafenwöhr (Bayern, Oberpfalz) erfolgen.

In den kommenden 2 Wochen wird also v. a. der zivile Luftverkehr leiden. Die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) redet von täglich 50.000 Minuten Verspätung und der Flughafenverband Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen (ADV) rechnet mit ausfallenden Flügen, z. B. über Schleswig-Holstein. Dort wird zwischen 16 und 20 Uhr geübt. Hamburg-Fuhlsbüttel plant beispielsweise für den 13. Juni 30 Starts. Um Chaos zu vermeiden, hat man das Nachtflugverbot aufgehoben.

Ökologische Kosten

Zu den direkten Kosten gibt es keine und zu den Umweltauswirkungen nur vage Angaben. Laut Bundeswehr wird das Manöver 32.000 Tonnen CO2 erzeugen – so viel wie 3.500 Deutsche im Jahr 2020 produzierten. Täglich werden allein am Fliegerhorst Wunstorf (ca. 20 km westlich von Hannover) 400.000 – 500.000 Liter Kerosin bereitgestellt. Damit kann ein Airbus A 320 mit 77 Tonnen Gewicht und 170 Passagier:innen an Bord rund 190 Stunden lang um den Globus düsen. Laut wird es außerdem, obwohl nicht scharf geschossen wird. Bis zu 60 Maschinen werden im Nordosten gleichzeitig in der Luft sein.

Protest

Die NATO spielt also mit dem Feuer, präsentiert ihre Stärke und Hoheit, auf dass „dem Iwan“ angst und bange werden möge. Dagegen ist Protest allemal gerechtfertigt. So versammelten sich am Sonntag, den 11. Juni 2023, ca. 150 Friedensbewegte am Sielmann-Hügel in der Kyritz-Ruppiner Heide zur Friedenswanderung auf dem Wanderparkplatz Pfalzheim (Ostprignitz-Ruppin) und bildeten ein Friedenszeichen mit Stoffbahnen über ihren Köpfen.

An diesem historischen Ort sammelten sich ehemals bis zu 10.000 bei Ostermärschen gegen die Naturzerstörung durch einen Truppenübungsplatz der Bundeswehr, auf dem die Luftwaffe Tiefflüge und Bombenabwürfe trainieren wollte. Das Bombodrom konnte 2009 verhindert werden. Jetzt, wo sich die Lage immer drohender auf einen III. Weltkrieg zubewegt, verbleiben ganze 150 Aufrechte. Welche Schande! Doch nicht für sie, sondern für die Linke und Arbeiter:innenbewegung, die dieses Szenario nicht hinterm Ofen hervorlockt. So bleibt ihr Widerstand gegen die große NATO-Kriegsübung bisher aus.

Neue atomare Rüstungsspirale

Dabei gibt das neue atomare Wettrüsten zusätzlichen Anlass zum Protest. Der Jahresbericht 2023 des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts (Stockholm International Peace Research Institute; SIPRI) liefert nämlich nur auf den ersten Blick frohe Kunde: Die Anzahl der Atomsprengköpfe ist im vergangenen Jahr weltweit um 198 gesunken. Russland und die USA verfügen demnach über 90 % der 12.000 Waffen. Doch dieser Rückgang geht einher mit ihrer zielstrebigen Modernisierung. Die Sprengköpfe werden mobiler, dauerhaft einsatzfähig und sind schwerer abzuwehren.

Zudem legt sich seit Beginn des bewaffneten Ukrainekonflikts immer mehr der Schleier des Geheimnisses über diese Rüstungskategorie. Die Zahl der gefechtsbereiten Atomsprengköpfe hat im letzten Jahr um 86 auf vermutlich 9.576 zugenommen. Insbesondere China forciert die Aufrüstung, steigerte sein Arsenal von 350 auf 410. Vor 5 Jahren besaß es nur 280. Bis zum Ende des Jahrzehntes könnte es über mindestens ebenso viele Interkontinentalraketen verfügen wie die USA oder Russland. Die kleineren Atommächte ziehen nach: Pakistan (170), Indien (164), Nordkorea (30), Frankreich (290), Großbritannien (225), Israel (90).

2026 endet „New Start“, der letzte Atomwaffenkontrollvertrag zwischen Russland und den USA. Er begrenzt die Zahl der einsatzbereiten strategischen Atomsprengköpfe seit 2010 auf je 1.550 und der Trägersysteme zu Land, Wasser und in der Luft auf je 800. Kein Wunder, dass SIPRI-Direktor Dan Smith fürchtet: „Wir driften in eine der gefährlichsten Periode der Menschheitsgeschichte.“

Anfang Juni riefen die USA China und Russland zu Gesprächen über nukleare Rüstungskontrolle auf – ohne Vorbedingungen. Freilich bedeute das nicht, andere Atommächte nicht für ihr „rücksichtsloses Verhalten“ zur Rechenschaft zu ziehen, wie Jake Sullivan, nationaler Sicherheitsberater des Präsidenten, betonte. Dieser Vorschlag ist also alles andere als uneigennützig: Geht Chinas Aufrüstung ungebremst weiter, stehen die USA bald vor dem Dilemma, erstmals in ihrer Geschichte zwei annähernd gleich große Atommächte in Schach zu halten. Er hob die Bedeutung von NATO-Verbündeten wie der BRD hervor, die zwar keine Nuklearwaffen besitzen, aber Einsatzmittel fürs US-Arsenal zur Verfügung stellten.

Zu ähnlich düsteren Prognosen kommt auch das Friedensgutachten 2023 von 4 deutschen Instituten. Deutschland und die EU müssten die Ukraine dauerhaft militärisch, ökonomisch und politisch unterstützen. Friedensgespräche seien derzeit keine realistische Option, müssten aber vorbereitet werden. Zu einer solchen Verhandlungsrunde sollten auch China und Brasilien gehören. Somit gerieren sich diese Institute ganz als brave Stimme ihres Herrn. Pazifismus ja, aber zuerst muss die richtige Seite unterstützt werden. Dafür zahlen wir schließlich Steuern – insbesondere für die weitere Aufrüstung.

EU-Militärpolitik: unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Die Ankündigung des militärischen Sondervermögens über 100 Mrd. Euro durch „Zeitenwende“kanzler Scholz löst eine massive Verschiebung der Außen- und Sicherheitspolitik der EU aus: Der Trend zu wachsenden Verteidigungsausgaben ist europaweit zu verfolgen. Im Jahr 2019 lag das diesbezügliche Budget aller EU-Mitglieder bei 186 Mrd. Künftig wird allein Deutschland jährlich seines um 25 Mrd. aufstocken. Standen Ende 2021 die Zeichen im Koalitionsvertrag noch auf Rüstungskontrolle und Wiederbelebung der internationalen Abrüstung, setzte ab 2022 eine kontrollierte Rüstung ein. Die Ukraine erhielt Militärgerät, wobei östliche EU-Länder ihre noch aus Zeiten des Warschauer Paktes stammenden Waffensysteme abgaben und durch Nachkauf westlicher Ausrüstung sich dem NATO-Standard anpassten, ihn somit vereinheitlichten.

Die Antwort auf den Ukrainekrieg wird also vornehmlich in Aufrüstung gesucht, nicht in diplomatischen EU-Vermittlungs- und Verhandlungsmissionen. Dabei steht die europäische Verteidigungspolitik im Schatten der Öffentlichkeit. PESCO/SSZ, die ständige strukturierte Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten – wir berichteten in NI 226, Februar 2018: https://arbeiterinnenmacht.de/2018/02/03/muenchner-sicherheitskonferenz-2018-auf-dem-weg-zur-eu-armee/ – begann Ende 2017 und weist heute große Schnittmengen mit der NATO selbst auf. Beleg für den laufenden Ausbau dieser Politik liefern die Missionen auf dem Balkan, im Mittelmeer und Afrika (Mali, Niger).

In welche Richtungen EU-Gelder und -Budgets fließen, veranschaulicht das Projekt „Open Security Data EU“ (https://opensecuritydata.eu/). Man bedenke: Diese Gelder tragen zu einem Militärhaushalt ohne eigene EU-Armee bei! Der Europäische Verteidigungsfonds umfasst allein zwischen 2021 und 2027 8 Mrd. Euro für militärische Forschung und Entwicklung. Im Rahmen der Europäischen Friedensfazilität stehen weiter 5 Mrd. für gemeinsame Missionen und Hilfe an Drittstaaten zur Verfügung. Weitere 500 Mio. liefert das Instrument zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung (Edirpa) für den Zeitraum Juli 2022 – 2024.

Dass es bei einer EU ohne Armee bleiben wird, erscheint zudem immer unsicherer. Im März 2022 wurde der Strategische Kompass vorgestellt. Eine neue Schnelleingreiftruppe aus 5.000 Soldat:innen soll für Rettungs- und Evakuierungsaufträge, aber auch den Ersteinsatz im Rahmen der Krisenintervention bis 2025 aufgestellt werden.

Diese Zahlen und Hinweise verdanken wir einer Expert:innenrunde des Brüsseler Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung unter dem Oberthema: „Der Militarisierung entgegenwirken: Bestandsaufnahme und gemeinsame Wege im Kampf gegen die Militarisierung der Europäischen Union“ von Anfang September 2022 (https://www.rosalux.eu/de/article/2154.der-militarisierung-der-eu-etwas-entgegensetzen.html).

Doch so dankbar wir auch für die wertvolle Recherche der Stiftung sind, ihr „Antimilitarismus“ bleibt ein zahnloser:

„In der Summe der Projekte, Budgets und strategischen Planungen sowie deren absehbaren Ausweitungen drohen die Idee des friedlichen Charakters der Europäischen Union sowie die Vorstellung von einer Mittlerrolle im Rahmen von Friedensverhandlungen, die bislang im Ukrainekrieg auch nicht eingenommen worden ist, weiter Schaden zu nehmen. […] Wenn künftig das Mittel zur konstruktiven Enthaltung auch bei Militärmissionen zum Einsatz kommen sollte, dürfte die Zahl der Missionen aus nationalen Interessen einzelner oder mehrerer europäischer Staaten heraus zunehmen. Damit läuft die EU Gefahr, dass sich abgekoppelte Kriege auf Betreiben einzelner Staaten hin entwickeln. Analog kann der US-Feldzug in Afghanistan gesehen werden, dessen Angriffe im Rahmen der Operation Enduring Freedom mit Verteidigung nicht begründbar waren. Das zur Verteidigung angerückte Bündnis aus NATO- und Nicht-NATO-Mitgliedern leistete dafür eine wesentliche Unterstützung.

Linke europäische Politik muss sich angesichts dieser und vieler weiterer Aspekte, beispielsweise der Einsätze von Frontex im Mittelmeer und der auf Abwehr angelegten Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen, über die Rolle innerhalb der Europäischen Union klar werden, um den friedensfördernden Charakter des Bündnisses nicht an die Rüstungsindustrie und Wirtschaftslobbyisten zu verlieren.

Das verlangt linker europäischer Politik aber auch ab, bei der Ablehnung der etablierten konventionellen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eigene Lösungen aufzuzeigen. Dabei muss auch das Bedürfnis nach dem Schutz, den Sicherheits- und Verteidigungsbündnisse vorgeblich bieten, in linke Lösungsvorschläge einfließen. Die Fragen nach einer neuen europäischen Sicherheitsordnung und einer gemeinsamen europäischen Verteidigung müssen von links beantwortet werden.“

Die Märchenerzähler:innen der RLS wollen uns weismachen, die EU sei eigentlich ein friedlicher Zusammenschluss, wenn egoistische Nationalinteressen, Wirtschafts- und Rüstungslobby nicht die Oberhand gewinnen. Kautskys Idee vom Ultraimperialismus erlebt hier eine Renaissance. Sie ist zwar ein Staatenbund, aber kein Superstaat, indem sich die konkurrierenden Interessen nationaler Gesamtkapitale schiedlich-friedlich verflüchtigt haben. Sie bildet ein politisch-wirtschaftliches Kartell unter Ägide des deutschen und französischen Imperialismus als dessen Hauptprofiteuren. Sieht so die Transformationsstrategie aus, der EU ihren grundlegend militaristischen und imperialistischen Charakter abzusprechen? Im Transformatorenhäuschen der RLS fließt nur reformistischer Schwachstrom, der den EU-Militarismus höchstens ein bisschen kitzelt. Das Gesundbeten dieses Saulus zum Paulus wird niemals gelingen. Die Linkspartei und ihre Ableger betreiben „konstruktiven, kritischen“ Sozialpatriotismus.




Wahlen in der Türkei: Mücadeleye devam – Wir kämpfen weiter

Von Dilara Lorin, aus Neue Internationale 274 (Gruppe Arbeiter:Innenmacht), Juni 2023

In den letzten Monaten, vor allem, aber in den letzten Wochen war das Land politisiert und die Spannungen innerhalb der Bevölkerung wurden immer größer. Dies hat verschiedene Ursachen. Das verheerende Erbeben vom 6. Februar, welches mehr als 50 000 Menschen das Leben kostete, aber auch die Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung aufzeigte; die Inflationsrate, die Oktober 2022 ganze 80 % erreichtet; die immer prekärer werdende Lage der Arbeiter:innenklasse, auch eine zumeist tief rassistisch geführte Debatte über die Lage und Rolle von Millionen Flüchtlingen und der Kurd:innen.

Dennoch konnte Erdogan die Präsidentschaftswahlen im zweiten Wahlgang für sich entscheiden. Zweifellos kam ihm dabei das Monopol über die staatlichen Medien wie das Fernsehen, die Kontrolle des Staatsapparates, Repression und Entschücherung der Opposition, vor allem der kurdischen HDP, die vom Verbot bedroht sind und von der hunderte Mitglieder in den Gefängnissen sitzen zugute. Aber sein Gegenkandidat, der kemalistische türkische Nationalist Kılıçdaroğlu versprach selbst eine reaktionäre, kapitalistische und rassistische Politik, die keine Alternative zu Erdogan dargestellt hätte.

Zwei Lager, aber zwei reaktionäre Lager

Zweifellos hat die Wahl die Menschen in zwei Lager gespalten, die einen, die Erdogan weiterhin unterstützen, die anderen, die sich für Kılıçdaroğlu aussprachen, weil sie diesen als Alternative zum bonapartistischen Regime Erdoğan ansahen. Dass dies jedoch eine Wahl zwischen Pest und Cholera war und Kılıçdaroğlu keine Alternative für die Arbeiter:innen, Kurd:innen, Geflüchteten und weitere Unterdrückte darstellen kann, wurde in den letzen zwei Wochen immer deutlicher.

Im ersten Wahlgang war neben den beiden Kandidaten trat noch ein dritter angetreten: Sinan Oğan, ein Rechter, der wegen nationalistischen und rassistischen, wegen sexistischen und frauenfeindlichen Äußerungen bekannt wurde, erhielt 5 %. In der Stichwahl versuchte er sich als „Königsmacher“ zu inszenieren. Jedenfalls buhlten beide Kandidaten um seine Stimmen. Auch deshalb waren die vergangen zwei Wochen geprägt von rassistischen Äußerungen und vor allem Kılıçdaroğlu fokussierte seine Wahlpropaganda darauf, innerhalb von 2 Jahren bis zu 2 Millionen Geflüchtete zu deportieren. Zugleich verlor er kaum ein Wort zur Inflation und die kapitalistische Wirtschaftspolitik Erdogans. Vielmehr würden die Geflüchteten Arbeitsplätze „klauen“ und nur deshalb ginge es der Arbeiter:innenklasse so schlecht.

Die rassistischen Äußerungen Kemal Kılıçdaroğlu erinnern an NPD und AfD. Dass dabei Erdogan keine bessere Position vertritt, ist klar. Er benutzt die Geflüchteten als Spielball gegenüber der EU. Große Teile des Geldes, welches im Zuge des reaktionären Flüchtlingsdeals in die Türkei gelangt, erreichen gar nicht erst die Lager und die Betroffenen und letztlich verfolgt auch Erdogan das Ziel, viele wieder zurückzuschicken. Jedoch behauptet er, dies erst zu tun, wenn die dafür notwendigen Bedingungen geschaffen sein würden würden. Dass bedeutet, dass Assad als Diktator wieder anerkannt wird und auch die Beziehungen nach Syrien wieder normalisiert werden – und das auf den Rücken nicht nur der Geflüchteten, sondern vor allem der Kurd:innen in Rojava. 

Parlamentswahlen

Gewonnen hat in den Parlamentswahlen letztlich wieder die AKP, welche  bei den Wahlen zur 600 Abgeordnete umfassenden großen Nationalversammlung 35,61% für sich gewinnen konnte. Dabei hat die AKP aber im Vergleich zu den Wahlen 2018 6,95% der Stimmen eingebüßt. Diese Zahlen verdeutlichen auch, dass die AKP nicht mehr jene Zustimmung in der Bevölkerung erhält wie es früher einmal der Fall war. Auch ihre Basis bröckelt, viele Anhänger:innen stehen nicht mehr hinter der Partei. Nichtsdestotrotz kann sie mit dem Wahlbündnis „Volksallianz“, mit welchen sie auch zur Wahl angetreten ist, insgesamt 49,47 % erhalten. Die AKP tritt dabei im Bündnis mit der faschistischen MHP an. Von den 318 Sitzen der Volksallianz hält die MHP immerhin 50 Sitzen.

Die CHP, welche von vielen als die Alternative zur AKP angesehen wird, kam in den Parlamentswahlen auf 25,33 % und trat ebenfalls in einem Wahlbündnis mit 5 weiteren Parteien auf, dem „Bündnis der Nation“. Dabei koaliert unter anderem mit der IYI Partei, welche islamisch, konservativ und rechts einzuordnen ist. Das „Bündnis der Nation“, das in den Medien auch „Sechsertisch“ genannt wird, kommt auf insgesamt 213 Sitze.

Dass dieses Wahlbündnis kein Interesse daran hat, wirklich demokratische Zustände in der Türkei wieder durchzusetzen, eine Verbesserung für die Arbeiter:innenklasse herbeizuführen oder für die Rechte von den unterdrückten Minderheiten einzutreten, zeigt schon der bürgerliche Charakter der CHP, deren historische Verrat an der Arbeiter:innenklasse, aber auch die Position zu den Kurd:innen  und Geflüchteten ist extrem reaktionär. 

Ergebnis von HDP und YSP

Die links-kleinbürgerliche HDP, welche für die Rechte von Frauen, LGBTI, Kurd:innen und Geflüchteten kämpft, fuhr das schlechteste Ergebnis bei den Parlamentswahlen seit ihrer Gründung ein. Sie trat aufgrund aufgrund der möglichen Illegalisierung unter dem Namen der Yeşil Sol Partei (YSP) an. Die YSP kam lediglich auf 8,82 %. Somit büßt die HPD 2,68% der Stimmen im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2018 ein. Mit dem Wahlbündnis „Arbeit und Freiheit“ traten im Rahmen der YSP 5 weiteren kleinere linke Parteien zu den Wahlen an, da runter die bekannteste, neu gegründete TİP (Arbeiterpartei der Türkei), welche 1,73 % mit ihren eigenen Listen erlangte, denn im Wahlbündnis selbst konnten alle Parteien auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten.

Dass die YSP in diesem Wahlgang an Stimmen verloren hat, zeugt auch von ihren taktischen Fehlern, welche sie schon vor der Wahl entschieden: kein gemeinsames Auftreten einer/s eigenen Präsidentschaftskandidat:in und damit die offene oder indirekte Unterstützung des CHP Kandidaten Kılıçdaroğlu und der fälschliche Glaube, man müsse sich nur auf einige Sitze im Parlament, sowie Bürgermeister und andere Posten fokussieren. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass der Wahlkampf des Bündnis für Arbeit und Freiheit unter massiver Repression stattfand, darunter der Inhaftierung sowie Einschüchterung von vielen Aktivist:innen und Wahlhelfer:innen.

Und die Kurd:innen?

Diese haben in dieser Wahl komplett verloren. Dadurch dass es keinen Präsidentschaftskandidaten von der YSP gab, konnten sie ihren Forderungen kaum öffentliches Gewicht und kein Gehör verschaffen. Dabei ist für die CHP ohnedies klar: Kurd:innen sollen allenfalls als Stimmvieh fungieren, ansonsten setzt man auf Nationalismus und Chauvinismus. So positionierte sich die CHP 2015 gegen Friedensverhandlungen und kritisierte Erdogan und die AKP von rechts. Sie unterstützte viele Angriffe der Türkei auf Rojava.

Dadurch dass die YSP und etliche revolutionäre und kommunistische Gruppen dazu aufriefen, den Präsidentschaftskandidaten der CHP zu unterstützen, verschwand die Masse der kurdischen Stimmen in denen der reaktionären, nationalistischen und bürgerlichen Masse der CHP. Die Politik des kleineren Übels ist jedoch nicht aufgegangen: Erdoğan gewinnt die Wahl am 28.5. und beginnt seine dritte Amtszeit als Präsident. Die stärkte das nationalistische Bewusstsein der AKP-Unterstützer:innen, welches sich jetzt nochmal bestätigt fühlen. Und schon in seiner ersten Ansprache als neuer Präsident hetzt Erdogan gegen den inhaftierten HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und spricht vom Großtürkischen Reich, welches er in dieser Amtsperiode weiter forcieren möchte.

In seine ersten Ansprach nach den Wahlen gibt sich Kılıçdaroğlu als „wahrer Demokrat“, hinter den vor allem Frauen und Jugendlichen zu stehen scheinen, um gleich in den nächsten Sätzen seine rassistische Haltung gegenüber den Geflüchteten noch einmal zu bekräftigen. So äußert er sich gleich am Anfang seiner Rede rassistisch und verkündet: „Als Millionen Geflüchtete kamen und ihr zum Volk zweiter Klasse wurdet, konnte ich nicht dazu schweigen“. Von den Kurd:innen war keine Rede mehr, es schien so, als seine sie vergessen, unwichtig oder nicht der Rede wert. Dabei waren es Städte vor allem die Städte aus der kurdischen Region, in denen oftmals mit einer überwältigenden Mehrheit Kılıçdaroğlu gewählt wurde. 

Kaybettik (Wir haben verloren)  oder Mücadeleye devam (Wir kämpfen weiter)?

Während viele am 28. Mai mit Türkei-Fahnen, den Wolfs- oder Rabiagrüßen den Sieg Erdoğans feierten, war ein anderer Teil der Bevölkerung niedergeschlagen. Es wurde seitens liberaler und bürgerlicher Kräfte, aber auch großer Teil der Linken für einen möglichen Sieg der „Demokratie“ unter Kılıçdaroğlu geworben. Für eine gewisse Zeit hinterließ diese bei vielen den Eindruck, dass „bessere Zeiten“ bevorstände: Erdoğan und die AKP hätten ausgesorgt, sie würden gehen. An ihre Stellt würden besser Zeiten mit mehr demokratischer Mitbestimmung, mehr Rechten für das Parlament, einer stärkeren Wirtschaft folgen.

Auch wenn es vollkommen nachvollziehbar ist, dass man sich nach besseren Zeiten sehnt, man das autoritäre Regime satt hat, so war die CHP nie eine Alternative. Denn eine bürgerlich, nationalistische Partei, welche weiterhin im Sinne der Kapitalist:innenklasse agiert, hat nicht das Interesse daran, wirkliche Verbesserungen durchzusetzen. Und alleine die weltweite wirtschaftliche Lage und tiefe ökonomische Krise in der Türkei (Inflation, Verfall der Währung) hätten gar nicht erst die Möglichkeit unter Kılıçdaroğlu geben, Reformen durchzuführen. Vielmehr hätte auch seine Regierung die Arbeiter:innenklasse massiv angegriffen, um die Profitwirtschaft wieder flott zu machen.

Wir dürfen daher auch jetzt nicht dem Modus des Verlorenen – kaybettik – verfallen, sondern unser Motto muss lauten: „Mücadelemis devam etmeli“ – Unser Kampf muss weiter gehen! Denn was notwendig gewesen wäre, und was weiterhin notwendig ist, ist die stark politisierte Lage in der Türkei zu nutzen, um die Arbeiter:innen und Unterdrückten jetzt für ihre Interessen zu mobilisieren, für den Abbau einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen den Rassismus, gegen das Regime. Die Wahlbeteiligung lag zwar bei über 80%, aber kaum eine Organisation hat einen dritten Weg der Organisierung und Mobilisierung aufgezeigt, obwohl es die Situation dies erfordert.

Es ist notwendig, dass die türkische Linke jetzt in einer Einheitsfront tritt, in welcher sie alle kämpferischen und fortschrittlichen Teile der Gesellschaft vereint, und versucht, die Gewerkschaften, die linken Parteien, die Kurd:innen, die Umwelt- und Frauenbewegung gemeinsam zu mobilisieren. Wir brauchen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und einer gleitenden Skala Löhne, nach Enteignung der Großunternehmen und Banken unter Arbeiter:innenkontrolle. Nur so kann die Inflation und die damit einhergehende Wirtschaftskrise bekämpft werden.

Dafür müssen die Gewerkschaften in der Türkei anfangen ihre Mitgliedschaft und ihren Organisationsgrad auszuweiten, Aktionskomitees in Betrieben und Stadtteilen aufzubauen, um so zu Massenorganen der Arbeiter:innen zu werden. Revolutionär:innen müssen für ein  Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse eintreten, das die Rechte und Forderungen aller unterdrücken Minderheiten, allen voran der Kurd:innen und Araber:innen und aller Geflüchteten vertritt! Eine solche Einheitsfront muss sich auf Massenversammlungen und Aktionskomitees in den Betrieben und Stadtteilen stützen sowie auf Selbstverteidigungseinheit gegen die Repression.

Es ist eine große Aufgabe, aber das Regime kann nicht durch einen weiteren nationalistischen und bürgerlichen Kandidaten gestürzt werden, sondern nur von der Arbeiter:innenklasse und den Unterdrückten selbst – und dazu ist der Aufbau einer neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei nötig, die unabhängig von allen Flügeln der herrschenden Klasse agiert.




Gegen die Angriffe auf die Versammlungsfreiheit – Solidarität mit der palästinensischen Befreiungsbewegung

Von Clay Ikarus, Mai 2023

Bereits im letzten Jahr wurden sämtliche Aktionen rund um den Mord an Shireen Abu Akleh und dem Nakba-Tag von der RGR-Regierung in Berlin verboten. Dies stellte einen massiven Angriff auf die Versammlungsfreiheit dar. Getroffen wird die palästinensische Community, die so auch hierzulande in ihrem Kampf gegen ihre Unterdrückung kriminalisiert, verfolgt und zum Schweigen gebracht wird. Dagegen müssen wir geschlossen vorgehen, nicht nur weil der Befreiungskampf der Palästinenser_Innen die internationale Solidarität der Ausgebeuteten und Unterdrückten bedarf, sondern auch, weil diese Eingriffe in unsere Versammlungsfreiheit alle treffen können. Wir hatten bereits im letzten Jahr über die Verbote berichtet und gemeinsam mit anderen Organisationen versucht dagegen vorzugehen. Auch in diesem Jahr gehen die Angriffe des Berliner Senates aus SPD und CDU weiter. Einige Veranstaltungen wurden bereits verboten, sowie alle Ersatzveranstaltungen zwischen dem 13. und 15. Mai. Zudem sind weitere bereits angemeldete Pro-Palästinensische Veranstaltungen in der Versammlungsbehörde nicht aufgelistet, weshalb wir Sorge haben, dass auch diese verboten werden.

Wieso ist der Nakba-Tag so wichtig?

Nakba bedeutet Katastrophe auf Arabisch. Der Tag ist ein internationaler Gedenk- und Kampftag und beschreibt die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem historischen Gebiet Palästina mit der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948. So wurde die zionistische Idee von Theodor Herzl, einen mehrheitlich jüdischen Nationalstaat zu errichten, mit Gewalt umgesetzt. Palästina befand sich vorab unter kolonialistischer Verwaltung Großbritanniens (1929-1948), welches den Zionismus unterstützte. Die Lage hat sich im historischen Gebiet Palästina seitdem natürlich verändert. Die verbreitete Idee der Zweistaatenlösung, also dass ein palästinensischer und ein israelischer Staat koexistieren sollen, scheitert zunehmend. Heute gibt es isolierte und mehr oder weniger „autonome“ palästinensische Gebiete, also der Gazastreifen, das Westjordanland und Ostjerusalem. Doch auch die werden immer weiter verdrängt durch die Siedlungspolitik und militärischen Angriffe Israels. Gegen die Vertreibung von bis jetzt ca. 5 Millionen Palästinenser_Innen und die Kolonialpolitik Israels gab es zwei große Volksaufstände (Intifadas).

Aktuelle Lage

Allein im letzten Jahr sind 167 Palästinenser_Innen ermordet worden und in den ersten 4 Monaten dieses Jahres sind es bereits 83 Tote. Amnesty International attestiert Israel die Klassifizierung als Apartheidsstaat nach UN-Recht, weil es de facto zwei Klassen an Staatsbürger_Innen gibt und die palästinensische Bevölkerung rassistisch weitgehend entrechtet ist. Ihr Leben wird oft mit einem Leben in einem Freiluftgefängnis verglichen, sie sind ständiger Gefahr von Schikane, Vertreibung, Gefangenschaft und Ermordung ausgesetzt. Während in Palästina der Widerstand gegen die israelische Apartheid hochkocht und sich auch von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) nicht mehr kontrollieren lässt, demonstrieren gleichzeitig über 100.000 Menschen allein in Tel Aviv gegen die demokratiefeindlichen Reformen der Regierung Netanjahus. Eine Verbindung der Kämpfe bleibt jedoch aus – nicht zuletzt, weil die Bewegung gegen die reaktionäre Regierung selbst den Kampf für die demokratischen Rechte der Palästinenser_Innen letztlich ablehnt. Doch genau dies wäre nötig, um das zionistische Regime zu überwinden und zu einer friedlichen Lösung im Nahen Osten zu kommen: Ein gemeinsamer Kampf gegen den rassistischen und kapitalistischen Apartheidsstaat, für einen säkularen sozialistischen Staat unter Kontrolle der Menschen, die heute im Gebiet des historischen Palästinas leben!

Wieso das Verbot? Wieso dagegen kämpfen?

Hier im ach so demokratischen Deutschland wäre so ein gemeinsamer Kampf zwischen palästinensischen und israelischen Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen den zionistischen Staat leicht umzusetzen und findet in Ansätzen bereits statt. So wurden in der Vergangenheit Pro-Palästinensische Veranstaltungen auch von jüdischen Aktivist_Innen und Organisationen unterstützt. Immer wieder stellen Veranstalter_Innen klar, dass sie nicht gegen die Jüd_Innen kämpfen, sondern gegen den Zionismus und sprechen sich deutlich gegen jeden Antisemitismus aus. Doch es gibt auch Gegenwind seitens zionistischer Pro-Israelischer Kräfte sowie der Bundesregierung Deutschlands, die jede Kritik an Israel gerne mit Antisemitismus gleichsetzen, während sie die eigentliche Gefahr durch Verschwörungstheoretiker_Innen und rechte bis faschistische Netzwerke bis in Polizei und Bundeswehr ignorieren. Auch selbsternannte Linke, die den israelischen Staat trotz der reaktionären Politik verteidigen, stellen sich gegen palästinensische Organisationen, hetzen mit pauschalen Antisemitismusvorwürfen gegen sie und versuchen, sie aus den wenigen linken Räumen zu verdrängen. Tragischerweise bewegen sich innerhalb des palästinensischen Widerstands teilweise auch antisemitische Kräfte, die den Kampf gegen Israel zu einem Kampf gegen Jüd_Innen erklären wollen. Diese müssen zum einen isoliert werden, zum anderen dürfen sie keinen Vorwand für eine Pauschalisierung von Palästinasolidarität darstellen! Der größte Teil der palästinensischen Befreiungsbewegung bekämpft Israel aus der puren Not und nicht aus Antisemitismus. Für uns ist klar: Antisemitismus können wir nur für immer beenden, wenn wir das kapitalistische krisenhafte System überwinden und bis dahin müssen wir immer und überall sowohl gegen Antisemitismus als auch Zionismus kämpfen.

So gibt es in der Bewegung nicht erwünschte Personengruppen, die antisemitische Äußerungen von sich geben, so auch in Berlin, wo auf einer Pro-Palästinensischen Aktion eine Person „Tod Israel! Tod den Juden!“ gerufen hat. Während von Lautsprecherwagen und Ordner_Innen klar gegen diese Personen vorgegangen wird und die Menschen aus den Aktionen dauerhaft ausgeschlossen werden, nutzt die Berliner Regierung dies, um die komplette palästinensische Bewegung zu kriminalisieren und in ihrer Versammlungsfreiheit einzuschränken. Das Argument ist, dass es zu möglichen volksverhetzenden Straftaten kommen kann. Wir erinnern uns, dass 40.000 Coronaleugner_Innen mit gelben Sternen, Reichskriegsflaggen und Hitlergrüßen, sich mit den schrecklichen Schicksalen von Jüd_Innen in Konzentrationslagern vergleichend von der Polizei begleitet durch die Straßen geleitet wurden und das ohne eine genehmigte Anmeldung der Demonstration. Dies zeigt erneut auf, auf wessen Seite der deutsche Imperialismus steht. Es geht um die außenpolitischen Interessen und nicht um die Bekämpfung von Antisemitismus.

Es ist nun das 2. Jahr in Folge, dass die Verbote durchgesetzt werden. Ohne einen entschlossenen Kampf in den Schulen, Unis und Betrieben sowie auf der Straße gegen die Einschränkungen unserer Versammlungsfreiheit werden weitere dieser Angriffe stattfinden. Daher lasst uns gemeinsam dagegen organisieren und uns nicht nur verteidigen, sondern auch in die Offensive übergehen!

Wir fordern:

  • Sofortige Rücknahme der Versammlungsverbote für Palästinenser_Innen jetzt und auch in Zukunft!
  • Solidarität mit der palästinensischen Befreiungsbewegung, hier und international! Für ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina!
  • Freiheit für alle politischen Gefangenen! Schluss mit der Kriminalisierung palästinensischer und kurdischer Organisationen!
  • Offene Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für Alle!



Die Türkei vor den Wahlen: ein Land vor neuen Entscheidungen?

Dilara Lorin, zuerst erschienen in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Mai 2023

Am 14. Mai stehen nun die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei an. Und sie könnten auch zu einer Entscheidung über die Zukunft des Regimes Erdogan werden.

Zweifellos spekulierten der Präsident und die regierende Koalition um die AKP beim Ansetzen des Wahltermins auf eine zumindest vorübergehende Erholung der Wirtschaft. Doch die blieb aus. Im Gegenteil: Die hohe Inflationsrate sowie eine hohe Verschuldung, aber auch die Covid-19-Pandemie haben die Ökonomie stark beeinträchtigt.

Das verheerende Erdbeben vom 6. Februar hat noch einmal für ein großes Loch bei Hunderttausenden Menschen gesorgt, aber auch die miserable Politik im Interesse des Kapitals und der Günstlinge von Erdogan hat nicht nur tiefe Spuren hinterlassen, sondern auch die über Jahre andauernde Korruption dieses Regimes aufgezeigt. Diese Politik hat nicht nur Millionen in Armut gestürzt, sondern auch Tausenden Menschen das Leben gekostet.

Leidtragende sind vor allem die Arbeiter:innenklasse sowie die unterdrückten Minderheiten des Landes, denn sie müssen die Lasten der Wirtschaftskrise schultern. Aber selbst die Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum zweifeln mittlerweile am Regime.

Erdogans Wahlantritt

Dabei zeigt schon die Tatsache, dass Erdogan überhaupt ein weiteres Mal antreten darf, wie biegsam die türkische „Demokratie“ ist. Eigentlich darf ein Präsident gemäß der Verfassung nur zwei Amtszeiten regieren. Erdogan steht aber mittlerweile 20 Jahre an der Spitze des Staates. Wie ist das „legal“ möglich?

Mit dem Referendum 2018 wurde zugleich die bonapartistische Herrschaft, die er ausübt, verstärkt und per Plebiszit legitimiert. Die Abstimmung zog eine Verfassungsänderung nach sich, die es gestattet, dass der/die Staatspräsident:in gleichzeitig auch das Amt des/r Regierungschef:in ausübt. Das Referendum erlaubt es Erdogan außerdem, im Jahr 2023 ein weiteres Mal als Präsident zu kandidieren. So wurde per Plebiszit zwar festgelegt, dass man lediglich zwei Amtszeiten regieren darf – aber jene vor 2018 werden nicht mitgezählt.

Mit dem Vorverlegen der Wahl auf Mitte Mai kann Erdogan außerdem sogar bei der nächsten Wahl dafür plädieren, wieder kandidieren zu dürfen. Denn eigentlich darf man nur zwei Perioden als Präsident:in regieren, was bedeuten würde, dass die kommende Amtszeit seine letzte wäre. Aber Erdogan und die AKP können behaupten, dass dadurch, dass die Wahl aktuell vorgezogen wurde, die Zeit von 2018 bis 2023 nicht als komplette Amtszeit gilt.

Dennoch könnte es eng werden. Sollte kein/e Kandidat:in bei den Präsidentschaftswahlen im ersten Wahlgang eine Mehrheit erhalten (was sehr durchaus wahrscheinlich ist), so soll zwei Wochen später eine Stichwahl abgehalten werden.

Bei den Parlamentswahlen werden 600 Abgeordnete für die Große Nationalversammlung der Türkei bestimmt. Diese Sitze werden auf die 81 Provinzen des Landes aufgeteilt, wobei jede durch eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten vertreten wird. Wie viele eine Provinz wiederum erhält, wird durch die Proportion zu ihrer Bevölkerungszahl festgelegt. Damit eine Partei ins Parlament einziehen kann, muss sie aber bei den Wahlen die undemokratische 10 %-Hürde überschreiten.

Wie sieht die aktuelle Stimmung in der Bevölkerung aus?

Die Regierung wird aktuell durch eine Koalition aus AKP und MHP gebildet. Dabei ist das Regime der AKP schon in den letzten Jahren nicht nur durch Autoritarismus, Repression, regionale Machtambitionen und einen permanenten Krieg vor allem gegen die Kurd:innen im eigenen Land und in Rojava geprägt. Die AKP ist auch immer wieder von Konflikten zerrissen, infolge derer einige Abgeordnete und Mitglieder die Partei verließen.

Gleichzeitig findet eine weitere Stärkung des autoritären, bonapartistischen, auf die Person Erdogans zugeschnittenen Regimes auch innerhalb der AKP statt. Der Präsident wurde immer mehr zur einzigen führenden Figur entwickelt, um seine Kontrolle innerhalb der Partei weiter zu stärken. Kritiker:innen wurden in gleichem Zuge ausgeschlossen oder verließen die Reihen. Damit hält die Person Erdogan faktisch immer mehr Partei wie Regime zusammen. Daher ist die Verlängerung seiner Vorherrschaft nicht nur ein Zeichen seiner Stärke, sondern unfreiwillig auch der Schwäche eines auf einen mittlerweile recht kranken „starken Mann“ zugeschnittenen Regimes.

Nach den letzten Wahlen 2018 musste die AKP eine Koalition mit der MHP eingehen, weil sie alleine nicht die absolute Mehrheit gewinnen konnte. Die MHP ist eine extrem rechtsnationale Partei, die mit den faschistischen und militant organisierten Grauen Wölfen eng verbunden ist. Sie gelten wie andere protofaschistische und extrem reaktionäre Kräfte als Reserven eines bonapartistischen Regimes, das sich aber vor allem auf die Kontrolle des Staatsapparates, der Medien, eine Wahlmaschinerie, Teile des Kapitals, große Schichten des Kleinbürger:innentums, der konservativen Mittelschichten, aber selbst rückständige, nationalistische Schichten der Lohnabhängigen und Armen stützt. Chauvinismus, Nationalismus und die ideologische Wiederbelegung des „Osmanismus“, die eine regionale Führungsrolle begründen sollen, sind ebenso ein Bindeglied dieser Allianz wie Erdogan als übergroße Führungsfigur, die die Einheit durchaus heterogenerer Kräfte repräsentiert.

Doch große Teile der Bevölkerung wenden sich auch ab. Sie wollen dem AKP- und MHP-Regime nicht mehr folgen. Die Inflation sowie der stetige Fall der Lira drücken die Mittelschicht der Türkei, die unter den Anfangsjahren der AKP-Regierung noch aufblühte, immer mehr an den Rand. Sie steht zum Teil ablehnender als vorher zur Regierung. Das Erdbeben und die damit immer deutlicher werdenden Missstände, Vetternwirtschaft sowie Korruptionsskandale haben die Regierung weiter diskreditiert.

Wachsende Teile dieser Schichten setzen nun bei der kommenden Wahl ihre Hoffnung in Kemal Kılıçdaroğlu, den Vorsitzenden der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP. In den Umfragen liegt sie oft nur einige Prozentpunkte hinter der AKP und hat im Vergleich zu den Wahlen von 2018 einen Gewinn von bis zu 5 % zu verzeichnen, wobei die AKP einen Verlust von ganzen 11,5 % erlitt. In den aktuellen Umfragen liegen je nach Meinungsforschungsinstitut der Regierungs- oder der Oppositionsblock vorne. In jedem Fall hat die CHP geführte Oppositionsallianz eine realistische Chance auf einen Wahlsieg bei den Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen.

Die Sechser-Opposition

Die Unzufriedenheit mit dem AKP/MHP-Regime bildet auch den größten Pluspunkt der Opposition. Sie pocht darauf, dass alles besser werde, wenn Erdogan und die AKP nicht mehr an der Macht seien.

Inhaltlich und programmatisch hält sich die bürgerlich-nationalistische Oppositionsallianz allerdings bedeckt. Wie sie Inflation und Armut bekämpfen will, welche Politik sie gegenüber den unterdrückten Nationalitäten und von allem den Kurd:innen verfolgt, das lässt sie bestenfalls (!) offen. Ein Rückzug aus Syrien, eine Aufgabe der geopolitischen Ambitionen der Türkei sind natürlich auch unter der CHP nicht zu erwarten, wohl aber ist es eine zumindest verbale Verbesserung der Haltung zur NATO und zum Westen.

Um die Mehrheit der AKP und Erdogans zu brechen, hat die nationalistische CHP, die sich zwar „sozialdemokratisch“ nennt, jedoch immer eine offen bürgerliche Partei war, eine Allianz mit fünf anderen bürgerlichen Teilen der rechten bzw. extrem nationalistischen und islamistischen Oppositionsparteien gebildet – eine Allianz des Grauens, die in vielem fast schon ein Spiegelbild des AKP-MHP-Bündnisses darstellt. Dass sie von der Bevölkerung als mögliche Alternative und zumindest als kleineres Übel akzeptiert und wahrgenommen wird, zeigt deutlich, dass sich die Stimmung weit weniger stark auf Erdogan fixiert als im Jahr 2015/2016. Um wenigstens ihn loszuwerden, setzen viele – auch linke und progressive – Menschen ihre Hoffnungen auf sie. Angesichts von 20 Jahren AKP-Regime ist es sicher verständlich, dass viele Linke, Unterdrückte, Frauen und große Teile der LGBTIAQ-Community sehnsüchtig auf den Sturz eines Tyrannen hoffen. Und natürlich wollen auch alle klassenkämpferischen, ja alle demokratischen Kräfte ihn und die reaktionäre AKP fallen sehen. Aber ein Sieg der CHP-geführten Opposition wird keine echte Freiheit, Frieden oder eine Verbesserung für Unterdrückte und Lohnabhängige bringen.

Im Gegenteil: Sie würde letztlich das kapitalistische, autoritäre Regime nur unter anderen Vorzeichen weiterzuführen versuchen. Die kemalistische CHP tritt bei dieser Wahl mit einem Wahlbündnis an, welches insgesamt aus 6 Parteien besteht. Dieses Bündnis wird von den Medien auch „Altılı Masa“, Sechsertisch, genannt. Neben der CHP beteiligen sich daran İYİ Parti, Saadet Partisi, Demokratik Parti, Gelecek Partisi und die Demokrasi ve Atılım Partisi. Dabei traten vier der sechs Parteien schon 2018 als „Nationale Allianz“ an. Die İYİ-Partei, eine nationalistische Abspaltung von der MHP, ist in den letzten Jahren auf ca. 10 % bei den Wahlen gekommen und wird darum auch am Sechsertisch als zweitstärkste Kraft nach der CHP gesehen. Dass die HDP keinen Sitzplatz erhielt, liegt vor allem an der İYİ Parti, die extrem chauvinistisch ist und die Unterdrückung der HDP und andere kurdischer Organisationen als „terroristischer“ fordert. Die CHP und die anderen Parteien am „Sechsertisch“ folgten diesen Bedingungen ohne große Diskussion.

Die größten Konflikte in der instabilen Allianz gab es um die Frage des/r Spitzenkandidat:in und die Verteilung des zukünftigen Einflusses, sollten die Wahlen gewonnen werden. Wie kaum eine Regierung davor wird eine mögliche CHP-geführte von großen inneren Widersprüchen geprägt sein, wahrscheinlich von größeren als die aktuelle Regierung. Falls sie gewinnen sollte, werden früher oder später die unterschiedlichen Interessen von rechten, ultrakonservativen, nationalistischen, islamischen bis hin zu liberal-reformerischen Strömungen aufbrechen.

Keine Stimme für die CHP und Kılıçdaroğlu!

Auch wenn die CHP und der Sechsertisch vielen als geringeres Übel erscheinen mögen, so sollten ihnen Arbeiter:innen, Linke, unterdrückte Minderheiten, die Frauen- und Umweltbewegung kein Vertrauen schenken und keine Stimme geben.

In Wirklichkeit würde das nur eine kapitalistische Alternative zu Erdogan, eine alternative bürgerlich-nationalistische Koalition stärken, die in allen grundlegenden ökonomischen, geopolitischen und auch demokratischen Fragen letztlich der AKP näher steht als den Arbeiter:innen und Unterdrückten. Auch sie würde eine Wirtschaftspolitik im Interesse des türkischen Kapitals vertreten. Sie mag zwar –ähnlich wie Erdogan – ein paar Verbesserungen für die Armen versprechen, letztlich sollen aber die Massen über Preissteigerungen, Kürzungen, Angriffe auf Arbeits- und Gewerkschaftsrechte die Kosten der Krise zahlen, die sie mit einem Austeritätsprogramm und Privatisierung überwinden will. Eine Aufhebung gewerkschaftsfeindlicher Gesetze lehnt die Opposition ab. Für die unterdrückten Minderheiten, allen voran für das kurdische Volk, wird es auch unter der CHP keine Selbstbestimmung geben, ja nicht einmal die politischen Gefangenen werden freikommen. Sie wird Rojava ebenso wie die PKK weiter bekämpfen. Sie wird weiter gegen Geflüchtete vorgehen. So verspricht sie, in den nächsten zwei Jahren einen Großteil aller Geflüchteten abzuschieben. Die türkische Armee wird weiter in Syrien ihr Unwesen treiben. Das Regime wird, ebenso wie Erdogan, gegen die Geflüchteten vorgehen und seine geostrategischen Interessen verfolgen.

Angesichts der tiefen Widersprüche am Sechsertisch, der Wirtschaftskrise und der vom Standpunkt der Herrschenden notwendigen Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse wird auch ein Präsident Kılıçdaroğlu auf jene bonapartischen Machtbefugnisse zurückgreifen, die Erdogan eingeführt hat. Auch seine Herrschaft wird sich auf den bestehenden Staats- und Militärapparat stützen müssen, was ein Übereinkommen mit den Leuten beinhaltet, die von der AKP an die Spitze der Institutionen gesetzt wurden.

Würde Erdogan eine Niederlage akzeptieren?

Dies wird umso wahrscheinlicher, als es keineswegs sicher ist, dass Erdogan und die AKP eine etwaige Wahlniederlage akzeptieren würden. Schon Trump und Bolsonaro brachten es fertig, von Wahlbetrug zu sprechen, als sie selbst an der Macht waren. Erdogan und die AKP verfügen zweifellos über weit stärkere Stützen in der türkischen Gesellschaft und Elite als Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien. Andererseits würde ein Putschversuch das Land weiter destabilisieren. Daher ist es auch fraglich, ob die AKP insgesamt, die MHP, das Militär einen Putsch inszenieren würden.

In jedem Fall besteht die Gefahr. So sprechen einige von der Ruhe vorm Sturm, wenn es um die AKP und Erdogan geht. Dieser scheint derzeit eher ruhiger in der Politik zu agieren, wenn man seine aktuelle Wahlpropaganda mit der vor den letzten 2 Wahlen vergleicht. Viele Menschen bezeichnen den Urnengang am 14. Mai als Schicksalswahl zwischen Demokratie und Autokratie.

Die Frage „Was kommt?“ teilt sich dabei in die Phase vor und nach der Wahl. Vor der Wahl ist noch immer ungeklärt, wie die bis zu 3,7 Millionen Menschen aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten wählen können. Viele sind nicht in der Lage, ihre Dörfer zu verlassen, um in den Städten zu wählen, viele befinden sich außerhalb ihrer Heimatstädte und haben keine Ahnung, wie sie ihre Stimme nutzen können. Und auch die Wahlbehörde hat sich dazu bis dato nicht geäußert. Das Erdogan Wahlmanipulation und -betrug durchführt und weiter durchführen wird, ist kein Geheimnis. Beobachter:innen gehen davon aus, dass alleine im Referendum zur Verfassungsänderung bis zu 2 Millionen Stimmen gefälscht wurden.

Dass kurdische, linke Politiker:innen, kritische Journalist:innen mit Repression überschüttet werden, wundert auch nicht. Alleine bei der Eröffnung der Wahlbüros für die YSP (Yeşil Sol Parti; Grüne Linke Partei) wurden etliche Menschen, die sich in Solidarität mit ihr versammelt hatten, in mehreren Städten und Gemeinden festgenommen. Dass vor allem den Minderheiten erschwert wird, bei Wahlen anzutreten, konnten wir schon 2018 beobachten und dies scheint sich auch dieses Mal nicht zu bessern, sondern zu verschärfen.

Die Linke

Um ein durchaus mögliches Parteiverbot kurz vor den Wahlen zu umgehen, treten die Kandidat:innen der HDP diesmal in Form der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti; YSP) an. Zusammen mit anderen linken Parteien bildet sie das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“.

In diesem Rahmen stellt die HDP (Halkların Demokratik Partisi) für viele Linke, Gewerkschafter:innen, die LGBTIAQ-Community und Teile der kurdischen Minderheit die wichtigste Kraft dar. Die Repression gegenüber den Abgeordneten und Mitgliedern der Partei ist immens. Im Mai 2016 entzog die AKP-Regierung 138 Abgeordneten ihre Immunität. Die Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sitzen seither (!) in Untersuchungshaft und mit ihnen etliche weitere Abgeordnete.

Bei diesem schmutzigen Vorgehen spielte auch die CHP eine wichtige Schlüsselrolle, denn erst mit ihren Stimmen konnte die nötigen Zweidrittelmehrheit im Parlament erreicht und damit die Aufhebung der Immunität durchgesetzt werden. Nach den Kommunalwahlen 2019 setzte die Regierung 47 der 65 gewählten HDP-Bürgermeister:innen ab und ihre eigenen Leute als Zwangsverwalter:innen ein. Der türkische Generalstaatsanwalt Bekir Şahin reichte am 17. März 2021 einen Verbotsantrag gegen die HDP beim Verfassungsgericht ein. Dass die HDP und ihre Strukturen systematisch angegriffen und immer wieder zerschlagen werden, ist nichts Neues und die Verhaftungs- sowie Verleumdungswellen haben in den letzten Jahren nicht nachgelassen. 

Die TIP, die türkische Arbeiter:innenpartei, stellt im Bündnis die zweitstärkste Kraft dar. Außerdem sind die EMEP (Partei der Arbeit), die EHP (Partei der Arbeiter:innenbewegung), SMF (Föderation der sozialistischen Räte) und die TÖP (Soziale Freiheitspartei) beteiligt. Außerdem rufen die meisten linken Gewerkschaften für die HDP bzw. die YSP bei den Parlamentswahlen auf.

Die sechs Parteien kandidieren auf einer gemeinsamen Liste bei der Wahl, aber alle Mitgliedsparteien können auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten. Dies wurde als Kompromiss durchgesetzt, da zuvor vor allem die TIP darauf bestand, sich mit eigenen Kandidatenlisten und eigenem Logo zur Wahl aufzustellen an den Orten, wo sie regionale Schwerpunkte hat.

Dass die TIP und die HDP auch Menschen aus der LGBTIAQ-Community sowie aus den unterschiedlichen Minderheiten des Landes als Kandidat:innen aufstellen lassen, stellt einen Fortschritt gegenüber den anderen Parteien dar. Das Nichtaufstellen eines/r Präsidentschaftskandidat:in seitens des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ ist ein großer Fehler und zeigt auch dessen politische Schwächen deutlich. Mehr oder weniger offen wird zumindest im zweiten Wahlgang für Kılıçdaroğlu aufgerufen.

Auch wenn sich die CHP auf einer Pressekonferenz unverbindlich dafür ausgesprochen hat, die Anliegen der HDP, die Frage der Kurd:innen usw. weiterzutragen, wissen wir aus der Geschichte, aber auch durch die Einschätzung des Sechsertisches, dass dies eine blanke Lüge ist.

Während der Wahl gibt es eigentlich drei bis vier Themen, bei welchen sich die Linke von den reaktionären und offen bürgerlichen Kräften für alle deutlich wahrnehmbar unterscheidet: die Frage der Geflüchteten in der Türkei, der Rechte der Kurd:innen und aller unterdrückten Minderheiten, die Aufarbeitung des Erdbebens und vpn dessen Folgen und, wie die wirtschaftliche Krise sowie die miserable Lage der Arbeiter:innenklasse verbessert werden können, ohne dies den Lohnabhängigen aufzuschultern. Und zum wiederholten Mal zeigt sich dabei die reaktionäre Ader der CHP. So stach in den letzten Jahren und Monaten immer brisanter hervor, wie ihre Abgeordneten im Parlament und in öffentlichen Reden gegen Geflüchtete hetzen.

Das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ stellt zwar eine linke Bündniskandidatur, aber keine revolutionäre Kraft dar, die sich auf ein klares antikapitalistisches Programm der sozialistischen Revolution beruft. Es handelt sich vielmehr um eine Allianz mit einer kleinbürgerlich-nationalistischen Kraft, der HPD, die sich vor allem auf kurdische, Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, aber auch Kleinbürger:innen und kleine Unternehmer:innen stützt. Auch wenn sie sich in den letzten Jahren mehr in Richtung Gewerkschaften entwickelt hat und z. B. über einen wichtigen Einfluss bzw. Verbindungen zur DISK verfügt, so ist sie keine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, sondern eher ein Hybrid aus kleinbürgerlichem Nationalismus, Stalinismus, Populismus und Linksreformismus.

Die anderen Parteien in der Koalition sind durchweg reformistische Arbeiter:innenparteien, oft mit stalinistischer Ausrichtung oder solchen Wurzeln, die jedoch in einzelnen Regionen und Sektoren eine gewisse Verankerung in der Arbeiter:innenklasse aufweisen.

Bei den Parlamentswahlen rufen wir zur kritischen Unterstützung des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ auf.

Es handelt sich dabei um die einzige Kraft mit einer Massenunterstützung aus der Arbeiter:innenklasse und seitens der unterdrückten Kurd:innen, die eine fortschrittliche Alternative gegenüber beiden bürgerlich-reaktionären Blöcken aus AKP/MHP einerseits und CHP/Sechsertisch andererseits verkörpert.

Zugleich kritisieren wir jedoch das Programm des Wahlblocks. Auch wenn viele der sozialen und demokratischen Versprechungen selbst unterstützenswert sind wie, sich für die Arbeitenden, die Gewerkschaften, die demokratischen Rechte der Kurd:innen und anderer nationaler Minderheiten einzusetzen, so geht es über demokratisch-reformistische Reformversprechungen nicht hinaus. Allenfalls wird es mit dem Gedanken an eine sozialistischen Zukunft verknüpft, aber ohne die aktuellen Reformforderungen mit konkreten Übergangslosungen zu verbinden.

Zweitens verhält sich das Bündnis gegenüber der CHP, dem Sechsertisch und Kılıçdaroğlu opportunistisch. Ihre Politik wird nicht offen als bürgerlich und arbeiter:innenfeindlich kritisiert, sondern als kleineres Übel gegenüber Erdogan beschönigt. Damit unterlässt es, die Arbeiter:innen, die städtische Armut und die Unterdrückten auf die Angriffe einer möglichen CHP-geführten Regierung schon jetzt vorzubereiten und den Widerstand gegen jede kommende aufzubauen. Natürlich würde das auch einschließen, gegen einen möglichen Putschversuch Erdogans auf die Straße zu gehen, sollte er die Wahl verlieren. Aber es bedeutet vor allem auch, die Massen auf jede Form des Kampfes gegen die nächste Regierung vorzubereiten.

Dennoch wäre es ein wichtiges Zeichen für alle Unterdrückten, Arbeiter:innen und Armen, wenn die Liste über die 10 %-Hürde käme. Aber zugleich müssen Revolutionär:innen in der Türkei in diese Wahlen mit zwei zentralen Stoßrichtungen eingreifen. Erstens müssen sie von allen Kräfte des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ fordern, eine Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen, der HPD, der Gewerkschaften, der Umwelt-, der Frauenbewegung gegen die Angriffe der nächsten Regierung aufzubauen. Das 10-jährige Jubiläum der Gezi-Proteste am 24. Mai könnte dazu einen wichtigen ersten Mobilisierungschwerpunkt bilden und damit auch soziale Sprengkraft entfalten.

Zweitens müssen Revolutionär:innen dafür eintreten, dass im Bündnis selbst offen die Frage diskutiert wird, welche Partei die Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten in der Türkei brauchen. Eine wirkliche, revolutionären Arbeiter:innenpartei ist unserer Meinung nach nötig – und das erfordert, mit dem Schwanken zwischen linkem kleinbürgerlichen Nationalismus und „linken“ Parteiprojekten ohne klare klassenpolitische Ausrichtung ebenso zu brechen wie mit stalinistischen und linksreformistischen Traditionen.

Eine solche Partei kann entstehen, aber nur, wenn der gemeinsame Kampf verbunden wird mit einem politisch-programmatischen Bruch hin zu eine Arbeiter:innenpartei, das sich auf ein Program von Übergangsforderungen stützt, um die Lohnabhängigen und Unterdrückten zur sozialistischen Revolution zu führen. Dies ist keine Frage einer fernen Zukunft, sondern stellt sich im Klassenkampf. Die wirtschaftliche Lage lässt sich nicht mit einigen Reformen wieder geradebiegen. Dies kann alleine die Arbeiter:innenklasse, indem sie für die Enteignung der Betriebe und Konzerne unter ihrer Kontrolle, für ein Notprogramm für die Opfer der Erdbebenkatastrophe eintritt, dafür, die Wirtschaft gemäß einem demokratischen Plan im Interesse der Massen neu zu organisieren.

Drittens müssen wir die Möglichkeit ernst nehmen, dass Erdogan und die AKP entweder versuchen könnten, die Wahl offenkundig zu stehlen oder sich an der Macht zu halten, indem sie sich auf Wahlbetrug berufen. Obwohl die Arbeiterklasse und alle fortschrittlichen Kräfte keine Illusionen in die CHP-Opposition haben sollten, sollten sie sofort die Gewerkschaften, die fortschrittlichen Parteien, die Frauenbewegungen und die national Unterdrückten zu einem Generalstreik mobilisieren, um Erdogans Festhalten an der Macht zu stoppen. Sollte dieser haben, wäre Erdogans Unterdrückung wahrscheinlich noch schlimmer als nach dem gescheiterten Putsch vom 16. Juli 2016.

Aber das Ziel, ihn zu besiegen, sollte mehr als ein negatives sein. Die Bewegung sollte die Wahl einer souveränen verfassungsgebenden Versammlung fordern, um das gesamte bonapartistische System hinwegzufegen und die sozialen und politischen Forderungen der Arbeiter, der städtischen und ländlichen Bevölkerung, der unterdrückten Nationalitäten, insbesondere des kurdischen Volkes, zu erfüllen.

Solche und andere grundlegende Maßnahmen können nicht mit dem bestehenden kapitalistischen Staatsapparat umgesetzt werden. Sie können nur durch eine Bewegung der Arbeiter:innen und Unterdrückten, durch landesweite Massenstreiks, durch Besetzungen der Betriebe, durch die Errichtung von Räten und Selbstverteidigungsorgane der Massen in allen Regionen durchgesetzt werden, durch eine Kraft, die den bonapartistischen, autoritären Staatsapparat hinwegfegen und eine Regierung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen stattdessen an die Macht bringen kann.