Rechte Parolen an der Schule: Was wir als Schüler_Innen dagegen tun können

Von Sani Meier, September 2023, Revolution Zeitung September 2023

Hitlergrüße auf dem Schulhof, Nazi-Parolen und Beleidigungen gegen migrantisierte Mitschüler_Innen. All das ist laut den Aussagen von zwei Lehrkräften Alltag an einer Schule im brandenburgischen Buch. Um auf diese und weitere rechtsextreme Vorfälle aufmerksam zu machen, veröffentlichten sie diese im April in einem offenen Brief und hofften auf Unterstützung im Kampf gegen rechte Gewalt an Schulen. Passiert ist das Gegenteil: Kolleg_Innen grüßen sie nicht mehr, Sticker mit ihren Gesichtern und der Aufschrift „Verpisst euch nach Berlin“ kleben im ganzen Ort, auf Instagram wird zur Jagd auf die beiden aufgerufen und das Schulamt verbietet ihnen, über interne Details der Schule zu sprechen. Letztendlich haben sich die beiden Lehrkräfte an andere Schulen versetzen lassen.

Das Problem ist klar: Schüler_Innen äußern rechtsextreme Aussagen, doch die Schule schaut weg. Wenn sich einzelne Lehrer_Innen dagegen stark machen, werden sie alleine gelassen und müssen aus Angst sogar die Schule verlassen. Kolleg_Innen befürchten, selbst angefeindet zu werden, die Schule bangt um ihren Ruf und mit den Schüler_Innen, die sich dagegen stellen, redet sowieso niemand. Dieses Muster ist kein reines Problem Brandenburgs, sondern zeigt sich in ganz Deutschland, wie aus zahlreichen Solidarisierungsschreiben anderer Lehrkräfte aus dem Bundesgebiet hervorgeht.

Rechtsruck & Jugendliche

So schockierend diese Vorfälle sind, so sind sie in Zeiten des internationalen Rechtsrucks doch nicht überraschend. Während die AfD ihr absolutes Umfragehoch erreicht, zum ersten Mal einen Landrat stellt und bürgerliche Parteien wie die CDU einfach mit nach rechts gehen, um diese Wähler_Innen zurück zu holen, schafft es die Ampelregierung nicht, ein Sozialprogramm gegen die Auswirkungen der Krise auf den Weg zu bringen und beteiligt sich an menschenverachtenden Asylrechtsreformen. Diese Entwicklungen und den Frust der betroffenen Menschen bekommen wir alle zu spüren, ob beim Abendessen mit unseren Eltern, in den Medien oder auf dem Schulhof. Auch wir Jugendliche schauen derzeit in eine eher düstere Zukunft: Wir sollen unbezahlte Praktika und soziale Pflichtjahre leisten, wissen nicht ob wir uns nach der Schule noch eine eigene Wohnung leisten können und sind schon jetzt mit den verheerenden Konsequenzen des Klimawandels konfrontiert, gegen den die Regierung nichts unternimmt. Da es darauf aktuell keine stabile linke Antwort zu geben scheint, ist es also nicht verwunderlich, dass die AfD und andere rechte Kräfte es schaffen, mit ihren verkürzten und simpel erscheinenden Forderungen auch Jugendliche abzuholen. Das Resultat davon sehen wir dann logischerweise auch an Schulen als den Orten, an denen wir uns täglich aufhalten und sozial verankert sind.

Warum gerade an der Schule aktiv werden?

Und gerade deshalb dürfen wir den Rechten nicht unsere Schulen überlassen! Wir verbringen mindestens 9-10 Jahre unseres Lebens hier, legen Prüfungen ab, die für unser weiteres Leben entscheidend sind, sammeln Erfahrungen, lernen und treffen unsere Freund_Innen. Deshalb muss die Schule ein Ort sein, an dem alle Schüler_Innen sicher sind und diskriminierende Aussagen nicht toleriert werden. Doch wie können wir das erreichen? Erst einmal ist es wichtig, dass wir uns nicht mehr erzählen lassen, die Schule sei ein unpolitischer Ort. Dieses Argument wird vor allem seit den Fridays For Future-Streiks gerne benutzt, um politischen Aktivismus an der Schule zu verhindern. Tatsächlich ist aber so ziemlich alles an unseren Schulen politisch, von den Inhalten, die wir lernen, über die Größe unserer Klassen, bis hin zur Frage des Streikrechts von Schüler_Innen. Und eine Sache haben all diese Fragen gemeinsam: Wir haben dabei nicht mitzureden. Um uns optimal auf unsere Ausbeutung auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt vorzubereiten, sollen wir möglichst brav und folgsam sein, der Prüfungsstress gewöhnt uns schonmal an den Leistungsdruck im Beruf, wir hinterfragen die Anweisungen unserer Lehrer_Innen nicht und haben meistens keine Ahnung, wie wir daran etwas ändern können. Quasi perfekte Arbeitskräfte. Die Schule stützt damit also die herrschenden Verhältnisse, denn wenn ich mich neutral verhalte, akzeptiere ich die Welt so, wie sie aktuell ist. Schlimmer noch: Ich überlasse denen das Feld, die nicht neutral sind – aktuell also der AfD und anderen rechten Kräften. Deshalb ist es wichtig, dass wir politische Räume in der Schule schaffen, in denen wir gegen Diskriminierung und für unsere Mitbestimmung kämpfen. Sowas kann zum Beispiel in Form von Schüler_Innenkomitees erreicht werden. Damit könnt ihr eine erste Anlaufstelle für eure Mitschüler_Innen sein, die diskriminierendes Verhalten erlebt oder beobachtet haben. In Ergänzung zu den Schüler_Innenvertretungen seid ihr hier unabhängig und habt die volle Freiheit über die Aktionen, die ihr organisieren wollt. Alle Mitglieder der Komitees können also demokratisch entscheiden, was als nächstes zu tun ist: Infoflyer, Diskussionsveranstaltungen, Kunstaktionen, Kundgebungen oder Besetzungen sind nur einige Beispiele. Um an eurer Schule möglichst viele Mitschüler_Innen auf Probleme aufmerksam zu machen, habt ihr das Recht, gemeinsam mit eurer SV eine Vollversammlung einzuberufen. Hierfür muss der Unterricht unterbrochen werden und allen Schüler_Innen muss es ermöglicht werden, an dieser teilzunehmen. Fordert auch eure Freund_Innen an anderen Schulen auf, eurem Beispiel zu folgen, um euch zu vernetzen und schulübergreifende Aktionen zu organisieren.

Schüler_Innen und Lehrer_Innen gemeinsam in die Offensive!

Unter Rassismus, Sexismus und fehlender Mitbestimmung leiden aber nicht nur wir Schüler_Innen, sondern, wie wir gesehen haben, auch unsere Lehrkräfte. Deshalb müssen wir sie in unsere Aktionen miteinbeziehen und uns mit ihnen solidarisieren, wenn sie auf Missstände aufmerksam machen. Gemeinsam müssen wir die Kontrolle über die Lehrpläne einfordern, um über die Fragen zu sprechen, die uns wichtig sind, bevor es die Rechten tun. Wir müssen im Politikunterricht über kapitalistische Ausbeutung, Imperialismus, Kolonialismus und das Massensterben im Mittelmeer sprechen, um nicht auf die menschenverachtende Hetze gegen Geflüchtete hereinzufallen. Unser Geschichtsunterricht muss aufzeigen, warum eine Auseinandersetzung mit der Shoa auch heute noch relevant ist und der Biologieunterricht muss zeitgemäß und an unserer Lebensrealität orientiert sein. Um all diese Dinge behandeln und lernen zu können, braucht es Zeit zum Diskutieren und Fragen stellen und deshalb auch kleinere Klassen, in denen jede_r Schüler_In den Raum dazu hat. Kleinere Klassen bedeuten mehr Lehrkräfte und mehr Geld für Schulen. Für die Interessen unserer Lehrer_Innen einstehen, heißt also letztendlich auch, für unsere Interessen als Schüler_Innen einzustehen. Wir müssen den Kampf im öffentlichen Dienst – also Streikaktionen und Demos – mit Schüler_Innenkontingenten unterstützen, um eine massenhafte und kämpferische Bildungsbewegung aufzubauen.
Wir müssen Vernetzungs- und Aktionsstrukturen mit den Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Gruppen (bsp. Arbeitsloseninitiativen, Migrant_Innenorganisationen, Sozialforen, Antifa-Gruppen usw.) und antirassistischen Bewegungen auf der Straße aufbauen. Die Schüler_Innenbewegung kann nur im gemeinsamen Kampf mit anderen Unterdrückten erfolgreich sein gegen Rassismus, Sexismus und Kapitalismus.




SCHULE MUSS ANDERS! ABER WIE? Warum das Bildungssystem in einer fundamentalen Krise steckt und was wir dagegen tun können

Von Marvin Schutt, September 2023, Revolution Zeitung September 2023

Nach 10 Stunden Frontalunterricht mit mindestens 25 Schüler_Innen in einer Klasse kommen wir nach Hause und möchten uns einfach nur noch die Bettdecke über den Kopf ziehen und raus aus dieser Scheiße. Nachdem von den Französisch-Vokabeln, den Anaphern im Goethe-Gedicht und der mathematischen Integralgleichung kaum noch was hängen geblieben ist, scheint wenigstens eins klar zu sein: Dieses Bildungssystem ist genauso marode wie das Schulgebäude, in dem es durch die Decke tropft und in der Umkleidekabine schimmelt.

Leistungsterror als Antwort auf Unterfinanzierung

Obwohl Bildungsstreikbewegungen, Jugendorganisationen und Gewerkschaften schon seit über 10 Jahren davon reden, scheint es nun auch bei der sogenannten Allgemeinheit angekommen zu sein, dass neben Unis und Kitas vor allem auch unsere Schulen in einer fundamentalen Krise stecken. Von FAZ bis taz verdrückt die bürgerliche Presse eine dicke Krokodilsträne nach der anderen darüber, dass immer neue Vergleichsarbeiten bestätigen, dass es den Schüler_Innen an elementaren Grundfähigkeiten wie Rechnen, Lesen und Schreiben mangelt. Kein Wunder, denn die PISA-Studie hat bestätigt, was wir schon lange wussten: Bildungserfolg hängt in Deutschland vor allem vom Einkommen der Eltern ab. Und das in Deutschland in sogar noch stärkerem Maße als in Mexiko, Ungarn oder Polen. Aber anstatt das Problem der massiven Unterfinanzierung unserer Schulen anzugehen, wird uns Schüler_Innen eingeredet, wir würden uns halt einfach nicht genug anstrengen und seinen demnach auch selber schuld, wenn wir den ganzen Tag nur am Handy hängen. Aber nachdem nun auch die bürgerliche Presse auf die Probleme in den schulischen Leistungen hingewiesen hat, mussten die Landesregierungen handeln. Anstatt eines Investitionspakets Bildung, der Einstellung neuer Lehrkräfte und der Bereitstellung von kostenloser Nachhilfe hat man sich gedacht: „Wenn die Schüler_Innen zu faul zum Lernen sind, müssen wir halt den Druck und die Vergleichbarkeit erhöhen.“. Praktisch bedeutet das für uns eine schärfere Selektion im 3-gliederigen Schulsystem, die Erhöhung der Anzahl von Prüfungen und eine Verkürzung der Regelschulzeit von 13 auf 12 Jahre im Rahmen des sogenannten „G8“-Abis. Corona hat diesem Prozess noch das Sahnehäubchen aufgesetzt. Der durch die Lockdowns verpasste Lernstoff, soll jetzt einfach noch zusätzlich drauf-gepackt werden. Dieser künstlich erzeugte Leistungsdruck geht auf unsere (mentale) Gesundheit, so ist die Anzahl derer von uns, die sich in psychotherapeutischer Behandlung befinden, in den letzten 10 Jahren um mehr als das Doppelte angestiegen.

Mit Privatisierung gegen die Bildungskrise?

Obwohl die klassisch neoliberale Antwort „Der Markt wird’s schon lösen“ bereits in der Corona-Pandemie, der Klimakrise, der Wohnungskrise und der Inflationskrise nicht funktioniert hat, wird sie nun auch in der Bildungskrise versucht, indem auf die „unternehmerische Initiative des freien Marktes“ gesetzt wird. Praktisch heißt das: Privatisierung statt stabiler öffentlicher Ausfinanzierung. Eine Öffnung unserer Schulen für den freien Markt findet heute insbesondere unter den Vorzeichen der „Digitalisierung“ statt. Klingt ja erstmal eigentlich ganz gut, denn während der Corona-Pandemie haben wir gemerkt, dass weder unsere 60 Jahre alte Mathelehrer_In, noch unsere 60 Jahre alte Technik für das Homeschooling bereit waren. Doch unter Digitalisierung versteht der Staat keine flächendeckenden Investitionen in eine opensource-basierte digitale Infrastruktur unserer Schulen, sondern eine Öffnung des öffentlichen Sektor für die Privatwirtschaft. Über Sponsoringverträge mit Softwarekonzernen kann eine Schule ein nagelneues Computerkabinett oder eine Schulcloud bekommen, wenn sie sich nur dazu verpflichtet, das Konzernlogo gut sichtbar aufzuhängen und alle weiteren Update- und Softwarepakete von derselben Firma zu erwerben. Wenn sich Schulen weigern, geht’s halt weiter mit dem Mathe-Buch, mit den Bildern, auf denen die coolen Kids aus den 90ern Spaß beim Lernen haben. Doch auch die Schulbücher werden nicht vom Staat kostenlos bereitgestellt, natürlich müssen wir dafür zahlen. Für die meisten Familien, die unter inflationsbedingtem Reallohnverlust leiden, ist jedoch am Monatsende kaum noch Geld für Schulbücher da. Zu den Schulbüchern kommen dann auch noch die ganzen anderen privatisierten Kosten für Kunstmaterial, Sportzeug, Klassenfahrten, Mensaessen, Arbeitsmaterial usw. Hinzu kommt, dass wir auch mit dem ganzen neu gekauften Kram nicht lernen können, denn entweder gibt es nicht genügend Räume für alle Klassen oder die Klassenräume sind so ekelhaft, dass man lieber raus gehen würde für den Unterricht. Bei speziellen Fachräumen mit besonderem Equipment zum Beispiel für Chemie, Physik, Informatik, Musik und Kunst sieht die Lage noch schlimmer aus. Sportunterricht kann teilweise nicht stattfinden, weil es im Winter keine beheizten Hallen gibt. Ein Grund für den massiven Unterrichtsausfall ist also auch der Mangel an Räumen. Auch wenn Unterrichtsausfall erst einmal immer nach mehr Spaß und Freizeit klingt, heißt das im Umkehrschluss, dass diese ausgefallene Unterrichtszeit privatisiert wird, indem sie nach Hause verlagert wird. Eigentlich praktisch, denn da muss der Staat weder Wasser,oder Heizung, noch Miete oder Personal bezahlen. Meistens passiert das durch die Berge von Hausaufgaben, die eigentlich nur ins Private verlagerte Unterrichtszeit darstellen. Dasselbe gilt für „Online-Unterricht“, der uns dann auch als Schulung digitaler Kompetenzen schmackhaft gemacht werden soll.

Angriffe auf die Arbeitsbedingungen von Lehrkräften

Nicht nur aus uns Schüler_Innen wird versucht, alles Verwertbare auszupressen, auch aus unseren Lehrer_Innen. Diese sollen bei gleichbleibendem Lohn nun immer mehr Schüler_Innen in einer Klasse unterrichten und immer mehr zusätzliche Aufgaben wie Inklusion, Digitalisierung, Berufsorientierung und Verwaltung übernehmen. Kein Wunder, dass laut einer Studie der Bildungsgewerkschaft GEW über ein Drittel unserer Lehrer_Innen im Laufe ihrer Berufslaufbahn ein Burnout oder Anzeichen dafür entwickeln. Immer weniger Menschen wollen diesen Job machen, sodass es in den letzten 10 Jahren bis zu 14 Prozent weniger Lehramtsstudiumsabsolvent_Innen gibt. Für uns wird das am massiven Unterrichtsausfall deutlich und daran, dass das Wort „Vertretungsunterricht“ aus dem Stundenplan in die Geschichtsbücher geflüchtet ist. Prognosen nehmen an, dass aktuell bis zu 100 000 Lehrkräfte fehlen. Für unsere Lehrer_Innen heißt das, dass sie die Arbeit von den fehlenden 100 000 Lehrkräften zusätzlich tragen müssen und das natürlich bei gleicher Bezahlung.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Neben der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte spielt auch die Demographie eine wichtige Rolle: So gehen aktuell die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten „Babyboomer“ in Rente, während die geburtenschwachen „Millennials“ jetzt in das Berufsleben eintreten und zahlenmäßig nicht ausreichen, um die Pensionierungswelle der Boomer auszugleichen. Hinzukommt, dass die jetzt eingeschulten Jahrgänge wieder angewachsen sind, durch stärkere Geburtenraten und Migration aus u.a. der Ukraine. Während die Bildungsstreikbewegung und die GEW diese Entwicklung bereits Anfang der 2000ender Jahre prognostiziert haben, haben Land und Bund das Problem systematisch kleingerechnet und als „unnötige Panikmache“ abgetan. Das ist nun nicht mehr so leicht möglich. So hat die ständige wissenschaftliche Kommission (SWP) der Kultusminister_Innenkonferenz (kurz KMK, hier treffen sich die Verantwortlichen für Bildung und Kultur aller Länder) ein Papier veröffentlicht, dass bestätigt, dass es einen massiven Lehrkräftemangel in Deutschland gibt. Man könnte jetzt denken, dass die Landesregierungen sich nun Maßnahmen überlegen, wie man wieder an mehr Lehrkräfte kommt, um uns Schüler_Innen unser verfassungsmäßig verbrieftes Recht auf Bildung zu gewähren. Doch die dafür nötigen 100 Milliarden werden für die Bundeswehr gebraucht, also hat die KMK Vorschläge erarbeitet, nicht wie unsere Schulen an mehr Lehrer_Innen kommen (denn das kostet Geld), sondern wie sie mit weniger Lehrer_Innen besser zurecht kommen können. Die dort vorgeschlagenen Maßnahmen sind eine dicke Schelle ins Gesicht von uns allen: die Klassengröße soll erhöht werden, pensionierte Lehrer_Innen sollen aus dem Ruhestand zurückgeholt werden, die Pflichtzahl an wöchentlichen Unterrichtsstunden für Lehrkräfte soll erhöht werden und durch Online-Unterricht soll eine Lehrkraft gleich mehrere Klassen gleichzeitig unterrichten können. Und das ist keine dunkle Fantasie einer dystopischen Hölle: In NRW, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt wurden Teile davon sogar schon umgesetzt. In Berlin wird derweil laut darüber nachgedacht, angeblich weniger wichtige Fächer wie Geschichte, Politik, Ethik, Sport, Musik und Kunst einzukürzen.

Kapitalistische Bildung als Krisenursache

Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen? Der Grund ist nicht die Inkompetenz der zuständigen Bildungspolitiker_Innen, sondern die kapitalistische Produktionsweise selbst. Die Kapitalist_Innen stecken darin in der widersprüchlichen Situation, dass sie einerseits unsere Bildung ausweiten und gleichzeitig begrenzen müssen.

Durch den kapitalistischen Wettbewerb weitet sich die technische Basis der Produktion ständig aus und erneuert sich. Ist auch logisch, denn wenn das eine Kühlschrankunternehmen anfängt durch den Einsatz von AI (künstliche Intelligenz) Kosten einzusparen und die Kühlschränke günstiger verkaufen kann, muss das andere Konkurrenz-Kühlschrankunternehmen nachziehen und auch AI benutzen, sonst wird es auf dem Markt eingehen. Das heißt aber auch, dass die Unternehmen ständig gebildetere Arbeitskräfte brauchen, die mit diesen technischen Neuerungen umgehen können. Dieser Trend wird in den imperialistischen Ländern dadurch verstärkt, dass immer mehr arbeitsintensive Produktion ins Ausland verlagert wird, während die meiste sogenannte „Kopfarbeit“ hier geleistet wird. Auch dafür müssen die Arbeitskräfte ein gewisses Bildungsniveau haben. Hinzu kommt, dass durch den immer verstärkteren Einsatz von Technologie die Mehrwertrate der Unternehmen schrumpft, denn die Basis ihres Profits ist die menschliche Arbeitskraft, deren Preis (Lohn) sie drücken können, während die Priese für Technik, Maschinen, Gebäude etc. (konstantes Kapital) feststehen. Der immer kleiner werdende Anteil von menschlicher Arbeitskraft in der Produktion muss deshalb produktiver Arbeiten, um dieselbe Mehrwertrate zu erzielen. Also muss den Arbeitskräften über Bildung vermittelt werden, wie sie produktiver Arbeiten.

Auf der inhaltlichen Ebene hat das Kapital natürlich kein Interesse daran, dass alle Schüler_Innen so schlau werden, dass sie analysieren können, dass diese Produktionsweise nicht in ihrem Interesse ist, sodass sie dagegen aufbegehren könnten. Die Kapitalist_Innen versucht deshalb mal mehr mal weniger offensiv, die Inhalte des Bildungssystems zu kontrollieren und nach ihren Interessen auszurichten. Entweder direkt, indem sie den überarbeiteten Lehrer_Innen kostenlose, schön aufbereitete Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stellen oder indirekter über ihre Thinktanks (zum Beispiel die Bertelsmannstiftung oder die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“) oder Lobbyarbeit bei den Landesregierungen. Auf der ökonomischen Ebene verursacht Bildung jedoch auch enorme Kosten für das Kapital, was es gerne einsparen möchte. Das liegt daran, dass Bildung direkt in die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft einfließt und damit ihren Wert, ausgedrückt im Lohn, erhöht. Die Reproduktionskosten der Arbeitskraft sind das, was der_die Arbeiter_In braucht, um am nächsten Tag wieder in der Kühlschrankfabrik auf der Matte auf der zu stehen. Also Nahrung, Erholung, Miete aber eben auch Bildung, um die AI in der Kühlschrankfabrik zu bedienen. Um seine_Ihre Profite nicht zu schmälern versucht der_die Kapitalist_In immer so wenig Lohn wie möglich zu zahlen, also zahlt er_sie nur das, was die_der Arbeiter_In unmittelbar für seine_Ihre Reproduktion der Arbeitskraft braucht. Doch dazu zählt auch die Bildung (deshalb werden zB. auch Tätigkeiten mit längerer Ausbildungsdauer wie Arztberufe, Lehrer_Innenberufe oder Anwält_Innen besser bezahlt, weil also ihre Reproduktionskosten höher sind). Das Kapital versucht also die Kosten für die Bildung so gering wie möglich zu halten.

In dieser widersprüchlichen Situation (das Kapital muss Bildung ausweiten aber gleichzeitig die Kosten senken) kommt der bürgerliche Staat ins Spiel. Er taucht immer dann auf, wenn die egoistischen Interessen der Einzelkapitale drohen, den Kapitalismus insgesamt ins Grab zu bringen. Damit also nicht alle Einzelkapitale die Kosten für Bildung auf 0 drücken und die kapitalistische Produktion dann nicht mehr gewährleistet werden könnte, muss der Staat einspringen und ein Minimum an Bildung gewährleisten und finanzieren. Dabei versucht er die Kosten dessen weitestgehend auf die Arbeiter_Innenklasse über die Verbrauchersteuer oder Privatisierung auszulagern. Ebenso schlichtet er zwischen den widersprüchlichen Einzelinteressen der Kapitale, denn Edeka hat aufgrund seiner Produktionsbedingungen andere Anforderungen an seiner Arbeiter_Innen als VW oder die AI-gestützte Kühlschrankproduktion. Der Staat versucht hier durch mehr „allgemeine Berufsorientierung“ im Unterricht einen Kompromiss zu finden. Doch so wie der Kapitalismus immer wieder in Krisen gerät, tut es auch sein staatliches Bildungssystem. So kommt es in Phasen ökonomischen Aufschwungs immer wieder zu größeren Investitionen und einer Öffnung des Schulsystems für untere Schichten und in Krisenzeiten (wie aktuell auch) zu Kürzungen und einer Herausdrängung von Arbeiter_Innenkindern und Migrant_Innen. Organisiert wird dies über das 3-Gliedrige Schulsystem aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium (die Bezeichnungen variieren von Land zu Land), dass durch scharfe Selektion gewährleistet, dass jede_r nur so viel Bildung bekommt, wie für seinen_Ihren späteren Platz in der Arbeitswelt nur unbedingt nötig ist. Somit produziert  die Schule zwar keine Klassenspaltung (das macht die kapitalistische Produktionsweise selbst), sie reproduziert diese aber. So bleiben Arbeiter_Innenkinder auf der Hauptschule, weil ihre Eltern zwischen 2 befristeten 30-Stunden Jobs es nicht schaffen, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen oder sie auch nicht dieselbe Muttersprache sprechen. Die Reichen schicken ihre Kinder in der Zeit auf Privatschulen und -unis, wo sie dann durchgeboxt werden, um einmal reich zu erben.

Lasst uns unsere Schulen zurückholen!

Dass wir in einer tiefen Bildungskrise stecken, müssen wir nicht mehr diskutieren, das sieht mittlerweile auch die FDP ein. Offen bleibt nur, wer die Kosten dieser Krise zahlen soll. Sind es wir Schüler_Innen durch mehr Leistungsterror, größere Klassen und schärfere Selektion oder sind es die Regierungen und das Kapital, die tiefer in die Tasche greifen müssen, um Geld für unsere Bildung locker zu machen. Ersteres zu verhindern und Zweiteres zu erkämpfen, stellt den zentralen Kampf dar, den wir führen müssen. Krise heißt ebenso wie beim Klima oder der Wirtschaft auch immer Potenzial für eine Bewegung dagegen.

Einen Ansatzpunkt dafür bietet der Aktionstag von „Schule muss anders“ (SMA) am 23.9.! Wir unterstützen die Hauptforderungen der Initiative nach 1. kleineren Klassen, 2. mehr Investitionen in die Bildung, 3. multiprofessionellen Unterrichtsteams und 4. einer unabhängigen Beschwerdestelle gegen Diskriminierung zu 100 Prozent und schließen uns mit allen unseren Ortsgruppen der Aktion an. Doch gehen uns diese Forderungen noch nicht weit genug. Um die Dynamik des Aktionstages zu nutzen und weitere Schritte im Aufbau einer bundesweiten Bildungsbewegung zu gehen, müssen wir die 4 Forderungen von SMA in unseren Schulen diskutieren und erweitern. Wir brauchen dafür Vollversammlungen der gesamten Schüler_Innenschaft und Komitees an den einzelnen Schulen, die weitere Forderungen erarbeiten. Indem wir unsere Forderungen auf Schilder schreiben, auf dem Protesttag lautstrak vertreten und vor allem in die Schule durch kleinere Aktionen und Versammlungen hineintragen, können wir verhindern, dass wir auf ewig ignoriert und totgeschwiegen werden. Beispiele für sinnvolle Forderungen in Ergänzung zu SMA könnten die Folgenden sein:

  • Kostenloses und ökologisches Mensaessen! Selbstverwaltete Speisepläne von uns Schüler_Innen!
  • Bildung eines Kontrollausschusses aus Schüler_Innen, Eltern und Lehrer_Innen, der eine Maximalgrenze für Hausaufgaben festlegt!
  • Gegen jede Einflussnahme und Präsenz der Bundeswehr an unseren Schulen!
  • Für die Möglichkeit, den Namen und Geschlechtseintrag in der Schule einfach und unbürokratisch zu ändern! Schluss mit Deadnames auf der Klassenarbeit!
  • Von Schüler_Innen selbstorganisierte Freiräume, die in den Pausen für alle frei zugänglich sind, an jeder Schule!
  • Für eine flächendeckende Modernisierung und energetische Sanierung aller Schulgebäude sowie ihrer Heizungs-, Wasser- und Belüftungssysteme. Bezahlt werden soll das von denen, die vom Krieg und den steigenden Energiepreisen profitieren!
  • Für eine demokratische Kontrolle des Lehrplans durch Schüler_Innen, Eltern, Lehrer_Innen und Organisationen der Arbeiter_Innenklasse! Wir bestimmen selbst, was wir lernen wollen!
  • Schluss mit dem 3-gliedrigen Schulsystem! Eine Schule für alle und Abschaffung aller Privatschulen!
  • Für den Aufbau einer Schüler_Innengewerkschaft und ein volles Streikrecht für Schüler_Innen, damit wir Verbesserungen erkämpfen können!

Die Forderungen von SMA sind nur der Ausgangspunkt, von dem aus wir uns Fragen müssen, in wessen Schulen wir eigentlich lernen. Es sind unsere Schulen, denn es sind wir und nicht Bettina Stark-Watzinger (Bildungsministerin), die unter zu großen Klassen leiden. Es sind wir Schüler_Innen, Lehrer_Innen, Sozialarbeiter_Innen und Schulpsycholog_Innen, die diese Bildungskrise ausbaden müssen. Dann sollten wir doch auch darüber entscheiden können, wie viele Schüler_Innen in einer Klasse erträglich sind. Wir wollen nicht in einem Geschichtsunterricht sitzen, in dem einfach nicht über deutschen Kolonien gesprochen wird. Wir wollen im Sexualkundeunterricht auch etwas über nicht-heterosexuellen Sex lernen. Wir wollen an einem Ort lernen, den wir auch selbst gestalten dürfen. Und das zusammen mit unseren Friends, auch wenn ihre Eltern Toiletten putzen oder kein Deutsch sprechen.

Dafür gehen wir nicht nur selbst zum SMA-Aktionstag, sondern fordern alle linken Jugendorganisationen von Solid, den Jusos, bis hin zur SDAJ und Young Struggle auf, sich daran zu beteiligen. Und zwar nicht nur symbolisch mit Fahne, sondern durch die Mobilisierung der kompletten Basis. Die von SMA geforderte Bildungskonferenz bietet einen wichtigen Ansatzpunkt, an dem wir unsere Forderungen miteinander diskutieren und weitere Aktionen gemeinsam planen können. Ebenso gilt es den Schüler_Innenprotest mit dem Protest der Lehrer_Innen zu verbinden. In Berlin streiken Lehrer_Innen bereits seit über einem Jahr für kleinere Klassen und einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz. Diesen Kampf gilt es durch eine Unterstützung ihrer Streiks gemeinsam zu führen und außerhalb Berlins durch Diskussionen mit der GEW auszuweiten. Ebenso wird im Oktober in der Tarifrunde der Länder über die Höhe des Lehrer_Innenlohns verhandelt. Auch bei diesen Streiks im gesamten Bundesgebiet braucht es unsere Solidarität und unsere Initiative, um weitere Aspekte der Bildungskrise und eine volle Ausfinanzierung unserer Schulen in die Debatte zu tragen. Darüber hinaus gilt es den Protest gegen die Bildungskrise mit den aktuellen Bewegungen rund um die Klimakrise zu verbinden, denn betreffen tun uns beide und ihre kapitalistische Ursache ist dieselbe! Lasst uns gemeinsam für eine Zukunft kämpfen, in der die Schulen uns gehören!




Grundlagen des Marxismus: Was ist eigentlich Faschismus?

Von Felix Ruga, September 2023, REVOLUTION Zeitung September 2023

Immer wieder werden recht unterschiedliche Kräfte als „faschistisch“ bezeichnet: Rechte Hools und sonstige Nazi-Banden, der Flügel um Höcke bis hin zur gesamten AfD oder auch einige Staaten wie Russland oder die Türkei. Phasenweise entsteht der Eindruck, dass „Faschismus“ einfach ein Synonym für „völkische Reaktionäre“ sei. Dies ist auch ein Stück weit verständlich, denn der Faschismusbegriff ist mit der Erfahrung der vernichtenden Politik der Nazis extrem aufgeladen und damit mobilisierend für den Kampf gegen Rechts.

Doch benötigt dieser Kampf auch Klarheit, denn verschiedene Formen von Reaktionären verlangen verschiedene Taktiken im Widerstand gegen sie. Der Kampf gegen Nationalliberale, Nationalkonservative, Rechtspopulist_Innen oder Faschos kann nicht gleich aussehen, weil diese auch jeweils unterschiedliche Klassenbasen und Taktiken haben. Als Grundlage unserer Faschismusanalyse verwenden wir jene von Trotzki, da diese den Klassenhintergrund mit der historischen Funktion des Faschismus verbindet. Die Analyse lässt sich in 5 Thesen zusammenfassen.

1. Der Faschismus erstarkt besonders in Phasen von gesellschaftlichen Krisen.

Ursprünglich ist der Faschismus (Fasci = Bünde) als Bewegung im Italien nach dem Ersten Weltkrieg entstanden. Die Situation war katastrophal: Die Bereicherung der einen und Verarmung der anderen, Tot und Vertreibung vom Lande und Zurückspülen der Soldaten aus dem Krieg, versteckte Deserteure in den Dörfern, zerrissene Familien, ein Ende vieler tradierten Arbeitsteilungen bei gleichzeitigen Wellen von Streiks und Besetzungen durch die Arbeiter_Innenbewegung mischten die Gesellschaft heftig durcheinander und sorgte insgesamt für einen unübersichtlichen und chaotischen gesellschaftlichen Gang, für den die liberal dominierte herrschende Klasse zunächst keine Antwort wusste. Die sozialistischen Parteien waren zwar stark und groß, konnten jedoch nur Reformen erkämpfen. Die Faschist_Innen haben hierbei einen „Dritten Weg“ versprochen. Diese Situation ähnelt Deutschland um 1930 in der Wirtschaftskrise.

2. Um eine starke Massenbewegung der Arbeiter_Innen zu zerschlagen, ist eine reaktionäre Massenbewegung notwendig.

Denn in einer zugespitzten Situation im Klassenkampf verschiebt sich die Macht von den gelähmten Parlamenten auf die Straße und in die Betriebe. Die Arbeiter_Inneklasse ist organisiert und erkennt im Kampf immer mehr, dass sie eine Klasse ist. Ihr Bewusstsein als Gesellschaftsklasse wächst an. Die Herrschaft der besitzenden Klasse könnte dadurch ins Wanken geraten, sodass Mittel zur Zerschlagung dessen angewendet werden. Hierbei können zwar Angriffe durch den bürgerlichen Staat in Form von Polizeigewalt Wirkung erzielen, aber Notlösung für die bürgerliche Herrschaft kann eine reaktionäre Massenbewegung sein, die selbst große Menschenmengen in Bewegung bringt. So wird der Macht der Arbeiter_Innenbewegung auf der Straße mit Kleinkriegen und roher Gewalt begegnet, die nur allzu oft von der staatlichen Bestrafung verschont bleiben. Das ist ein wesentliches Merkmal des Faschismus‘ vor der staatlichen Machtergreifung: Er stützt sich auf eine Massenbewegung von unmittelbarer Gewalt. Dies unterscheidet ihn von den meisten reaktionären Strömungen, die eher innerhalb der bürgerlichen Parlamente und Institutionen ihre Machtbasis sehen.

3. Diese Bewegung muss kleinbürgerlich sein und eine nationalistische und antikapitalistische Rhetorik mit größter Feindschaft gegen die Arbeiter_Innenbewegung verbinden.

Zunächst waren rein statistisch in den Anfangsstadien des Faschismus die kleinbürgerlichen Schichten gegenüber den proletarischen überrepräsentiert. Das ist aber hierbei nicht das Entscheidende. Der Klassencharakter drückt sich eher in der Ideologie und der Funktion aus: Zerschlagung der bedrohlichen Arbeiter_Innenbewegung und kompromisslose Herstellung einer stabilen kapitalistischen Ordnung, bei gleichzeitiger Anti-Establishement-Rhetorik und sozialstaatlicher Versprechungen. Indem alle im reinen Volkskörper aufgehen, sollen die Klassenwidersprüche als Ganzes versteckt werden. Besonderen Ausdruck findet dies im Antisemitismus, bei dem die Faschos zwar einen „antikapitalistischen“ Kampf inszenieren, ohne jedoch den Kapitalismus als System angreifen, indem sie die Missstände des Kapitalismus‘ auf die Jüd_Innen projizieren. Das Vertragen dieser Gegensätze drückt gerade das widersprüchliche Klasseninteresse der kleinbürgerlichen Schichten aus, die sowohl Angst vor der großkapitalistischen Konkurrenz als auch vor der fordernden Arbeiter_Innenbewegung haben.

4. Der Machtergreifung geht ein verschärfter Klassenkampf voraus, in der die proletarischen Kräfte eine Niederlage erleiden.

Damit sich nämlich größere Teile des Proletariats dem Faschismus anschließen, müssen ihre eigentlichen führenden Kräfte enttäuschen. In Deutschland waren das die SPD, die sich durch die Verteidigung und Verwaltung der bürgerlichen Verhältnisse die Hände mit Verrat schmutzig gemacht hat, und die KPD, die unter anderem mit der Sozialfaschismusthese keinen taktischen Hebel gefunden hat, um die Arbeiter_Innenklasse für revolutionäre Politik zu gewinnen. In diese Enttäuschung konnten dann die Nazis treten, die sich als radikale und dynamische Kraft präsentieren, während die Arbeiter_Innenbewegung vor dieser hergetrieben bis letztendlich zerschlagen wurde.

5. Einmal an der Staatsmacht wird die kleinbürgerliche Massenbewegung abgestreift und eine Diktatur im Interesse des Großkapitals errichtet.

Das heißt, dass die kleinen Kampfeinheiten wie die Fasci oder die SA aufgelöst oder institutionalisiert werden und allzu „antikapitalistische“ Kräfte innerhalb der Partei entmachtet werden. Der Faschismus baut die Kontrolle über die Gesellschaft aus und bürokratisiert sich, indem Partei und Staat miteinander verschmelzen. Die erste Aufgabe im Interesse des Großkapital ist dabei die Niederhaltung der Arbeiter_Innenbewegung mittels roher Gewalt und ideologischer Verblendung. Vorher geschürte Hoffnungen auf soziale Verbesserungen werden fallengelassen und mit Nationalismus verdeckt. Soziale Errungenschaften werden abgebaut und damit die Ausbeutung erhöht. Hiermit soll auch das nationale Kapital auf dem Weltmarkt gestärkt werden. Der extreme Nationalismus, die völkische Ideologie und die enthemmte Gewalt führen zu Krieg und letztendlich zur Vernichtung der ausgemachten „Feinde des Volkes“. Letztendlich wird die Arbeiter_Innenklasse komplett lahm gelegt.

Das ist natürlich erstmal eine historische Betrachtung und die Gesellschaft wie auch die extreme Rechte haben sich weiterentwickelt. Aber wir können daraus einiges für heute ziehen. Zum einen, welche Funktion der Faschismus in der brutalen Aufrechterhaltung der bürgerlichen Herschafft gegen eine Arbeiter_Innenbewegung einnimmt, zum anderen aber auch, wie man mit dem Faschismusbegriff umgehen sollte. Man kann den Begriff mit Bezug auf einzelne Personen mit faschistischer Einstellung oder generell faschistische Denkmuster etwas offener verwenden, aber gerade wenn es um die Einschätzung von Organisationen oder Bewegungen geht, müssen wir als Linke auf Klarheit setzen, um effektive Taktiken im Widerstand dagegen zu entwickeln. Zentral sind hierbei die Fragen, ob rechte Organisationen eine Strategie verfolgen, die auf einen faschistischen Umsturz hinauslaufen, indem sie sich auf eine paramilitärische Bewegung stützen (wollen), sich als pseudorevolutionär oder -antikapitalistisch darstellen, sie linke Bewegungen gewaltsam vernichten wollen und letztendlich ein kleinbürgerliches Klasseninteresse ausdrücken.

Was bedeutet das für unseren Widerstand? Auf der einen Seite müssen wir hierbei der unmittelbaren Gewalt begegnen, indem wir gegen faschistische Aufmärsche mobilisieren, uns antifaschistisch organisieren und antifaschistischen Selbstschutz aufbauen. Das bedeutet auch, dass wir heute schon auf faschistische Verbindungen und Tendenzen z.B. innerhalb der AfD aufmerksam machen. Auf den bürgerlichen Staat ist kein Verlass im Kampf gegen den Faschismus oder faschistische Tendenzen. Aber wir müssen auch eine klare, proletarische und antikapitalistische Perspektive gegen den Faschismus aufzeigen, indem wir konsequent für soziale, antirassistische und antisexistische Gerechtigkeit und gegen die kapitalistische Krise ankämpfen. So schaffen wir es, dem Kapitalismus den Nährboden zu entziehen. Hierfür müssen wir auch Bündnisse zwischen den Organisationen der Arbeiter_Innenklasse aufbauen, die letztendlich auf eine Einheitsfront gegen den Faschismus hinauslaufen. Gemeinsam können wir nicht geschlagen werden! In diesen Bündnissen müssen Revolutionäre jedoch immer offen für ihre Position eintreten und klar machen: Die faschistische Gefahr ist erst gebannt, wenn der Kapitalismus Geschichte ist!




Wehrpflicht?! Nein danke! – Keinen Cent, keinen Menschen dem Militarismus!

Von Stephie Murcatto, August 2023, REVOLUTION Zeitung September 2023

Mein etwas pazifistischer Deutschlehrer hat uns jahrelang gewarnt, dass die „Wehrpflicht nur ausgesetzt“ sei und wir deswegen auf uns aufpassen sollten. Damals haben wir etwas mit den Augen gerollt, jetzt hat er recht: Nach der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 ist die Frage noch nie so groß diskutiert worden wie jetzt. Es ist eine Frage, die besonders uns Jugendliche betrifft und für uns wichtig ist, da wir diejenigen sind, die letztendlich eingezogen werden und als Kanonenfutter für das deutsche Kapital agieren sollen. Aber wie man es kennt, werden in der Debatte natürlich nicht wir Jugendliche gefragt, sondern es wird von den Politik_Innen der verschiedenen Parteien über unsere Köpfe hinweg diskutiert.

Angefangen hat die Debatte mit unserem jetzigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. So sagte er in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“, Zitat: „(…) ich wünsche mir, dass wir eine Debatte über eine soziale Pflichtzeit führen.“ Der Bundespräsident möchte damit der Jugend helfen, indem er ihnen die Möglichkeit gibt, „aus der eigenen Blase herauszukommen“ und „neue Menschen kennenzulernen“. Diese Debatte wurde dann von verschiedenen Seiten aufgenommen, unter anderem von unserem Verteidigungsminister Boris Pistorius aus der ach so sozialen SPD, der sagte: „Die Aussetzung der Wehrpflicht war ein Fehler“, und sich für die Wiedereinführung der Wehrpflicht einsetzte.

Am stärksten aber kamen die Stimmen für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht von Seiten der AfD, die das sogar in ihrem Grundsatzprogramm festgeschrieben hat, und aus der Bundeswehr selbst, wo der Reservistenverband sich immer wieder für die Notwendigkeit einer Wehrpflicht ausspricht. Man merkt also: Die Wehrplicht-Freund_Innen werden lauter.

Dass Jugendliche nur selten zu diesen gehört, verwundert nicht, denn für uns ist klar, dass vom Ausbilder angeschnautzt zu werden oder gar an der Front zu sterben, nicht das erstrebenswerte Leben ist. Darüber hinaus ist es nicht in unserem Interesse, die Aufrüstung zu unterstützen, da die Bundeswehr am Ende des Tages ein Militär ist, das die Interessen des deutschen Kapitals vertritt. Die „Verteidigung Deutschlands“, was ja ihr Zweck ist, ist letztendlich eine Verteidigung deutscher Profite und keine Verteidigung der Arbeiter_Innenklasse und der Jugend.

Aber warum kommt die Debatte gerade jetzt wieder auf?

Diese Frage beantworten die bürgerlichen Politiker_Innen ausnahmsweise mal ehrlich: Es liegt an der Zuspitzung der Weltlage, unter anderem durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. In solchen Zeiten des Krieges soll laut den bürgerlichen Politiker_Innen Deutschland wieder die Möglichkeit bekommen, sich zu verteidigen und ein Heer aufzubauen, was Abschreckungspolitik gegenüber Putin machen kann. Denn nur so könne man die Sicherheit Deutschlands und „des Westens“ gewährleisten. Doch die Realität sieht etwas anders aus: 100 Milliarden für die Bundeswehr kommen dann plötzlich ganz schnell, während es lautet, dass für unsere soziale Absicherung eigentlich gar kein Geld bleibt, weswegen Sozialleistungen und die Reallöhne sinken. Natürlich geht es eigentlich um Aufrüstung. Denn nicht nur Russland, sondern auch die Nato hat innerhalb des Ukraine-Kriegs klare Interessen. Die NATO versucht mit diesem Krieg eine Stärkung des russischen Imperialismus zu verhindern, während sie gleichzeitig sich auf verstärkte weltweite Konfrontation vorbereiten und ihren Machtbereich ausweitet.

Hierbei kann die Wiedereinführung der Wehrpflicht eine Rolle spielen, denn mit Geld allein gewinnt man kein Krieg. Der Bundeswehr fehlen seit Jahren die Rekrut_Innen, weswegen sie einen überall mit ihrer Werbung nervt. Man hat sie ursprünglich zu einer Berufsarmee gemacht, weil man mit den neuartigen Waffensystemen eigentlich viele Jahre Ausbildung braucht und sich der finanzielle Aufwand nicht mehr gelohnt hat, Hundertausende jedes Jahr grundständig auszubilden. Mit der drohenden Eskalation will man wohl nicht mehr auf Freiwilligkeit setzen.

Denn immer mehr steuert die Weltlage auf eine Konfrontation zwischen den Machtblöcken zu, ob es nun mit Russland oder China sein mag. Als Reaktion auf die sich verstärkende Blockbildung rüstet der westliche Imperialismus immer mehr auf, um auch am Ende als Sieger dazustehen zu können. Ein Krieg zwischen fügt uns Jugendlichen und jungen Arbeiter_Innen nur Schaden zu, während die Kapitalist_Innen aktiv davon profitieren. Für uns sollte also klar sein, dass wir einer solchen Aufrüstung und einer solchen Verschärfung der Lage entgegentreten müssen!

Aber wie setzen wir uns diesen Angriffen auf unsere Rechte entgegen?

Zur Verteidigung unserer Rechte bietet uns die bürgerliche Politik keine Perspektive. Sie verfolgt ja gerade diese nationalistische Machtpolitik und kann dabei keine Rücksicht auf uns Jugendliche nehmen, welche am akutesten von der Wehrpflicht und der Aufrüstung betroffen ist. Wir müssen uns für eine unabhängige und internationale Politik der Jugend und der Arbeiter_Innen einsetzen, denn nur wenn wir selbst die Entscheidungskraft an uns reißen, können wir auch Antworten finden.

Aber um das zu erreichen, müssen wir erst einmal eine größere und internationalistische Bewegung gegen den Krieg und gegen die Aufrüstung aufbauen. Konkret sollten dabei unsere Bündnispartner_Innen die Gewerkschaften und die traditionellen Organisationen der Arbeiter_Innenklasse sein, die mit konkreten Forderungen einen Kampf führen. Denn letztendlich ist es die Arbeiter_Innenklasse, die die Macht hat, mit Aktionen des Klassenkampfes dieses System, den Kapitalismus zu überwinden, der immer wieder Kriege und Krisen hervorgebracht hat und es immer wieder wird.

Aber es braucht nicht nur eine Perspektive der Arbeiter_Innenklasse dafür, sondern auch wir Jugendliche müssen uns gegen die Aufrüstung und für soziale Verbesserungen einsetzen. Dafür müssen wir uns organisieren, konkret an den Orten, wo wir sind, also in der Schule, an der Uni und in der Ausbildung.

Aber das Problem lässt sich nicht national lösen, denn die verschärfte Blockbildung und Aufrüstung passieren nicht nur hier in Deutschland, sondern international. Gerade die, die nicht von den Profiten leben, sondern zu diesen benutzt werden, tragen in sich die Perspektive der internationalen Vereinigung. Deshalb brauchen wir auch eine internationale Organisation der Jugend gegen Krieg und Krise und fordern:

  • Für eine revolutionäre Jugendinternationale! Die Jugend braucht eine unabhängige und internationale Vertretung. Für den Aufbau einer Schüler_Innengewerkschaft, die unsere Interessen gemeinsam mit der Arbeiter_Innenklasse vertritt und durchsetzt!
  • Nein zur Wehrpflicht! Wir wollen kein Kanonenfutter sein!
  • 100 Milliarden für Soziales, Bildung und die Jugend und nicht für die Bundeswehr! Gegen jede Aufrüstung aller imperialistischen Nationen, ob Russland oder Deutschland!
  • Für eine Antikriegsbewegung international! Nur die Arbeiter_Innen können den Konflikt lösen.



Erneute rassistische Angriffe der EU – Die neue Asylrechtsreform und das Abkommen mit Tunesien

Von Pauline P., August 2023, REVOLUTION Zeitung September 2023

Die Asylrechts“reform“

Die EU-Innenminister_Innen beschlossen am 8. Juni eine „Reform“ des Gemeinsamen Europäischen Asylrechts (GEAS), welche für ein Inkrafttreten nun nur noch die gesetzgebenden Institutionen passieren muss. Diese Reform sieht eine faktische Abschaffung des ohnehin schon eingeschränkten Asylrechts hunderttausender Geflüchteter vor.

Was besagt die Reform?

Während Politiker_Innen die Reform als „politischen Durchbruch“ feiern, sehen sich Geflüchtete mit neuen riesigen Einschnitten in ihre Freiheit und Sicherheit konfrontiert. Faktisch Gefängnisse, sogenannte „Asylzentren“, sollen schon jetzt an den EU-Außengrenzen dafür sorgen, Antragsteller_Innen auf Asyl – darunter auch Familien mit Kindern – bis zu drei Monate unter miserablen humanitären und hygienischen Bedingungen auf engstem Raum festzuhalten, um sie möglichst schnell wieder abzuschieben. In den Asylzentren festgehaltene Geflüchtete werden umfangreich registriert und identifiziert. Diese Daten sollen in einer EU-Datenbank gesammelt und gesichert werden, auf die alle Asyl- und Strafverfolgungsbehörden der EU-Staaten Zugriff erhalten. Versprochen wird sich dadurch eine Verhinderung von sogenannter „Sekundärmigration“, also die Chance auf Asyl in einem anderen EU-Land. Im gesamten Prozess wird Asylsuchenden der Zugang zu Asylberatung oder rechtlichem Beistand verwehrt. Die EU-Staaten lassen Geflüchtete an den Außengrenzen spüren, dass sie in der Festung Europa nicht erwünscht sind. Insbesondere Menschen aus vermeintlich „sicheren Herkunftsstaaten“ (z. B. Türkei, Indien oder Tunesien) werden so schnell wie möglich dorthin abgeschoben. Auch für Menschen aus Staaten, auf die diese Kategorie nicht zutrifft, finden die EU-Innenminister_Innen einen Weg, der an einem Asyl für diese vorbeiführt. Die Reform besagt, dass nun auch eine Abschiebung in ein „sicheres Drittland“, welches auf dem Fluchtweg passiert worden ist oder auf andere Weise mit der geflüchteten Person assoziiert wird (z.B. über entfernte Verwandtschaft), möglich sei.

Widerstand in Basis von SPD und Grünen?

Für uns steht fest: Die geplante Asylrechts-„Reform“ ist nicht tolerierbar. Doch wie sehen das SPD und Grüne? Auch hier ist der Rechtsruck mal wieder deutlich zu spüren. Während 2020 die SPD-Bundestagsfraktion noch die EU-Asylrechtsreform mitsamt „Massenlager[n] an der EU-Außengrenze” und einem „abgeschwächten Asylverfahren” ablehnte, zeigen sie heute ein ganz anderes Gesicht. Auch die Grünen beweisen durch ihre diesjährige Zustimmung, dass Menschenleben für sie einen geringeren Stellenwert haben, als die imperialistischen Interessen Deutschlands und der EU. Gibt es denn gar keinen Widerstand innerhalb der Parteien? Doch, aber einen sehr verhaltenen – 24 Abgeordnete der SPD und der Grünen sowie ein paar wenige aus den Landtagen sprachen sich gegen die Reform aus – die Politik tragen sie jedoch faktisch mit. Für uns ist klar: Es handelt sich hierbei um gezielte Verteidigung des Kapitals vertreten durch die Politiker_Innen.

Die Linkspartei ist die einzige Partei, welche die Reform konsequent als Angriff auf die Menschenrechte begreift und diese folglich ablehnt. CDU sowie CSU bilden dazu das Gegenstück: Sie bezeichnen die Reform als „guten Schritt“, dem weitere folgen sollten. Dass der AfD auch eine Aushebelung des Asylrechts nicht weit genug geht, ist leider nicht überraschend.

Es ist unsere Aufgabe, eine Bewegung, deren Ziel die Bekämpfung der menschenverachtenden Asylgesetze ist, aufzubauen.

Wir müssen für ein uneingeschränktes Asylrecht kämpfen! Es braucht Massenbewegungen, welche sich auf antirassistische Organisationen, Migrant­­_Innenorganisationen und Organisationen der Arbeiter_Innenklasse stützen. Dabei müssen wir die Abgeordneten, welche sich gegen diesen rassistischen Hammer ausgesprochen haben, dazu aufrufen, solch eine Mobilisierung zu unterstützen – nicht nur deutschlandweit, nicht nur EU-weit, sondern weltweit!

Abkommen mit Tunesien

Als sei dieser rassistische Angriff noch nicht ausreichend, so schloss die EU vor Kurzem eine Vereinbarung mit Tunesien, welche auch ein Abkommen zur Begrenzung der Migration über das Mittelmeer beinhaltet. Für das Vorgehen gegen „Schlepper“ und „illegale Überfahrten“ sicherte die EU Tunesien 100 Millionen Euro zu. Versprochen wird sich, das „zynische Geschäftsmodell von Schmugglern und Menschenhändlern zu brechen“, so von der Leyen. Die Koalition in Berlin sprach „volle Unterstützung“ für das Abkommen aus, während vereinzelte Stimmen aus den Grünen Bedenken äußerten, aber auch hier die Entscheidung letztendlich mittrugen. Dass Kritik seitens der Grünen vor allem Bedenken wie eine nicht gelungene Bindung des globalen Südens an die EU und verfehlte Zurückdrängung des russischen Einflusses in Afrika beinhaltet, zeigt, dass es den Grünen auch hier in erster Linie um die imperialistischen Interessen Deutschlands und der EU und nicht um die Rettung von Menschenleben geht.  Konsequenter sieht es bei den Linken aus, doch auch diese Partei schafft es nicht, sich ernsthaft gegen die Abmachung mit Tunesien zu stellen.

Gegen die Reform – für die Vereinigten sozialistischen Staaten!

Statt der menschenverachtenden EU-Außenpolitik braucht es eine menschenwürdige Alternative in der Hand von Arbeiter_Innen, Geflüchteten und anderen unterdrückten Menschengruppen und deshalb fordern wir:

  • Volles Asylrecht für alle Geflüchtete! Nein zu allen Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie Abschiebungen! Für offene Grenzen!
  • Ein Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes für alle!
  • Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von Hautfarbe, Nationalität, Religion oder Staatsangehörigkeit!
  • Volle Staatsbürger_Innenrechte für alle, inklusive des passiven wie des aktiven Wahlrechts!
  • Statt des Europas der Imperialist_Innen ein Europa des Widerstands, der Unterdrückten und Ausgebeuteten! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!



Kampf den deutschen Transphoben!

Von Felix Ruga, August 2023

Trotz solchen Bestrebungen wie dem Selbstbestimmungsgesetz oder der steigenden Sichtbarkeit von trans Menschen nimmt in letzter Zeit die Anti-trans-Bewegung in Deutschland sichtbar an Fahrt auf: Besonders die AfD, aber auch die CSU machen um dieses Thema gerade massivst Wahlkampf und wirken damit bis tief ins bürgerliche Lager. Im Internet werden trans Menschen und ihre Verbündeten ständig von einem transphoben Mob beschimpft und belästigt. Dazu gibt es jedes Jahr mehr queerfeindliche Angriffe.

Wir brauchen als Marxist_Innen ein tieferes Verständnis dieser Bewegung, wie die Rechten vorgehen und welche Ziele sie verfolgen, um hier sinnvolle Taktiken zu entwickeln, um dagegen Widerstand aufzubauen. Wir wollen deswegen in diesem Artikel über die Transphoben in Deutschland sprechen. Zwar ist es schwierig, das alles von den Republikaner_Innen in den USA zu trennen, weil man sich hierzulande schwer von diesen inspirieren lässt, aber dennoch wollen wir den Blickwinkel auf die Entwicklungen in Deutschland lenken.

Transphobie als rechtes Scharnier

Transphobie gibt es schon lange, aber die Ursprünge der heutigen Bewegung lassen sich in den 2010er Jahren finden. Dort sei vor allem die französische Bewegung „Manif pour Tous“ genannt, was übersetzt „Demo für Alle“ heißt. Unter diesem Namen hat sich in Deutschland dann auch ein Netzwerk gegründet. Die Taktik: Man gibt sich bürgerlich und defensiv, indem man die „traditionelle Familie“, das „Kindeswohl“ und die bürgerlichen Geschlechterrollen bewahren will. Hierbei war von Anfang an Hetze gegen trans Menschen mitinbegriffen, da diese ja angeblich die Kinder in ihrer Geschlechtswahrnehmung verwirren würden und sie nicht in ihre Vorstellung von Geschlechtlichkeit passen. Man erreichte hierzulande nie die Relevanz wie in Frankreich, doch es war von Anfang ein Tummelbecken und Verbindungsglied der gemäßigten bis extremen Rechten. Und spätestens mit dem Aufstieg der AfD ist die Ablehnung geschlechtlicher Vielfalt ein präsentes Thema.

In Deutschland dominiert in der Anti-trans-Bewegung ganz klar die Neue Rechte, also AfD, Identitäre Bewegung und ihre Presse, wie Compact und Junge Freiheit. Auch und besonders Dokus wie die kürzlich erschienene „Trans ist Trend“ von Nius mischen in diesem Spektrum mit. Gerade die politische Stärke einer organisierten Partei stellen hierbei gegenüber anderen Kräften einen Vorteil dar. Die Transphobie schließt sich hierbei unmittelbar aus ihrem völkischen Denken, in der alle Menschen einem vorherbestimmten Platz zugewiesen werden, so wie die Geschlechterrolle bei Geburt. Verbunden damit ist die „reinrassische“ Kleinfamilie, die als kleinste Einheit der Volksgemeinschaft und in der Weitergabe traditioneller Werte eine wichtige Rolle zukommt.

Interessant ist hierbei ihre Taktik: Was ja die Neue Rechte von der „alten“ Rechten unterscheidet, ist, dass sie Begriffe und Themen besetzen und damit gesellschaftliche Werte und Lesarten nach rechts verschieben wollen. Über das Vehikel der Transphobie ziehen sie damit gemäßigtere Kräfte zu sich und können sich als bürgerlich und wahre Vertreter_Innen von Frauen und Kindern darstellen.

Neben der Neuen Rechte mischen auch noch rechtsextreme, christlich-fundamentalistische und bürgerlich-konservative Kräfte mit. Vor allem letztere lassen sich momentan sehr nach rechts treiben. Erkennbar an dem Vorschlag der CSU im Mai, Dragshows in Bayern zu verbieten oder die Kampagne gegen gendersensible Sprache, unter Anderem in Hamburg.

Unerwähnt dürfen hier selbstverständlich nicht die TERFs bleiben. Ideologisch rechtfertigen sie die Entrechtung von trans Menschen, indem das biologische Geschlecht determinieren würde, wie man sozialisiert wird und damit ein „Wechseln der Geschlechter“ nicht möglich sei. Cis Frauen sollen deshalb vor trans Frauen geschützt werden und trans Männer seien Verräter an der Frauenschaft. Da Radikalfeminist_Innen organisch zum linken Lager gehören, kommt ihnen eine besondere Rolle im transphoben Gemenge zu. Intellektuellere Argumente und ein Zugang zu linksbürgerlichen Strukturen erweitern den Spiielraum der Anti-trans-Bewegung. Die Zugehörigkeit zu einem anderen Lager macht aber das Bündnis zu den Rechten brüchig, was sich aber durch einen Rechtsruck unter RadFems aufzulösen scheint.

Der Gender-Gaga-Gaga

Transphobie tritt selten isoliert auf, sondern ist meist in der Ablehnung des sozialen Geschlechts (= Gender) eingebettet. Mit Gender meint man also die Vorstellungen, wie sich Frauen und Männer entsprechend ihrem Geschlecht zu verhalten haben und wie man da reinsozialisiert wird. Als Kommunist_Innen verstehen wir diese Rollen als gesellschaftlich konstruiert und nicht als etwas „Natürliches“. Damit sind die Geschlechterverhältnisse in Wandlung begriffen und gestaltbar. Wie nun eine Person soziales und biologisches Geschlecht miteinander verhandelt, beschreibt die Geschlechtsidentität.

Das stellt gerade die völkischen Rechten vor ein Problem: Die Existenz eines sozialen Geschlechts impliziert, dass die traditionelle Rollenverteilung keine natürliche oder gar biologische Konstante ist. Diese Vorstellungen spielen für die Rechten aber eine große Rolle. So durchzieht es deren Auftreten und Selbstwahrnehmung: Männer seien natürlicherweise „autoritär-soldatisch-männlich“, Frauen „unterwürfig-mütterlich-weiblich“.

Für jedes Abrücken von dieser „natürlichen Ordnung“ machen die Rechten die Gender-Ideologie verantwortlich. Und dazu gehört auch jegliche Aufweichung der traditionellen Kleinfamilie. Diese stellt für sie die Grundeinheit der deutschen, homogenen Volksgemeinschaft dar. Es droht nämlich das Szenario: Ohne feste Rollenverteilung keine bürgerliche Kleinfamilie, ohne Familie kein Erhalt des Volkes, ohne Volk Untergang der Nation. Dementsprechend muss für diei Homogenisierung, Hierarchisierung und Stärkung der Volksgemeinschaft die geschlechtliche Rollenverteilung verewigt werden. Das ist zwar selbst höchst ideologisch, aber zur Verteidigung dieser Annahme werden allen, die von einer sozialen Konstruktion der Geschlechtsnormen ausgehen, selbst „Gender-Ideologie“ vorgeworfen. Trans Menschen sind schon allein aufgrund der Identität ein Widerspruch zu dieser Annahme und deswegen ein herausgestelltes Ziel von völkischen Kräften. Aber man sieht auch, wie sich hier die Transunterdrückung mit der Frauenunterdrückung und sowieso der Unterdrückung jeglicher Abweichung der geschlechtlichen und sexuellen Normen mischt.

Und gerade, weil das ganze Konstrukt so irrational geprägt ist, verbinden sich die rechten Argumente mit intensiven Gefühlsregungen, um politisch zu mobilisieren. Hierbei ist die Rolle des Kindes besonders interessant: „Das Kind“ wird zunächst als unmündig, weiß und geradezu rein konstruiert und dann „der trans Person“ gegenübergestellt, die als bedrohlich, lächerlich oder verrückt gezeichnet wird. Diese Bildsprache kann starke Gefühle wecken: Man versetzt sich in die eigenen Kinder oder in das eigene Kindesalter und hat das Gefühl, sich wehren zu müssen. Man fühlt sich edel und vorbildhaft, weil man sich für die Unschuldigen einsetzt. Man nimmt den Gegner als das Böse wahr, weil dieser das absolut Unschuldige attackieren möchte. Nebenbei gehen Rechte bei der Konstruktion „der Frau“ ganz ähnlich wie beim Kind vor. Dadurch wirken Transphobe oftmals nicht aggressiv, sondern defensiv-besorgt gegenüber einer aggressiven Macht, welche dann mit „dem Staat“, „den Eliten“ oder gar „den Linken“ identifiziert wird. Interessant ist hier auch, wie in der Doku „Trans ist Trend“ die gesamte Anti-Trans-Bewegung mit diesen Argumenten als „Opfer“ dargestellt wird – ganz so wie es die neue Rechte gerne tut.

Gegen die Reaktion!

Dieses Vorgehen wirkt momentan besonders gut, weil man damit das Erleben der Krise und die subjektive Überforderung der konservativen Teile der Bevölkerung anspricht und deren Frust auf ein anderes Objekt lenkt, bei dem ein „Aufstand gegen die verrückten Verhältnisse“ inszeniert werden kann. Die Welle der Transphobie ist Teil des allgemeinen Rechtsrucks und dieser spielt sich vor dem Hintergrund der Krise ab. Hierbei können wir als Linke ansetzen: Verbunden mit dem entschlossenen Kampf für die Rechte von trans Menschen sollten wir auch die kapitalistische Krise bekämpfen und eine linke Perspektive aufzeigen! Das kann bedeuten, dass wir Kämpfe verbinden, um zum Beispiel sichere Rückzugsräume und kostenlosen Wohnraum zu schaffen oder das Gesundheitssystem auf Kosten der Reichen für alle gleichermaßen zugänglich zu machen. Hier können sich die verschiedenen sozialen Bewegungen mit der Arbeiter_Innenbewegung verbünden und eine Überwindung des Kapitalismus als Ganzes erkämpfen!




Was und wie wir lernen, entscheiden wir!

Von Isma Johnson

Die Schule ist für die meisten ganz schön ätzend. Das liegt auch daran, dass wir Schüler_Innen kaum mitbestimmen können, welche Inhalte und Fähigkeiten wir dort lernen. Stattdessen wird in den Lehrplänen alles aufgeschrieben, was in der gesamten Schulzeit unterrichtet werden soll, und wir werden anschließend gezwungen, das alles irgendwie in 12 bis 13 Jahren Schule zu schaffen. Aber warum dürfen wir daran eigentlich nicht mitbestimmen und wer hat aktuell Kontrolle über die Lehrpläne?

Das sind die Ministerien für Bildung in den einzelnen Bundesländern, zusammen mit (unter anderem) Vertreter_Innen der Wirtschaft, also des Kapitals. Diese sollen Lehrpläne entwerfen, die uns möglichst gut auf die Arbeit vorbereiten. Und obwohl das sinnvoll klingt, liegt genau hier das Problem. Die Arbeitswelt im Kapitalismus wird nämlich von Kapitalist_Innen bestimmt, für die die Arbeitenden die Profite erarbeiten. Eine Vorbereitung auf diese Tätigkeit ist also nichts anderes als die Vorbereitung darauf, von Kapitalist_Innen kontrolliert und ausgebeutet zu werden. Die Arbeiter_Innenklasse soll also im Bildungssystem auf ihre Aufgaben vorbereitet werden. Auf diese Fähigkeiten von Arbeiter_Innen sind Kapitalist_Innen unbedingt angewiesen, ihnen diese beizubringen ist aber ziemlich teuer. Daher profitieren Kapitalist_Innen doppelt, wenn der Staat das Bildungswesen übernimmt.

Wir müssen uns also durch einen Lehrplan durchquälen, der für die Kapitalist_Innen – nicht für uns und unser Leben – ideal sein soll. Hier wird immer vorgezogen, was für verschiedene Berufe mit verschiedenen Anforderungen verwertbar ist, wie zum Beispiel Informatik, die zunehmend unterrichtet und in Lehrpläne einbezogen wird, weil sie auch fürs Arbeiten wichtiger wird. Was wir fürs Leben brauchen – zum Beispiel Konsens in Sexualkunde, psychische Gesundheit oder echte demokratische Mitbestimmung – fällt hinten runter. Im Großen und Ganzen müssen wir einen Unterricht aushalten, der so langweilig, autoritär und ungerecht ist, dass wir auf die Hierarchien der Lohnarbeit eingestellt werden. Es zeigt sich: Solange es eine gute Arbeiter_Innenklasse produziert, ist es dem Schulsystem völlig egal, ob es uns psychisch krank und konstant gestresst macht oder sonst wie auf‘s Leben vorbereitet. 

Aber geht es anders?

Deshalb lohnt es sich den Ministerien und “Expert_Innen für Wirtschaft” die Kontrolle über unsere Lehrpläne zu nehmen und den Einfluss der Kapitalist_Innen zu hinterfragen. Sie sind nicht von uns gewählt, sie repräsentieren uns nicht und arbeiten offensichtlich auch nicht zu unserem Besten. Stattdessen müssen wir die Macht über unsere Schulen für uns selbst beanspruchen, also für alle die tatsächlich in die Schule gehen: Schüler_Innen, Lehrer_Innen und an der Schule Beschäftigte. Gemeinsam könnten wir ausarbeiten, was für uns und die Gesellschaft wichtige Fähigkeiten und Themen sind, was wir lernen sollten und was wir lernen wollen. Da die Schule aber eben nicht losgelöst von der Arbeitswelt funktioniert, können wir beginnen, die Frage nach Kontrolle in unseren Schulen zu stellen, müssen sie aber auch weitertragen. Denn solange wir im Kapitalismus leben, wird auch die Schule ihren Klassencharakter behalten, unter kapitalistischem Einfluss stehen. Aus diesem Grund bedeutet eine konsequente demokratische Kontrolle über die Lehrpläne auch eine Schule gegen den Kapitalismus und ist ein Ausgangspunkt, um diese einzufordern.

Was könnte das bedeuten, eine nicht kapitalistische, sozialistische Schule? Wir könnten sie grundsätzlich anders gestalten: Schule könnte die Interessen und Talente der einzelnen Lernenden fordern und der Unterricht müsste nicht frontal und autoritär gestaltet sein, sondern kann den Raum für eigenständige Entfaltung geben. Dabei könnten Lehrer_Innen unterstützen, anstatt autoritär und durch Frontalunterricht vorzugeben, was wir zu tun und zu lernen haben. Leistungsterror und Notendruck könnten ein absurdes, realitätsfernes Konzept werden, wodurch sich die psychische Gesundheit der Lernenden wahrscheinlich deutlich verbessern würde. Wir müssten nicht für uns allein stehen, uns durchkämpfen und individuell bewertet werden, sondern könnten lernen, Aufgaben gemeinsam, kreativ und demokratisch zu lösen. Im Prozess könnten wir außerdem lernen, gemeinsam demokratische Entscheidungen so zu treffen, wie es auch im Rest der Gesellschaft notwendig ist. Wenn Schulen nicht mehr alles auf kapitalistischer Verwertungslogik aufbauen müssten, dann könnten sie nicht nur schöne und freie Orte sein, sondern auch mündige und eigenständige Menschen ausbilden.

Das mag jetzt utopisch und weit weg klingen und das ist es auch. Es ist aber nicht unmöglich: Der erste Schritt auf diesem Weg zu einer gerechteren Schule ist die Forderung nach einer demokratischen Kontrolle über die Lehrpläne! Diese können wir nur gemeinsam mit unseren Lehrkräften und allen in der Schule Beschäftigten durchsetzen. Das bedeutet einerseits, dass wir ihre Kämpfe in den Gewerkschaften unterstützen und die Frage der Lehrpläne in diese hineintragen. Andererseits müssen wir unsere Mitschüler_Innen überzeugen, sich diesem Kampf anzuschließen: In eigenständigen Komitees können wir gemeinsam und demokratisch entscheiden, wie wir es schaffen, die Schüler_Innenschaft unserer und anderer Schulen, hinter dieser Forderung zu versammeln: Kundgebungen, Flyer, Podiumsdiskussionen können ein guter Anfang sein. Gemeinsam mit den Lehrkräften haben wir dann die Macht, in einem Streik den gesamten Schulalltag lahmzulegen und die Herrschenden können uns nicht länger ignorieren. Lasst uns also gemeinsam Widerstand an unseren Schulen organisieren und kapitalistischen Leistungsterror ein für alle Mal vom Lehrplan streichen!




#WirFahrenZusammen: Vom Bahnstreik zum Verkehrswendestreik

Von Lia Malinovski, August 2023

In wenigen Monaten beginnt die Tarifrunde im Öffentlichen Nahverkehr (TVN). Die Beschäftigten kämpfen dort für bessere Arbeitsbedingungen, unter Anderem höhere Löhne, längere Pausen- und Umschlagszeiten[1]. Beteiligte Gewerkschaften sind die ver.di und die EVG, führend dabei ist jedoch in den meisten Betrieben die ver.di. Alle Bundesländer dürfen im nächsten Jahr streiken, bis auf Bayern. In diesem Artikel wollen wir uns angucken, wie wir von dem kommenden Streik in einen politischen Streik für die Verkehrswende kommen.

Schon im März 2023 ist die Kampagne „#WirFahrenZusammen“ (WFZ) mit Beschäftigten im ÖPNV auf die globalen Fridays for Future (FFF)-Demonstrationen gegangen. Ver.di hatte den Streiktag im Öffentlichen Dienst auf den Tag von der globalen Demonstration gelegt, sodass die Beschäftigten ihren Kampf in den Kampf von FFF tragen konnten. Die Kampagne ist noch sehr neu und in der Findungsphase, weshalb es nicht einfach ist, verlässliche Infos zu bekommen. Die Informationen, auf denen ich den Artikel basiere, stammen aus Recherche in den Strukturen der Kampagne, aus einem Interview mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und von Genoss_Innen, die selber in der Kampagne aktiv sind oder bei der Deutschen Bahn arbeiten. Es gibt bis auf den FFF-Streik im März bisher keine aktive Außenwirkung der Kampagne, wobei sie zur IAA in München mobilisieren wollen und dort einen Block in der Demo stellen wollen.

WFZ versucht einen Schulterschluss aus linken Teilen der Klimabewegung, die die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit der Arbeiter_Innenklasse erkannt haben, und ÖPNV-Beschäftigten herzustellen. So haben sie es bspw. In Köln geschafft, Forderungen bei den ÖPNV-Beschäftigten populär zu machen, indem sie ihre Forderungen mit Unterschriftensammlungen unterstützten und so das Vertrauen der Arbeiter_Innen gewinnen konnten. Teile der Gewerkschaftsapparate von ver.di und der EVG unterstützen die Kampagne, vermutlich allerdings in erster Linie, um politische Forderungen aus dem Tarifkampf auszugliedern. Denn sie wissen von der Notwendigkeit, politisch zu kämpfen, wollen aber auch nicht aufs Spiel setzen, gute Sozialpartner_Innen (für die Konzerne) zu sein. WFZ bietet für sie die Möglichkeit, zu zeigen „hey, wir haben doch auch politische Forderungen“, ohne für diese tatsächlich kämpfen zu müssen. WFZ selbst versucht diese Masche der Gewerkschaften aber nicht zu problematisieren oder gar zu ändern, da sie fürchten, das Bündnis zu verlieren. Verständlicherweise, denn es gibt kaum unabhängige Strukturen in den Belegschaften, die nicht von der Gewerkschaftsbürokratie (privilegierte Führung) abhängig sind. Damit aber der Schulterschluss aus Arbeiter_Innen und Klimabewegung möglich ist, ohne abhängig von der Bürokratie zu sein, braucht es genau diese Kräfte.

Von der Straße auf die Schiene!

„Wir Fahren zusammen“ kann also kaum die Bürokratie kritisieren. Dabei müssten sie genau dies tun, um oppositionelle Kräfte innerhalb der Belegschaften und Gewerkschaften zu stärken. Das führt dazu, dass sie sich der Bürokratie unterordnen und einen in erster Linie ökonomischen Kampf der Gewerkschaften unterstützen, die politische Perspektive dabei aber schrittweise aufgeben. Für die Verkehrswende ist es aber unerlässlich, ökonomische Kämpfe mit politischen zu verbinden: Wir stehen vor der Herausforderung, dass die Anforderungen an den Schienenverkehr stetig wachsen. Es braucht einen massiven Ausbau der Schieneninfrastruktur, um diese zum Kern der zukünftigen Verkehrsweise zu machen. Dafür reicht es aber nicht, einfach nur mehr Lohn zu fordern. Es braucht neben längeren Umschlagszeiten auch mehr Personal, mehr Geld und geringere Anforderungen für die Bahn. Auch die zunehmende Privatisierung und drohende Zerschlagung der Bahn erfordern politische Antworten.

Wir möchten, bevor wir thematisieren, wie wir zum politischen Streik kommen, darauf eingehen was eigentlich im ÖPNV notwendig ist für die Verkehrswende. Denn nur mit einer Vorstellung davon, was Ausbau bedeutet und wie der Verkehr aussehen muss, können wir für diesen Kämpfen. Die aktuelle Situation ist, dass große Streckenabschnitte in ganz Deutschland, insbesondere aber in Ostdeutschland, stillgelegt und zugunsten des Autos abgebaut wurden. Während man mit dem Auto problemlos von A nach B kommt (wenn man nicht gerade in einer Großstadt lebt), braucht die Bahn häufig doppelt so lang oder länger, man kann sich nicht darauf verlassen, dass sie pünktlich kommt oder dass sie überhaupt fährt. Jeder dritte Zug war im letzten Jahr zu spät – von denen die überhaupt gefahren sind. Das liegt nicht nur daran, dass viele Strecken zurückgebaut wurden, sondern auch daran, dass die verbliebenen Strecken völlig überlastet sind (Beispielsweise Hamburg-Hannover mit 126% Auslastung). Neben dem kulturellen Aspekt, dass ein neues, hübsches Auto als Statussymbol gilt, macht auch das den Autoverkehr attraktiver und es ist also nicht verwunderlich, dass die Neuzulassungen von PKWs in manchen Jahren kaum relevant zurückgehen und in anderen sogar zunehmen (2022 wurde ein Anstieg von 1,1% verzeichnet).

Dabei ist das Rad-Schiene-System mit Abstand das effizienteste, da wenig Reibung entsteht und es meistens von Außen mit Strom betrieben wird. Nicht nur kann ein Zug auf ausgebauten Strecken deutlich schneller fahren, er fährt auch viele Hundert bis Tausend Menschen mehr von A nach B als ein Auto. Aber was heißt Ausbau genau und wie kommen wir dahin? Es müssen selbst die kleinsten Ortschaften an das öffentliche Schienensystem angeschlossen werden. Das bedeutet, dort wo es einen Nutzen für schon wenige tausend Menschen hat, müssen Schienen gebaut werden (wenn es möglich ist). Tramkonzepte, kleine Bahnen und Schnellfahrstrecken müssen den Kern des neuen Verkehrs bilden. Dort wo es nicht möglich ist oder schlicht mehr Ressourcen binden würde, Schienen zu bauen, sollten Car-Sharing-Konzepte oder Oberleitung-betriebene Busse die Anbindung an den nächstgelegenen Bahnhof ermöglichen. Gleiches gilt auch für den Gütertransport: Bis auf die letzten Kilometer sollte alles über die Schiene fahren, die letzten Kilometer möglichst ebenfalls über Oberleitung. Grundlegend ist außerdem, dass das Schienennetz 100% strombetrieben läuft.

Vom Bahnstreik zum Verkehrswendestreik…

Obwohl das nur einen kleinen Ausschnitt darstellt, sehen wir schon hier die Grenzen von rein ökonomischen Streiks und Forderungen. Der Ausbau auf 100% strombetriebene Gleise lässt sich nicht mit mehr Lohn und längeren Umschlagzeiten ermöglichen. Letztendlich muss der Verkehrssektor enteignet und unter Arbeiter_Innenkontrolle gestellt werden, um nicht mehr für Profit, sondern den Schutz von Mensch & Umwelt zu produzieren. Wie kommen wir jetzt also zum politischen Verkehrswendestreik?

Die Kampagne „Wir Fahren Zusammen“ geht einen wichtigen ersten Schritt: Die Verbindung zwischen Klimabewegung und Arbeiter_Innenklasse ist essentiell, um zum Einen höhere Schlagkraft zu haben, andererseits auch, um nicht Klimaschutz und direkte Nöte der Arbeitenden gegeneinander ausspielen zu können. Dabei darf die Kampagne aber nicht vor Kritik an der Bürokratie zurückschrecken, die sich mit aller Kraft gegen politische Streiks wehren wird. WFZ sollte oppositionelle und klassenkämpferische Kräfte in den Gewerkschaften unterstützen in ihrem Kampf für Basisorganisierung, Rechenschaftspflicht und jederzeitige Abwählbarkeit aller Posten in den Gewerkschaften. Als Revolutionäre müssen wir in WFZ also aufzeigen, wieso es notwendig ist, sich nicht unter die Gewerkschaftsbürokratie unterzuordnen. Wir müssen den Widerspruch, den die Bürokratie selbst geschaffen hat, weiter vertiefen und alles daran setzen, dass die Beschäftigten und die Basis der Gewerkschaften ihre ökonomischen Forderungen mit politischen ergänzt. Hier müssen auch Kampagnen wie WFZ auf die Beschäftigten zugehen und mit ihnen gemeinsame Forderungen entwickeln. Wer die Notwendigkeit der Forderungen erkennt, wird nicht aufhören dafür zu kämpfen, wenn ein undemokratischer Apparat Nein sagt.


[1] Umschlagszeit ist die Zeit, in der eine Bahn, die am Zielbahnhof angekommen ist, stehen bleibt, bevor sie in die andere Richtung zurück fährt




Die Rolle der Pharmaindustrie im Kampf um sexuelle Selbstbestimmung

von Erik Likedeeler, Juli 2023

Erst vor kurzem wurde in Italien beschlossen, dass Verhütungspillen in Zukunft kostenlos an Menschen aller Altersgruppen ausgegeben werden sollen. Auch in Frankreich bekommen unter 26-Jährige seit diesem Jahr Kondome und Notfallverhütung gratis in Apotheken. England geht einen Schritt weiter: Dort sind sämtliche Verhütungsmittel für alle kostenfrei zugänglich.

In diesem Artikel wollen wir uns anschauen, wie die Lage diesbezüglich in Deutschland aussieht und was getan werden muss, um die Situation zu verbessern. Denn obwohl das Thema den meisten Jugendlichen aus dem Sexualkundeunterricht bekannt sein dürfte, ist das gesellschaftliche Bewusstsein gering, wenn es um Verhütung als Klassenfrage und die Rolle der Pharmakonzerne geht.

Die Einführung der Pille in der BRD und DDR

Um den Stellenwert der Verhütung in Deutschland nachzuvollziehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. In der DDR wurden die ersten Verhütungspillen ab 1965 vom Unternehmen Jenapharm produziert. Innerhalb der Sozialversicherung wurden sie ab 1972 kostenlos angeboten. Obwohl sich mit dem Namen „Wunschkindpille“ um ein positives Image bemüht wurde, wurden Stimmen laut, die vor einer „gesteigerten Wollust der Weiber“ warnten.

In der BRD wurde das erste hormonelle Verhütungsmittel ab 1961 von der Schering AG herausgegeben, einem Vorgänger-Unternehmen des deutschen Pharmakonzerns Bayer. Zunächst wurde die Pille als Mittel gegen Menstruationsschmerzen vermarktet. Auf die empfängnisverhütende Wirkung wurde nur am Rand hingewiesen, da eine negative Reaktion der Bevölkerung befürchtet wurde.

Als der eigentliche Zweck des Medikaments bekannt wurde, wurde tatsächlich vermehrt die Befürchtung geäußert, hormonelle Verhütung würde zum „Aussterben der Deutschen“ führen.

Jahrelang wurde die Pille nur mit Einverständnis des Ehemannes an verheiratete Frauen verschrieben. Zudem wurden Frauenärzt_Innen gebeten, das Mittel nur an Frauen mit mindestens zwei Kindern herauszugeben. Hier zeigten sich bereits Versuche, durch hormonelle Verhütung die Bevölkerungsentwicklung zu kontrollieren, denn Kinder sind für den Kapitalismus vor allem zukünftige Arbeitskräfte.

Der historische Vergleich von BRD und DDR zeigt, dass es in der BRD nach der Einführung der Verhütungspille tatsächlich einen Rückgang von Geburten gab. Dieser sogenannte „Pillenknick“ blieb in der DDR aus. Daraus können wir schließen, dass die Geburtenrate nicht als isolierter Faktor betrachtet werden sollte, sondern dass auch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben müssen.

Vielmehr lässt sich der „Pillenknick“ damit erklären, dass die Lebensmodelle der Frauen in der BRD im Wandel waren; immer mehr gingen studieren und arbeiten. Weil die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kaum gewährleistet war, fiel die Geburtenrate ab.

In der DDR hingegen wurden zeitgleich mit der Einführung der Pille Kinderkrippen und Wohnungen für Familien bereitgestellt, sowie bezahlte Elternzeiten angeboten. Durch die erhöhte Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurden in der DDR auch mehr Kinder geboren, wobei natürlich auch diese demographische Entwicklung mit einer zusätzlichen Belastung der Frauen durch Lohn- und Reproduktionsarbeit erkauft wurde.

Bayer und die Pille: Ein weiterer Grund zur Enteignung

Viele von uns kennen es: Schon beim ersten Besuch bei der Frauenärztin wird uns die Pille verschrieben, ohne dass eine sorgfältige Aufklärung über die Nebenwirkung stattgefunden hat. 8 Euro bekommen Frauenärzt_Innen für jede Person, die sie über Verhütung beraten – meist bleiben für die Aufklärung weniger als 10 Minuten Zeit.

Durch die 68er-Bewegung wurde die Verhütungspille in der BRD zu einem Symbol der Freiheit und Emanzipation. Dennoch ist nicht abzustreiten, dass sie auch heute noch massive Nebenwirkungen mit sich bringt, wie zum Beispiel Thrombosen, Lungenembolien und Herzinfarkte.

Viele Nebenwirkungen sind nicht genau erforscht, wie der Zusammenhang zu Depressionen und Suizidgefährdung. Zusätzlich wird vermutet, dass auch die Lernfähigkeit, die Konzentration und das Erinnerungsvermögen durch die Anwendung der Pille leiden.

In Deutschland werden jährlich Verhütungspillen im Wert von 580 Millionen Euro herausgegeben; seit Jahrzehnten ist Bayer der unangefochtene Marktführer. Bis 2019 sind mehr als 100 Menschen durch die Bayer-Pillen Yaz und Yasmin ums Leben gekommen. Zehntausende haben Herz-, Gallenblasen- und Bluterkrankungen bekommen.

Mittlerweile musste Bayer rund 2 Milliarden Euro Schadensersatz an die Betroffenen und Hinterbliebenen zahlen – doch die Produkte sind immer noch auf dem Markt.

Seit mehr Erfahrungsberichte an die Öffentlichkeit geraten, sind viele Anwender_Innen von der Pille desillusioniert. Doch auch gegen die viel beschworene „Pillenmüdigkeit“ haben die Pharmakonzerne ein Rezept: Hormonringe, welche mehrere Wochen lang im Körper verbleiben.

Dabei hält sich hartnäckig der Mythos, Hormonringe würden nur „lokal“ wirken. Doch synthetische Hormone wirken niemals nur lokal. Damit sie Signale im Gehirn auslösen, müssen die Wirkstoffe auch dorthin transportiert werden. Die Nebenwirkungen sind auch hier folgenreich: Hormonringe können jahrelange Nierenbeckenentzündungen zur Folge haben.

Entzugsblutung? Was soll das denn sein?

Zusätzlich zu all diesen Nebenwirkungen ist die Entzugsblutung ein wichtiger Faktor. Wer die Pille anwendet, weiß vermutlich, dass ein Pillenzyklus aus 21 Tabletten mit Hormonpräparaten und 7 Placebos besteht. Durch die einwöchige Pause wird die sogenannte Entzugsblutung herbeigeführt. Von medizinischer Seite aus wird meist vermittelt, dabei würde es sich dabei um die Menstruation handeln.

In Wirklichkeit hat diese Blutung keinen medizinischen Nutzen und kann sogar schädlich sein. Eine Entzugsblutung als Menstruation zu bezeichnen, spricht Menschen das Recht ab, über die Funktionen ihres eigenen Körpers Bescheid zu wissen.

Es stellt sich die Frage: Warum wurde diese Placebo-Woche überhaupt eingeführt, wenn man die Pille auch bequem durchgehend einnehmen und auf die Blutung verzichten könnte? Der ausschlaggebende Grund dafür war die Besänftigung der katholischen Kirche, welche sich in den 1960er Jahren gegen die Einführung der Pille wehrte. Allerdings stellt sie sich auch heute noch gegen jegliche Art der Verhütung, daher war die gesamte Aktion hinfällig, und Millionen von Menschen bluten jeden Monat ohne ihr Wissen völlig sinnlos.

Immer noch keine Smarties: Die Pille Danach

Sollte einmal die Pille versagen oder das Kondom reißen, gibt es immer noch die Pille Danach. Dabei handelt es sich um ein Medikament, welches den Eisprung verhindert, und damit auch eine Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle sowie die Einnistung in die Gebärmutter. Deshalb zählt sie als Verhütungsmittel, nicht als Abtreibungsmittel, obwohl sie nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen wird.

Dabei ist wichtig zu wissen, dass die Unterscheidung zwischen Verhütung und Abtreibung eine relativ neue Grenze ist, die nicht immer eine so große Rolle gespielt hat wie heute. Dass ausgerechnet die Einnistung in die Gebärmutter als der Beginn des Lebens definiert wird, ist keine biologische Gegebenheit, sondern eine kulturelle Entscheidung.

Seit 2015 ist die Pille Danach rezeptfrei in der Apotheke erhältlich. Zuvor musste man mit seinem Anliegen in die Notaufnahme, wenn am Wochenende die Arztpraxen geschlossen hatten. Allerdings sind viele deutsche Krankenhäuser katholisch und verschreiben die Pille Danach nicht. Deshalb war die Aufhebung der Rezeptpflicht ein entscheidender Schritt.

Damit wurde jedoch zeitgleich ein „Werbeverbot“ für die Pille Danach eingeführt. Frauenärzt_Innen dürfen diese Option nicht ansprechen oder darüber informieren. Das führt zu gravierenden Wissenslücken: Nur 50% der Frauen ist klar, dass die Pille Danach rezeptfrei erhältlich ist, mehr als jede vierte Frau kennt sie noch nicht einmal.

Wer in der Apotheke nach der Pille Danach fragt, wird meist zu einem belehrenden Aufklärungsgespräch in ein Hinterzimmer geführt. Dabei kommt es häufig zu Vorwürfen, Bloßstellungen und wertenden Äußerungen. Immer wieder kommt es vor, dass Minderjährigen der Verkauf verweigert wird.

 „Die Pille Danach ist kein Smartie!“, formulierte es der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn und sprach damit Frauen und Mädchen ab, eine unabhängige und informierte Entscheidung über ihren eigenen Körper zu treffen. Gleichzeitig wird durch solche Äußerungen der Stereotyp junger, sexuell aktiver Frauen gezeichnet, welche scheinbar sorglos und leichtfertig ungeschützten Sex haben, weil sie danach ja einfach die Pille Danach nehmen könnten. Das entspricht einerseits weder der Realität, produziert sexistische Klischees und verstärkt andrerseits die Auffassung, Verhütung sei einzig und allein Verantwortung der Frau. An solchen Debatten zeigt sich immer wieder, wie der Kapitalismus versucht, weibliche Sexualität zu limitieren und auf das Ziel der Familiengründung auszurichten, da sie innerhalb der Familie unbezahlte Reproduktionsarbeit leisten und zukünftige Arbeitskräfte bereitstellen.

Keine Hormone, keine Probleme? Die Kupferspirale

Wer sich als junge, kinderlose Frau ohne sichtbare Behinderung eine Kupferspirale einsetzen lassen will, bekommt von Frauenärzt_Innen oft zu hören, dass der Uterus einer kinderlosen Frau zu klein für eine Spirale sei. Dabei empfiehlt die WHO Spiralen für Frauen und Mädchen jedes Alters, und in anderen Ländern scheint es kein Problem mit der Uterus-Größe zu geben. Was also ist der Grund dafür?

Eine Ursache liegt in der Regelung, dass deutsche Krankenkassen die Finanzierung der Spirale bis zum 22. Lebensjahr übernehmen, dafür aber nur einen Minimalbetrag an Ärzt_Innen zahlen. Eine von der Kasse bezahle Spirale erwirtschaftet für die ärztliche Praxis also viel weniger Gewinn als eine, die ab dem 23. Lebensjahr privat gezahlt wird.

Eine Option, die noch weniger Menschen bekannt sein dürfte, ist die Kupferspirale Danach. Denn eine Kupferspirale kann ebenfalls zur Notfallverhütung genutzt und sogar bis zu 5 Tage nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr eingesetzt werden. Sie beeinträchtigt die Beweglichkeit der Spermien und verhindert die Einnistung einer befruchteten Eizelle in die Gebärmutter. Obwohl sie deutlich zuverlässiger ist als die Pille Danach, wird sie in Deutschland fast nie genutzt. Die Kosten dafür sind für viele Menschen zu hoch, um sie spontan aufzubringen.

Problematisch ist auch, dass es noch viele Forschungslücken gibt, was die Verhütung mit Kupfer angeht: Es ist nicht bekannt, wie oft die Spirale unbemerkt ausgeschieden wird oder wie stark sie das Risiko für Eileiterschwangerschaften erhöht. Das Budget für aussagekräftige Langzeitstudien haben nur die großen Pharmakonzerne – und die haben kein Interesse daran, dass weitere unerwünschte Nebenwirkungen aufgedeckt werden.

Immer wieder wird von mangelhaften Spiralen und gebrochenen Kunststoffarmen berichtet, die lose in der Gebärmutter herumschwimmen und von Frauenärzt_Innen herausgefischt werden müssen, meist ohne Narkose. Erst 2018 kam ans Licht, dass zig Tausende Europäerinnen eine brüchige Spirale des Herstellers Eurogine eingelegt bekommen hatten, welches dringend entfernt werden musste. Die meisten Betroffenen wurden darüber nicht in Kenntnis gesetzt.

Mental Load und Verhütungsverantwortung

Selten wird darüber gesprochen, dass Verhütung mit einem dauerhaften Mental Load verbunden ist. Der Begriff Mental Load bezeichnet die geistige Arbeit, ständig an etwas denken zu müssen oder etwas organisieren zu müssen, damit die Funktionalität des täglichen Lebens gewährleistet ist.

In diesem Fall heißt das, die Verhütungsmethode auszuwählen, sich mit ihrer Funktionsweise auseinanderzusetzen, sie fortlaufend korrekt durchzuführen und ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Das kann bedeuten, ärztliche Beratung einzuholen, die Temperatur zu messen, um den Eisprung zu bestimmen, Pillenrezepte zu holen, Kondome einzukaufen, Schwangerschaftstests zu machen, sowie vor dem Sex ein Gespräch über das Thema zu beginnen. Auch körperlich ist Verhütung in den meisten Fällen eine Belastung.

In den meisten Fällen sind es Frauen und Mädchen, die sich diesen Strapazen aussetzen. Dass Frauen mehr Verhütungsverantwortung übernehmen, liegt nicht nur daran, dass die meisten Verhütungsmittel für ihre Körper entwickelt wurden – auch vor der Erfindung der hormonellen Verhütung war das bereits der Fall.

Vielmehr liegt es daran, dass Männer und Jungen weniger Konsequenzen zu befürchten haben, falls es zu einer ungewollten Schwangerschaft kommen sollte. Einerseits, weil sie ihren Körper nicht der Belastung einer ungewollten Schwangerschaft aussetzen müssen, andererseits, weil gesellschaftlich von Müttern viel mehr elterliches Engagement verlangt wird als von Vätern.

Häufig haben Männer und Jungen Wissenslücken, oder ihnen fehlt die Bereitschaft, sich an der Verantwortung zu beteiligen. Beispielsweise ist die häufigste Ursache für gerissene Kondome, dass Männer sich zu wenig mit verschiedenen Größen, Formen und Materialien auseinandersetzen. Dadurch kaufen bis zu 80% der Kunden das falsche Größenmodell.

Vielen Männern scheint nicht klar zu sein, dass jemand anders für sie die Verhütungsarbeit übernimmt, die ihnen zu unangenehm, unpraktisch oder lästig erscheint. Sie neigen dazu, die Verantwortung als gleichberechtigt aufgeteilt wahrzunehmen, auch wenn das nicht der Fall ist.

Und was ist mit der Pille „für den Mann“?

Trotz dieser Ungerechtigkeiten haben 25 internationale Studien und Umfragen der letzten Jahrzehnte gezeigt, dass die meisten Männer verhüten wollen. Doch der gute Wille allein ist nicht genug, und immer wieder wird die berechtigte Frage aufgeworfen: Warum gibt es noch keine Pille „für den Mann“? Wann wird die Verantwortung endlich gerecht aufgeteilt? Denn Kondom und Sterilisation reichen als Optionen nicht und dieser Mangel ist eine Verletzung von reproduktiven Rechten. Gibt es denn keine Alternative?

Aktuell sind der Wissenschaft über 100 Methoden bekannt, mit denen man für die Verhütung an Penis und Hoden ansetzen könnte. Diese Möglichkeiten ergeben sich aus allen Stadien der Spermienproduktion: Man könnte sie am Wachsen hindern, ihnen die Beweglichkeit nehmen oder ihnen den Durchgang versperren.

Eine tatsächliche Pille ist nach dem aktuellen Stand der Forschung unwahrscheinlich, weil Testosteron im Magen zu schnell abgebaut wird. Eine vielversprechendere Methode wäre zum Beispiel ein Gel, welches die Samenleiter vorübergehend verschließt.

Auch die wärmebasierte Verhütung hat sich bereits als effektiv erwiesen: Beim Verhütungsring handelt es sich um einen einfachen Silikonring, mit dem die Hoden zurück in den Körper gedrückt werden. Durch die Körpertemperatur wird die Spermienproduktion außer Kraft gesetzt. Diese Methode ist günstig, nebenwirkungsarm und umweltschonend.

In Frankreich kommt der Verhütungsring schon seit Jahren zur Anwendung, wurde jedoch nie offiziell zugelassen. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Erstens ist der Ring technisch so einfach gehalten, dass die Industrie sich nicht für ihn interessiert. Zweitens gibt es noch große Forschungslücken beim Thema Spermienproduktion: Die Andrologie, der medizinische Fachbereich für Männergesundheit, ist bis heute ein unterfinanziertes Randgebiet. Auch im Medizinstudium wird das Thema wärmebasierte Verhütung nicht behandelt.

Damit neue Verhütungstechnologien sich durchsetzen können, bedarf es jedoch einer kompletten Umstrukturierung des Gesundheitswesens: Die Ausbildung unzähliger Fachleute, das Errichten von Gesundheits- und Forschungszentren, das Durchführen von Langzeitstudien, das Drucken neuer Medizinlehrbücher, die Durchführung von Aufklärungskampagnen samt Plakaten, Filmen und Werbeanzeigen. Es braucht ein über Jahre aufgebautes Netzwerk aus ärztlichen Praxen, Apotheken und Privatpersonen, die das Mittel kennen, bewerben und verschreiben, sowie aufklären und beraten.

Nur wenige Konzerne hätten genug Kapital, um so ein Projekt durchzuführen. Aber warum sollte ein Konzern im Privatbesitz auf gut Glück in irgendeine unerforschte Technologie investieren, wenn das bisherige Modell blendend funktioniert und so viel Gewinn abwirft? Warum neue Vertriebswege aufmachen, wenn das gesellschaftliche Einverständnis für die bestehenden Produkte seit Jahrzehnten gegeben ist?

Kein Luxus, sondern Grundbedürfnis

Verhütung ist nicht nur eine körperliche, sondern auch eine finanzielle Belastung. Eine Pillenpackung für 3 Monate kostet zwischen 20 und 60€, eine Kupferspirale ca. 200€. Den Anspruch auf die finanzielle Übernahme durch die gesetzliche Krankenkasse haben nur Menschen unter 22, und selbst dann kann es im Einzelfall schwierig sein, den Anspruch durchzusetzen.

Bei Hartz-4-Empfänger_Innen sind ca. 15€ pro Monat für die Gesundheit vorgesehen und damit auch für die Verhütung. Es können zwar Anträge für die Kostenübernahme von Pille oder Spirale gestellt werden, ein grundsätzliches Recht darauf gibt es aber nicht.

Aufgrund dieser prekären Situation werden von einzelnen Städten Finanzierungsprogramme organisiert, z.B. durch Pro Familia. Doch von diesem Angebot wissen nur die wenigsten. Das führt dazu, dass die Geldsummen ungenutzt liegen bleiben.

Für Jugendliche ohne finanzielle Mittel bleiben meist Hormone die einzige Option. Denn Kondome können nicht von der Krankenkasse übernommen werden, weil sie nicht rezeptpflichtig sind. Und viele Frauenärzt_Innen weigern sich, jungen Menschen eine Kupferspirale einzusetzen.

Wie drastisch die Lage ist, stellte eine Studie im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fest: ein Drittel der Studienteilnehmer_Innen verhüten aus finanziellen Gründen gar nicht. Weil mit der Inflation der Preis für die Verhütungsmittel angestiegen ist, hat sich die Lage weiter verschärft. Als Folge ist die Zahl der ungewollten Schwangerschaften bei Sozialleistungsbezieher_Innen dreimal so hoch wie bei Nichtbezieher_Innen.

All diese Zahlen zeigen, dass Verhütung eine Klassenfrage ist und dass die Barrieren für die Kostenübernahme viel zu hoch sind.

Forderungen

Eine befreite Gesellschaft kann es nicht ohne befreite Sexualität geben. Kein Konzern darf seine Profite über unsere reproduktive Gesundheit stellen. Dafür stellen wir folgende Forderungen auf:

  • Die Reformierung des Sexualkundeunterrichts, Information über alle Verhütungs- und Abtreibungsmethoden, auch über unbekannte Optionen wie die Spirale Danach.
  • Keine Verschreibung von Verhütungsmitteln ohne ärztliche Aufklärung über die Nebenwirkungen. Information auch darüber, dass die Entzugsblutung optional ist. Schluss mit der Moralisierung und Beschämung bei der Pille Danach.
  • Die vollständige finanzielle Übernahme für alle Verhütungsmittel und Abtreibungen durch den Staat, unabhängig von Alter, Aufenthaltsstatus, Versicherung oder ärztlicher Verschreibung.
  • Die Finanzierung von Langzeitstudien, um sichere Verhütungsmittel zu gewährleisten. Die Entwicklung von nebenwirkungsarmen Verhütungsmitteln für alle Geschlechter, gemeinsam mit dem Ausbau der Andrologie.
  • Den Ausbau von Kinderbetreuung, Elternzeit und sozialem Wohnungsbau, damit bei der Familienplanung tatsächlich eine freie Entscheidung gewährleistet ist.
  • Enteignung der Pharmakonzerne! Der Kampf gegen die Frauenunterdrückung muss mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verknüpft werden. Dafür brauchen wir ein Gesundheitssystem unter Arbeiter_Innenkontrolle, welches sich an unseren Bedürfnissen orientiert.



Intergeschlechtlichkeit: Was hinter dem I in LGBTIA steht

Von Erik Likedeeler, Mai 2023, REVOLUTION-Zeitung April/Mai 2023

Noch vor dem Beginn eines Lebens stellen sich viele werdende Eltern die Frage: „Junge oder Mädchen?“ Es werden Erwartungen gestellt an das Verhalten, das Aussehen und die Rolle des zukünftigen Kindes. Aber was, wenn der Körper des Kindes diesen Erwartungen nicht entspricht?

Als intergeschlechtlich werden Körper verstanden, die von außenstehenden Personen weder als männlich noch als weiblich identifiziert werden können. Intergeschlechtlichkeit zeigt sich zum Beispiel durch verschiedene Varianten der X- und Y-Chromosomen, durch im Körper liegende Hoden bei einem weiblich gelesenen Äußeren oder durch Geschlechtsteile, die als große Klitoris und als kleiner Penis interpretiert werden könnten.

In einer binärgeschlechtlich denkenden Welt ist die Situation intergeschlechtlicher Menschen von Diskriminierung, medizinischer Missachtung und bürokratischen Hindernissen geprägt. Die Tabuisierung des Themas unter dem Motto „Sag‘ es niemand anderem!“ übt starken Druck auf inter Personen aus.

In diesem Artikel soll es darum gehen, wie intergeschlechtliche Personen in Deutschland von Geburt an diskriminiert und misshandelt werden, und wie dagegen vorgegangen werden kann. Außerdem soll auf das dialektische Verhältnis zwischen dem „sozialen“ und dem „biologischen“ Geschlecht eingegangen werden. Hauptquellen sind „The state’s hands in our underpants“ von Theresa Anna Richarz und der Parallelbericht zum 5. Staatenabkommen der BRD zum Übereinkommen gegen Folter.

Was passiert bei Operationen an intergeschlechtlichen Kindern?

In Deutschland sind 95% der intergeschlechtlichen Menschen von medizinischen Eingriffen nach der Geburt betroffen. Seit den 1950er Jahren sind kosmetische Operationen an inter Säuglingen und Kleinkindern medizinisch institutionalisiert. Bestandteil der Operationen ist die Entfernung der hormonproduzierenden Keimdrüsen (Gonadektomie). Dadurch kommt es zu psychischen und körperlichen Folgeerkrankungen. Es werden lebenslange Hormonersatztherapien und Folgeoperationen erforderlich und die Person wird dauerhaft unfruchtbar.

Außerdem erfolgt eine Beschneidung der äußeren Geschlechtsorgane, die mit dem Verlust der erotischen Empfindsamkeit einhergeht. Für die Zwangszuweisung zu einem Standardgeschlecht messen Ärzt_Innen die Größe der Genitalien, um zu bestimmen, welche Rolle diese am ehesten beim traditionellen heterosexuellen Geschlechtsverkehr einnehmen könnten. In 85-90% der Fälle wird der Körper feminisiert. Ein Grund dafür ist die chirurgische Machbarkeit. Ein weiterer ist die sexistische Annahme, Frauen könnten eher ohne erfüllende Sexualität leben als Männer.

Während bei maskulinisierenden Operationen Größe und Funktion des Penis im Mittelpunkt stehen, geht es bei feminisierenden Operationen darum, den Körper auf Geschlechtsverkehr vorzubereiten. Es wird eine Neo-Vagina angelegt, welche regelmäßig durch das Einführen harter Gegenstände gedehnt werden muss, bis sie als penetrierbar gilt. Ohne das Einverständnis der betroffenen Person stellt das eine Misshandlung dar – die in vielen Fällen routinemäßig von den eigenen Eltern durchgeführt wird.

Ungefährliche Varianten der Geschlechtsentwicklung werden zu Störungen erklärt, die Angleichung an die Norm als Heilung dargestellt. Dahinter steckt der Gedanke, dass Menschen die Zweigeschlechtlichkeit am ehesten akzeptieren würden, wenn sie nie etwas von ihrer Intergeschlechtlichkeit erfahren. Laut einer in Hamburg durchgeführten Studie haben 50% der inter Personen, bei denen in der Kindheit irreversible operative Eingriffe vorgenommen wurden, Suizidgedanken.

Wie werden die Operationen rechtlich ermöglicht?

Die Einführung der Geschlechtsoption „divers“ wurde von der Hoffnung begleitet, Akzeptanz für intergeschlechtliche Körper zu schaffen. Doch die Aufmerksamkeit für das Thema hat nicht zum Ende der Operationen geführt. Meist werden die Eingriffe ohne medizinische Indikation verübt, ohne wirksame Einwilligung der Eltern und ohne Aufklärung über Risiken und Folgebehandlungen. Ärzt_Innen erwähnen selten, dass ein erfülltes Leben ohne Operation möglich ist.

In Deutschland ist es verboten, in die Sterilisation des eigenen Kindes einzuwilligen, doch bei intergeschlechtlichen Kindern kommt dieses Gesetz nicht zur Anwendung. In vergleichbaren Fällen wäre die stellvertretende Einwilligung in derart folgenschwere Eingriffe nur bei unmittelbar lebenserhaltenden Maßnahmen zulässig.

Seit Jahren besteht die Forderung, ein Operationsverbot durchzusetzen. 2021 wurde ein Gesetz dafür geschaffen, doch dieses zeichnet sich durch massive Lücken aus und lädt geradewegs dazu ein, umgangen zu werden. Mit Verweis auf ein angeblich erhöhtes Krebsrisiko darf weiterhin operiert werden, obwohl es keine Langzeitstudien gibt, die das beweisen.

Der Staat tut nichts, um diese Folter zu verhindern, sondern macht sich durch die Finanzierung mitverantwortlich. Gesetzliche Krankenkassen zahlen normalerweise nur für medizinisch indizierte Behandlungen, nicht für ästhetische Operationen. Doch die Standardisierung der Genitalien wird als dringend und medizinisch notwendig eingestuft.

Im Jahr 2000 wurde die Verjährungsfrist für Schadensersatzansprüche von 30 auf 3 Jahre gekürzt. Viele inter Menschen erfahren erst zu einem viel späteren Zeitpunkt ihres Lebens von den Operationen. Auch hier zeigt sich Sexismus, denn die Beeinträchtigungen infolge einer Kastration werden bei weiblich kategorisierten Personen als weniger gravierend eingestuft. Außerdem ist es schwierig, Ansprüche geltend zu machen, denn Krankenakten sind oft unvollständig, „nicht verfügbar“ oder werden geschwärzt.

Das alles steht in krassem Widerspruch zum bürgerlichen Bild des „binären Geschlechts“. Dieses ist der ideologische Hintergrund, warum Intergeschlechtlichkeit so unterdrückt wird. Doch welches Verständnis von Geschlecht können wir dem entgegensetzen?

Wie kann ein marxistisches Verständnis von Geschlecht aussehen?

Aus unserer Sicht besteht das Geschlecht aus drei Bestandteilen: Zunächst der biologische Körper (engl. sex), der einfach erstmal existiert und mit Eigenschaften, wie schwanger werden zu können, unsere Lebensrealität prägt. Wie oben schon angemerkt, ist das biologische Geschlecht nicht binär (XX- oder XY-Chromosom), sondern bipolar, also die Veranlagungen stehen immer irgendwo zwischen diesen Kategorien. Als zweites das soziale Geschlecht (engl. gender), was die Rollenverteilung ist, in die uns die Gesellschaft drängt und in die wir eingeordnet werden. Die Geschlechterrollen entwickeln sich auf einer gesellschaftlichen Ebene, überspitzen biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern und naturalisieren eigentlich soziale Prägungen. Die Rollen stehen momentan vor allem unter dem Vorzeichen des Patriarchats und als Individuum kann man diese Kategorie nicht einfach auflösen. Der dritte Aspekt ist die Geschlechtsidentität, also das Bewusstsein über das Verhältnis zwischen dem biologischen und sozialen Geschlecht. Wenn diese übereinstimmen, dann spricht man von Cisidentiät, falls es abweicht, spricht man beispielsweise von Trans- oder nichtbinärer Identität. Die Geschlechtsidentität ist über das menschliche Leben fluide, geprägt von vielen Einflüssen und letztendlich weder binär noch bipolar, sondern polypolar. Alle drei Aspekte wirken aufeinander, stehen also in einem dialektischen Verhältnis zueinander und bilden miteinander das Geschlecht.

In diesem Verständnis von Geschlecht grenzen wir uns von jenen queerfeministischen Theorien ab, die annehmen, dass Geschlecht ausschließlich eine soziale Kategorie wäre, die durch Sprache und Handeln performt wird. Dabei wird davon ausgegangen, Geschlechtlichkeit würde nichts mit anatomischen Begebenheiten zu tun haben. Der Körper wäre lediglich Ausdruck einer wiederholten Inszenierung, die vollständig dekonstruiert werden könnte. Diese Praxis bietet keine politische Perspektive, denn individuelle Verhaltensänderung durch Sichtbarmachung, Bildung und Aufklärung greifen den Kapitalismus als Ursache der patriarchalen Unterdrückung nicht an.

Im Kontrast dazu bauen radikalfeministische Ansätze das Geschlecht vor allem auf körperliche Faktoren auf. Aus dieser Essentialisierung leiten sie die patriarchale Unterdrückung als naturgegeben ab – auch daraus ergibt sich keine politische Perspektive. Die Einordnung von Frauen als eigene ökonomische Klasse offenbart ein fehlgeleitetes Verständnis von Materialismus.

Soziale Ungleichheit ist nicht auf die Verschiedenheit der Körper, sondern auf die materielle Grundlage der Gesellschaftsorganisation zurückzuführen. Geschlecht ist als Dimension von Ungerechtigkeit eingelagert in kapitalistische Produktionsformen. Nachhaltige Veränderung des Bewusstseins kann demnach nur im Klassenkampf gegen den Kapitalismus erreicht werden.

Wie zeigt sich das dialektische Verhältnis im Alltag?

Die Frage, ob Eigenschaften biologisch erklärbar sind, ist schwierig, denn wir können unsere Sozialisation nicht einfach wegdenken. Wie tief diese in den Körper eingeschrieben ist, lässt sich exemplarisch an der Stimme erkennen. Häufig wird davon ausgegangen, dass Männer mit einer niedrigen und Frauen mit einer hohen Grundfrequenz sprechen. In Wahrheit gibt es einen großen Frequenzbereich, der unabhängig vom Geschlecht genutzt wird. Einerseits wird der Klang der Stimme von physiologischen Merkmalen wie der Größe des Kehlkopfes bestimmt. Andererseits spielen auch verhaltensbedingte Faktoren eine Rolle.

In Medien wird Geschlecht durch Intonation und Stimme überzeichnet. In Studien wurden Kinder gebeten, Wörter zunächst normal auszusprechen und dann so jungen/mädchenhaft wie möglich. Bei einer normalen Sprechweise gab es keine Unterschiede, diese traten erst bei der Nachahmung auf. Ungefähr ab einem Alter von 7 Jahren lernen Kinder dann unbewusst, ihre Stimme an ihr zugewiesenes Geschlecht anzupassen.

Dabei spielen dynamische soziale Faktoren eine Rolle: Eine sogenannte Knarrstimme, die mit Härte und Robustheit assoziiert wird, gilt allgemein als männliche Tendenz, wird jedoch auch von aufsteigenden, berufstätigen Frauen verwendet. Insgesamt ist die Grundfrequenz von Frauen in den westlichen Gesellschaften den letzten Jahrzehnten gesunken.

Soziale Vorstellungen sind mächtig und prägen die Erinnerungsleistung: Visuelles Wissen über das Geschlecht des_der Sprechenden spielt bei der Sprachverarbeitung eine Rolle und beeinflusst, wie wir die Stimme eines Menschen in Erinnerung behalten. Wie man an diesem Beispiel sieht, ist die Trennung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht nicht so einfach, und sowieso ist eine strikte Trennung zwischen Biologie und Sozialem immer verkürzend. Es zeigt auch, dass eine Binarität von biologischem Geschlecht nicht gegeben ist und wir uns dabei auf einem Spektrum befinden. Intergeschlechtlichkeit ist Ausdruck dessen.

Wir wollen für eine Gesellschaft eintreten, in der alle Menschen ungeachtet ihres Geschlechts gleichberechtigt und gefahrenfrei leben können. Deshalb fordern wir:

  • Das Verbot medizinisch nicht notwendiger, kosmetischer Genitaloperationen an Kindern. Geschlechtsangleichende Behandlungen nur mit Zustimmung der betroffenen Person, kostenfrei und ohne unnötigen bürokratischen Akt!

Doch formalrechtliche Verbote zu erringen, bringt wenig, wenn die praktische Wirksamkeit ausbleibt. Nur echte Akzeptanz von Intergeschlechtlichkeit kann dafür sorgen, dass das Operationsverbot kein symbolisches bleibt. Deshalb fordern wir zusätzlich:

  • Sicherstellung von aufklärungsbasierter Einwilligung, Information auch über Nichtbehandlung. Für selbstbestimmte Geschlechtsidentität, Sexualität, Fortpflanzung und Elternschaft für inter Personen!
  • Sensibilisierung und Fortbildung von Mediziner_Innen, Sicherstellung des Bewusstseins darüber, welche physischen, psychischen und sozialen Schäden nicht-indizierte kosmetische Operationen und Drüsenentfernungen zu Folge haben können. Zugleich auch Ausbau und Finanzierung von Beratungsangeboten für Eltern und Antidiskriminierungsstellen für Betroffene, unter Besteuerung der Reichen!
  • Aufarbeitung und Entschädigung vergangener Diskriminierung und Folter. Sicherstellung des Zugangs zur eigenen Krankenakte, Aufhebung der Verjährungsfristen.
  • Gegen die Pflicht, das eigene Geschlecht in offiziellen Dokumenten anzugeben. Für den Ausbau von geschlechtsneutralen Toiletten und Umkleiden im öffentlichen Raum.
  • Der Kampf für die Rechte von inter Personen muss Hand in Hand mit dem der Arbeiter_Innen gehen. Es braucht aber gleichzeitig auch den Kampf gegen jegliche LGBTIA-Feindlichkeit innerhalb der Arbeiter_Innenbewegung und das Recht auf Caucusse für Betroffene!
  • Menschen sind keine Sexobjekte! Kampf der bürgerlichen Sexualmoral, samt Binarität und Geschlechterrollen! Für die Vergesellschaftung der Hausarbeit!