Nein zum Gender-Verbot an Schulen!

von Erik Likedeeler, REVOLUTION, Fight! März 2024 (aufgrund der Gesetzesänderung in Bayern leicht angepasst am 21. März 2024 im Vergleich zur Print-Ausgabe )

Es klingt absurd, ist aber wahr: der bayerische Ministerrat und Sachsens Kultusministerium haben sich dazu entschieden, eine geschlechtergerechte Sprache in Form von Sternchen, Doppelpunkt und Binnen-I an Schulen, in Unis und an Behörden (Bayern) sowie an Schulen und deren Behörden (Sachsen) zu verbieten. Der thüringische Landtag hat beschlossen, dass Landesregierung, Ministerien, Schulen, Universitäten und der öffentliche Rundfunk nicht mehr „gendern“ dürfen. Auch in Niederösterreich haben ÖVP und FPÖ durchgesetzt, dass die Nutzung von Sternchen und Binnen-I in den Landesbehörden untersagt wird. Ein FPÖ-Sprecher betonte, es gehe darum, den „Wahnsinn des Genderns“ zu beenden. Diese Gender-Verbote stellen eine weitere Folge des gesamtgesellschaftlichen Rechtsrucks in unseren Schulen dar. Sie sind eingebettet in einen internationalen Rollback gegen die Rechte von Frauen und queeren Personen, wie die Angriffe auf das Recht auf Abtreibung in den USA oder Italien oder gesetzliche Verbote für geschlechtsangleichende Maßnahmen oder Verbote von gleichgeschlechtlichen Ehen/Partnerschaften in osteuropäischen Staaten. So haben Rechtspopulist:innen auf der ganzen Welt die sogenannte „Trans- und Gender-Lobby“ zu einem ihrer Hauptfeinde erklärt. Auch unsere Schulen werden zur Zielscheibe ihrer Angriffe. Die zunehmenden Verwerfungen der kapitalistischen Krisen machen Teile des Kleinbürgertums und deklassierter Arbeiter:innen anfällig für diese Ideologie. So sorgen Inflation, zunehmende Konkurrenz, drohender Arbeitsplatzverlust und Sozialabbau dafür, dass viele Cis-Männer ihre zugewiesene Rolle des heldenhaften und starken Ernährers nicht mehr erfüllen können. Die Angst vor dem männlichen Macht- und Identitätsverlust wird zu einem rechten Kulturkampf umgeformt. Die Rückkehr zu konservativen Wertvorstellungen, zu einer Welt, in der doch alles noch besser war, wird ihnen dabei als Lösung verkauft. Der Wirbel um den angeblichen „Wahnsinn des Genderns“ dient als Ablenkung vom eigentlichen sozialen Elend. Doch auch die klassenlose Individualisierung des Kampfes um symbolische Repräsentation soll uns davon abhalten, die eigenen Klassenunterdrückungen zu erkennen. 

Den Rechtspopulist:innen geht es also nicht um eine vermeintlich „richtige“ oder „einfachere“ Sprache. Es geht ihnen darum, Frauen und Queers unsichtbarer zu machen und zurückzudrängen. Dabei greifen sie tief in die Mottenkiste der homophoben und sexistischen Vorurteile, indem sie ihre Gender-Verbote damit begründen, dass es angeblich die Kinder verwirre oder in ihrer Entwicklung beeinträchtige. Unter dem Schlagwort „Frühsexualisierung“ wird nicht nur Jagd auf Gender-Sternchen, sondern auch auf die gleichberechtigte Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungsmodelle im Unterricht gemacht. Die angeblichen Interessen der Schüler:innen werden hier argumentativ ins Feld geführt, ohne dass überhaupt die Schüler:innen gefragt wurden. Für den Kampf in der Schule bedeutet dies, dass wir uns nicht auf die Bildungsministerien verlassen können. Jede Errungenschaft kann scheinbar mit einem Regierungswechsel wieder zunichte gemacht werden. Schüler:innen müssen also selbst die Frage der Kontrolle über Lehrpläne und Verhaltensregeln in den Schulen stellen, um das Vordringen rechter und queerfeindlicher Ideologie in unsere Schulen zu stoppen. Was wir für eine gerechte und inklusive Bildung wirklich brauchen, sind Lehrpläne unter demokratischer Kontrolle von Organisationen der Arbeiter:innenklasse sowie Lehrer:innen und Schüler:innen. Selbige müssen selbstverwaltete Antidiskriminierungsstellen an den Schulen erkämpfen, um den Schutz von Mädchen, Frauen und queeren Personen an den Schulen zu garantieren. Es ist nicht das Gendern, was Schüler:innen Probleme bereitet, sondern es ist ein kaputtgespartes Bildungssystem, Lehrer:innenmangel und steigender Leistungsdruck. Doch die bayerische Regierung, das sächsische Bildungsministerium oder die FPÖ denken nicht einmal im Traum daran, an dieser Bildungsmisere etwas zu verändern. Dieser Umstand entlarvt nur noch mehr, dass es ihnen lediglich um den Kampf um ideologische Vorherrschaft und das Zurückdrängen von Frauen und LGBTIA geht. Doch auch Sachsens Lehrerverband (nicht jedoch die Gewerkschaft GEW!) sieht positiv, dass das Gender-Verbot „Klarheit“ und „Barrierefreiheit“ bringen würde. Der Sprecher der FPÖ führte sogar die „Integration“ von Migrant:innen als Grund dafür an, wieso die Partei es bei „einfachen und verständlichen“ Sprachregeln belassen will.

In sprachwissenschaftlichen Studien konnte das Argument jedoch widerlegt werden, dass Gendern für das Gehirn mühsam wäre oder zusätzlichen Aufwand bedeuten würde. Anders als häufig angenommen führen geschlechtergerechte Formulierungen nicht zu langsamerer Verarbeitung, schwächerer Erinnerungsleistung oder schlechterer Lesbarkeit. Das Maskulinum hingegen führt durchaus zu Zögern bei der Verarbeitung und langsamer Reaktion, sobald es geschlechtsübergreifend gemeint ist.

Gleichzeitig sollten wir auch als Linke nicht der Illusion verfallen, dass ein bloßes Ändern unserer Sprache automatisch zu einer tatsächlichen Überwindung gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse führt. Selbst, wenn nun mehr Leute geschlechtergerechte Sprache benutzen, ändert dies leider wenig am Gender-Pay-Gap oder an der Tatsache, dass Frauen immer noch einen Großteil der Haus- und Care-Arbeit leisten.

Anstatt jedoch wie manche Linke den “Kampf um eine inklusive Sprache” abzulehnen, sollten wir diesen viel eher in den Klassenkampf einbinden. Denn in Begriffen stecken implizite Sichtweisen und Wertungen, die beeinflussen können, wie wir bestimmte Gruppen und Ereignisse betrachten. Im besten Fall kann das Verwenden einer bestimmten Sprache unsere Sichtweisen einer breiteren Masse leichter zugänglich machen. Zudem vermittelt inklusive Sprache zusätzlich diskriminierten Personen, dass wir ihre Unterdrückung anerkennen und unsere Befreiungsbewegungen zusammendenken. In diesem Sinne dürfen wir uns keinesfalls der rechten Verbotskultur beugen, sondern müssen dem Gender-Verbot den Kampf ansagen! Denn das, was der bürgerliche Staat als Vertreter des Kapitals am meisten zu fürchten hat, ist eine Arbeiter:innenklasse und Jugend, die sich ihrer gemeinsamen Interessen bewusst ist und gegen die wahren Ursachen ihres Elends ankämpft.

Seid ihr an eurer Schule davon betroffen? Organisiert euch gegen das Verbot und werdet an eurer Schule aktiv! Wir unterstützen euch gerne, auch bei allen anderen politischen Fragen an der Schule!




Gefangen im Schatten der Unterdrückung: Patriarchale Gewalt an Dalit-Frauen in Indien

von Night Ophelia, REVOLUTION, FIGHT! März 2024

Die Situation von Frauen in Indien ist alles andere als homogen. Ihre Realität wird von Faktoren wie gesellschaftlicher Herkunft, Klassen- und Kastenzugehörigkeit, Nationalität und Religion geprägt. Ein kritischer Blick offenbart, dass insbesondere Dalit-Frauen, Angehörige der untersten Kaste, einer besonders unsicheren Lage ausgesetzt sind.

Allgemeines zum Kastenwesen

Das indische Kastensystem ist ein soziales Hierarchiesystem, das die Gesellschaft in verschiedene Gruppen oder Kasten einteilt, basierend auf Beruf und sozialer Stellung. Der Begriffe Kaste selbst stammt ursprünglich aus dem Portugiesischen und überlappt sich nur teilweise mit den indischen Begriffen jati (Gattung, Wurzel) und varna (Farbe), was der Einteilung in vier große Kasten am nächsten kommt: Brahmanen (traditionell intellektuelle Elite, Priester:innen), Kshatriyas (traditionell Krieger:innen, höhere Beamt:innen), Vaishyas (traditionell Händler:innen, Kaufleute, Grundbesitzer:innen, Landwirt:innen) und Shudras (traditionell Handwerker:innen, Pachtbauern/-bäuerinnen, Tagelöhner:innen).

Darunter stehen die Dalits und Adivasi (Indigene). Dazu ist zu sagen, dass die jeweiligen Kasten sich auch noch mal in Subkasten teilen können und das Kastensystem bereits jahrtausende vor der Kolonialisierung zurückreicht. Die Einteilung der Gesellschaft in Kasten entspricht historisch einer Produktionsweise, die selbst auf Gemeineigentum an Produktionsmitteln, einer relativ statischen Arbeitsteilung unter den Gemeindemitgliedern, die Agrikultur und Manufaktur verbindet, sowie einem zentralisierten Staatsapparat, der Beamte, Heer und allgemeine Infrastruktur zur Verfügung stellt, fußt.

Durch die Kolonisierung seitens der Brit:innen wird das Kastensystem keineswegs abgeschafft, sondern vielmehr für die Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse umgewandelt, in gewisser Weise noch prägender. Während der Kastenwesen in der vorkapitalistischen Gesellschaft, die von Marx an mehreren Stellen als „asiatische Produktionsweise“ charakterisiert wurde, Ausdruck eine Gesellschaftsformation war, die auf dem Gemeineigentum an Grund und Boden basierte, so wurde das Kastensystem mit der Kolonisierung, mit der ökonomischen und gewaltsamen Zerstörung der traditionellen Dorfgemeinschaften zu einem Mittel, die privilegierte Rolle der nun mit der kolonialen Herrschaft verbundenen Eliten und das Privateigentum an Grund und Boden (wie an allen andere wichtigen Produktionsmitteln) zu legitimieren.

Vereinfacht gesagt sichert das Kastenwesen die Klassenverhältnisse, erschwert bis verunmöglicht sozialen Aufstieg und verfestigt somit die Spaltung der Gesellschaft wie auch innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen. Klasse und Kaste sind miteinander verwoben, jedoch nicht als Synonym zu verwenden, da  die kapitalistische Produktionsweise selbst Druck auf das Kastenwesen ausübt und es formt.

Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass in Indien Diskriminierung aufgrund der Kastenherkunft zwar formal verboten ist (Artikel 15 der indischen Verfassung oder bswp. Scheduled Castes and Scheduled Tribes [Prevention of Atrocities] Act). In Wirklichkeit verhindert aber ungleiche Kastenherkunft oft Heiraten und bestimmt generell Bildungschancen, Gesundheitsversorgung sowie rechtlichen Schutz.  Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Situation von Dalit-Frauen, auch als „Unberührbare“ bekannt, näher anschaut. Sie stehen am untersten Ende dieser Hierarchie und wurden historisch marginalisiert und diskriminiert.

Wer sind Dalit-Frauen?

Laut Zensus (Volkszählung) des indischen Staates von 2011 machen Dalits 16,6 % der indischen Bevölkerung aus, also rund 240 Millionen. Diese sind vor allem in den Bundesstaaten Uttar Pradesh (21 %), Westbengalen (11 %), Bihar (8 %) und Tamil Nadu (früher: Madras; 7 %) konzentriert und machen dort zusammen fast die Hälfte der Dalit-Bevölkerung des Landes aus. Gleichzeitig leben sie auch häufig in ländlichen Regionen und sind deswegen infrastrukturell schlechter angebunden.

Rund die Hälfte der Dalitbevölkerung sind Frauen und auch wenn sich die Diskriminierung auf beide Geschlechter erstreckt, sind diese doppelter Benachteiligung ausgesetzt. Die Verbindung zwischen dem Kastensystem und Patriarchat zeigt sich durch die Kontrolle über die weibliche Sexualität. Das Kastensystem wird durch die Einschränkung der sexuellen Autonomie von Frauen aufrechterhalten. Dies führt zu einem Klima, in dem sexuelle Gewalt und Vergewaltigung als Mittel der Unterdrückung und Machtausübung eingesetzt werden. Diese Gewaltakte dienen nicht nur der physischen, sondern auch der symbolischen Kontrolle, um die soziale Hierarchie aufrechtzuerhalten. Der Widerstand gegen diese Unterdrückung nimmt zu, da Dalit-Frauen und ihre Gemeinschaften für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung kämpfen. Doch bevor wir dazu kommen, ein paar Fakten.

Ökonomische Lage

Das Kastenwesen im Kapitalismus hat eine gesellschaftliche Arbeitsteilung manifestiert, die die unterste Kaste als landlos zurücklässt. So arbeitet der Großteil im informellen Sektor und Dalits sowie Adivasi stellen landesweit den größten Anteil an temporären Arbeitsmigrant:innen dar. Obwohl sie nur 25 % der Bevölkerung ausmachen, stellen sie offiziellen Schätzungen zufolge mehr als 40 % der saisonalen Migrant:innen. Praktisch arbeiten sie in der Landwirtschaft sowie im Baugewerbe und werden häufig in den gefährlichsten, anstrengendsten und umweltschädlichsten Bereichen der Wirtschaft eingesetzt. Auch Anstellung in Bereichen wie der Abwasserreinigung sind nicht untypisch,  die vor allem für den Status der „Unreinheit“ gesorgt haben, da diese von den oberen Kaste als entwürdigend angesehen wurden. Insbesondere diese Arbeit, die zwar gesetzlich verboten wurde, wird heute mehrheitlich von Frauen verrichtet und sorgt dafür, dass sie weniger verdienen als Männer.

Durch die strukturelle Einstellung in schlechter bezahlte, prekäre Jobs kommt es zu größeren Einkommensunterschieden zwischen den Kasten. Zwar hat sich das in den vergangenen Jahren geringfügig verbessert – an der generellen Ungleichheit ändert das jedoch wenig. Für Frauen kommt noch der Gender Pay Gap hinzu, der dafür sorgt, dass sie im gleichen Beruf weniger verdienen.

Ebenso problematisch ist Schuldknechtschaft, die nicht anderes ist als Zwangsarbeit oder moderne  Sklaverei. So können jüngere Mädchen beispielsweise – um Kosten für die Mitgift zu bezahlen – in Spinnereien angeworben werden. Die Eltern warten oft mehrere Jahre, bevor sie das Geld erhalten, das in der Regel niedriger ist als ursprünglich vereinbart. Aber auch die Vererbung von Schulden über Generationen  ist möglich.

Grundsätzlich dient das Kastenwesen dazu, einen segregierten Arbeitsmarkt zu verfestigen und reproduzieren, auf dem die Dalits einen Kern einer permanent überausgebeuteten Arbeiter:innenschaft darstellen, die strukturell gezwungen ist, in ihrer großen Mehrheit unter den Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft zu leben. Allein schon deshalb bildet das Kastensystem keineswegs einen „Überrest“ der Vergangenheit, sondern vielmehr einen integralen Bestandteil des indischen Kapitalismus.

Bildung

Eine Analyse der ILO auf Basis der Daten der Nationalen Stichprobenerhebung

(NSS) deutet darauf hin, dass der Bildungsstand unter Dalits zugenommen hat, jedoch nicht in demselben Tempo wie bei den oberen Kasten. Während in den zwei Jahrzehnten nach 1983 Dalit-Männer eine Verbesserung von 39 Prozentpunkten (56 Prozentpunkte bei anderer Kastenzugehörigkeit) des Bildungsniveaus nach der Grundschule erreichten, sind es bei Dalit-Frauen nur 21 (38 Prozentpunkte bei Angehörigen der oberen Kaste). Ebenso ist die Abbruchquote innerhalb des Grundschulzeitraums hoch. Laut einer Analyse des IndiaGoverns Research Institute machten Dalits im Zeitraum 2012 – 2014 fast die Hälfte der Grundschulabbrecher:innen in Karnataka (früher: Mysore) aus. Das liegt jedoch nicht nur an der Diskriminierung, die während des Schulalltags passiert. Eine 2014 von ActionAid finanzierte Stichprobenerhebung ergab, dass von den staatlichen Schulen in Madhya Pradesh 88 Prozent Dalit-Kinder diskriminieren: So war es in 79 % der untersuchten Schulen Dalit-Kindern verboten, das Mittagessen anzurühren, und in 35 % befohlen, beim Mittagessen getrennt sitzen.

Der Hauptgrund dafür ist, dass die Einkommen der Familien nicht ausreichen, um diese zu ernähren und Kinder somit gezwungen werden, zu arbeiten, was wiederum schlechtere Anstellungsverhältnisse begünstigt.

Gewalt

Während Gewalt gegenüber Frauen ein Klassen (und Kasten) übergreifendes Problem und kastenbasierte Gewalt ebenfalls Alltag sind, wird hier das Ausmaß der gesellschaftlichen Stellung von Dalit Frauen sichtbar. Eine dreijährige Studie über die Erfahrungen von 500 Dalit-Frauen mit Gewalt in vier indischen Bundesstaaten zeigt, dass die Mehrheit mindestens eine der folgenden Erfahrungen gemeldet hat:

– verbale Gewalt (62,4 %),

– körperliche Übergriffe (54,8 %),

– sexuelle Belästigung und Übergriffe (46,8 %),

– häusliche Gewalt (43,0 %),

– Vergewaltigung (23,2 %).

Ebenso werden nach Angaben des National Crime Records Bureau jeden Tag mehr als vier Dalit-Frauen vergewaltigt. Die Dunkelziffer ist jedoch viel höher, da viele solcher Verbrechen nicht gemeldet werden aufgrund Angst vor Gewalt und Einschüchterung sowie Tatenlosigkeit der Polizei und Gerichte. Die mangelnde Erfassung solcher Daten ist dabei ein großes Problem. Zwar gibt es lokale Statistiken, die aufzeigen, dass Sexualstraftaten mehr geahndet und verurteilt werden, wenn die Betroffenen höheren Kasten angehören, das Ausmaß lässt sich aber nur vermuten. Gleiches gilt für Zwangsheiraten sowie verbindliche Aussagen, wie viele Frauen als Devadasis (Prostituierte; ursprünglich bezeichnete der Begriff Tempeltänzerinnen; d. Red.) arbeiten müssen. Ein Bericht von Sampark (niederländische Stiftung für Bildungsfragen; d. Red.) aus dem Jahr 2015 an die ILO stellt fest, dass 85 % der befragten Devadasis aus Dalit-Gemeinschaften stammen. Wie viele es jedoch an sich gibt, ist unklar aufgrund der Weigerung mancher Bundesstaaten, zuverlässige Daten zu erfassen.

Widerstand

Der Widerstand gegen das Kastensystem an sich existiert schon lange. So engagierten sich in den 1920er Jahren beispielsweise Dalit-Frauen in Bewegungen gegen Kasten und Unberührbarkeit, in den 1930er Jahren in der Non-Brahman-Bewegung und haben dafür gekämpft, dass die eigenen Forderungen auch in der Frauenbewegung Indiens aufgenommen werden, was seit den 1970er Jahren auch Wirkung zeigt. Während der Widerstand gegen die gesellschaftliche Unterdrückung von Dalits in Indien zunehmend an Bedeutung gewinnt, steigt jedoch auch die Gewalt gegen diese, vor allem durch Unterstützer:innen der BJP und faschistische Kräfte. Nach besonders schockierenden Vorfällen von Gewalt, Femiziden oder Sexualstraftaten finden dabei regelmäßig Protestbewegungen statt wie im Fall von Manisha. Sie wurde am 14. September 2020 von vier Männern vergewaltigt, ihre Zunge durchgeschnitten und Wirbelsäule gebrochen, sodass sie nach 15 Tagen ihren Verletzungen erlag. Solche Taten sind keine Einzelfälle und führen regelmäßig zu Mobilisierungen und Aufschrei, gegen die anhaltende Gewalt und Unterdrückung vorzugehen. Auch am 4. Dezember 2023 gab es in Jantar Mantar einen größeren Protest, bei dem verschiedene Organisation für die Rechte von Dalits auf die Straße gingen. Ihre Forderungen waren mitunter: Schutz der bestehenden Wohlfahrtsprogramme für Dalits, Anerkennung von Dalit-Siedlungen, indem Eigentumsrechte eingeräumt werden. Landlose sollten für Wohngrundstücke identifiziert und der Besitz sollte für ihre Erben gesichert werden. Ferner wurde die sofortige Umsetzung des Gesetzes zur Abschaffung der Schuldknechtschaft (Bonded Labor Abolition System Act, 1976). 

Was tun?

Die Realität zeigt: Formale Gleichheit auf dem Papier ist zwar ein wichtiger Schritt, reicht aber lange nicht aus, um diese auch in der Praxis umzusetzen. Dabei muss auch klar sein, dass der Kampf gegen den Chauvinismus, den das Kastensystem mit sich bringt, notwendig ist. Schulungen und Aufklärungskampagnen alleine werden jedoch nichts verändern.

Aufgabe muss sein, das Kastenwesen zu zerschlagen und mit ihm die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die es aufrechterhält. Große Worte, die in der Praxis bedeuten, für ein Sozialversicherungssystem, kollektive Organisation der Reproduktionsarbeit sowie ein Mindesteinkommen, gekoppelt an die Inflation, für alle zu kämpfen. Verbunden werden müssen diese Forderungen mit dem Kampf um ein Programm gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle, finanziert aus den Profiten der Unternehmen, um für alle freie, kostenlos zugängliche Bildungs-, Gesundheits- und Altenvorsorge zu gewährleisten.

Denn nur wenn die grundlegende Lebensabsicherung für alle gegeben ist, kann die Ungleichheit anfangen zu verschwinden. Dies umzusetzen, ist jedoch einfacher geschrieben als getan. Zum einen kann das Vertrauen, wenn es darum geht, solche Maßnahmen umzusetzen, nicht bei Regierung und Staat liegen. Vielmehr braucht es Komitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die die Umsetzung kontrollieren. Dabei muss durch eine Quotierung sichergestellt werden, dass auch aus den untersten Schichten Repräsentant:innen sicher vertreten sind.

Zum anderen sorgt Indiens Stellung auf dem Weltmarkt für die massive Überausbeutung großer Teile der Bevölkerung. Um die Kosten der Ausweitung der Sozialversicherung und die Abschaffung des informellen Sektors zu tragen, muss man mit der Politik, die die Überausbeutung schützt, brechen. Das heißt: Schluss mit der Politik für die Interessen von Weltbank, Währungsfonds, USA, Japan und EU! Schuss aber auch mit einer Politik, die die indischen Großkapitale und Monopole fördert! Ansonsten wird es nie möglich sein, fundamentale Verbesserung für die Mehrheit der Bevölkerung einzuführen.

Kurzum: Der Kampf für konkrete Reformen muss mit dem gegen Kapitalismus und Imperialismus verbunden werden. Um die Umsetzung sicherzustellen, braucht es Selbstverteidigungskomitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die sich gegen die Angriffe von jenen wehren, die das System der Unterdrückung aufrechterhalten wollen.

Der Kampf für die Verbesserung der Situation von Dalit-Frauen ist darin unmittelbar eingebunden. Er bedeutet, für jene Forderungen zu mobilisieren, aktiv zu kämpfen und den Protest zu nutzen, um seitens der Gewerkschaften für organisierte Kampagnen in Stadtvierteln und Dörfern einzutreten, die über den Chauvinismus, der mit dem Kastensystem einhergeht, sowie Sexismus aufklären.

  • Für regelmäßige statistische Erhebungen über die Auswirkungen des Kastenwesens, Geschlecht, sowie Religion auf Beschäftigung und Lebensqualität – kontrolliert durch Gewerkschaften und Ausschüsse der Dalit!
  • Weg mit dem informellen Sektor! Für die flächendeckende Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Berufen!
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit: Weg mit dem Gender Pay Gap, Einführung eines Mindestlohns sowie Mindesteinkommen, das automatisch an die Preissteigerung angepasst wird!
  • Schluss mit Chauvinismus: Zerschlagung des Kastensystems, Kampf dem Hinduchauvisismus und Sexismus, für Aufklärungskampagnen seitens der Gewerkschaften in den Wohnvierteln und Dörfern!
  • Kampf gegen die Reproduktion des Kastensystems in der Linken und den Gewerkschaften, Recht auf gesonderte Treffen von Dalit und Frauen!
  • Kein Vertrauen in die Polizei: Für demokratisch gewählte sowie organisierte  Selbstverteidigungskomitees sowie Meldestellen für Diskriminierung von Organisationen der Arbeiter:innenbewegung!
  • Nein zur Doppelbelastung: Für die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle!

Ein solches Programm, das wir hier nur knapp skizzieren können, ist unvereinbar nicht nur mit der Herrschaft der hinduchauvinistischen BJP, sondern mit dem indischen Kapitalismus selbst. Es muss daher im Rahmen eines Programms der permanenten Revolution mit dem Kampf um die Enteignung des indischen und imperialistischen Großkapitals und die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden werden. Dazu braucht es den revolutionären Sturz der bürgerlichen Herrschaft in Indien und die Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte stützt.




Der Tradwives-Trend: Hausfrauenromantik und die Rechten

Von Isma Johnson, Revolution, FIGHT! März 2024

Habt ihr schon mal auf TikTok oder Instagram ein Video von jungen Frauen gesehen, die ganz ästhetisch Haushaltstätigkeiten wie Kochen, Putzen oder Kinderbetreuung nachgehen? So kommen viele Menschen, vor allem junge Frauen, das erste Mal mit „Tradwives“ in Kontakt. „Tradwives“ ist die Kurzform für „traditional wives“ und diese „traditionellen Frauen“ wollen den überholten Rollenbildern für Hausfrauen der 1950er Jahre nacheifern. Manche von ihnen tragen auch gleich die Mode dieser Zeit mit Petticoatkleidern und Lockenwicklerfrisuren. Andere orientieren sich eher am Landleben (oder daran, was sie sich darunter vorstellen, Stichwort: die Internetästhetik Cottagecore). Viele von ihnen behaupten, es ginge ihnen nur darum, zu Hause zu bleiben und nicht arbeiten gehen zu müssen, für ihren Mann und ihre Kinder zu sorgen und ihren Lebensstil nach außen zu tragen. Aber neben Kochvideos, Babyinhalten und ästhetischen Bildern tauchen etwa bei Estee Williams, einer Tradwife mit über 140 Tausend Follower:innen auf TikTok, Videos mit ganz anderen Inhalten auf. So erzählt sie ihren Follower:innen z. B.: „Gott erschuf zwei Geschlechter zu unterschiedlichen Zwecken“ und „Die Frau, die Ehefrau ist eine Hausfrau“, erklärt, wie sie den richtigen maskulinen Mann anziehen können, und fordert sie auf, sich ihm nach den Prinzipien der Bibel zu unterwerfen.

Warum sind Tradwives so gefährlich?

Tradwives definieren sich aber nicht nur über die Rolle als Hausfrau. Auch wenn sie diese Tätigkeit ausüben, macht eines sie viel mehr aus: warum sie das tut. Denn hinter der harmlos erscheinenden, ultrafemininen Ästhetik steckt meist, wie bei Williams, die Vorstellung, dass Frauen sich selbst hintanstellen und ihrem Mann unterwerfen sollten. Manche Tradwives distanzieren sich zwar ausdrücklich vom ultrarechten Teil der Bewegung und hängen verschiedenen (konservativen) Ideologien an, aber immer beruhen diese darauf, Geschlechterrollen zu festigen. Das zeigt sich schon darin, dass eine „traditionelle Frau“ ganz andere Aufgaben übernehmen soll als ein „traditioneller Mann“. Wie sie sich verhalten soll, ist festgeschrieben und etwas dazwischen soll es erst recht nicht geben.

Das Spektrum von Tradwifethemen beginnt bei eher konservativen Frauen, deren Fokus vor allem auf „traditionellen“ Rollen, konservativen Werten und Hausarbeit liegt, welche subtil in Vergleich zur abgelehnten modernen Welt gesetzt werden. Von da aus besteht ein fließender Übergang zu solchen mit größerem Fokus auf Tradition und Nationalismus, die offen Antifeminismus, Queerfeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus und antiwissenschaftliche Standpunkte (insbesondere gegen Impfungen) vertreten und via Social Media bewerben. Also alles, was die extreme Rechte und Verschwörungstheorien zu bieten haben, aber eben unter dem Deckmantel einer harmlosen „Stay-at-Home-Mom“. Die Hyperfeminität dient also dazu, die dahinterstehende autoritäre Ideologie zu verschleiern und so massentauglicher zu werden. Der religiöse Teil der Bewegung versucht auch, durch Bibelverse Frauen von ihrer aufgezwungenen Geschlechterrolle zu überzeugen, zum Beispiel durch Epheser 5.22: „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn.“

Auch haben die unterschiedlichen Regulationen von Plattformen eindeutig einen Einfluss auf den Inhalt der Posts. Das etwas weniger regulierte und moderierte TikTok wird beispielsweise eher genutzt, um ideologische Inhalte zu posten, wohingegen auf Instagram eher ästhetische Inhalte verbreitet werden sollen und somit auch oftmals als Startpunkt für eine Radikalisierung dienen können. Auch die sind aber keineswegs harmlos, da neben #traditionalwomen auch rechte Dogwhistles (Nutzung einer Sprache, die je nach Publikum unterschiedlich verstanden werden kann) wie #redpillwomen unter den Posts genutzt werden – ein Hashtag der auf radikalen Antifeminismus und Incels verweist und den Abstieg in die Alt-Right-Bubble bedeuten kann. Nicht zufällig ist die Tradwife-Bewegung in den USA nach den Wahlen 2016, aber auch aus der europäischen Identitären Bewegung entstanden, um das sogenannte „Frauenproblem“ zu lösen, also bewusst mehr Frauen für die männerdominierten Bewegungen anzuwerben. Dabei ist die Beteiligung von Frauen an der extremen Rechten nichts Neues. Schon der Ku-Klux-Klan der 1960er Kahre hatte eine Frauenorganisation, die Männer bei rassistischen Angriffen bis zu Vergewaltigungen und Morden unterstützte, indem die Frauen aktiv ihre Ideologie verbreiteten, neue Mitglieder anwarben und Proteste organisierten. Sie halfen auch an der Schule, beispielsweise durch Bibelkunde, ihre Ideologie bereits in der Jugend zu verbreiten, und traten im Wahlkampf für ihre Kandidat:innen ein, indem sie negative Propaganda über die Gegner:innen verbreiteten, um sie auszustechen.

Auch manche Radikalfeministinnen oder TERF’s (trans exkludierende Radikalfeminist:innen) entwickeln sich in die Richtung von „Tradwifery“, obwohl sie zunächst entgegengesetzt erscheinen. Denn Tradwives wollen sich ja eigentlich von den „Ketten“ des modernen Feminismus befreien und ihren Follower:innen erzählen, die Ablehnung von Femininität, Häuslichkeit und Familie würde sie erst so derart depressiv machen und dafür sorgen, dass sie nicht als heiratsfähig angesehen werden würden. Trotzdem sind sich die beiden Gruppen in einer Hinsicht einig: dem biologischen Essentialismus. Beide behaupten, Frauen und Männer hätten tiefer liegende Eigenschaften durch ihre Biologie oder Genitalien, feiern die Rolle der Mutter (die für sie nur Frauen einnehmen können) und lehnen Geschlechtsidentitäten ganz ab.

Warum liegen Tradwives auf einmal so im Trend?

Aber warum bekommen Tradwives überhaupt so viel Aufmerksamkeit und Zuwachs? Sie stellen eine vermeintliche Flucht aus den Tiefen des Kapitalismus dar. Wer möchte nicht dem ständigen Stress des Alltags mit Leistungsdruck am Arbeitsplatz und der gleichzeitig ständig anfallenden Haus- und  Carearbeit entfliehen? Es ist ein Fakt, dass Frauen am Arbeitsmarkt und zuhause in der Reproduktionsarbeit mehr ausgebeutet werden als Männer, da sie einerseits nach wie vor weniger verdienen und andererseits aufgrund der Geschlechterrollen den Großteil der anfallenden Reproduktionsarbeit planen und durchführen. Sie müssen also arbeiten gehen und sich und ihre Familie in der „Freizeit“ wieder arbeitstauglich machen, indem sie die Ware Arbeitskraft reproduzieren. Das schließt das Kochen, Putzen etc. mit ein, aber auch emotionale Sorgearbeit und die Reproduktion der Klasse an sich, indem neue Kinder, später dann Arbeiter:innen, herangezogen werden. Tradwives wissen, dass das schwer möglich ist und für viele eine extrem Anstrengung darstellt, die sie bis zum Burnout bringen kann. Und so behaupten sie ganz nach dem Motto „Früher war alles besser“, Frauen sollten ihre Ausbeutung verringern, indem sie die Arbeitswelt einfach wieder verlassen. Hinzu kommen die Unsicherheiten des modernen Kapitalismus, dass man vielleicht auch erstmal gar nicht weiß, wer man sein will und was man mit sich und seiner Arbeitskraft anfangen soll, also z. B. welchen Job man ausführen soll. Das ist das Dilemma der doppelt freien Lohnarbeit, welches sich mit der Ausdifferenzierung des Kapitalismus immer weiter zugespitzt hat: frei von eigenen Produktionsmitteln, aber auch in der Entscheidung, wem eigentlich die Arbeitskraft verkauft werden soll. Tradwives bieten dagegen eine feste Rolle statt dieser Unsicherheiten und stellen die traditionelle Familie als Lösung für das ganze Dilemma dar. Damit soll ein Halt in dem ganzen Chaos geboten werden.

Außerdem sollen Kinder und Jugendliche durch die mütterliche Betreuung vor „schlechtem“ Einfluss geschützt werden. Müttern, besonders in den USA, wird Angst gemacht, dass ihre Kinder in der staatlichen Schule nur etwas über „woke Ideologie“, Genderwahn und letztendlich Kommunismus lernen würden, was natürlich weit von der Wahrheit entfernt ist. Aber auch sehr reale Probleme bewegen (werdende) Mütter dazu, sich nach anderen Modellen als der staatlichen Schule und der Kita zu sehnen. In Deutschland etwa Angst vor schlechter Betreuung durch überlastete Kitas und schlechte Betreuungsschlüssel.

Hausfrau werden ist nicht die Lösung!

Aber kann das Leben als Tradwife diese Probleme wirklich lösen? Bietet die Alt-Right wirklich eine Alternative zur modernen kapitalistischen Ausbeutung an? Natürlich nicht, denn sie will den Kapitalismus nicht überwinden. Vielmehr ist die Reproduktionsarbeit, die größtenteils die Frauen der Arbeiter:innenklasse verrichten, notwendig, damit der Kapitalismus funktioniert, denn ohne sie würde sich niemand mehr regenerieren und dann arbeiten gehen können. Die traditionelle, bürgerliche Familie, die Tradwives mit aller Kraft als das ideale Leben bewerben, ist entscheidend für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft im Kapitalismus und auch in rechten Ideologien spielt sie eine Schlüsselrolle. Dort soll nämlich das „Volk“ durch Fortpflanzung in der Kleinfamilie erhalten werden, ohne dass wiederum laut Rechten die Nation untergeht. Die Alt-Right sieht Tradwives als Lösung an, da sie genau ihr essentialistisches Weltbild, ihre Vorstellung davon, was eine Frau „natürlicherweise“ ist, ausleben.

Dass das ganze Konzept einen augenscheinlichen Klassencharakter beinhaltet, dürfte klar sein. Denn welche Familie der Arbeiter:innenklasse kann sich bitte eine Frau, die gar nicht arbeiten geht, leisten? Gerade in Zeiten von Krise, Inflation und massivem Reallohnverlust ist das vor allem ein Lebensentwurf des Kleinbürger:innentums und der lohnabhängigen Mittelschichten, was sich auch in der Verbindung zu rechten Bewegungen zeigt, für die, wie im Fall des Faschsimus, das Kleinbürger:innentum die Klassenbasis darstellt. Für die unteren Klassen – vor allem in Halbkolonien – ist es eher eine Utopie, die sich im Kapitalismus nicht erfüllen lässt. Für die herrschende Klasse stellt das Ganze sowieso nichts Erstrebenswertes dar, denn die lässt die Reproduktionsarbeit sowieso von Angestellten erledigen, da für sie kein Arbeitszwang besteht und die ganze Familie von der Ausbeutung anderer lebt. Früher war das etwas anders. Da konnten auch besserverdienende Schichten der Arbeiter:innenklasse, zum Beispiel die Arbeiter:innenaristokratie, in den imperialistischen Kernzentren und in einigen Halbkolonien ihre Familie mit ernähren, ohne dass die Frau selber einer Lohnarbeit nachgehen musste. Aber das ist spätestens seit Beginn der Phase des Neoliberalismus in den 1980er Jahren immer weniger möglich, da das Profitstreben des Kapitals danach verlangte, auch Frauen immer mehr in den Arbeitsmarkt zu integrieren, während gleichzeitig die Löhne immer weiter sanken. Daher ist klar, dass dass das Ideal der bürgerlichen Familie für die Arbeiter:innenklasse noch nie vollumfänglich erreichbar war, heutzutage allerdings weniger denn je. Dennoch wurde die bürgerliche Familie zur prägenden ideellen und materiellen Form und damit auch zu einem Kern reaktionärer Geschlechterrollen. Diese Verallgemeinerung basiert auf einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Und durch die Tradwive-Bewegung kann es auch hier die Auswirkung haben, dass Geschlechterrollen wieder weiter gefestigt werden, indem die Arbeiterinnen weiterhin bzw. wieder vermehrt der Reproduktionsarbeit nachgehen, während sich ihre Lohnarbeit im vermeintlich flexiblen Niedriglohnsektor ansiedelt, da sie so eben auch in der Lage sind, neben ihr auch der Reproduktionsarbeit nachgehen zu können, da sie nicht Vollzeit arbeiten.

Obwohl argumentiert wird, dass das Hausfrau-Sein an sich unproblematisch ist und erst die Ideologie von Tradwives das Problem darstellt, muss ganz klar unterstrichen werden: Eine Hausfrau ist materiell abhängig. Frauen, welche Hausfrauen werden („wollen“), indem sie gar nicht arbeiten gehen oder auf Teilzeit- bzw. Minijobbasis angestellt werden, werden nach wie vor ausgebeutet, bekommen kein oder nur viel weniger Geld und werden so um einiges abhängiger von ihren Männern. Und das geben Tradwives auch offen zu und finden das sogar super: „Er überwacht die wichtigsten Finanzen. Wenn ich Geld und Kleingeld für ein Sofa ausgeben will, sagt er ,Nein’, denn er weiß, was rein- und rausgeht“, schreibt die britische Tradwife Alena Pettitt. Aber das ist wirklich gefährlich: Aus finanziellen Gründen schon können Frauen sich hier zum Beispiel nicht mehr trennen, und ihre Männer können mehr Kontrolle über sie ausüben – ihre „frei gewählte“ Ideologie wird also durch ihre materiellen Umstände zum Zwang. Es ist auch so, dass manchen Männern das sehr deutlich bewusst ist und sie dann teilweise (körperliche) Gewalt anwenden, um zu bekommen, was sie wollen, ohne sich darüber Sorgen zu machen, dass ihre Frau sich trennen wollen könnte. Auch das Thema Altersarmut darf nicht unterschätzt werden. In Deutschland beispielsweise bekommt man erst eine gesetzliche Rente, wenn man mindestens 5 Jahre gearbeitet und Beitrag gezahlt hat. Das kann zwar durch einen Anspruch auf Mütterrente oder diverse staatliche Zuzahlungen auch erreicht werden, jedoch fällt die Altersrente dann trotzdem deutlich geringer aus als bei Männern, die Vollzeittätigkeiten nachgegangen sind. Da Frauen häufiger im Niedriglohnsektor tätig sind und oftmals nicht Vollzeit arbeiten, bekommen sie in Deutschland durchschnittlich monatlich 314 Euro weniger Rente (Stand für das Rentenjahr 2022). Doch das ist natürlich nur ein Durchschnitt, wo es auch mitunter deutliche Schwankungen gibt.

Für eine echte Perspektive gegen Frauenunterdrückung!

Der bürgerliche Feminismus kann die aufstrebende Tradwife-Bewegung jedoch nur bedingt bekämpfen und gibt ihr sogar einen gewissen Aufschwung. Er bietet nämlich keine (langfristige) Lösung gegen Ausbeutung und Reproduktionsarbeit, sondern kann diese höchstens auf mehr Menschen verteilen. Doch hier zeigen sich bereits die Grenzen der kapitalistischen Wirtschaftsweise: So leisten Frauen täglich immer noch durchschnittlich 74 Minuten mehr Hausarbeit in Deutschland als ihre Männer. Diese Messung bezieht sich jedoch nur auf ausgeführte Tätigkeiten und klammert das äußerst anstrengende Planen und Delegieren von Aufgaben aus, was auch zumeist Frauen übernehmen müssen. Hinzu kommen Reiche, die sich Angestellte holen und keinen Finger im Haushalt krümmen. Eine gerechte Aufteilung sieht wirklich anders aus. Denn selbst zu einer besseren Umschichtung von Reproduktionsarbeit ist insbesondere der liberale Feminismus überhaupt nicht in der Lage. Die Märchen des Girlboss-Feminismus und des Choice-Feminismus individualisieren die Frauenunterdrückung und zeigen als vermeintliche Lösung nur auf, dass jede sich ihren eigenen Platz im System erkämpfen solle und ihr freistünde, ob sie sich für Kinder, Küche oder Karriere (oder am besten alles zusammen) entscheidet. Auch die anderen Feminismen haben keinen Lösungsentwurf parat, da sie die Klassengesellschaft, auf der die Frauenunterdrückung basiert, nicht mit einbeziehen und das Patriarchat als etwas vom Kapitalismus bzw. der Klassengesellschaft Losgelöstes betrachten. So kommt es aber dazu, dass Arbeiterinnen und auch schon ihre Töchter sich eine Zukunft im Kapitalismus mitsamt Lohn- und Reproduktionsarbeit nicht vorstellen können und verzweifelt nach Alternativen suchen. Es ist unsere Aufgabe, ihnen eine echte Perspektive aufzuzeigen.

Dafür müssen wir das traditionelle Rollendenken hinter uns lassen, zusammen mit dem kapitalistischen System an sich. Auch einfach Lohn für Hausarbeit zu zahlen, würde das Problem nicht auflösen: Die ökonomische Abhängigkeit würde bedingt besser werden, aber die geschlechtliche Arbeitsteilung, sowie die Isolation von Frauen als Hausfrauen würden weiter bestehen bleiben. Deswegen muss unsere Lösung eine andere sein: Wir müssen die Reproduktionsarbeit auf alle Schultern der Gesellschaft aufteilen. Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass statt individuellem Essen Mensen eingerichtet werden, wo jede/r lecker und gesund essen kann, aber auch jede/r mal für die Zubereitung und das Aufräumen zuständig ist. Ähnliche Konzepte muss es dann auch für das Putzen und die Kinderbetreuung geben.

Denn nur, wenn wir das kapitalistische System überwinden und Wohnraum sowie Hausarbeit vergesellschaften, die Betriebe unter Arbeiter:innnekontrolle stellen und massiv in Bildung, Soziales und Gesundheit investieren, können wir Frauen (und letztendlich auch alle anderen Menschen) entlasten und so auch die Gesamtarbeitszeit reduzieren. Nur indem wir als Arbeiter:innenklasse und Jugend gemeinsam und demokratisch die Arbeit aufteilen und die Produktion planen und verwalten, können wir der doppelten Ausbeutung von Frauen nachhaltig entgegenwirken und strukturelle Überlastung bekämpfen. Dafür müssen wir uns an Schulen, Unis und in Betrieben organisieren und Aktionskomitees aufbauen. Auch braucht es die Bekämpfung von Vorurteilen gegenüber Frauen innerhalb der Arbeiter:innenbewegung sowie einen internationalen Zusammenschluss, der die Kämpfe koordiniert. Nur so können wir eine internationale multiethnische antikapitalistische Frauenbewegung aufbauen, die eng mit der Arbeiter:innneklasse zusammenarbeitet, welche dann gemeinsam mit allen Unterdrückten und Ausgebeuteten in der Lage ist, den Kapitalismus zu überwinden. Gleichzeitig besteht auch die Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen kommunistischen Partei und einer neuen Internationale, die die Kämpfe anführen und zuspitzen kann.

Auch Social Media – ein beispiellos falscher Begriff für die Datenkraken und Geldmaschinen im kapitalistischen Internet – müssen wir den Multimilliardär:innen und ihrem für uns schädlichen Profitinteresse entreißen und stattdessen demokratisch als Arbeiter:innen und Jugendliche überwachen und kontrollieren, damit niemand von uns mehr in eine Alt-Right-Falle tappt, nur weil wir ein Kochrezept geliket haben. Für ein sicheres Social Media für alle, statt maximalen Profiten für einige, müssen wir Konzepte entwickeln, die unseren Bedürfnissen als Gesellschaft entsprechen und ihre Rolle im Kapitalismus hinterfragen.




Rechtsruck, Krise und Lage von Frauen

von Kai Zumar, Revolution, FIGHT! März 2024

Für Linke, Frauen, queere Menschen, rassistisch Unterdrückte und andere gesellschaftlich Unterdrückte und Menschen, die in Armut leben, fängt 2024 als gut geölte Rutschbahn in die Hölle an. Der Klimawandel droht nach wie vor, unseren Planeten buchstäblich höllisch heiß zu machen. Mit der Wirtschaft geht es bergab, Rechte sind auf dem Vormarsch, und alles scheint in deprimierender Perspektivlosigkeit zu versinken. Hinzu kommen Kriege und Auseinandersetzungen weltweit. Es wird weiterhin von einem sinkenden Produktionsniveau, Stagnation und Rezession, steigender Arbeitslosigkeit und hoher Inflation in Deutschland ausgegangen. Weltweit sieht es nicht besser aus, wie auch der ökonomische Kollaps von Halbkolonien wie Sri Lanka oder Pakistan verdeutlicht.

Wirtschaftskrise

„Schlechter war die Stimmung in diesem Punkt zuletzt im Jahr der Finanzkrise 2009“, meinte der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Ende 2023. Dass direkt die Krise 2008/2009 zur Sprache kommt, ist kein Zufall. Denn die weltweite Wirtschaftskrise, die wir immer mehr beobachten können, ist direkte Folge dieser damals nicht voll aufgelösten Krise. Eine massive Blase auf den Hypotheken- und Hausmärkten war 2008 geplatzt, als sich Rückzahlungsausfälle häuften. In der Folge kam es zu einer enormen globalen Profitkrise. Doch während es üblicherweise zu einer Erholung kommen kann, wenn eine Reihe an Firmen pleitegeht und es damit zu einer Vernichtung (Außerdienststellung) von ihrem fixen Kapital (z. B. Maschinen) kommt, woraufhin der Anteil an menschlicher Arbeit in der Produktion und damit die Profitraten wieder steigen, wurde diese Entwicklung 2008/9 aufgeschoben. Erreicht wurde das durch Niedrigzinspolitik, die Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innen und internationale Koordination. Losgetreten und befeuert durch die Coronapandemie und die Energiekrise rollt die jetzige Krise als Folge dieser Politik über uns hinweg. Für Frauen hat schon die Pandemie nicht nur einen unfassbaren Anstieg an häuslicher Gewalt und ein Eingesperrtsein mit ihren Tätern, sondern auch überdurchschnittlich oft Entlassung und Prekarisierung bedeutet, was sie zusätzlich ökonomisch abhängiger macht, als sie es ohnehin oft sind. Hinzu kam dann noch eine heftige Mehrfachbelastung dadurch, dass Frauen einerseits besonders oft in „systemrelevanten“ Jobs und im Gesundheitssystem arbeiten, das ohnehin kaputtgespart ist und wo sie Ansteckung noch mehr ausgesetzt sind, und andererseits, dass durch geschlossene Kindergärten und Schulen sowie Homeoffice viel mehr Reproduktionsarbeit in den privaten Familienhaushalt und damit die Frau in eine reaktionäre Geschlechterrolle als Hausfrau gedrängt wurden. Die Rückbesinnung auf die bürgerliche Kleinfamilie wirkt sich auch durch steigende Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen aus. Viele von ihnen mussten lange Lockdowns mit queerfeindlichen und/oder gewalttätigen Familienmitgliedern verbringen und waren gezwungen, sich tief im Schrank zu verschanzen. statt frei und geoutet zu leben. Für viele trans Personen bedeutete die Krise des Gesundheitssystems noch längere Wartezeiten oder die Aussetzung von lebensrettenden Operationen und Behandlungen, während Schutz- und Therapieangebote weiterhin völlig unzureichend sind. Wie in einem Spießroutenlauf ging es nach der Zeit der Lockdowns weiter mit Inflation und einer Krise, die sowohl von ihrem Wesen her als auch in ihren Auswirkungen weitaus umfassender ist als 2008. Für Frauen, die öfter in sozialen Bereichen, anderen schlecht bezahlten Jobs und besonders in einigen Halbkolonien überdurchschnittlich oft im informellen Sektor arbeiten, macht eine Inflation von bis zu 8,8% in Deutschland 2023 und weitaus höher in anderen Teilen der Welt schnell den Unterschied zwischen gerade noch durchkommen und hungern müssen aus. Besonders, wenn man dann noch alleine Kinder großziehen muss. Auch queere Menschen, die überdurchschnittlich oft arm, arbeitslos oder wohnungslos sind, werden besonders hart von der Krise getroffen. Die Lösungsansätze von 2008 waren für Arbeiter:innen und gesellschaftlich Unterdrückte nicht viel besser. Doch sie jetzt einfach zu wiederholen, geht auch nicht. Die mitgeschleppten Probleme der letzten Krise machen das unmöglich. Die Nullzinspolitik ist erschöpft, Quantitative Easing hat zu viele Nebenwirkungen, die Kosten sind nicht komplett auf Arbeiter:innen abwälzbar und die internationale Konkurrenz, entgegenstehende Kapitalinteressen und daraus entstehende militärische Konflikte verhindern internationale Koordinierung.

Geopolitische Lage

Solche politischen, wirtschaftlichen und militärischen Konflikte können wir gerade in großem Ausmaß an vielen Stellen beobachten – seien es der Handelskrieg zwischen China und den USA, der Genozid gegen die Palästinenser:innen oder der immer noch andauernde Ukrainekrieg. Als Folge von unsicheren Produktions- und Handelsketten durch die Pandemie und die globale Rezession verlagern die imperialistischen Zentren wichtige Industrien des nationalen Kapitals immer mehr in ihre eigenen Einflusszonen zurück und betreiben so eine Politik des „Reshoring“. Das sehen wir beispielsweise an der Wiedereinführung von Zollschranken oder den Versuchen Chinas, eigene Alternativen zu dem internationalen Zahlungssystem SWIFT zu etablieren. Dieses Reshoring äußert sich auch in vermehrter imperialistischer Blockbildung. In einer Welt, in der jede Ressource und jedes Fleckchen schon von irgendwem/r kontrolliert wird, versuchen einzelne Kapitalfraktionen verzweifelt, während der Rezession ihren Einfluss zu behalten oder auszuweiten, um sich ihren Platz in der internationalen Konkurrenz zu sichern. Zunehmend nimmt dieser Kampf um die Neuaufteilung der Welt militärische Formen an. Doch viele dieser Kriege sind geopolitische Konflikte von Imperialist:innen, bei denen für Arbeiter:innen nie was drin ist. Von welchem Imperialismus sie unterdrückt und ausgebeutet werden, macht kaum einen Unterschied. Für sie bedeutet Krieg die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage, oft Nahrungsmittelknappheit, noch mehr Ausbeutung und, sich für fremde Interessen erschießen zu lassen. Doch auf Frauen und queere Menschen haben auch Krieg und Flucht oft noch extremere Auswirkungen. Darum gilt es, besonders Kämpfe gegen nationale Unterdrückung wie in Kurdistan oder Palästina zu antiimperialistischen, revolutionären Befreiungskämpfen auszuweiten, in denen Frauen eine führende Rolle für ihre eigene Befreiung einnehmen. Neben einer allgemeinen Verschlechterung der Lebensbedingungen kommt es in Kriegssituationen oft zu einem enormen Anstieg an Gewalt gegen Frauen und queere Menschen. Besonders Vergewaltigungen als massenhaft angewendete, verbrecherische Kriegstaktik, um einer ganzen Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe nachhaltig zu schaden, kommt fern von jeden Beteuerungen über Menschenrechte und Schutz der Zivilbevölkerung oft vor (z. B. Ruanda 1994, Nanking 1937, Bosnien und Herzegowina 1992 – 1995). Konsequenzen hat das für die meisten Täter nicht, obwohl die UNO (erst) 2008 in einer Resolution zu einem sofortigen Stopp von sexueller Gewalt in der Kriegsführung aufrief. In dem UNO-Bericht dazu von 2023 wurde festgehalten, dass diese Verbrechen weiter eine relevante Rolle in der Kriegsführung spielen, im Kontext sich zuspitzender Konflikte sogar zugenommen haben, sie weiterhin auch von UNO-Soldat:innen ausgeübt werden und nach wie vor die meisten Taten unbestraft bleiben. Noch extremer als während Corona trifft auch der Zusammenbruch des Gesundheitswesens im Krieg Frauen und LGBTQ+-Menschen besonders stark, nicht nur weil sie häufig in diesem Bereich arbeiten. Oft gehen die Zahlen von Geburtensterblichkeit drastisch in die Höhe. Dazu kommt, dass eine Frühwitwenschaft durch Krieg die ohnehin bestehende Altersarmut von Frauen verstärkt. Auch werden im Krieg oft Kinderbetreuung, Bildung oder Sozialdienste ausgesetzt, wodurch Frauen mit noch mehr unbezahlter Reproduktionsarbeit zurückgelassen werden als sonst. Doch nicht nur die zuhause Gebliebenen haben es schwer, auch auf der Flucht zeigt sich sexuelle Unterdrückung gegen Frauen und queere Menschen. Etwa die Hälfte der über 27 Mio. Menschen, die gerade auf der Flucht sind, sind Frauen. Auch hier erfahren sie häufig sexuelle Gewalt und tragen Verantwortung für Kinder und Familien. Auch queere Menschen erfahren oft Gewalt auf der Flucht. Die auch nur unzureichenden Schutzversuche der UNO für geflüchtete Frauen wie die Einrichtung von geschlechtergetrennten Sanitäranlagen bieten diesen Land erreichen, werden Verfolgungen aufgrund sexueller Orientierung oder des Geschlechts oft de facto nicht anerkannt. Rechtsruck Doch auch abgesehen von spezifischer Unterdrückung wird die Situation für Geflüchtete ja immer schlechter. Die AfD in Deutschland würde am liebsten wieder die Rassentheorie auspacken und nicht nur Geflüchtete, sondern gerne gleich alle, die kein „reines, deutsches Blut“ haben, abschieben. Schweden erlässt ein Gesetz, nach dem alle im sozialen Bereich Arbeitenden gezwungen sind, Menschen ohne Papiere, die ihre Hilfe aufsuchen, an den Staat zu melden. Die EU schafft fröhlich das Asylrecht nach und nach ab und verweigert Geflüchteten Grundrechte. Es scheint, als gäbe es keine Ecke mehr auf der Welt, aus der nicht Meldungen über neue rechte Regierungen oder rassistische Gesetzgebungen kommen. Analog zu der Wirtschaftspolitik des Reshorings und der Blockbildung greift auf ideologischer Ebene eine neue Welle des Nationalismus um sich. Wir erleben eine allgemeine Entwicklung nach rechts, die sich aus der Schwäche der Linken und der Wirtschaftskrise speist. Die Krise führt zu Abstiegsängsten beim Kleinbürger:innentum und zur Prekarisierung vieler Arbeiter:innen. Mangels irgendeiner fortschrittlichen Perspektive wenden sie sich zum Teil an Rechte, die versprechen, das Gefühl, es gäbe zu wenig, damit zu beantworten, dass halt noch weniger geteilt wird (was faktisch Rassismus und Umverteilung nach oben bedeutet). Auch das binnenmarktorientierte Kapital wendet sich den Rechten zu, die ihre Interessen viel eher vertreten als die der Kleinbürger:innen oder gar Arbeiter:innen. Es ist also kein Zufall, dass AfD, Sverigedemokraterna (rechte Regierungspartei in Schweden) oder die Fratelli d’Italia gerade jetzt so stark sind. Und es ist auch kein Zufall, dass die Rechten in Italien Mussolinis alte Parole „Dio, patria, famiglia“ (Gott, Vaterland, Familie) wieder aufwerfen oder die AfD dafür ist, dass Kinder die ersten drei Jahre zu Hause von der Mutter betreut werden, während sie gleichgeschlechtlichen Paaren gerne Kinderkriegen und Heiraten verbieten würde.

Reproduktionsarbeit

Es ist kein Wunder, dass Krise und Rechtruck mit einer Rückbesinnung auf die bürgerliche Kleinfamilie und damit Angriffen auf die Rechte von queeren Menschen (siehe Transfeindlichkeit, besonders in den USA, Russland, Großbritannien …) und von Frauen (z. B. Kürzungen von Geldern für Frauenhäuser, Abtreibungsrecht) einhergehen. Denn die bürgerliche Kleinfamilie ist der Ort, an dem im Kapitalismus die Arbeitskraft reproduziert wird. Wer morgens brav zur Arbeit erscheinen soll, wurde irgendwann geboren, erzogen und hat Bildung erfahren, braucht einen vollen Magen, eine saubere Wohnung, in der sie/er leben und schlafen kann, gewaschene Klamotten etc. Und wer putzt die Wohnung, erzieht die Kinder, kocht Essen, geht einkaufen, wäscht Geschirr und Kleidung? Frauen wenden im Durchschnitt in Deutschland 52,4 % mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf (bei 34-Jährigen sind es sogar 110,6 %). Ganz schön praktisch für die Kapitalist:innen, die dadurch nicht für die Reproduktionsarbeit verantwortlich sind und mehr Profite machen können. Ideologien wie die Erzählung von der perfekten Hausfrau und dem umsorgenden weiblichen Wesen halten diese Arbeitsteilung (bzw. Mehrarbeit der Frauen) genauso aufrecht wie Regelungen wie z. B. die Bedarfsgemeinschaft für den Empfang von Sozialleistungen oder Ehegattensplitting. Und besonders in einer Krise gilt es für die Kapitalist:innen, Arbeitskraft so billig wie möglich, bestenfalls kostenlos zu mobilisieren. Sexistische Erzählungen kommen darum in Krisenzeiten oft mehr auf und rechtfertigen die unbezahlte Hausarbeit und das Abschieben von Frauen in prekäre Arbeitsverhältnisse. In Deutschland arbeitet momentan fast die Hälfte aller Frauen in Teilzeit (bei Männern sind es 12,7 %). In den fünf schlechtest bezahlenden Branchen arbeiten auch überdurchschnittlich viele Frauen, beispielsweise im Lebensmitteleinzelhandel mit über 80 %. Von ihnen wird erwartet, dass sie den Haushalt schmeißen, während sie gleichzeitig der Lohnarbeit nachgehen müssen, um sich über Wasser zu halten. Die Familie als ökonomische Instanz wird so immer unattraktiver. Das möchten die Rechten gerne ändern. Allerdings nicht, indem sie Hausarbeit vergesellschaften und damit Frauen von dieser Doppelbelastung befreien. Außerdem sollen alle staatlichen Unterstützungen bitte nur für „klassische“ Familienmodelle (á la eine deutsche Mutter, ein deutscher Vater und deren leibliche Kinder) zur Verfügung stehen. Doch dieses Beharren auf sexistischen Erzählungen und der bürgerlichen Kleinfamilie, in der die Frau abhängig vom Mann ist, ist gefährlich. Zum einen sind da die Mehrbelastung, die ökonomische Abhängigkeit, die mit der Krise noch steigt, und fehlende Selbstbestimmung über den eigenen Körper sowie die sexuelle Gewalt. Aber da hört es nicht auf. Frauen werden täglich ermordet, einfach weil sie Frauen sind. Parallel zum Anwachsen sexistischer Ideologien ist auch die Zahl an Femiziden in den letzten Jahren immer noch erschreckend hoch. Mehr als 135 Frauen sind es weltweit täglich, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, zumal diese Statistik nur von Morden in der Familie oder Partner:innenschaften ausgeht. In Deutschland wird etwa jeden dritten Tag ein Mädchen oder eine Frau in einem Femizid ermordet. 2022 wurden so viele Frauen in einem Jahr ermordet wie noch nie. Österreich ist eines der wenigen Länder, in denen es regelmäßig sogar mehr ermordete Frauen als Männer gibt. Mehr als 70 % dieser Morde werden von (Ex-)Partnern begangen. Und auch in Ländern, in denen die allgemeine Mordrate sinkt, bleibt die Zahl der Femizide laut den (sehr unzureichenden) Studien relativ konstant. Neben den schon genannten Gründen, die aus Krise und Rechtsruck erwachsen, kommt hier noch dazu, dass die Krise auch die gesellschaftliche Position der Männer angreift. Viele können ihre zugeteilte Rolle als Ernährer und Familienoberhaupt nicht mehr spielen. Die ökonomische Abhängigkeit wächst und für Frauen und queere Menschen wird es sehr schwierig, den unter diesem Druck oft missbräuchlichen Familien- oder Beziehungsverhältnissen zu entfliehen.

Perspektive

So weit, so deprimierend. Doch all diese Umstände sind mehr als nur traurige Fakten. Uns als Revolutionär:innen zeigen sie Zusammenhänge auf, die wir zu ihrer Bekämpfung unbedingt verstehen müssen. Sie zeigen uns, dass wir wahrhaftig am Anfang einer „Zeitenwende“ stehen, wie Scholz es einmal ausdrückte. Und dass es an uns ist, dafür zu sorgen, dass sich die Zeit im Sinne der Arbeiter:innen, der Frauen, queeren Menschen, rassistisch Unterdrückten und all jenen wendet, die keinerlei Interesse am Fortbestehen des Kapitalismus und seiner Krisen haben. Gerade in solch umfassenden Krisen besteht im Rahmen des Möglichen unsere Pflicht und Aufgabe darin, dem voranschreitenden Rechtsruck und den drängenden Fragen und Problemen unserer Zeit eine fortschrittliche, linke Antwort auf die Krise entgegenzustellen. Das bedeutet, Bewegungen gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innen aufzubauen und sowohl Forderungen gegen die Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen (z. B. Vergesellschaftung der Hausarbeit) als auch gegen Rassismus (z. B. offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle) aufzuwerfen und miteinander zu verknüpfen. Das bedeutet, dass wir demokratisch legitimierte Selbstschutzorgane aus der Arbeiter:innenbewegung brauchen, die sich gegen Sexismus und Rassismus sowie rechten Angriffen entgegenstellen können. Das bedeutet, dass Frauen und queere Menschen eine führende Rolle im Kampf um ihre eigene Befreiung einnehmen und gleichzeitig verstehen müssen, dass unsere vollständige Befreiung im Widerspruch zu den Interessen des Kapitalismus steht, alle unsere Kämpfe sich deshalb gegen diese Wurzel unserer Unterdrückung richten müssen. Und vor allem bedeutet das auch, den Imperialismus und seine Krisen als globales Phänomen zu betrachten, auf das es nur internationale Antworten geben kann. In jeder Bewegung gegen Krise, Krieg und Blockbildung müssen wir dabei für einen internationalistischen und antiimperialistischen Charakter eintreten. Jeden Konflikt, der einen fortschrittlichen Charakter trägt, etwa die Verteidigung Rojavas, die Befreiung Palästinas oder den Sturz des iranischen Regimes gilt es, in einen revolutionären Kampf gegen die „eigene“ Bourgeoisie und den Imperialismus zu verwandeln, in dem Frauen und LGBTQ+-Personen ihre Entrechtung beenden und Perspektiven für ein befreites Leben aufwerfen können. Im selben Atemzug gilt es, die Organe und Organisationen der Arbeiter:innenklasse unter Druck zu setzen und gegen die Krise zu mobilisieren: Vor allem die Gewerkschaften müssen sich gegen eine Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innen stellen und fordern, dass stattdessen die Reichen zur Kasse gebeten werden. Es ist unsere Aufgabe als Revolutionär:innen, diese Forderungen und Perspektiven in die aktuellen sozialen Kämpfe zu tragen und gemeinsam für eine Welt ohne kapitalistische Krisen und Ausbeutung zu kämpfen.




Den Rechtsruck aufhalten – aber wie?

Von Emilia Sommer, Revolution, FIGHT! März 2024

Die Umfragewerte der AfD sind so hoch wie nie. Sie stellt zum ersten Mal Bürgermeister:innen und plant auf Geheimtreffen massenhafte Abschiebungen. Gleichzeitig verabschiedete die Regierung ein Rückführungsgesetz, welchen ebendies erleichtert, und der  deutsche Staat geht mit extremer Gewalt gegen palästinasolidarische Menschen vor, führt Razzien durch und kriminalisiert Aktivist:innen. Auch wenn sie sich aktuell medienwirksam auf den Anti-AfD-Protesten zeigt, ist klar, dass die Ampel-Regierung mit ihrer Umsetzung rechter Forderungen den Rechtsruck aktiv befeuert und den Aufstieg von AfD & Co mit ermöglicht.

Ein internationales Problem

Auch international ist der Rechtsruck nicht zu übersehen: Ob Fratelli d’Italia in Italien, Geert Wilders in den Niederlanden, Milei in Argentinien oder die rechtspopulistischen „Schwedendemokraten“, alle zeigen, dass rechte Regierungen auf dem Vormarsch sind und eine kämpferische linke Perspektive noch immer auf sich warten lässt. Dabei schüren sie nicht nur Rassismus, sondern bringen auch für Frauen und Queers einen Rollback mit sich. So erließ  2020 das polnische oberste Gericht ein nahezu vollständiges Verbot von  Schwangerschaftsabbrüchen, viele US-amerikanische Bundesstaaten zogen nach und auch, wenn es in Deutschland seit knapp zwei Jahren nicht mehr strafbar ist, warten wir vergeblich auf Streichung des § 218, der diese nach wie vor kriminalisiert und lediglich duldet trotz großer Ankündigungen der Ampel. Doch die Liste geht noch weiter: In Italien stellte die Regierung kürzlich die Geburtsurkunden von Kindern in Regenbogenfamilien in Frage – also gleichgeschlechtlicher Eltern. Das Ziel: Nur der „leibliche“ Elternteil soll anerkannt bleiben. Dem oder der Partner:in wird demnach der Elternstatus entzogen. Das ungarische Parlament geht sogar so weit, ein Gesetz zu erlassen, welches dazu ermuntert, gleichgeschlechtliche Eltern wegen Verletzung der „verfassungsrechtlich anerkannten Rolle von Ehe und Familie“ bei den örtlichen Strafverfolgungsbehörden zu melden. Neben der Anzeige von Regenbogenfamilien erlaubt das Gesetz auch die anonyme Anzeige von „jedem/r, der/die die wahre Bedeutung von Familien, die in der ungarischen Verfassung definiert ist, leugnet oder ändert“.  All das führt uns zu der Frage: Was tun? So weitergehen kann es schließlich nicht. Doch bevor wir dazu kommen, müssen wir zuerst kurz anschauen, woher der Rechtsruck kommt und warum aktuell so viele rechts wählen.

Krise und Rechtsruck: die Ursache kennen

Dazu müssen wir zunächst einen Blick in die Vergangenheit werfen: Seit der Weltwirtschaftskrise 2007/08 hat sich die Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalisten:innen und ihren Staaten verschärft. Es kam zu einer massiven Konzentration von Kapital. Gerade die größeren Monopole konnten davon profitieren, während kleinere Unternehmen nicht mithalten konnten. Kleinere Unternehmer:innen, auch gerne als Mittelstand bezeichnet, haben Angst, ihre Stellung zu verlieren und pleitezugehen. Getrieben von der Angst vor sozialem Abstieg fangen sie an, laut herumzubrüllen: Protektionismus, Nationalchauvinismus, Standortborniertheit, das sind ihre Argumente, um sich zu schützen. Kurz gesagt: Sie wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen, um nicht ihren Reichtum zu verlieren. Sie wollen den globalen Kapitalismus also auf reaktionäre Art bekämpfen. Mit der Fokussierung auf Nationalstaat und Protektionismus geht auch einher, dass das Ideal der „bürgerlichen Familie“ gestärkt werden muss. Denn im Kapitalismus ist die Arbeiter:innenfamilie der Ort, wo unbezahlte Reproduktionsarbeit stattfindet. Ob nun Kindererziehung, Altenpflege, Waschen oder Kochen – all das reproduziert die Arbeitskraft der einzelnen Arbeiter:innen und sorgt gleichzeitig dafür, dass dem Kapital die Arbeitskraft nicht ausgeht. Oftmals wird diese unbezahlte Hausarbeit von Frauen verrichtet. Diese Arbeitsteilung wird dadurch gefestigt, dass sie weniger Lohn als Männer erhalten und sie somit nach einer Schwangerschaft eher zu Hause bleiben. So verdienen sie beispielsweise im Schnitt immer noch weniger als Männer trotz öffentlichem Diskurses über den Gender Pay Gap, machen deutlich mehr der Beschäftigten in sozialen Berufen aus und arbeiten immer noch doppelt so lang im Haushalt wie Männer. Im Kontrast dazu stehen erkämpfte Rechte von Frauen und LGBTIAs. Ob nun Legalisierung von Homosexualität, die Gleichstellungsgesetze, das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper – all das lehnen die Rechten mit aller Macht ab. Das traditionelle Bild der Frau als Mutter, emotionale Versorgerin und Pflegende trägt also aktiv zur Profitmaximierung bei, Sexismus hat eine materielle Grundlage und queere Partner:innenschaften, Identitäten und Familien stellen dieses klassische Bild infrage.

Warum wählen aktuell so viele Menschen rechts?

Natürlich gibt es dafür mehrere Gründe. An dieser Stelle wollen wir uns jedoch auf einen konzentrieren – die Finanzkrise 2007/2008. Im Rahmen dieser nahm nicht nur die Konkurrenz zwischen einzelnen Kapitalfraktionen zu. Es kam auch zu einer wachsenden Verelendung der Arbeiter:innenklasse. Damals wurden die Kosten der Krise auf diese abgewälzt: Viele wurden entlassen, vielerorts sind Löhne nicht gestiegen, während zugleich die Lebenshaltungskosten in die Höhe kletterten. Dagegen passiert ist nicht viel. Massenproteste wurden im Namen der Sozialpartnerschaft klein gehalten oder konnten nicht gewonnen werden wie in Griechenland. Das hat viele enttäuscht und so wendeten sie sich beispielsweise der AfD zu, die sich als Alternative zu den etablierten Parteien mittels Ablehnung der EU und rassistischer Hetze darstellen konnte. Doch statt dem was entgegenzusetzen, gab es eine Verschiebung nach rechts. Viele Parteien haben sich vor den Karren spannen lassen. Während Rechtspopulist:innen hetzten, verabschiedeten sie Gesetze und stimmten in den Chor mit ein. Vorbei ist die Willkommenskultur, jetzt haben wir einen Olaf Scholz der sagt „Wir müssen endlich konsequent abschieben”. Das ist kein Zufall: Getrieben von der Angst vor Wähler:innenverlusten bildet Rassismus gleichzeitig ein gutes Mittel, um von Einsparungen und fehlenden Lohnerhöhungen abzulenken. Migrant:innen werden zum Problem gemacht, nicht nicht die Unterordnung aller politischen Ziele unter die Interessen des Kapitals. Die Krise im Zuge der Pandemie befeuerte diese Entwicklung erneut. Doch so abgefuckt diese Entwicklung ist: Es liegt in unseren Händen, etwas dagegen zu tun. Aber was braucht es, um den Rechtsruck aufzuhalten?

Gemeinsam gegen den Rechtsruck!

Um den Vormarsch der Rechten zu stoppen, müssen wir eine Bewegung aufbauen. Dabei braucht es nicht nur einzelne Mobilisierungen, bei denen sich Regierungsvertreter:innen, die letzten Endes den Aufstieg der AfD mit zu verantworten haben, ggenseitig auf die Schultern klopfen können ganz nach dem Motto: „Jetzt waren wir auch im Widerstand!”, während sie einen Atemzug später Gesetze verabschieden, die mehr von uns abschieben. Wir brauchen mehr:

  1. Raus aus der Defensive: Gegen  Sparpolitik und soziale Unterdrückung!

Statt sich einfach nur an den Rechten abzuarbeiten und auf diese zu reagieren, müssen wir konkrete Verbesserungen erkämpfen. Das heißt, wir sind nicht nur gegen Abschiebungen, sondern für offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle. Wir fordern nicht nur Abrüstung, sondern lehnen jede Finanzierung des staatlichen Gewaltmonopols, also der Polizei und Bundeswehr, getreu dem Motto, „Keinen Cent für Militarismus und Repression“ ab. Auch treten wir nicht nur gegen die zahlreichen Sparmaßnahmen, sondern für den Ausbau des sozialen Wohnungsbaus, die Enteignung der Wohnungsspekulation, der großen Banken und Konzerne ein, für die Finanzierung unseres Gesundheits- und Bildungssystems durch Besteuerung von Profit und Vermögen der Reichen – unter Kontrolle der Arbeiter:innen, Mieter:innen, Lehrenden und Lernenden. Dabei ist es zentral, daran anzusetzen, was den Rechtsruck befeuert: Sparpolitik und Sozialpartnerschaft. Allerdings darf man auch nicht der Illusion verfallen, dass es nur ausreicht, die „sozialen Fragen“ zu betonen. Diese Forderungen müssen konsequent mit Antirassismus und -sexismus verbunden werden, denn nur in praktischen Kämpfen kann man den sich etablierenden Rassismus zu beseitigen anfangen. Widmet man sich in der jetzigen Situation nur den sozialen Fragen, vergisst man, dass soziale Unterdrückung spaltet, und kann sie schlechter bekämpfen:

  • Investitionen in Bildung, Gesundheit und Soziales, finanziert durch die Gewinne der Reichen, die aktuell noch einmal so richtig Gewinn aus der Krise ziehen!
  • Massive Lohnerhöhung und automatischer Inflationsausgleich in Form einer gleitende Lohnskala!

  1. Druck ausüben und klaren Klassenstandpunkt beziehen

Breite Proteste, wie wir sie mit #wirsinddiebrandmauer sehen, scheinen auf den ersten Blick wünschenswert. Doch die große Einheit, die die scheinbar größte Stärke des Protestes ist, macht gleichzeitig ihre größte Schwäche aus. Doch uns helfen weder Versammlung aller linken Kleinstgruppen, die die besten Forderungen aufwerfen, aber keine reale Verankerung auf die Straße bringen, noch riesige Proteste, die nur abstrakte, verwaschene Parolen wie „Menschenwürde” und „Toleranz” vor sich her tragen.

Deswegen treten wir für ein Bündnis vor allem aus den Organisationen der Arbeiter:innenklasse, also Gewerkschaften, Sozialdemokratie und linken Reformist:innen, ein. Diese in Bewegung zu setzen, ist zentral, da sie einen Großteil der organisierten Arbeiter:innen hinter sich herführen. Das ist ein entscheidender Punkt, wenn es darum geht, Verbesserungen zu erkämpfen. Dies wird nicht nur mittels Demonstrationen passieren, sondern man muss beispielsweise mittels Streiks Druck ausüben. Das heißt nicht, dass Kräfte wie die Grünen nicht mitlaufen können – nur sollte man für deren Beteiligung keine Kompromisse eingehen. Denn Rassismus und Sexismus sind nicht einfach nur beschissen. Sie schwächen auch das objektive Interesse aller Arbeiter:innen. Anstatt zusammen für eine bessere Lebensgrundlage einzutreten, bekämpft man sich gegenseitig („Teile und herrsche!“). Doch diese in Bewegung zu setzen, ist gar nicht so einfach. Deswegen muss man versuchen, in bestehenden Proteste zu intervenieren, und klar aufzeigen: Ihr wollt den Rechtsruck aufhalten? Dann lasst uns Verbesserungen für alle erkämpfen und mobilisiert richtig dafür! Wir brauchen nicht nur Floskeln, sondern konkrete Aktionen!

Um das zu ermöglichen, setzen wir uns im Rahmen solcher Bündnisse – auch Einheitsfronent genannt – für volle Kritik- und Propagandafreiheit ein. Denn es muss möglich sein, gemeinsam Proteste zu organisieren und gleichzeitig Unterschiede sowie Differenzen zu äußern, damit auch innerhalb der gesamten Bewegung politische Vorschläge diskutiert werden.

  1. Rein in den Alltag: Für eine Basisbewegung an Schulen, Unis und in Betrieben!

Große Demonstrationen und Kundgebungen sind gut, aber reichen bei weitem nicht aus. Sie mögen vielleicht jenen, die schon überzeugt sind, Kraft geben. Aber das Ziel bleibt jedoch, mehr Menschen zu erreichen und überzeugen. Stattfinden kann das, indem man Kämpfe um reale Verbesserungen für alle organisieren hilft und diese an jene Orte trägt, wo wir uns tagtäglich aufhalten müssen: Schulen, Unis und Betriebe. Demonstrationen oder Kundgebungen können als Aufhängerinnen genutzt werden, um Vollversammlungen vor Ort zu organisieren, Aktionskomittees zu bilden, die die Forderungen der Bewegung erklären und gleichzeitig mit Problemen vor Ort verbinden. Deswegen ist es zentral, dass Organisationen, die den Protest unterstützen, nicht nur einen Aufruf unterzeichnen, Geld spenden und eine Pressemitteilung herausgeben, sondern auch ihre Mitgliedschaft dazu aufrufen, aktiv an Schulen, Unis und in Betrieben zu mobilisieren.

  1. International is’ Muss!

Der Rechtsruck ist nicht nur ein deutsches, sondern internationales Problem. Hinzu kommt, dass mit Deals zwischen unterschiedlichen Ländern oder gemeinsamen „Initiativen“ wie Frontex vor allem imperialistische Länder versuchen, sich die Probleme der Geflüchteten vom Leib zu halten. Wenn wir uns dem Rechtsruck entgegenstellen, Festungen wie die Europas erfolgreich einreißen wollen, bedarf es mehr als einer Bewegung in einem Land. Deswegen müssen wir das Ziel verfolgen, gemeinsame Forderungen und Aktionen über die nationalen Grenzen hinaus aufzustellen. Das kann anfangen, indem man gemeinsame Aktionstage plant und schließlich gemeinsame Strategie- und Aktionskonferenzen organisiert, in denen Aktivist:innen gemeinsam über die Perspektive der Bewegung entscheiden.

Bewegung alleine reicht nicht!

Doch die Aufgabenliste endet für uns damit nicht: Bewegung alleine reicht nicht aus. Sie kann es  nicht schaffen, die Wurzeln von sozialer Unterdrückung wie Rassismus, Sexismus oder LGBTIA+-Diskriminierung auszureißen, da diese mit dem kapitalistischen System verwoben sind. Deswegen besteht die Aufgabe für Revolutionär:innen innerhalb dieser Bewegung darin, einen klaren antikapitalistischen, internationalistischen Pol zu bilden und eine deutliche Perspektive aufzuzeigen. Wir treten für Verbesserungen im Hier und Jetzt ein, müssen aber gleichzeitig den Weg aufzeigen, wie wir zu einer sozialistischen Gesellschaft kommen. Deswegen werfen wir auf, dass bei Finanzierungsfragen dies durch Besteuerung der Reichen oder Enteignung passieren muss sowie die Kontrolle über Verbesserungen und, wie diese umgesetzt werden, bei Arbeiter:innen und Unterdrückten liegen sollte. Um dies zu realisieren, braucht es unserer Meinung nach eine internationale Organisation mit einem revolutionären Programm, das deutlich macht, dass es keine Spaltung aufgrund Herkunft, Geschlecht, Alter oder Sexualität geben darf, und das aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Nur so können wir unserer Unterdrückung auch in der Arbeiter:innenbewegung selbst entgegentreten und gleichzeitig dem Rechtsruck die Stirn bieten.

Wir fordern deshalb:

  • Aufbau einer antifaschistischen und internationalen Einheitsfront aus allen linken Organisationen und solchen der Arbeiter:innenklasse! Offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle!
  • Kampf dem Rechtsruck heißt Kampf dem Kapital: Für ein revolutionäres Programm der Jugend und der Arbeiter:innenklasse!
Schlaglicht:
Männliche Toxizität
Obwohl eine geschlechtliche Rollenverteilung im Sinne des Mannes als finanziellem Versorger der Familie und der Frau als Reproduktionsarbeiterin eine so zentrale Rolle im Kapitalismus einnimmt, führen die Veränderungen der Beschäftigungsverhältnisse gleichzeitig zu einer Krise der bürgerlichen Familie. Frauen werden seit Jahrzehnten mehr und mehr in die Produktion mit einbezogen, stehen oft in Vollbeschäftigungsverhältnissen und der „Girlboss-Feminism“ fordert mehr und mehr ihren Zugang zu Führungspositionen in Unternehmen. Obwohl es hier nach wie vor strukturelle Ungerechtigkeiten gibt, sind Frauen heute oft gut qualifizierte und gefragte Arbeitskräfte, die sich besser selbst versorgen können als beispielsweise noch in den 1950er Jahren. Für viele Männer stellt sich also heute immer drängender die Frage, welche gesellschaftliche Rolle sie besetzen sollen, wenn ihr traditionell anerzogenes Bild des alleinigen Versorgers immer obsoleter wird. Zu diesem Gefühl des Bedeutungs- oder Sinnverlustes kommt bei vielen die Wahrnehmung von Frauen als realistische Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und lässt sie in die Arme toxisch-männlicher Propaganda laufen. Anstatt sich für eine gleichberechtigte und ausbeutungsfreie Zukunft für alle einzusetzen, finden sie Gefallen an der Vorstellung, Frauen in ihre traditionelle, häusliche und unsichtbare Rolle zurückzudrängen, in welcher sie finanziell von ihnen abhängig sind und wo sich ihre Versorgerrolle wieder verwirklichen kann.



4 Mythen über Sex, die wir in der Schule gelernt haben – Für einen neuen Sexualkundeunterricht!

Von Erik Likedeeler, Januar 2024

Peinlich berührtes Kichern, „coole“ Lehrfilme aus dem letzten Jahrtausend und überforderte Lehrer:innen – so haben viele von uns den Sexualkundeunterricht in Erinnerung. Die meisten Dinge, die wir dort lernen, sind vereinfacht, veraltet oder schlicht falsch. In diesem Artikel wollen wir uns 5 Mythen über Sex genauer anschauen.

1. Das Erste Mal: Ein wichtiger Meilenstein?

„Es ist der erste Mann, der die Weichen für deine sexuelle Zukunft stellt“, heißt es in dem Filmklassiker Mädchen, Mädchen. Zeitschriften, Ratgeber und auch der Sexualkundeunterricht vermitteln die Botschaft: Das Erste Mal sollte etwas „ganz Besonderes“ sein.

Doch die Realität sieht für viele anders aus: Manche sind nervös und fühlen sich unter Druck gesetzt, weil sie glauben, dass eine perfekte Performance von ihnen erwartet wird. Andere wissen nicht, wie sie sich zu verhalten haben, schämen sich, wenn nicht alles funktioniert wie es soll oder es nicht zu einem Orgasmus kommt. Aber muss das so sein?

Sexualität wird meist als Instinkt angesehen, der in den Körper eingeschrieben ist, und bei dem wir alle von Natur aus wissen sollten, wie es geht. Doch Sex ist viel mehr als ein biologischer Vorgang: er ist kulturell hochgradig ausdifferenziert, als Kommunikationsform, Kunstform oder Ausdruck der Spiritualität.

Warum sollte also so viel Fokus auf das „Erste Mal“ gelegt werden? Es würde ja auch keine:r auf die Idee kommen, „instinktiv“ die perfekte Crème Brûlée zubereiten zu können, nur weil er:sie gern Süßes isst.

Wie bei jeder anderen Aktivität ist es auch beim Sex in Ordnung, sich vorsichtig heranzutasten. Es ist okay, wenn das erste Mal komplett durchschnittlich wird. Vielleicht wagt man sich irgendwann an komplexere Experimente, vielleicht stellt man auch fest, dass man sich überhaupt nicht weiter ausprobieren möchte.

Sex ist aber auch kein abstrakter Skill, denn „genug gelernt“ haben kann man dabei nie. Wenn man herausgefunden hat, wie eine einzelne Person gern befriedigt werden möchte, heißt das nicht, dass man diese Erkenntnis einfach so auf andere Personen übertragen kann.

Dass Jugendliche sich beim Sex unter Druck gesetzt fühlen, ist kein Zufall, wenn man bedenkt, dass uns in jedem Lebensbereich Konkurrenzdenken vermittelt wird. Anstatt als Team gemeinsame Lösungen zu erarbeiten, sollen wir gegeneinander antreten und mit individuellen Ergebnissen beeindrucken. Was wir brauchen, ist die Abschaffung von Leistungszwang und Bewertungsskalen, sowie mehr Fokus auf Zusammenarbeit und Kommunikation – sowohl in der Schule als auch in intimen Momenten.

2. Sex, das heißt doch Penis in Vagina?

Strenggenommen gibt es nicht „das“ Erste Mal, sondern unendlich viele erste Male, die gemeinsam oder allein erlebt werden können. Sex hat so viele Facetten, durch die man neue Dinge über sich selbst oder andere Personen erfahren kann.

Im Sexualkundeunterricht wird sich jedoch hauptsächlich auf eine einzige Facette von Sexualität konzentriert: den Vaginalverkehr. Dieser Fokus auf Penis-in-Vagina-Sex ist vorherrschend, weil es dadurch zu einer Schwangerschaft kommen könnte und deshalb Verhütung besonders relevant ist. Doch auch bei anderen sexuellen Praktiken ist Verhütung zur Prävention von Krankheiten wichtig. Deshalb sollte im Sexualkundeunterricht auch auf Lecktücher, Latexhandschuhe und Kondomnutzung beim Analverkehr eingegangen werden.

Viele Arten von queerem Sex, Selbstbefriedigung und Kinks werden im Sexualkundeunterricht ignoriert. Wenn eine sexuelle Aktivität keinen Penis beinhaltet, wird sie schnell als „Vorspiel“ oder „Petting“ abgewertet. Lesben bekommen daher oft den Spruch zu hören, dass ihnen „richtiger“ Sex bestimmt fehlen würde.

Wenn der Unterricht nichts taugt, fangen manche Jugendliche an, Pornos als Lehrmaterial zu nutzen. Doch auch hier ist weibliche Lust unterrepräsentiert: in Pornos wird 3x so viel Zeit für Blowjobs aufgewendet wie fürs Lecken. Viele Menschen haben die Vorstellung entwickelt, die Vagina wäre ein Loch, das nur dazu dient, Dinge einzuführen, wie auch an Begriffen wie (Schwert)scheide deutlich wird.

Die Unterschiede zwischen Vulva und Vagina werden im Sexualkundeunterricht teils nicht erklärt, genauso wenig wie die Tatsache, dass die allermeisten Frauen nicht durch „Penetration“ zum Orgasmus kommen, sondern durch klitorale Stimulation.

Abschließend sollte auch der Begriff der Penetration selbst hinterfragt werden. Zu penetrieren ist ein gewalttätig konnotiertes Verb, das bei konsensuellen Handlungen durch „Einführen“ oder „Hineingleiten“ ersetzt werden könnte. Bini Adamczak kritisiert zusätzlich, dass die Vagina durch den Begriff der Penetration als passives Organ gedeutet wird und schlägt „Circlusion“ als Alternativbegriff vor, denn die Vagina umschließt den Penis und hat damit ebenfalls eine aktive Rolle.

Wir wollen uns nicht damit zufriedengeben, nur über die Aspekte von Sexualität zu lernen, die die Politik und Kapitalist:innen für nützlich erachten. Sexualität ist viel mehr als das Hervorbringen neuer Arbeitskräfte durch Schwangerschaft und Geburt! Das, was uns Jugendliche beschäftigt, sollte im Mittelpunkt des Sexualkundeunterrichts stehen. Deshalb brauchen wir einen Lehrplan, an dem wir aktiv und demokratisch mitwirken dürfen.

3. Beim Ersten Mal reißt das Jungfernhäutchen?

Viele von uns haben im Sexualkundeunterricht gelernt, dass sich über der Vagina eine Haut spannen würde: eine Art verschließende Frischhaltefolie, die dann beim ersten Mal vaginalem Sex reißen soll. Das soll dann kurz bluten und wehtun, und dann ist die „Entjungferung“ vollendet. Hinterher wird man dann zu einem komplett neuen, erwachsenen Menschen – oder?

Das ist Unsinn, denn beim Sex verliert man nicht die Jungfräulichkeit, sondern gewinnt vielmehr an Erfahrung dazu. Es braucht kein eigenes Wort, um „den Zustand davor“ zu beschreiben, denn ein „Jungfernhäutchen“ existiert nicht. Am Ausgang der Vagina befindet sich zwar eine Art Schleimhautkranz, doch dieser ist grundsätzlich durchlässig. Ansonsten könnte ja auch die Menstruation nicht nach draußen gelangen.

Durch das Hineingleiten eines Penis, eines Fingers oder eines Gegenstandes ändert sich am Körper nichts. Falls es zu einer Verletzung kommt, heilt hinterher alles genauso wieder zusammen, wie es vorher war. Kein:e Gynäkolog:in der Welt kann feststellen, ob eine Person schon mal Sex hatte oder nicht.

Dass es beim vaginalen Sex blutet, ist nicht wünschenswert, denn derartige Verletzungen kommen durch zu viel Reibung und zu wenig Feuchtigkeit zustande. Der Mythos, dass Blut beim „Ersten Mal“ normal wäre, hat sich kulturell durch zahlreiche Zwangsehen etabliert, in denen junge Mädchen von älteren Männern vergewaltigt wurden.

Die Unsicherheit und Distanz, die viele Jugendliche gegenüber ihrem eigenen Körper verspüren, ist nicht einfach die Folge der vielbeschworenen Pubertät, sondern auch gesellschaftlich erzeugt. Wenn Jugendliche nicht lernen, dass Blut und Schmerzen vermeidbar sind, dann könnte das dazu führen, dass sie zögern, im richtigen Augenblick „stopp“ zu sagen. Menschen einzureden, ihr Schmerz wäre Teil einer natürlichen Prozedur des Erwachsenwerdens, ist sexistische Unterdrückung.

Immer noch ist es schwierig, an zuverlässige Informationen zum Thema Jungfräulichkeit zu kommen. In Biologiebüchern und auf Beratungsseiten werden völlig falsche Bilder vermittelt und selbst im Medizinstudium werden falsche Fakten gelehrt. Deshalb brauchen wir eine Wissenschaft unter demokratischer Kontrolle der Arbeiter:innen und finanziert vom Geld der Kapitalist:innen. Eine Wissenschaft, die nicht zur Profitsicherung der Herrschenden forscht, sondern im Interesse der Unterdrückten.

4. Das Spermium befruchtet die Eizelle?

„Schlag doch mal ein Biologiebuch auf“, wird vielen geraten, die sich aus einer antisexistischen Perspektive mit dem Thema Geschlecht befassen. Doch auch die Art, wie wir über Biologie sprechen, ist von Geschlechterklischees beeinflusst.

Schon seit tausenden von Jahren fragen sich Menschen, wie Schwangerschaften zustande kommen. Sowohl griechische Philosophen der Antike, als auch christliche Theologen des Mittelalters haben sich Theorien ausgedacht, deren Überbleibsel bis heute in den Naturwissenschaften zu finden sind.

Wie biologische Vorgänge in sexistische Erzählungen gepresst werden, lässt sich gut am Beispiel von Eizelle und Spermium beschreiben. In Kinderbüchern und Lehrfilmen wird es uns häufig so vermittelt: Die Spermien sind quasi Mini-Menschen: schnelle Schwimmer, Ritter oder Soldaten in einem tödlichen Rennen. Sie kämpfen sich durch das gefährliche Gebiet der Vagina und des Uterus, die sich gegen die Entdecker zur Wehr setzen.

Nur einer von ihnen kann überleben und den Preis gewinnen: Die Eizelle als Trophäe, als schlafende Prinzessin in ihrem Turm, die nur darauf wartet, dass das größte, schnellste und tollste Spermium endlich in sie eindringt.

In Wirklichkeit ist alles ganz anders. Die Vagina ist keine feindliche Landschaft, die sich gegen ihre Eroberer wehrt. Nichts im Körper sträubt sich dagegen, dass die beiden Zellen zusammenfinden. Stattdessen werden die Spermien durch die optimale Körpertemperatur und den perfekten PH-Wert am Leben gehalten. Der Uterus macht kleine, wellenförmige Bewegungen, die ihre Richtung ändern können, um Spermien hineinzulassen. Der klitorale Orgasmus ist dabei kein überflüssiger Bonus, sondern erhöht die Wahrscheinlichkeit der Zellverschmelzung um ca. 16%.

Auch der Uterus ist kein passiver, leerer Raum. Wenn sich Spermien während des Eisprungs dem Uterus nähern, öffnet sich der Muttermund. Die Spermien werden zunächst in kleinen Einstülpungen gespeichert, den Zervixkrypten. Im Rahmen des Zyklus werden Proteine und Kohlehydrate gebildet, welche die Spermien selektieren und nacheinander zur Eizelle führen. Keine Spur vom „spannenden Wettkampf“.

Auch die Idee der Befruchtung hat ihren Ursprung in sexistischen Vorstellungen über aktive Männlichkeit und passive Weiblichkeit. Das christliche Konzept der Empfängnis beinhaltet den Mann als Schöpfer des neuen Lebens und die Frau als passives Gefäß und Nährboden. Männer sind „potent“ und Frauen sind „fruchtbar“, stimmt’s? Nein, denn die Eizelle ist kein Acker, der bepflanzt wird. Während der Verschmelzung der Zellen hat sie eine führende Rolle. Sie wird nicht „durchstoßen“, sie absorbiert das Spermium.

Verstaubte Biologiebücher aufzuschlagen reicht nicht, wenn uns darin immer noch Rape Culture als Wissenschaft verkauft wird. Wir brauchen eine massive finanzielle Investition in das Bildungssystem, damit das, was wir lernen, den aktuellen Stand der Wissenschaft widerspiegelt. Sowohl neues Lehrmaterial als auch antisexistische Fortbildungen für Lehrer:innen, damit die alten Märchen endlich auf die Müllhalde der Geschichte wandern können. Das alles finanziert durch Besteuerung der Reichen und unter Kontrolle von Schüler:innen & Lehrer:innen!




Geschenke, Glühwein und Geschlechterklischees: Sexismus an Weihnachten

Von Erik Likedeeler, Dezember 2023

In vielen Haushalten gilt Weihnachten als die Zeit des Jahres, in der Freude, Harmonie und Geschenke eine kurze Zeit lang dafür sorgen, dass die Probleme des Alltags im Kreis der Familie vergessen werden können. Was dabei außer Acht gerät ist, dass zahlreiche Glaubenselemente und Weihnachtstraditionen die gewaltvollen und unterdrückerischen Elemente der bürgerlichen Kleinfamilie aufrechterhalten. In diesem Artikel wollen wir uns mit drei Beispielen dafür auseinandersetzen.

1. Care-Arbeit und Geschlechterklischees in der Familie

Dass an Weihnachten die Verwandtschaft besucht wird, die man teilweise das ganze Jahr über nicht gesehen hat, gehört quasi zum guten Ton. Diese Erwartung ist so stark, dass viele von uns die Feiertage mit Menschen verbringen, mit denen wir eigentlich keine Gemeinsamkeiten haben und die vielleicht sogar rassistische, sexistische oder queerfeindliche Ansichten haben. Sich dagegen ausgerechnet an Weihnachten zur Wehr zu setzen, geht natürlich gar nicht: Mit dem Zwang zur Harmonie wird jeder Widerstand als peinliche Störung des Ablaufs betrachtet. Außer Lächeln und Nicken ist gerade von uns Jugendlichen keine Reaktion erwünscht.

Für die meisten Frauen bedeutet die Weihnachtszeit tonnenweise zusätzliche Care-Arbeit: Adventskalender müssen gefüllt werden,  Kekse müssen gebacken und die Wohnung dekoriert werden. Ein einfaches Essen reicht nicht aus, stattdessen werden aufwändig zubereitete Gerichte erwartet. Mütter besorgen Geschenke für die eigene Familie und für die Familie des Ehemannes und bekommen teilweise kein einziges Geschenk zurück. Während die Männer der Familie sich am Tisch mit Glühwein besaufen, wird diese Arbeit den Frauen ganz selbstverständlich zugeschoben, so dass von besinnlichen, freien Tagen keine Rede mehr sein kann.

Die Vorbereitung auf diese stets sanfte, geduldige und fürsorgliche Rolle der Hausfrau und Mutter beginnt schon früh. So bekommen Mädchen zu Weihnachten oft Puppen oder vielleicht eine Spielküche geschenkt, während es für Jungen eher Baustellenfahrzeuge oder eine Ritterburg gibt. Der erzieherische Anspruch von Weihnachtsgeschenken für jüngere Kinder wurde schon häufig kritisiert, aber deutlich seltener wird die fortgeführte Ungleichheit im Jugendalter unter die Lupe genommen:

In zahlreichen Haushalten ist immer noch die Tradition der Aussteuer verbreitet. Während Jungen Geld geschenkt bekommen, z.B. für den Führerschein oder um sich „einen Grundstock aufzubauen“, ist es üblich, Mädchen Haushaltsgegenstände wie Bettwäsche, Besteck oder ein Bügelbrett zu schenken, teilweise schon ab dem Kindesalter.

Von der tendenziell älteren Verwandtschaft wird dabei erwartet, dass diese Gegenstände irgendwann mal „mit in die Ehe“ genommen werden, damit der Mann „direkt sieht, was die Frau zu bieten hat“. Der zukünftige Haushalt soll dank einer gefüllten Aussteuer-Truhe bereits perfekt ausgestattet sein für die lebenslängliche Verpflichtung der Frau zur Care-Arbeit.

Teilweise gibt es von Verwandten sogar aufreizende Unterwäsche geschenkt – ob diese bequem ist oder dem individuellen Geschmack entspricht, ist egal, solange sie ansprechend für den Freund oder Ehemann ist. Sich über derart sexistische Geschenke zu beschweren, geht natürlich gar nicht: Gegenüber der Verwandtschaft muss Dankbarkeit geheuchelt werden, bevor die ungewollte Flut an Handtüchern, Topflappen und Bettwäsche („für das Ehebett“) dann für immer auf dem Dachboden verstaubt.

Also Weihnachten abschaffen?

Um nicht nur die Enttäuschung beim Geschenkeauspacken, sondern auch die dahinterstehende Ausbeutung zu beenden, müssen wir aufhören, die Care-Arbeit in den Privathaushalt zu verschieben. Nur, wenn wir die täglich anfallenden Aufgaben wie Wäschewaschen und Kochen vergesellschaften, können wir Männer effektiv zur Verantwortung ziehen. Auch emotionale Arbeit wie das Vorbereiten von Festen sollte die Aufgabe der Gemeinschaft sein.

Damit Jugendliche nicht länger gezwungen sind, die Feiertage in einem unterdrückerischen Umfeld zu verbringen, brauchen wir für sie die finanzielle Unabhängigkeit von der Familie in Form eines staatlichen Taschengeldes in ausreichender Höhe, unter der Kontrolle der Arbeiter:innen und der Jugendlichen selbst. Nur so können wir den goldenen Käfig der bürgerlichen Kleinfamilie zerbrechen und zu einem wahrhaft besinnlichen Zusammenleben finden.

2. Krampuslaufen: Keine Kindererziehung, sondern rohe Gewalt

Eine Weihnachtstradition, in der die Werte der bürgerlichen Familie besonders deutlich zum Ausdruck kommen, ist das Krampuslaufen. „Wenn du nicht brav warst, dann holt dich der Krampus!“ ist eine Drohung, die vielen Kindern aus Bayern, Österreich, Südtirol und einigen osteuropäischen Ländern bekannt sein dürfte. Beim Krampus handelt es sich um eine Art „Gehilfen“ des Nikolaus. Während der gute Nikolaus die braven Kinder belohnt, bestraft der Krampus die bösen Kinder – die, die sich nicht das ganze Jahr über an die strengen, christlichen Moralvorstellungen gehalten haben. Durch solche fiktiven, urteilenden Instanzen wird der erzieherische Anspruch des weihnachtlichen Schenkens auf die Spitze getrieben.

Im November und Dezember ist das Krampuslaufen in zahlreichen Regionen eine beliebte Tradition. Auch wenn die Krampusfigur teilweise auf vorchristliche, pagane Mythen zurückgeführt wird, funktioniert sie heute als eine alternative Version des christlichen Teufels, die besonders in Österreich als Teil der „abendländischen Kultur“ gilt. In der heutigen Zeit des zunehmenden nationalistischen Bewusstseins steigt auch die Zahl der Krampusläufe, nicht nur auf dem Dorf, sondern auch in Großstädten wie Wien.

Manche dieser Umzüge verlaufen problemlos und bleiben als schöne Veranstaltungen mit in die Menge geworfenen Süßigkeiten in Erinnerung. Immer wieder kommt es im Kontext dieser Umzüge jedoch zu Gewalttaten: Erst vor wenigen Wochen wurde ein zwölfjähriger Junge aus Niederösterreich mit einem Schleudertrauma ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem er von einem erwachsenen Mann zu Boden gerissen worden war. Auch Blutergüsse, Platzwunden und Knochenbrüche werden immer wieder dokumentiert – ganz zu schweigen von den Traumata, die bei Kindern zurückbleiben, nachdem sie z.B. verschleppt und in Käfige gesperrt wurden.

Hauptsächlich sind es junge Männer, die sich die furchterregenden Masken mit Hörnern aufsetzen, um Kinder einzuschüchtern. Der Krampus ist eine Verkleidung, die es Männern erlaubt, die Rolle des wilden, ungebändigten und sadistischen Patriarchen zu festigen.  Damit geht einher, dass Männer miteinander mackerhafte Schaukämpfe aufführen, während Frauen festgehalten, mit Reisigbündeln geschlagen und sexuell belästigt werden. Erst vor kurzem wurde eine Frau bei einem Krampuslauf in Tirol zu Boden geworfen und schwer verletzt. Die Rolle der Frau ist in dieser Konstellation nur die des sexuellen Objekts und des Opfers – während die Täter davonkommen, versteckt unter ihren Masken. Das führt so weit, dass manche Frauen und Kinder zu dieser Zeit Angst davor haben, das Haus zu verlassen.

Diese romantisierte Kombination aus einem übermächtigen, gewalttätigen Mann, einer hilflosen Frau und einem hörigen Kind setzt das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie auf brutale Weise durch. Was häufig als „schwarze Pädagogik“ bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit ein Mittel, um Frauen und Kinder durch Erniedrigung und Gewalt zur Unterordnung zu zwingen. Von klein auf wird Kindern, vor allem Mädchen, beigebracht, dass sie nicht frech und ungehorsam gegenüber Autoritätspersonen sein dürfen. Doch genau dazu müssen Kinder das Recht haben, wenn sie zu eigenständig denkenden und handelnden Erwachsenen heranwachsen sollen!

Natürlich befürworten wir die Religionsfreiheit und damit auch das Recht auf die Ausübung religiöser Traditionen – aber nur, solange damit keine Unterdrückung einhergeht! Genauso sind wir gegen den Zwang, bei religiösen Veranstaltungen mitmachen zu müssen, und für die strikte Trennung von Kirche und Staat! Religion sollte Privatsache sein, keine „Leitkultur“, die allen aufgezwungen wird, um Rassismus gegenüber Andersgläubigen zu rechtfertigen.

Wenn es um den Umgang mit Tätern  geht, können wir uns allerdings weder auf die Kirche noch auf den Staat verlassen. Auch auf das Individuum dürfen wir die Verantwortung nicht verschieben, da insbesondere Kinder und pflegebedürftige Menschen nicht vollends in der Lage sind, sich vor Übergriffen zu schützen. Was wir brauchen, um die gewalttätigen Eskalationen der Krampus-Macker zu durchkreuzen, sind Selbstverteidigungsstrukturen, mit dem Fokus auf dem gemeinsamen Handeln von Unterdrückten und Arbeiter:innen. Denn in der Weihnachtszeit, in der viele von uns sowieso schon dank des Sonnenuntergangs um 16:00 mit Winter Blues zu kämpfen haben, sollte niemand Angst davor haben müssen, das Haus zu verlassen!

3. Die Jungfrau Maria: Die perfekte Mutter?

Für viele Menschen gehört es in Weihnachten dazu, sich die Weihnachtsgeschichte zu erzählen oder an einem Krippenspiel teilzunehmen. Dabei ist besonders die Figur der Maria wichtig, um das Ideal der bürgerlichen Familie zu verstehen. Maria verkörpert für die katholische Kirche ein heiliges, niemals erreichbares weibliches Idealbild: die liebevolle und sich aufopfernde Mutter, die zugleich rein und ewig „jungfräulich“ bleibt.

Jungfräulichkeit war für Mädchen und Frauen lange der einzige Weg, um Ansehen von Männern zu gewinnen, während sexuell aktive Frauen beschämt und erniedrigt wurden. Auch heute ist es noch das Idealbild, dass Mädchen und Frauen sich für „den Richtigen“ aufsparen sollen – für eine feste monogame Beziehung mit einem Mann, in der sie dann Sex haben und Kinder zur Welt bringen sollen.

In einer festen Partnerschaft oder Ehe angekommen, dürfen Frauen sich nicht mehr negativ über Schwangerschaft, Fortpflanzung und Mutterschaft äußern. Besonders unangenehm wird das beim Weihnachtsessen, wenn die Verwandten sich erkundigen, ob denn eigentlich schon Kinder geplant sind. An dieser Stelle müssen Frauen dann das übliche Programm abspulen und versichern, wie süß und toll Babys doch sind – sonst müssen die damit rechnen, mit vorwurfsvollen Blicken und Kommentaren gestraft zu werden.

Der Bezug zum Christentum ist allerdings nicht die Ursache für die bürgerliche Sexualmoral, sondern eher ein Vorwand zu ihrer Rechtfertigung. Aus der Bibel geht nicht einmal hervor, ob Maria wirklich eine Jungfrau im heutigen Sinne war. Früher wurde dieser Begriff genutzt, um junge, unverheiratete Frauen zu beschreiben, erst später wurde er mit der sexualisierten Bedeutung aufgeladen. Vielmehr geht es bei diesem sexistischen Märchen darum, die Unterdrückung der Frau und damit die geschlechtergetrennte Arbeitsteilung von Produktion und Reproduktion aufrecht zu erhalten. Durch diese können Kapitalist:innen mehr Profit generieren, da sie für diese unbezahlte Arbeit im Privaten nicht zahlen müssen. Eine hohe Geburtenrate garantiert ebenfalls einen Nachschub an zukünftigen Arbeitskräften.

Daher spielt der Glaube an „Jungfräulichkeit“ im Christentum immer noch eine große Rolle, und das hat fatale Auswirkungen: In manchen Ländern hält sich der Glaube daran, dass der Sex mit einer „Jungfrau“ einen Mann vor sexuell übertragbaren Krankheiten heilen könnte – dadurch sollen Vergewaltigungen gerechtfertigt werden. Des Weiteren soll der Glaube an die Jungfräulichkeit es in einigen Ländern legitimieren, das Heiratsalter von Mädchen bis zur Kinderehe herabzusenken. Selbst vor Gericht kommen noch medizinische Gutachten über „intakte Jungfernhäutchen“ zum Einsatz, und in Europa war das Ausbleiben von Blut beim „Ersten Mal“ lange ein gültiger Scheidungsgrund.

Aus der Angst vor Beschämung und Bestrafung hat sich ein profitabler Jungfräulichkeitsmarkt entwickelt, bestehend aus biologischem Unsinn wie „Jungfräulichkeits-Zertifikaten“, künstlichen „Jungfernhäutchen“, die mit Rinderblut gefüllt werden, überteuerten und lebensgefährlichen Operationen, in denen das „Jungfernhäuten“ wieder hergestellt werden soll, und einer beliebten Entjungferungs-Porno-Kategorie.

Da selbst im Medizinstudium falsche Fakten gelehrt werden, setzt sich erst langsam die Erkenntnis durch, dass Jungfräulichkeit ein kultureller Mythos ist und dass es kein „Jungfernhäutchen“ gibt, das beim Sex reißen kann. Im Sexualkundeunterricht wird Jugendlichen immer noch beigebracht, es wäre normal, beim Sex zu bluten und Schmerzen zu haben – ein Mythos, der durch Kinderehen und Zwangsheirat entstanden ist. Wer beim Sex blutet, hat eindeutig eine Verletzung erlitten, und solange das nicht an den Schulen gelehrt wird, werden Jugendliche weiterhin davon abgehalten werden, ihrem Körper zu vertrauen und im richtigen Moment „Stopp“ zu sagen!

Die willkürliche Einteilung in „Heilige“ und „Hure“ ist es, die das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie am Laufen hält. Damit wir alle das Weihnachtsessen ohne Scham und Schuldgefühle genießen können, fordern wir das Ende der Hetero-Norm und des Drucks, Kinder zu bekommen. Wir stehen ein für die freie Entfaltung der romantischen und sexuellen Orientierung, sowie der Geschlechtsidentität und des Lebensentwurfs!

Was wir brauchen, ist kein christlicher Religionsunterricht, der uns Slut Shaming und Rape Culture unter dem Deckmantel der Anatomie lernt, sondern ein Sexualkundeunterricht, der uns das Handeln nach Konsensprinzipien beibringt. Denn die gegenseitige Anerkennung unserer Bedürfnisse ist ein wichtiger Schritt, damit unser Weihnachtswunsch vom Kommunismus endlich in Erfüllung gehen kann.




6 Mythen über Weihnachten, die wir dem Kapitalismus zu verdanken haben

Von Leonie Schmidt, Dezember 2023

Weihnachten: Besinnlichkeit, Liebe und tolle Geschenke – oder?! Vielen dürfte klar sein, dass es sich hier um Mythen handelt, die für die meisten Menschen in der Realität komplett anders aussehen. Denn die unbeschwerte Weihnachtszeit voller Magie und Vorfreude, wie wir sie aus Erzählungen kennen und auf die wir jedes Jahr erneut hoffen, ist eine sorgfältig fabrizierte Illusion des Kapitalismus.

So schön und erstrebenswert sie auch erscheinen mag: Gerade jene kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen halten uns davon ab, im Dezember (und auch im Rest des Jahres) eine wirklich schöne Zeit zu verbringen. In diesem Artikel wollen wir uns sechs Mythen konkret anschauen.

Mythos 1: Weihnachten ist das Fest der Liebe und der Familie

In Werbungen und Weihnachtsfilmen können wir es sehen: die liebende Familie, die sogar für den rassistischen Onkel noch einen Platz am Tisch frei hat, in der sich niemand streitet (schon gar nicht über Politik) und alle zufrieden sind. Klingt zu schön um wahr zu sein, und so ist es auch, wenn wir uns die Zahlen dazu anschauen: 30% der Familien berichten von großen Streitigkeiten und 60% von massiven Beziehungsproblemen.

Wenn der Stress, die Überreiztheit und die enthemmende Wirkung von Alkohol aufeinandertreffen, können lebensbedrohliche Situationen entstehen. Um Weihnachten herum ist die Zahl der Femizide so hoch wie während keiner anderen Jahreszeit, niemals gibt es so viel Gewalt gegen Kinder. Die räumliche Enge, die Abschottung von sozialen Kontakten und Rückzugsorten außerhalb der Familie, sowie der erschwerte Zugang zu medizinischer Versorgung führen dazu, dass die Überfüllung der Frauenhäuser jetzt gerade ihren jährlichen Höchststand erreicht.

Diese Umstände sind auf die Veränderungen innerhalb der kapitalistischen Strukturen zurückzuführen: Früher wurde das Fest in der Dorfgemeinschaft begangen, nicht abgelegen im trauten Familienheim. Doch die Industrialisierung und der Wegzug vieler Arbeiter:innen in die Städte führte zu einer immer größeren Entfremdung von der Gemeinschaft und einem Rückzug in die Familie. Für die kleinbürgerliche Familie konnte ein besonders schönes, pompöses Weihnachtsfest zu einer Abgrenzung gegenüber dem ärmlichen Industrieproletariat werden. Während die Kinder der bürgerlichen Haushalte mit neuen Spielzeugen überschüttet wurden, bekamen die ärmeren Kinder nichts Vergleichbares. Besonders die Spielzeugindustrie hatte einen großen Einfluss darauf, dass Weihnachten zum „Fest des Kindes“ werden konnte, denn kaum eine andere Zeit im Jahr bietet so viele Möglichkeiten, den Umsatz anzukurbeln.

Dabei muss hinzugefügt werden, dass die Erfindung von Kinderspielzeug ihre Grundlage in der Wegentwicklung von den feudalen Lebensverhältnissen hat. Erstmals wurde die Kindheit als ein eigener, beachtenswerter Lebensabschnitt begriffen, den es mit Erziehung und Bildung zu füllen galt. Die Kinder der städtischen Gesellschaft sollten vom „echten Leben“ ferngehalten werden, wohingegen sie früher ein normaler Teil davon sein durften, und wenn sie noch so klein waren.

Um der Entmündigung, Vereinsamung und der Abhängigkeit vom Familienfrieden entgegen zu wirken, treten wir für die Vergesellschaftung von Hausarbeit und Wohnraum ein, um zu einem neuen, solidarischen Gemeinschaftsgefühl zu kommen, bei dem niemand auf der Strecke bleiben, geschweige denn in den Wintermonaten auf der Straße erfrieren muss.

Mythos 2: Früher gab es mehr Schnee an Weihnachten!

Weiße Weihnachten gibt es nicht mehr und Schuld ist der Klimawandel – oder? Wir wollen hier sicherlich nicht leugnen, dass sich die Durchschnittstemperaturen im Dezember in den letzten Jahren und Jahrzehnten erhöht haben. Aber mit dem Mythos der weißen Weihnachten müssen wir trotzdem brechen. Denn in vielen Regionen war es schon früher eine Ausnahme, wenn an Weihnachten Schnee lag.

Klassischerweise wird auch vom „Weihnachtstauwetter“ gesprochen, während der Januar der schneereichste Monat des Jahres ist. Deshalb waren viele Weihnachtskartenmotive bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher herbstlich bis frühlingshaft, bis es möglich wurde, Postkarten zu verschicken. Motive aus Neuengland wurden populär, wo Ende Dezember Schnee lag. Außerdem nahm in Europa der Alpentourismus zu, und zur Weihnachtszeit wurden aus diesen Regionen Postkarten mit Schneemotiven verschickt. Durch das Schüren der Sehnsucht nach Schnee wurde das Tourismus-Marketing weiter angekurbelt. Wer Lust auf weiße Weihnachten hatte, musste wegfahren. Die alpine Wirtschaft freut sich nach wie vor, wenn die Umsätze in die Höhe schießen, während die Natur in den Bergen unter dem Skitourismus leidet.

Heute kann die Besinnung auf weiße Weihnachten auch konservativ angehaucht sein, in Form der Romantisierung der „guten, alten Zeiten“, in denen das Leben noch in den richtigen Bahnen zu verlaufen schien, ohne öffentliche Liebesbekundungen von queeren Personen oder gar „gendern“. Auch die romantische Verklärung des Weihnachtsfests durch Weihnachtslieder und Romane wie „Eine Weihnachtsgeschichte“ von Charles Dickens führten zu dem Bild, dass an Heiligabend dicke Schneeflocken fallen und der Weihnachtsmann mit dem Schlitten kommen muss.

Mythos 3: Der Weihnachtsmann trug schon immer rot!

Apropos Weihnachtsmann: Klassischerweise trägt der ja rot und erinnert aufgrund seines Bartes manche von uns an Karl Marx. Doch der Weihnachtsmann ist alles andere als ein Marxist, denn jedes Jahr aufs Neue bringt er den reichen Kindern viel mehr und teurere Geschenke als den armen Kindern. Das führt nicht nur zu Enttäuschung unterm Weihnachtsbaum und einem schlechten Gewissen bei den Eltern, sondern auch zu Ausgrenzung in der Schulklasse für viele, die nicht mit Markenklamotten oder den neuesten technischen Geräten glänzen können.

Das Bild des Weihnachtsmannes in Rot ist eine Leistung der Marketing-Abteilung von Coca-Cola, welche dieses Bild seit vielen Jahrzehnten mit globalen Werbekampagnen prägt. Den Weihnachtsmann selbst gab es schon vorher: Er wurde im 16. Jahrhundert zum Leben erweckt und anschließend mit einem anderen Volksmärchen verbunden: dem Sankt Nikolaus, einem griechischen Bischof, der angeblich Nonnen aussendete, um den Armen Geschenke für ihre Familien zu überbringen. Daher stammt auch der englische Name „Santa Claus“.

Von diesem Gedanken ist heute wenig übrig geblieben, doch im Geiste dieser Tradition (Achtung: Ironie!) sollten wir uns für ein Mindesteinkommen für Jugendliche, Schüler:innen und Studierende einsetzen, angepasst an die Lebenssituation im jeweiligen Land, durch die Besteuerung von Reichtum und Kapital, sowie für die Enteignung der Betriebe unter Arbeiter:innenkontrolle, damit es der Armut nicht nur an Weihnachten an den Kragen geht!

Mythos 4: Die Weihnachtszeit ist besinnlich und friedlich

Die Weihnachtszeit ist ja sooo besinnlich, klar: Geschenke, Deko, Essen planen und organisieren, putzen und nebenbei auch noch Überstunden machen – läuft! Das trifft hinsichtlich der Hausarbeit und des Mental Load besonders Frauen, aber dazu erfahrt ihr in dem morgigen Artikel mehr.

Was noch hinzukommt ist, dass Frauen aufgrund ihrer Verpflichtungen im Haushalt auch oft im Niedriglohnsektor angestellt sind, oft auch mit mehreren Mini- oder Teilzeitjobs, um flexibel für die Kinder sorgen zu können. Die Arbeiter:innen in diesem Sektor müssen während der Weihnachtszeit besonders hart ackern. Denn wo sollen die Geschenke herkommen, wenn nicht aus den Läden, die in manchen Städten auch noch zum verkaufsoffenen Sonntag einladen? Das Gleiche gilt natürlich auch für die Gastronomie, die Logistik- und Paketdienste. Schlechte Arbeitsbedingungen, wenig Lohn, Überstunden und im schlimmsten Fall auch noch Kund:innen, die wütend werden, wenn irgendetwas nicht funktioniert, wie sie es möchten. Das ist die Realität von vielen, damit Weihnachten für alle anderen zum Erfolg werden kann.

Hier sollten wir für Lohnerhöhungen und Inflationsausgleiche eintreten, sowie, wie bereits erwähnt, die Frage der Enteignung unter Arbeiter:innenkontrolle aufwerfen. Denn nur im Sozialismus wäre es anschließend möglich, die gesamtgesellschaftliche Arbeitszeit zu verringern, damit nicht nur Weihnachten ruhig und besinnlich werden kann. Wir können zwar jetzt schon beispielsweise für eine 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich eintreten, jedoch ermöglicht erst die demokratisch-geplante und bedarfsorientierte Wirtschaftsweise einen derartigen Fortschritt, da auch viel weniger produziert werden müsste, wenn nicht “der Markt“ (aka die Kapitalist:innen) die Produktion bestimmt, sondern die Arbeiter:innen. Des Weiteren können auch so Ressourcen für Innovationen in der Produktion frei gemacht werden, um die Prozesse noch effektiver zu gestalten.

Auch für Schüler:innen bedeutet die Weihnachtszeit Stress: Kurz vor den Ferien stehen zahlreiche Klausuren an, und schon kurz nach den Ferien geht es weiter mit den Halbjahreszeugnissen. Von Leistungsdruck, Notenterror und dem ständigen Lernen gibt es kaum eine Verschnaufpause. Kann da wirklich noch von Besinnlichkeit die Rede sein?

Mythos 5: Selbstlosigkeit und Mitgefühl gehören zum Weihnachtsfest dazu!

Frieden und gute Taten gehören für viele zu den Weihnachtstraditionen dazu, besonders für wohlhabende Menschen. Dann schauen sie Filme mit rührseligen Botschaften an, packen Geschenke für Kinder aus bedürftigen Familien ein, sind besonders nett zu Obdachlosen und spenden an NGOs.

Was erst einmal toll klingt, hat natürlich einen konkreten Zweck: Wer sich einmal im Jahr durch eine Spende an die Tafel oder das Tierheim das Gewissen reinwäscht, braucht nicht wirklich für Veränderungen eintreten. Dann kann man weiterhin die SPD wählen und Kürzungen des Bürgergeldes befürworten, anstatt für gesellschaftliche Veränderungen einzutreten, mit denen Obdachlosigkeit und Armut auf den Scheiterhaufen der Geschichte geworfen werden können.

Eine solche Perspektive können uns NGOs nicht bieten, denn wenn sie im Kapitalismus bestehen wollen, dann müssen sie zu einem gewissen Grad auch nach dessen Regeln spielen. Auch, wenn nicht alle von ihnen nur Kapitalinteressen vertreten, dienen Stiftungen wie die Bill & Melinda Gates Foundation dazu, den Kapitalist:innen ein menschlicheres Antlitz zu verleihen und das System dadurch zu stabilisieren. Wir brauchen keine privaten Vereine, die sich mit ihrer Wohltätigkeit inszenieren und sich dabei große Teile der Spenden in die eigene Tasche stecken, sondern eine konsequente Verstaatlichung der Bildungs- und Gesundheitssektoren, damit unser Wohlergehen eben nicht länger von willkürlicher Spendenbereitschaft abhängt!

Auch Geschenke, mit deren Einnahmen vermeintlich soziale Zwecke unterstützt werden, wie beispielsweise handgefertigte Kerzen oder andere Produkte aus Behindertenwerkstätten, sollen nur die dortige Überausbeutung verschleiern. Anstatt eines Lohns bekommen die Arbeiter:innen dort ein sogenanntes „Taschengeld“ in Höhe von 1,46€ die Stunde. Zynischer geht es also gar nicht!

Ebenso zynisch ist es, wenn Arbeiter:innen in der Weihnachtszeit den einen oder anderen Happen von den Kapitalist:innen vorgeworfen bekommen: Weihnachtsfeiern, bei denen Essen und Getränke auf den Nacken des Chefs gehen sowie 20 Euro Wunschgutscheine statt Weihnachtsgeld dienen nur der kleinstmöglichen Befriedung der Arbeiter:innen, um den Frust aufgrund der Krise und Inflation etwas abzuschwächen, anstatt einfach mal ein höheres Gehalt zu zahlen. Altruismus sieht anders aus!

Mythos 6: Die Weihnachtszeit macht dick!

Über die Weihnachtszeit nimmt man zu – logisch, wenn man die ganze Zeit von Leckereien und fettigen Speisen umgeben ist. Aber Moment mal, die Statistiken zeichnen ein ganz anderes Bild: Die „Weihnachtspfunde“ betragen im Durchschnitt 370 Gramm, das ist weniger als ein halbes Kilo und damit wirklich nicht der Rede wert.

Warum hält sich dieser Mythos dennoch so hartnäckig?! Dafür sollten wir einen Blick darauf werfen, was direkt nach Weihnachten ansteht: Richtig, der Jahreswechsel. Zu einem der beliebtesten Neujahrsvorsätzen gehört es, abzunehmen. Deshalb schießen die Mitgliedszahlen in den Fitnessstudios zu Beginn des Jahres massiv in die Höhe: um ca. 30% steigen die Neuanmeldungen im Januar und Februar. Damit die Diätindustrie mitsamt Abnehmpillen, Schönheits-OPs, Fitnessstudio-Mitgliedschaften und Sport-Equipment was reißen kann, wird der Irrglaube der „Weihnachtspfunde“ in unsere Köpfe gepflanzt.

Neujahr ist die perfekte Gelegenheit, um die christlichen Tugenden der Mäßigung, des Fastens und des Verzichts zu Geld zu machen. Nicht umsonst wird Schokolade mit Vokabeln wie Sünde, Verführung und Versuchung beworben. Erst sollen wir zu Weihnachten die Waren kaufen und essen, und anschließend sollen wir uns dafür schlecht fühlen und Buße leisten, weil wir uns durch die christliche Todsünde der „Völlerei“ von Gott abgekehrt haben.

Es wird verlangt, dass wir außer Acht lassen, dass Essen ein Grundbedürfnis ist, und uns von unserem eigenen Körper entfremden, indem wir unser Hungergefühl als einen bösen Trieb verstehen, der bezwungen werden muss, um näher am „Heiligen“ und weniger abhängig vom „Weltlichen“ zu sein.

Wir sind dagegen, dass die Marketing-Abteilungen der Schönheitsindustrie uns einreden, unsere Körper wären nicht gut genug. Daher sagen wir: Gegen die unterdrückerischen Schönheitsideale in Werbung und Medien! Enteignet die großen Medienhäuser und die kulturschaffende Industrie!




Care-Arbeit: Eine unsichtbare Form patriarchaler Gewalt?

Von Erik Likedeeler, November 2023

Im Zuge des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen wollen wir uns nicht nur die offensichtlichen Formen von patriarchaler Gewalt anschauen, sondern auch das Verhalten, das erst auf den zweiten Blick als Gewalt erkennbar ist. Beispielsweise kann der lebenslange Zwang zur Care-Arbeit, unter dem proletarische Frauen stehen, als eine Form der Gewalt betrachtet werden – genauso wie sämtliche Strategien, die Männer anwenden, um sich vor dieser Arbeit zu drücken. In diesem Artikel wollen wir uns anschauen, welches Verhalten in Bezug auf Care-Arbeit in heteronormativen Beziehungen, Ehen und Familien vorherrschend ist und welche schädlichen Folgen das mit sich bringen kann.

Wer trägt die Verantwortung im Haushalt?

Wenn Frauen ihren Partnern mitteilen, dass diese zu wenig im Haushalt arbeiten, bekommen sie häufig folgende Antwort: „Du hättest mich einfach fragen müssen.“ Doch wenn jemand erwartet, dass man ihm Aufgaben überträgt, dann weigert er sich, seinen Teil der Planung und Verantwortung zu übernehmen.

Denn das Organisieren von Care-Arbeit, auch Mental Load genannt, ist bereits ein Vollzeit-Job. Es ist keine gerechte Aufteilung gewährleistet, wenn eine Person die gesamte Planung macht und die Arbeit selbst dann auch nochmal 50/50 aufgeteilt wird. In seinem eigenen Haushalt „hilft“ man nicht – man macht einfach seine Aufgaben.

Das Wegschieben der Verantwortung zeigt sich zum Beispiel dann, wenn Männer nur mit Schlüssel und Handy aus dem Haus gehen, während Frauen in ihrer Tasche alles mitschleppen, was sie selbst, der Mann, das Baby oder der Hund potentiell brauchen könnten. Männer machen sich gern darüber lustig, dass Frauen so „kompliziert“ seien und alles tausend Mal überdenken würden. Die Wahrheit ist: Frauen sind dazu gezwungen, gedanklich alle möglichen Katastrophen durchzuspielen, weil sie die Verantwortung für so vieles tragen müssen und Männer sich keine Mühe machen, ihnen diese Last abzunehmen.

Zudem zeigt sich die Tendenz, dass Männer das überschätzen, was sie im Haushalt tun. Viele von ihnen glauben, sie würden mehr machen als das, was sie eigentlich leisten. Sie nehmen den Haushalt als gleichberechtigt aufgeteilt wahr, doch das können nur die wenigsten Frauen bestätigen.

Emotionale Arbeit ist Care-Arbeit

Teil der Care-Arbeit ist auch die emotionale Arbeit, also alle unsichtbaren Aufgaben, die mit Rücksicht, Einfühlung und Empathie zu tun haben. Dazu gehören zum Beispiel Streitschlichten, ein Geschenk besorgen, einen Ausflug organisieren, bei Problemen zuhören, ein Zimmer schön dekorieren, eine Massage geben oder jemanden trösten.

Emotionale Arbeit lässt sich schwer messen und vergleichen, weil sie nicht wie Care-Arbeit in einer bestimmten Zeit geleistet wird, sondern immer im Hintergrund existiert. Wenn man sich über fehlende emotionale Arbeit beschwert, fühlt man sich schnell, als würde man übertreiben, da es ja nur um „kleine Dinge“ geht, die man halt mal „aus Nettigkeit“ macht.

Die Feststellung, dass es häufig Frauen sind, die diese Aufgaben übernehmen, wird von Männern oft so gekontert, dass ja niemand Frauen dazu zwingen würde, emotionale Arbeit zu leisten, dass sie das quasi freiwillig machen würden und einfach damit aufhören könnten.

Aber ist es nicht ein erschreckender Gedanke, dass manche Männer lieber in einer Welt ohne intime Gespräche und Geburtstagskuchen leben würden, als sich selbst darum zu kümmern?

Antrainierte Zuständigkeit

Ob man sich für bestimmte Aufgaben zuständig fühlt oder nicht, hängt natürlich nicht mit irgendwelchen Körperteilen, Hormonen oder angeborenen Fähigkeiten zusammen, sondern damit, ob einem vermittelt wird, dass man für eine Aufgabe zuständig ist.

Es gibt den sogenannten Priming-Effekt: Wenn wir einen bekannten Gegenstand sehen, wird unser Gehirn geprimet, also darauf vorbereitet, ihn schneller zu erkennen, weil eine Verbindung zwischen dem Gegenstand und unserem Gedächtnis hergestellt wird. Ein Gegenstand, den wir schon mal gesehen und benutzt haben, ist uns vertraut und wir können ihn schneller erkennen. Wir haben ein mentales Bild davon in unserem Gedächtnis eingespeichert und das Gehirn benötigt weniger Zeit, um Informationen darüber zu verarbeiten.

Das führt uns zur sogenannten Affordanz-Auffassung: So wird es genannt, wenn wir eine Situation wahrnehmen und darin eine Aufgabe erkennen, die erledigt werden muss. Bei Jungs und Männern bildet sich durch die Sozialisation ein unerfahrener Blick auf Haushaltsgegenstände und Care-Arbeit heraus. Eine Ratlosigkeit, aber auch die Unfähigkeit, zu erkennen, dass man gerade etwas machen sollte – häufig in Kombination mit dem arroganten Glauben, dass es ja gar nicht sein könnte, dass man etwas nicht auf den ersten Blick erfasst.

Wenn man im gemeinsamen Haushalt einen vollen Wäschekorb sieht, reicht es also nicht, zu denken: „Ah, ein Wäschekorb“. Sondern es muss der Gedanke einsetzen: „Ich sollte die Wäsche waschen, am besten gleich heute.“

Unterschiedliche Standards oder ästhetische Arbeit?

Leider haben Männer sich zahlreiche Strategien und Ausreden angeeignet, um in ihrer  Bequemlichkeit auszuharren. Diese zu entlarven ist ein wichtiger Schritt, um sie zur Verantwortung ziehen zu können.

Ein beliebter Trick, um sich aus der Care-Arbeit herauszuwinden, ist es, unterschiedliche Standards vorzutäuschen. Wer kennt es nicht?  Männern ist es halt einfach „nicht so wichtig“, dass das Bett alle paar Wochen bezogen wird oder der Abfluss gereinigt wird. Sie haben halt „nicht so hohe Standards“. Aber wieso kann es Männern eigentlich egal sein, wenn sie in einem Drecksloch hausen?

Das liegt zum Beispiel daran, dass sie für diese Nachlässigkeiten nicht befürchten müssen, gesellschaftlich abgestraft zu werden. Frauen hingegen müssen viel öfter erleben, dass vorwurfsvolle Kommentare zur unordentlichen Wohnung an sie gerichtet werden. Scham und Schuld bleiben an ihnen hängen.

Denn spätestens seit der bürgerlichen Revolution gehört auch die ästhetische Arbeit zum weiblichen Rollenbild. Der Haushalt soll nicht nur praktisch geführt werden, sondern auch repräsentativ. Als „Angel in the House“ hat die Frau nicht nur essbare Mahlzeiten zu kochen, sondern liebevoll zubereitete Menüs. Sie soll nicht nur kurz den Boden fegen, sondern schicke Teppiche besorgen und diese aufwändig reinigen.

In den letzten Jahren ist auch noch die Anforderung des „nachhaltigen Konsums“ obendrauf gekommen, denn auch dieser ist mit weiblich konnotierter Care-Arbeit verbunden: Hauptsächlich Frauen waschen Stoffwindeln, stecken Zeit und Energie in die Auswahl der „richtigen“ Produkte, um eine pflanzliche Ernährung zu gewährleisten oder Dinge selbst herzustellen, die man einfach fertig kaufen könnte.

Inkompetenz ist kein Zufall

Eine weitere Strategie ist die Weaponized Incompetence oder auch strategisch eingesetzte Inkompetenz. Diese liegt vor, wenn jemand die Tatsache, dass er eine Aufgabe im Haushalt nicht beherrscht, als Ausrede benutzt, um sie jemand anderen machen zu lassen. Oder auch, Dinge gar nicht erst zu lernen, weil sie ja sowieso jemand anders übernimmt und man es eh nur falsch machen würde.

Diese Weigerung, dazuzulernen, kommt Frauen teuer zu stehen: Sie verbringen durchschnittlich 3 Stunden pro Woche damit, Arbeiten noch einmal auszuführen, die eigentlich ihrem Partner zugeteilt waren. Das Gespräch, in dem man Männern mitteilen muss, dass sie nicht gut genug waren, ist oft anstrengender, als die Arbeit selbst zu machen.

Als Paternal Underperformance wird es bezeichnet, wenn Männer, insbesondere Väter, Aufgaben absichtlich in den Sand setzen, einfach nur, damit sie beim nächsten Mal nicht mehr danach gefragt werden. Gern stellen sie sich als ein Opfer ihrer eigenen Sozialisation dar, weil sie nie beigebracht bekommen haben, wie man einen Backofen anschaltet oder den Boden wischt.

Der „Idiot Dad“ ist zu einer richtigen Kulturtechnik geworden. Aber ist es nicht eigentlich erbärmlich, wenn Frauen ihren Ehemann als ein „zusätzliches Kind“ bezeichnen, oder wenn Väter so tun, als wüssten sie nicht, wann ihr Kind Geburtstag hat oder wie man es wickelt?

Kein lustiges Klischee, sondern Gewalt

In diesem Verhalten kann man wirklich nur dann Unterhaltungswert sehen, wenn man nicht selbst darunter leidet und sämtliche Fehler ausbaden muss. Es handelt sich bei dieser Arbeitsverweigerung nicht um eine sympathische, gemütliche Faulheit oder Entspanntheit, sondern um psychische Gewalt. Die bittere Realität zeigt sich anhand einer Studie aus den USA, wo 21% der Männer ihre Frau verlassen, wenn diese schwerkrank ist. Umgekehrt sind es nur 3% der Frauen.

Außerdem hat die sich ständig wiederholenden Aufgaben Einfluss auf die geistige und körperliche Gesundheit. Personen mit repetitiven Aufgaben neigen stärker zu geistiger und körperlicher Ermüdung. Außerdem können Stress und Angstzustände sich verstärken. Ein Mangel an Abwechslung führt zu Langeweile, Unruhe und Unzufriedenheit. Es ist ein sich selbst verstärkender Prozess aus Leistungsabfall und Erschöpfung. Ebenso kann der ausgeübte Druck, der Rolle als Mutter oder Hausfrau zu entsprechen, eine explizit ausgeübte Form der psychischen Gewalt sein.

Care-Arbeit ist ein Skill!

Natürlich darf der Diskus über Care-Arbeit nicht damit enden, dass diese einfach nur als nervig, unnütze und überflüssig abgewertet wird. Nicht jede Care-Arbeit ist intellektuell einfach. Auch im Haushalt gibt es komplizierte Aufgaben, wie zum Beispiel Feiertage planen oder im Supermarkt Preise vergleichen und ausrechnen, ob das Geld bis zum Ende des Monats reicht. 

Zudem birgt Care-Arbeit einige Gefahren: Als Pfleger_In hebt man teils schwerere Gewichte als auf der Baustelle und setzt sich multiresistenten Keimen aus. Beim Putzen kommt man mit toxischen Substanzen in Berührung, die zu Atemproblemen, Hirnschäden und Krebs führen können – doch auch körperliche Folgen von Care-Arbeit werden kaum anerkannt.

Natürlich kann man den Haushalt jetzt immer noch nervig finden. Aber noch nerviger ist es, wenn man ihn komplett allein machen muss – und wenn man als zickig und nörgelnd abgestempelt wird, nur weil man Beteiligung einfordert. Denn ausschließlich im Haushalt gilt man als pingelig, überkorrekt oder hat einen „Fimmel“, wenn man ihn richtig macht und sich Mühe gibt. Bei allen anderen Themen von Technik bis Finanzen hingegen gilt Genauigkeit als ein nützlicher Skill.

Weiblich kategorisierte Arbeit darf hingegen niemals als Skill gelten, der gelernt werden muss – sonst müsst ja als nächstes die Anerkennung erfolgen. Nach wie vor gilt Wissen über Care-Arbeit nicht als richtiges Wissen, so wie auch das ganze Thema als „Frauenthema“ gilt, welches mit „richtiger“ Politik nichts zu tun hätte.

Der unabhängige Mann: Ein Mythos

Dabei ist es Care-Arbeit, welche die gesamte Gesellschaft am Laufen hält. Immer noch hält sich die gesellschaftliche Vorstellung eines unabhängigen männlichen Künstlers, Wissenschaftlers, Herrschers oder Sportlers. Ein self-made Millionär, ein einsames Genie. Was unsichtbar bleibt, ist, dass all diese männlichen „Helden“, egal ob Berthold Brecht oder Karl Marx, im Hintergrund Frauen hatten, die ihre Termine verwaltet haben, ihre Entwürfe Korrektur gelesen haben und ihnen das Klo geputzt haben, teilweise auch für wichtige Erkenntnisse in ihren Werken verantwortlich waren und dafür nie Anerkennung bekommen haben.

Care-Arbeit und Mental Load hindern Frauen daran, eigene Arbeiten zu veröffentlichen. Das hat sich während der Corona-Lockdowns verstärkt gezeigt, als die wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Frauen um 30% zurückgingen.

Warum ist Care-Arbeit überhaupt privatisiert?

Diese strikte Rollenaufteilung ist natürlich kein Zufall, genauso wenig, wie sie sich auf irgendeine steinzeitliche Jäger_Innen-Sammler_Innen-Gesellschaft zurückführen lässt. Vielmehr liegt die Ursache in der Klassengesellschaft. In marxistischen Theorien wird Care-Arbeit auch als Reproduktionsarbeit bezeichnet, denn sie dient dazu, die Arbeiter_Innen wieder fit für einen weiteren Arbeitstag zu machen.

Bei der Reproduktionsarbeit wird allerdings kein Mehrwert erzeugt, den Kapitalist_Innen für sich selbst einstreichen könnten. Weil sie also kein Interesse daran haben, die Kosten für die Care-Arbeit zu tragen, wird diese in die Privathaushalte ausgelagert. Um diesen Zwang zu festigen, bildete sich die bürgerliche Kleinfamilie heraus, bestehend aus den Kindern, der Mutter als Zuständige für den Haushalt und dem Vater als Familienoberhaupt.

Wenn Frauen durch sozialen Druck und Gewalt eine feste Zuständigkeit dafür aufgedrückt wird, bedeutet das im Umkehrschluss, dass Männer mehr Lohnarbeit leisten können, was den Kapitalist_Innen mehr Gewinn gibt. Sozialleistungen werden insbesondere in wirtschaftlichen Krisen gekürzt, um Frauen im Privathaushalt die Kosten tragen zu lassen. Gleichzeitig verdienen Frauen durch diese Doppelbelastung meist weniger und sind somit vom Einkommen ihres Partners abhängig.

Aus der Care-Arbeit herauskaufen können sich nur bürgerliche Frauen, welche für diese Aufgaben proletarische Frauen anstellen. So sind die Global Care Chains entstanden, bei denen z.B. osteuropäische Frauen nach Westeuropa kommen, um unter miserablen Arbeitsbedingungen und für einen Hungerlohn Care-Arbeit für andere verrichten.

Die bürgerliche Familie abschaffen!

Unsere Vorstellung davon, wie Care-Arbeit gerecht aufgeteilt werden kann, sieht völlig anders aus. Natürlich ist es wichtig, dass Männer lernen, endlich ihren Anteil zu übernehmen, aber am Ende bleiben wir damit immer noch von ihrer individuellen Motivation abhängig.

Damit das nicht so bleibt, müssen wir die bürgerliche Familie abschaffen und die Care-Arbeit vergesellschaften. Durch den Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung und die Einführung von gemeinsamen Wäschereien und Kantinen können wir der Isolation entgegenwirken. Auch eine massive Investition in das Gesundheitssystem ist nötig, um die Angehörigen von pflegebedürftigen Menschen zu entlasten.

Diese Vergesellschaftung kann nur durch eine soziale Revolution erreicht werden. Die Kontrolle über Lohn und Arbeitsbedingungen muss bei den Arbeiter_Innen liegen, welche diese Beschlüsse in Räten umsetzen. Nur so ist es möglich, sich von dem ausbeuterischen und gewaltvollen System der privatisierten Care-Arbeit zu verabschieden.




Toxische Beziehung? Nein, psychische Gewalt!

Von Leonie Schmidt, November 2023

Heute ist der 25.11., der Tag gegen patriarchale Gewalt. Und während auch heute wieder viel über körperliche Gewalttaten bis hin zu Femiziden gesprochen wird, bleibt psychische Gewalt eher im Dunkeln zurück. Und das obwohl den Schlägen, Tritten und Messerstichen oftmals Verbote, Verhöhungen und Drohungen zuvorkommen (BMFSJ 2014: 91f). Auch wird psychische Gewalt oft unter das Deckmäntelchen der „toxischen Beziehung“ gesteckt. Das passiert auch in linken Kreisen, wenn feministische Gruppen Dinge verlauten lassen wie: „Uns liegt kein Tätervorwurf vor, nur der Vorwurf einer toxischen Beziehung.“ Warum ist das aber so gefährlich? Im folgenden Beitrag wollen wir herausarbeiten, warum der Begriff der toxischen Beziehung die Machtverhältnisse verschleiert und Täter davor schützt, zur Verantwortung gezogen zu werden.

Laut einer Studie des BMFSJ ist in Deutschland ca. jede 5. Frau Opfer psychischer Gewalt in einer bestehenden Paarbeziehung (2014: 207). Eine andere Studie führte zu dem Ergebnis, dass 42 % der befragten Frauen im Erwachsenenalter bereits unter psychischer Gewalt litten (Schröttle & Müller 2004: 7). Hierbei ist natürlich anzumerken, dass die Dunkelziffer höher sein dürfte, denn viele Betroffene erkennen oftmals nicht die Gewalt, die ihnen angetan wird, oder trauen sich nicht, diese auszusprechen. 87,5 % der Frauen, die „lediglich“ psychischer Gewalt in Form von Drohungen ausgesetzt waren, ohne darauffolgend auch noch körperliche Gewalt zu erleben, gaben an, dass sie das als belastend empfinden und unter erheblichen psychischen Beschwerden leiden würden (BMFSJ 2014: 24). Psychische Gewalt ist also alles andere als harmlos. Was aber genau wird unter psychische Gewalt gezählt? Bei der erwähnten Studie wurde das unter den folgenden Begriffen zusammengefasst: Extreme Eifersucht, Kontrolle & Dominanz, verbale Aggressionen & Drohungen, Demütigungen, sexuelle Übergriffigkeiten und ökonomische Kontrolle. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass der Täter der Betroffenen den Kontakt zu Freund_Innen verbietet, finanzielle Ausgaben überwacht oder einschränkt, verbietet, was die Betroffenen anziehen dürfen, Drohungen ausspricht, die Betroffenen beleidigt, als dumm bezeichnet, vor anderen runtermacht, ihre Anwesenheit komplett ignoriert und nicht auf sie reagiert oder auch explizit einfordert, dass die Betroffene ihrer Geschlechterrolle als Hausfrau oder Mutter nachkommen solle. Es gibt natürlich noch viele weitere Beispiele, mit denen man unzählige Seiten füllen könnte. Wichtig ist aber noch, dass das Ganze natürlich im Ausmaß variieren kann und es nicht alles Genannte auf einmal auftreten muss und die verschiedenen Formen auch abwechselnd auftreten können.

Toxische Beziehung? Was soll das überhaupt sein?

Seit das Modewort „toxisch“ einen Einzug in unseren Sprachgebrauch gefunden hat, hören wir es ständig, so auch, wenn beschrieben werden soll, dass eine Beziehung vor allem verbale Gewalt beinhaltet. Aber die „toxische Beziehung“ ist überhaupt kein Fachbegriff, und so ist es schwierig, näher zu definieren, was das alles konkret beinhalten soll. Jedoch wird das Wort „toxische Beziehung“ oftmals gleichbedeutend mit psychischer Gewalt verwendet. Allerdings wird es noch mit einer zusätzlichen Bedeutung versehen, und zwar: Es gibt nicht einen Haupttäter, sondern beide Parteien sind irgendwie einfach „toxisch“ füreinander und das Zusammenspiel aus ihrem Verhalten führt zu diesem explosiven, giftigen Gebräu. Wir wollen an dieser Stelle nicht leugnen, dass es diese Konstellationen auch gibt. Jedoch dürfte die Mehrheit der Fälle einen zumeist männlichen Haupttäter haben und der Begriff der „toxischen Beziehung“ macht aus einem gesamtgesellschaftlichen strukturellen Problem ein individuelles. Studien kommen zwar immer wieder zu unterschiedlichen Ergebnissen, ob die Haupttäter_Innen psychischer Gewalt nun Männer oder Frauen sind, aber Verzerrungen basieren oftmals ebenso auf Geschlechterrollen, insofern, dass Frauen in ihrer Sozialisierung eher lernen, Fehler einzugestehen, oder eher etwas als psychische Gewalt kategorisieren, als Männer das tun. So spricht das BMFSJ in einer Pressemitteilung von 2023 davon, dass 80,1% der Betroffenen von Partnerschaftsgewalt im Jahr 2022 weiblich sind, während 78,3 % der verdächtigten Täter männlich sind. Offensichtlich kann es auch an dieser Stelle zu Verzerrungen kommen, denn diese Zahlen basieren auf den kriminalstatistischen Auswertungen des Bundeskriminalamts, und viele Fälle, insbesondere psychischer Gewalt, werden natürlich nicht gemeldet, teilweise auch, weil sie nach deutschem Recht keine Straftat darstellen.

Weswegen entsteht (psychische) Gewalt in Partnerschaftsbeziehungen?

Um uns der Antwort zu nähern, warum wir von mehrheitlich männlichen Tätern ausgehen, gilt es, sich anzuschauen, weswegen (psychische) Gewalt überhaupt entsteht. Beziehungsgewalt basiert nämlich auf einem ungleichen Machtverhältnis, denn all die vorher beschrieben Formen der psychischen Gewalt zielen darauf ab, dass sich die betroffene Person (weiterhin) unterordnet. Macht in zwischenmenschlichen Beziehungen ist aber nichts, was einfach in einem Vakuum entsteht, genauso wie der Anspruch, Macht ausüben zu dürfen. Denn häusliche Gewalt findet im Rahmen der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung statt, welche als Institution elementar für das Fortbestehen des Kapitalismus ist.

Während die bürgerliche Familie in der herrschenden Klasse eine andere Funktion hat, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, übernimmt sie in der Arbeiter_Innenklasse wesentliche Aufgaben zur Reproduktion der Klasse selbst und somit letztendlich auch des Kapitalismus. Denn hier findet die Reproduktion der Ware Arbeitskraft statt, was alle Tätigkeiten meint, die notwendig sind, damit die Arbeitenden am nächsten Tag wieder am Arbeitsplatz erscheinen und ihrer Arbeit nachgehen können. Darunter zählt also Kochen, Putzen, Wäsche waschen, aber auch emotionale Sorgearbeit. Auch die Erziehung von Kindern fällt mit unter diese Kategorie, damit sich so die Arbeiter_Innenklasse als Ganzes neu reproduzieren kann.

Um eine für das Kapital so günstig wie mögliche Reproduktion durchzusetzen, wird diese ins Private gedrängt. Die Arbeiten werden vor allem von Frauen unentlohnt verrichtet. Dies bildet die Basis für reaktionäre Rollenbilder, so dass diese ihrerseits stetig zur Reproduktion der geschlechtlichen Arbeitsteilung beitragen. Das beginnt schon im Kleinkindalter durch Sozialisierung und erstreckt sich über das ganze Leben.

Die Familie existierte aber nicht schon immer, sondern entwickelte sich über die Klassengesellschaften zur heutigen Form hin, und die konkrete Ausprägung heutzutage ist von der jeweiligen Gesellschaftsverfassung abhängig. Im Allgemeinen gilt der Mann als Ernährer der Familie, wohingegen die Frau als Hausfrau tätig wird. Das ist natürlich ein Ideal, was besonders für die Arbeiter_Innenklasse schwer zu erreichen ist, jedoch zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs zumindest für die bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen ansatzweise etabliert werden kann. Zugleich wird sowohl mit der Expansion des Kapitalismus wie auch in der Krise die ökonomische Basis der lohnabhängigen Familie massiv unterhöhlt.

Die Krise der Familie bildet die strukturelle Grundlage der Gewalt gegen Frauen in der Arbeiter_Innenklasse innerhalb von Familien oder partnerschaftlichen Beziehungen, welche der Familie ähneln. Denn durch diese hat der Mann das Problem, dass er der Rollenerwartung als Ernährer der Familie nicht mehr nachkommen kann, während die Frauen einerseits in die Lohnarbeit gezwungen werden und andererseits aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor, in welchem sie oft tätig sind, nicht die Möglichkeit haben, dem Täter zu entfliehen. Dieses widersprüchliche Verhältnis zwischen Idealbild, Geschlechterrolle und Notwendigkeit der Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht im Rahmen des Kapitalismus aufzulösen und sorgt letzten Endes in seiner Unabdingbarkeit und Perspektivlosigkeit auch dafür, dass die extremste Form der häuslichen Gewalt, der Femizid, zu Tage tritt.

Hinzukommt, dass aggressives Verhalten in der männlichen Sozialisation und im männlichen Rollenbild nicht geahndet, sondern eher bestärkt wird. Kontrolle und Eifersucht werden gar als romantisch angesehen, Vorschreiben der Kleidung als Sorge um die Sicherheit, eine nichtarbeitende Hausfrau haben zu wollen als „provider mindset“, usw.

Betroffene wehren sich – und werden selbst zu Täter_Innen?!

Manche Betroffene, welche nicht aus der gewaltvollen Situation fliehen können und Tag ein Tag aus missbräuchlichem Verhalten ausgesetzt sind, haben irgendwann genug und beginnen sich zu wehren, denn es gibt immer eine Grenze hinsichtlich dessen, was eine Person ertragen kann. Das wird auch als reactive abuse bezeichnet. Die Bezeichnung ist aber eigentlich eher ungenau, da es sich in diesem Moment viel mehr um eine Art Selbstverteidigung handelt, da die Betroffenen durch die andauernde Gewalt in einen „Fliehen oder Kämpfen“-Modus gebracht werden. Diese Reaktion auf konstante Gewaltausübung wird vom Täter aber genutzt, um eine Täter-Opfer-Umkehr durchzuführen oder auch um den Begriff der toxischen Beziehung zu verwenden. Denn immerhin hat die betroffene Person sich ja jetzt auch mal falsch verhalten. Hier zeigt sich auch wieder, was wir gesamtgesellschaftlich als Bild von dem „perfekten Opfer“ haben. Das „perfekte Opfer“ soll stillsitzen, ertragen, schüchtern und am Boden zerstört sein, damit die Gesellschaft ihr wirklich Glauben schenken kann. Wenn sie dann aber nach monate- oder jahrelanger psychischer Gewalt anfängt, nicht alles hinzunehmen, hat sie jegliche Chance darauf vertan, dass zumindest anerkannt wird, dass es sich wirklich um ein missbräuchliches Verhältnis handelt. Hier wird eben auch der Begriff der „toxischen Beziehung“ zum Mittel für den Täter, um sich aus der Verantwortung zu ziehen. Denn der Begriff kann schließlich beschreiben, dass es sich nicht um Missbrauch, sondern um ein gegenseitiges falsches Verhalten handelt.

Es heißt psychische Gewalt!

Als Marxist_Innen dürften wir die Augen nicht davor verschließen, dass Beziehungsgewalt, auch wenn sie so vermeintlich unsichtbar daherkommt wie psychische Gewalt, ein patriarchal geprägtes Phänomen ist. Da es sich um kein individuelles Problem handelt, sollten Begriffe wie „toxische Beziehung“, die diesen Missbrauch verharmlosen und Täter-Opfer-Umkehr begünstigen, zwingend hinterfragt und geprüft werden. Um Beziehungsgewalt also zu beenden, müssen wir den Kapitalismus mitsamt seinen patriarchalen Strukturen überwinden. Aber es gilt selbstverständlich, im Hier und Jetzt anzusetzen, weswegen wir den massiven Ausbau von Beratungsstellen und Unterkünften für Betroffene von partnerschaftlicher und/oder häuslicher Gewalt fordern. Diese sollen bezahlt werden durch die Gewinne der Kapitalist_Innen und der Enteignung ihrer Betriebe. Des Weiteren setzen wir uns ebenso für massive Investitionen in den Gesundheitssektor ein, damit es genügend Therapiemöglichkeiten gibt. Natürlich braucht es auch massive Aufklärungskampagnen in den Gewerkschaften und Organisationen der Arbeiter_Innenklasse und Jugend. Ebenso relevant ist die Vergesellschaftung der Hausarbeit, um einen Grundstein zu legen, das gesellschaftliche Zusammenleben zu transformieren. Einerseits würde das die Isolation aufheben, in der partnerschaftliche und häusliche Gewalt oftmals erst möglich wird, und andererseits wäre es ein wichtiger Schritt, dem Ideal der bürgerlichen Familie und somit den Geschlechterrollen an den Kragen zu gehen.

Quellen:

BMFSJ (2014): Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen. Eine sekundäranalytische Auswertung zur Differenzierung von Schweregraden, Mustern, Risikofaktoren und Unterstützung nach erlebter Gewalt,
https://www.bmfsfj.de/resource/blob/93968/f832e76ee67a623b4d0cdfd3ea952897/gewalt-paarbeziehung-langfassung-data.pdf.

BMFSJ (2023): Häusliche Gewalt im Jahr 2022: Opferzahl um 8,5 Prozent gestiegen – Dunkelfeld wird stärker ausgeleuchtet,
https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/haeusliche-gewalt-im-jahr-2022-opferzahl-um-8-5-prozent-gestiegen-dunkelfeld-wird-staerker-ausgeleuchtet-228400.

Laderer, Ashley (2022): If you’ve ever lashed out against your abuser, it doesn’t make you abusive — here’s why, https://www.insider.com/guides/health/sex-relationships/reactive-abuse.

Schröttle, M. & Müller, U. (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland,
https://www.bmfsfj.de/resource/blob/84316/10574a0dff2039e15a9d3dd6f9eb2dff/kurzfassung-gewalt-frauen-data.pdf