Barbie: Dauerwerbesendung für pinken Kapitalismus? Eine marxistische Filmkritik

von Leonie Schmidt, Juli 2023

Nachdem der neue Barbiefilm (Greta Gerwig, 2023 USA) letzte Woche in den Kinos anlief und dabei einen unglaublich erfolgreichen Raketenstart hinlegte, gab es direkt die ersten Kritiken von Konservativen, die sich beschwerten, der Film würde sich gegen Männer richten, sei zu woke und würde unchristliche Werte vermitteln. Die positiven Kritiken hingegen versprachen stattdessen ein feministisches Spektakel voller Kritik am Patriarchat, radikalisierend oder gar revolutionär. Nach diesen zwiegespaltenen Rezensionen wollte sich unsere Autorin Leonie Schmidt selbst überzeugen. Hier könnt ihr die vollständige Kritik lesen.

Worum geht es?

In einem Land namens Barbieland lebt die stereotypische Barbie (Margot Robbie) zusammen mit verschiedenen anderen Versionen von Plastikpuppen und ihren Begleitern, den Kens (und Allan (Michael Cera)). Obwohl ihr Leben unter den vielen anderen Barbies und Kens perfekt erscheint, hegt sie eines Tages Selbstzweifel und wird von Angstgefühlen geplagt, da sie auf einmal Makel bekommt, die sie vorher nicht hatte. Dies führt dazu, dass sie Barbieland verlassen muss, um wieder perfekt zu werden und zusammen mit ihrem Begleiter Ken (Ryan Gosling) in die reale Welt reisen muss. Während dieser Reise verwandeln sie sich auf magische Weise in echte Menschen und landen in Los Angeles. Das sexistische Verhalten der Menschen und die Unterschiede zur Welt in Barbieland irritieren Barbie. Gleichzeitig begibt sie sich auf die Suche nach ihrer langjährigen Besitzerin, von der sie glaubt, sie in der frechen Teenagerin Sasha (Ariana Greenblatt) gefunden zu haben. Währenddessen entdeckt Ken während eines Spaziergangs durch die Stadt, dass die reale Welt im Gegensatz zu Barbieland von einem Patriarchat dominiert wird. Durch diese Reise verändert sich so einiges in Barbieland: Ken will dieses Paradies ebenfalls in ein Patriarchat mit Pferden und Mango-Bier verwandeln. Nun geht es darum, Barbieland vor dem Aufstand der Kens zu retten. Die Incel- und Macho-Revolution kann am Schluss durch den Zusammenhalt der Barbies abgewendet werden und die stereotypische Barbie erkennt, dass sie keine Barbie mehr sein möchte und darf nun in der echten Welt leben.

Zu hohe Erwartungen

Eine feministische Revolution in Hollywood, mit Barbie, dem Symbol der weiblichen Geschlechtsrolle? Zugegebenermaßen, das schien mir eigentlich die ganze Zeit für viel zu hoch gegriffen. Aber nachdem ich gesehen hatte, wie alle Menschen, denen ich online so folge, die irgendwie progressiv und teilweise auch antikapitalistisch bis revolutionär sind, den Film in den Himmel lobten, waren meine Erwartungen sehr hoch. Auch von Greta Gerwig als Filmemacherin hörte man bisher nur Gutes, ich hatte zwar bislang nur Lady Bird (Greta Gerwig, 2017 USA) gesehen, aber fand die antisexistischen Untertöne und das Portrait der Mutter-Tochter-Beziehung darin sehr gelungen. Die Besetzung des Barbiefilms ist außerdem hochkarätig und die Pressetour vor dem Filmstart, gab einem das Gefühl, dass Margot Robbie und Ryan Gosling sich genau mit ihren Rollen und deren tieferen Bedeutungen auseinandergesetzt haben. Auch hatte ich gehört, dass Gerwig und Robbie sich mit einigen Szenen gegen Mattel und Warner Bros durchsetzen, weil sie diese für absolut relevant für die Aussage des Films hielten (zum Beispiel die Szenen mit der alten Frau an der Bushaltestelle, mit der Barbie kurz nach ihrer Ankunft in der echten Welt spricht). Nachdem ich den Film gesehen hatte, dachte ich mir allerdings nur: das war alles?!

Positive Elemente

Bevor wir zu den Kritikpunkten kommen, soll es aber erst einmal um die positiven Elemente des Filmes gehen. Rein von der Ästhetik her sind Barbieland und die Barbies und Kens hervorragend umgesetzt. Mit viel Liebe zum Detail wurden Set und Outfits dem ikonischen Spielzeug angepasst und die Bewegungen der Schauspieler_Innen haben immer etwas subtil puppenhaftes, ohne vollständig unnatürlich zu wirken.

Der ganze Film ist gespickt mit Humor, um seine Inhalte zu übermitteln und die Gags haben Realitätsbezug, wirken zwar manchmal etwas überspitzt, aber seien wir ehrlich: viele von uns mussten sich schon mal im Detail anhören, was einen staubtrockenen Film so hochinteressant macht, wie die Barbie, welcher Der Pate (Francis Ford Coppola, 1972 USA) gemansplaint wird. Diese geteilte Erfahrung macht das Ganze erst so komisch. Im Allgemeinen ist es tatsächlich sehr erfrischend, wenn Männer einmal so eindimensional, plump und unselbstständig dargestellt werden, wie es in unzählige Filme mit Frauen immer noch getan wird. Die Reaktion von vielen (konservativen) Männern zeigt, dass sie es scheinbar nicht so toll finden, wie ihnen hier der Spiegel vorgehalten wird.

Auch der Plot hat zumindest eine noble Idee und Grundaussage: Perfektion ist absolut unmenschlich und in der Realität nicht erstrebenswert, was auch für Frauen gilt, die vermeintlich dem Stereotyp entsprechen, und jede Frau jeden Alters ist auf ihre eigene Art und Weise wunderschön. Auch die individuelle Erfahrung von Frauen im Patriarchat wird an mehreren Stellen gut gezeigt. Als Barbie und Ken beispielsweise in Los Angeles ankommen und Roller skaten und Barbie sich auf einmal, das erste Mal in ihrem Leben, unwohl fühlt, weil sie von Männern angegafft wird und Ken, der daneben steht, davon gar nichts mitbekommt und sich pudelwohl fühlt. Diese Szene führt letztendlich dazu, dass ein Mann Barbie auf den Po schlägt, woraufhin sie sich umdreht und ihm einen Faustschlag verpasst. Barbie lässt sich also schon einmal nichts gefallen.

Ebenso findet sich eine subtile Polizeikritik, als die Polizisten Barbie nach der Verhaftung mit anzüglichen Kommentaren überhäufen, was eigentlich erst der Grund war, weswegen sie zurecht ausgerastet ist und verhaftet wurde. Die Polizei kann also im Kampf gegen das Patriarchat auch nicht helfen. Die Wutrede von Gloria (America Ferrera) zum Thema kognitive Dissonanz für Frauen im Patriarchat, die gleichzeitig alles sein sollen, aber immer zu wenig sind, bringt die alltäglichen Anforderungen an Frauen auf den Punkt.

Herausgearbeitet wird außerdem, was bei Männern zumindest auf einer psychologischen Ebene zu Frauenhass führen kann: zu wenig Anerkennung und ein fragiles Ego. Wie erschütternd das ist, wenn ein eigentlich guter Freund sich auf einmal zu einem Männerrechtsaktivist und Chauvinist entwickelt, muss Barbie am eigenen Leib erfahren.

Der Film scheut auch nicht vor plakativer Systemkritik zurück. Als Ken sich in der realen Welt über das Patriarchat und seine Jobmöglichkeiten informiert, wird ihm gesagt, ganz so einfach, wie er sich das vorstellt, dass er einfach nur ein Job bekommt, weil er ein Mann ist, ist es dann doch wieder nicht. Allerdings wissen die Männer es heutzutage einfach nur besser zu verschleiern, dass sie sehr wohl Vorteile haben. Wer schon einmal über Gleichberechtigung diskutiert hat, kennt sie, die Männer die sagen: „Ne, ne wir sind doch alle gleichberechtigt, das Patriarchat gibt es schon lange nicht mehr.“ Somit ist es mal ganz erfrischend zu hören, was der CEO zu Ken sagt.

Ebenfalls eine Kritik am Choice Feminismus (alles ist feministisch, solange sich eine Frau bewusst dafür entscheidet) findet sich mehrfach. Bereits zu Beginn wird die Grundidee der Barbie-Puppe „Du kannst alles sein was du willst“ hinsichtlich der Karriere zwar gelobt, aber es wird von der Erzählerstimme dennoch darauf hingewiesen, dass das Patriarchat selbst mit diesen Karrieremöglichkeiten für Frauen eben nicht einfach abgeschafft wurde. Auch zeigt der Film auf, dass es nicht im Interesse von Frauen ist, sich den Männern zu unterwerfen, auch wenn sie das selber in dem Moment vielleicht anders sehen.

Positiv herauszustellen ist außerdem, dass Barbies Lebensinhalt nicht Männer sind, an Ken hat sie schon einmal gar kein Interesse und auch an niemand anderem. Wie sollte sie auch, ist sie doch eine Puppe so ganz ohne Genitalien. Daher kommen ihr die Anmachversuche in der echten Welt auch einfach sehr seltsam vor. Das zeigt aber vor allem, dass Filme die für eine weibliche Zuschauerinnenschaft gemacht wurden, eben nicht immer nur romantische (Sub)Plots haben müssen, um zu funktionieren. Es wirft auch die Frage auf, ob Barbie überhaupt hetero ist. Klar wird sie von Mattel eigentlich so dargestellt, aber wenn wir uns mal scharf dran erinnern, wie wir mit Barbies gespielt haben…

Barbie – der Film zum Rebranding von Mattel

Der Sinn dieses Films wird uns eigentlich auf dem Silbertablett serviert: Barbie soll weiterhin ein relevantes Spielzeug sein, auch in einer Zeit, in welcher, zumindest oberflächlich, feministische Diskurse Einzug in die gesamte Gesellschaft erhalten haben. Das kann man sehen an der Teenagerin Sasha, die keinen Bock auf Barbie hat, natürlich einerseits, weil sie schon zu alt ist, aber andererseits auch, weil es komplett uncool ist, zuzugeben, dass man Barbies mag, wenn man sich gleichzeitig für Feminismus interessiert. Am Ende kann sie aber doch noch überzeugt werden. Deswegen wird im Film auch die ursprüngliche Vision von Barbie-Erfinderin Ruth Handler so betont: Barbie sollte eine Alternative zu den Puppen darstellen, mit denen die Mutterrolle normalerweise eingeübt wurde und durch die anfänglichen Editionen, wo es vor allem um Berufe ging, und dass Frauen eben alles sein können, was sie möchten, mit der weiblichen Geschlechterrolle brechen. Allerdings verschweigt der Film, dass diese Vision nicht lange anhielt und mit dem Abschied von Ruth Handler von Mattel Lifestyle, Mode, Sport und Tiere in den Interessenfokus von Barbie gerieten. Außerdem war ein kompletter Bruch mit der weiblichen Geschlechtsrolle sowieso für Barbie niemals vorgesehen: das fängt mit ihrem Aussehen an, welches immer als Schönheitsideal galt. Barbies frühere Idealmaße hätten bei einem echten Menschen dazu geführt, dass dieser nicht lebensfähig ist. Diese wurden zwar mittlerweile überarbeitet, um realistischer zu werden, dennoch haben unzählige viele kleine Mädchen mit Barbie gelernt, dass es total wichtig ist, immer gut gestylt zu sein und regelmäßig die neuste Mode zu kaufen. Barbie bereitet sie also auf ein Leben im Patriarchat als Frau und im Kapitalismus als Konsumentin vor. Das mag nicht so offensichtlich auf die Mutterrolle abzielen, aber wenn man sich einmal anschaut, welche Berufe Barbie so ausübt, wird auch hier schnell klar, dass Care-Arbeit gerne gesehen wird: eine der ersten Berufe, die Barbie hatte, war Krankenschwester.

Im Film wird immer wieder klar, hier soll etwas verkauft werden: die Barbies und ihre Outfits, die gezeigt werden, existieren größtenteils alle wirklich. Auch die Szene, in der Ken Barbies Outfits aus dem Dreamhouse wirft, betont das noch einmal über deutlich, indem die Namen der Outfits explizit eingeblendet werden. Noch dazu gibt es sehr offensichtliche Product-Placements von Chanel, Birkenstock und Chevrolet.

Mattel will also ein bisschen mit dem Klischee brechen, Barbie sei nur ein anti-feministisches Püppchen und stattdessen zeigen, dass Barbie immer auch daran gebunden ist, wer mit ihr spielt. So können sie sich einerseits aus der Verantwortung ziehen und andererseits den individualistischen Charakter ihrer Produkte betonen. Deswegen ist die feministische Grundhaltung des Films auch alles andere als subtil, was für Greta Gerwig eigentlich sehr ungewöhnlich ist.

Misslungene Kritik am Patriarchat

Das Wort Patriarchat kommt mehrmals im Film vor und mit ihm auch eine völlig falsche Kritik daran. So wird an einer Stelle gesagt, dass die Menschen sich das Patriarchat bewusst ausgedacht hätten. Als hätten sich die Männer eines Tages mal an einen Tisch gesetzt und bestimmt, dass es ab heute Patriarchat geben soll, genauso wie die Kens versuchen, das umzusetzen (nur dass sie sich Mango-Bier trinkend an einen Pool statt an einen Tisch setzen). Das ist jedoch nicht korrekt. Das Patriarchat hat sich über Jahrtausende entwickelt, zu dem was es heute ist und war keine bewusste Entscheidung, sondern rührt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Entwicklung der Produktionsmittel her. In den Urgesellschaften lebten Männer und Frauen gleichgestellt, die Arbeitsteilung erfolgte aufgrund von körperlichen Fähigkeiten, das heißt auch Frauen gingen jagen, außer sie waren schwanger, Entscheidungen wurden kollektiv getroffen. Erst eine Produktionsweise, die es erlaubte, mehr zu produzieren als direkt verzerrt werden konnte, sorgte dafür, dass es Vorräte und somit auch Verwalter der Vorräte gab, die von der Arbeit freigestellt werden konnten, was in den meisten Fällen Männer waren. Diese bekamen auch Vorrechte bezüglich des Zugriffs auf die Vorräte, welche sich in manchen Fällen weitervererben ließen. Dadurch wurden die Frauen immer mehr in die Reproduktionsarbeit (Ernährung, Haushalt, Erziehung, Pflege) gedrängt und um die Erblinie der Vorteile und des Eigentums zu sichern, entwickelte sich das ganze patrilinear und monogam (zumindest für Frauen). Die Frauenunterdrückung entwickelte sich über die Klassengesellschaften immer weiter, somit darf die Frauenunterdrückung von den Klassengesellschaften auch nicht abgetrennt gesehen werden. Das passiert aber in diesem Film. Klar, wie soll es auch in einem Werbefilm für pinken Kapitalismus auf einmal antikapitalistisch werden? Mehr als Aufregung über die Symptome des Patriarchats und Kritik an Unternehmensvorständen, weil sie keine Frauen haben, gibt es also hier nicht. Schon gar keinen Ansatz dafür, wie das Patriarchat überwunden werden kann. Wie auch, wenn es sich angeblich nur um eine abstrakte Idee handelt. Noch dazu wird das Patriarchat als für alle Frauen gleich dargestellt. Aber in Wirklichkeit gibt es gravierende Unterschiede. Gerade Frauen der herrschenden Klasse haben es sehr einfach, sich aus ihrer Rolle der Reproduktionsarbeit frei zu kaufen durch Kindermädchen und Leihmütter, in Unternehmen beuten sie als CEOs selber andere Frauen aus, zur Not können sie für eine Abtreibung mal eben in ein anderes Land jetten, während die Frauen der Arbeiter_Innenklasse doppelt ausgebeutet werden, einmal in der Produktion und einmal in der Reproduktion und ihre reproduktiven Rechte massiv eingeschränkt werden. Des Weiteren können auch andere Unterdrückungsmechanismen wie Rassismus oder Ableismus die sexistische Unterdrückung begleiten und auf diese einwirken, was natürlich mit der stereotypischen Barbie in der Hauptrolle unmöglich aufzuzeigen ist. Natürlich gibt es Repräsentation von diesen Frauen im Film und das ist auch positiv herauszustellen, da Repräsentation für gesellschaftlich Unterdrückte einen positiven Einfluss hat, aber der Dreh- und Angelpunkt bleibt die weiße Blondhaarige. Die trans Frau Hari Nef spielt Dr. Barbie, aber Dr. Barbie bleibt genauso eine Nebenrolle wie viele WOC im Film, wenngleich diese ebenso beeindruckende Jobs haben (wie zum Beispiel Präsidentin-Barbie (Issa Rae)).

Im Film wird uns außerdem vermittelt, dass das Problem die Männer an sich sind und nicht die Klassengesellschaft, was auch daran zu sehen ist, dass in Barbieland das Matriarchat für Frieden und florierenden Wohlstand sorgt, während das beim Versuch des Patriarchats nicht der Fall ist.

Die Lösung: Selbstakzeptanz?

Würde man das Ende wohlwollend interpretieren, könnte man sagen: „Super, Barbie hat es geschafft sich aus ihrer Rolle zu befreien, indem sie anerkannt hat, dass sie ihr nicht mehr entsprechen kann und will und kann jetzt selber herausfinden, wer sie wirklich ist, in dem sie als Mensch in der realen Welt leben darf.“ Und auch Ken braucht einfach nur Selbstfindung und Selbstakzeptanz um kein Chauvi mehr zu sein.

Aber die Geschlechterrollen können innerhalb des Patriarchats und des Kapitalismus gar nicht abgeschüttelt werden, denn sie prägen uns Tag ein, Tag aus, auch wenn sie ab und zu im neuen Gewand daherkommen. Das Sein beeinflusst das Bewusstsein, wie Karl Marx schon sagte. Somit ist die einzige Möglichkeit sich den Geschlechterrollen dauerhaft zu entziehen, die Klassengesellschaft zu zerschlagen, da die Produktionsverhältnisse die materielle Grundlage für diese sind. Sicherlich kann die Akzeptanz, dass man diesen Rollen niemals entsprechen wird, es einem zeitweise etwas angenehmer machen. Und Männer können ihre toxische Männlichkeit reflektieren und sich bemühen, Frauen besser zu behandeln. Aber es ist doch eine zutiefst individualistische Lösung, die die Zuschauer_Innen eher hilflos zurücklässt. Das widerspricht noch dazu der ursprünglichen Kritik am Choice Feminismus, mit welcher der Film eigentlich überzogen war.

Fazit

Der Film macht zwar Spaß, aber das Gefühl, dass es sich hierbei um einen Werbefilm für einen pinken Kapitalismus und eine Umdeutung von Barbie handelt, bleibt leider bestehen. Es muss zwar nicht jeder Film eine Lösung präsentieren, aber wenn er es schon tut, dann sollte diese nicht so unglaublich uneffektiv sein. Auch die letzte Szene wirft noch einmal Fragezeichen auf. Barbie, als Mensch in der realen Welt, hat einen Termin. Was wird es sein, vielleicht ein Vorstellungsgespräch oder ein Date? Nein, sie geht zum Gynäkologen. Dass sie sich so sehr darüber freut, ist vielleicht nachvollziehbar, in Anbetracht der Tatsache, dass sie vorher keine Genitalien hatte und die Reproduktion der Art sicherlich ein relevanter Teil des Menschseins ist. Aber für mich hat es sich so angefühlt, als ob Barbies Erfahrung als Frau jetzt wieder nur auf ihre Reproduktionsfähigkeit reduziert würde und sie somit auch wieder in eine Mutterrolle gepresst werden könnte.

Der Film hat vielversprechende Ansätze, aber mit Mattel und Warner Bros im Boot ist es wohl unmöglich, einen antisexistischen und antikapitalistischen Film zu drehen, der Barbie zu einer Revolutionärin macht (auch wenn die komische Barbie (Kate McKinnon) in ihrem komischen Haus zumindest schon mal das richtige Outfit für diesen Plot gehabt hätte).




Die Rolle der Pharmaindustrie im Kampf um sexuelle Selbstbestimmung

von Erik Likedeeler, Juli 2023

Erst vor kurzem wurde in Italien beschlossen, dass Verhütungspillen in Zukunft kostenlos an Menschen aller Altersgruppen ausgegeben werden sollen. Auch in Frankreich bekommen unter 26-Jährige seit diesem Jahr Kondome und Notfallverhütung gratis in Apotheken. England geht einen Schritt weiter: Dort sind sämtliche Verhütungsmittel für alle kostenfrei zugänglich.

In diesem Artikel wollen wir uns anschauen, wie die Lage diesbezüglich in Deutschland aussieht und was getan werden muss, um die Situation zu verbessern. Denn obwohl das Thema den meisten Jugendlichen aus dem Sexualkundeunterricht bekannt sein dürfte, ist das gesellschaftliche Bewusstsein gering, wenn es um Verhütung als Klassenfrage und die Rolle der Pharmakonzerne geht.

Die Einführung der Pille in der BRD und DDR

Um den Stellenwert der Verhütung in Deutschland nachzuvollziehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. In der DDR wurden die ersten Verhütungspillen ab 1965 vom Unternehmen Jenapharm produziert. Innerhalb der Sozialversicherung wurden sie ab 1972 kostenlos angeboten. Obwohl sich mit dem Namen „Wunschkindpille“ um ein positives Image bemüht wurde, wurden Stimmen laut, die vor einer „gesteigerten Wollust der Weiber“ warnten.

In der BRD wurde das erste hormonelle Verhütungsmittel ab 1961 von der Schering AG herausgegeben, einem Vorgänger-Unternehmen des deutschen Pharmakonzerns Bayer. Zunächst wurde die Pille als Mittel gegen Menstruationsschmerzen vermarktet. Auf die empfängnisverhütende Wirkung wurde nur am Rand hingewiesen, da eine negative Reaktion der Bevölkerung befürchtet wurde.

Als der eigentliche Zweck des Medikaments bekannt wurde, wurde tatsächlich vermehrt die Befürchtung geäußert, hormonelle Verhütung würde zum „Aussterben der Deutschen“ führen.

Jahrelang wurde die Pille nur mit Einverständnis des Ehemannes an verheiratete Frauen verschrieben. Zudem wurden Frauenärzt_Innen gebeten, das Mittel nur an Frauen mit mindestens zwei Kindern herauszugeben. Hier zeigten sich bereits Versuche, durch hormonelle Verhütung die Bevölkerungsentwicklung zu kontrollieren, denn Kinder sind für den Kapitalismus vor allem zukünftige Arbeitskräfte.

Der historische Vergleich von BRD und DDR zeigt, dass es in der BRD nach der Einführung der Verhütungspille tatsächlich einen Rückgang von Geburten gab. Dieser sogenannte „Pillenknick“ blieb in der DDR aus. Daraus können wir schließen, dass die Geburtenrate nicht als isolierter Faktor betrachtet werden sollte, sondern dass auch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben müssen.

Vielmehr lässt sich der „Pillenknick“ damit erklären, dass die Lebensmodelle der Frauen in der BRD im Wandel waren; immer mehr gingen studieren und arbeiten. Weil die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kaum gewährleistet war, fiel die Geburtenrate ab.

In der DDR hingegen wurden zeitgleich mit der Einführung der Pille Kinderkrippen und Wohnungen für Familien bereitgestellt, sowie bezahlte Elternzeiten angeboten. Durch die erhöhte Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurden in der DDR auch mehr Kinder geboren, wobei natürlich auch diese demographische Entwicklung mit einer zusätzlichen Belastung der Frauen durch Lohn- und Reproduktionsarbeit erkauft wurde.

Bayer und die Pille: Ein weiterer Grund zur Enteignung

Viele von uns kennen es: Schon beim ersten Besuch bei der Frauenärztin wird uns die Pille verschrieben, ohne dass eine sorgfältige Aufklärung über die Nebenwirkung stattgefunden hat. 8 Euro bekommen Frauenärzt_Innen für jede Person, die sie über Verhütung beraten – meist bleiben für die Aufklärung weniger als 10 Minuten Zeit.

Durch die 68er-Bewegung wurde die Verhütungspille in der BRD zu einem Symbol der Freiheit und Emanzipation. Dennoch ist nicht abzustreiten, dass sie auch heute noch massive Nebenwirkungen mit sich bringt, wie zum Beispiel Thrombosen, Lungenembolien und Herzinfarkte.

Viele Nebenwirkungen sind nicht genau erforscht, wie der Zusammenhang zu Depressionen und Suizidgefährdung. Zusätzlich wird vermutet, dass auch die Lernfähigkeit, die Konzentration und das Erinnerungsvermögen durch die Anwendung der Pille leiden.

In Deutschland werden jährlich Verhütungspillen im Wert von 580 Millionen Euro herausgegeben; seit Jahrzehnten ist Bayer der unangefochtene Marktführer. Bis 2019 sind mehr als 100 Menschen durch die Bayer-Pillen Yaz und Yasmin ums Leben gekommen. Zehntausende haben Herz-, Gallenblasen- und Bluterkrankungen bekommen.

Mittlerweile musste Bayer rund 2 Milliarden Euro Schadensersatz an die Betroffenen und Hinterbliebenen zahlen – doch die Produkte sind immer noch auf dem Markt.

Seit mehr Erfahrungsberichte an die Öffentlichkeit geraten, sind viele Anwender_Innen von der Pille desillusioniert. Doch auch gegen die viel beschworene „Pillenmüdigkeit“ haben die Pharmakonzerne ein Rezept: Hormonringe, welche mehrere Wochen lang im Körper verbleiben.

Dabei hält sich hartnäckig der Mythos, Hormonringe würden nur „lokal“ wirken. Doch synthetische Hormone wirken niemals nur lokal. Damit sie Signale im Gehirn auslösen, müssen die Wirkstoffe auch dorthin transportiert werden. Die Nebenwirkungen sind auch hier folgenreich: Hormonringe können jahrelange Nierenbeckenentzündungen zur Folge haben.

Entzugsblutung? Was soll das denn sein?

Zusätzlich zu all diesen Nebenwirkungen ist die Entzugsblutung ein wichtiger Faktor. Wer die Pille anwendet, weiß vermutlich, dass ein Pillenzyklus aus 21 Tabletten mit Hormonpräparaten und 7 Placebos besteht. Durch die einwöchige Pause wird die sogenannte Entzugsblutung herbeigeführt. Von medizinischer Seite aus wird meist vermittelt, dabei würde es sich dabei um die Menstruation handeln.

In Wirklichkeit hat diese Blutung keinen medizinischen Nutzen und kann sogar schädlich sein. Eine Entzugsblutung als Menstruation zu bezeichnen, spricht Menschen das Recht ab, über die Funktionen ihres eigenen Körpers Bescheid zu wissen.

Es stellt sich die Frage: Warum wurde diese Placebo-Woche überhaupt eingeführt, wenn man die Pille auch bequem durchgehend einnehmen und auf die Blutung verzichten könnte? Der ausschlaggebende Grund dafür war die Besänftigung der katholischen Kirche, welche sich in den 1960er Jahren gegen die Einführung der Pille wehrte. Allerdings stellt sie sich auch heute noch gegen jegliche Art der Verhütung, daher war die gesamte Aktion hinfällig, und Millionen von Menschen bluten jeden Monat ohne ihr Wissen völlig sinnlos.

Immer noch keine Smarties: Die Pille Danach

Sollte einmal die Pille versagen oder das Kondom reißen, gibt es immer noch die Pille Danach. Dabei handelt es sich um ein Medikament, welches den Eisprung verhindert, und damit auch eine Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle sowie die Einnistung in die Gebärmutter. Deshalb zählt sie als Verhütungsmittel, nicht als Abtreibungsmittel, obwohl sie nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen wird.

Dabei ist wichtig zu wissen, dass die Unterscheidung zwischen Verhütung und Abtreibung eine relativ neue Grenze ist, die nicht immer eine so große Rolle gespielt hat wie heute. Dass ausgerechnet die Einnistung in die Gebärmutter als der Beginn des Lebens definiert wird, ist keine biologische Gegebenheit, sondern eine kulturelle Entscheidung.

Seit 2015 ist die Pille Danach rezeptfrei in der Apotheke erhältlich. Zuvor musste man mit seinem Anliegen in die Notaufnahme, wenn am Wochenende die Arztpraxen geschlossen hatten. Allerdings sind viele deutsche Krankenhäuser katholisch und verschreiben die Pille Danach nicht. Deshalb war die Aufhebung der Rezeptpflicht ein entscheidender Schritt.

Damit wurde jedoch zeitgleich ein „Werbeverbot“ für die Pille Danach eingeführt. Frauenärzt_Innen dürfen diese Option nicht ansprechen oder darüber informieren. Das führt zu gravierenden Wissenslücken: Nur 50% der Frauen ist klar, dass die Pille Danach rezeptfrei erhältlich ist, mehr als jede vierte Frau kennt sie noch nicht einmal.

Wer in der Apotheke nach der Pille Danach fragt, wird meist zu einem belehrenden Aufklärungsgespräch in ein Hinterzimmer geführt. Dabei kommt es häufig zu Vorwürfen, Bloßstellungen und wertenden Äußerungen. Immer wieder kommt es vor, dass Minderjährigen der Verkauf verweigert wird.

 „Die Pille Danach ist kein Smartie!“, formulierte es der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn und sprach damit Frauen und Mädchen ab, eine unabhängige und informierte Entscheidung über ihren eigenen Körper zu treffen. Gleichzeitig wird durch solche Äußerungen der Stereotyp junger, sexuell aktiver Frauen gezeichnet, welche scheinbar sorglos und leichtfertig ungeschützten Sex haben, weil sie danach ja einfach die Pille Danach nehmen könnten. Das entspricht einerseits weder der Realität, produziert sexistische Klischees und verstärkt andrerseits die Auffassung, Verhütung sei einzig und allein Verantwortung der Frau. An solchen Debatten zeigt sich immer wieder, wie der Kapitalismus versucht, weibliche Sexualität zu limitieren und auf das Ziel der Familiengründung auszurichten, da sie innerhalb der Familie unbezahlte Reproduktionsarbeit leisten und zukünftige Arbeitskräfte bereitstellen.

Keine Hormone, keine Probleme? Die Kupferspirale

Wer sich als junge, kinderlose Frau ohne sichtbare Behinderung eine Kupferspirale einsetzen lassen will, bekommt von Frauenärzt_Innen oft zu hören, dass der Uterus einer kinderlosen Frau zu klein für eine Spirale sei. Dabei empfiehlt die WHO Spiralen für Frauen und Mädchen jedes Alters, und in anderen Ländern scheint es kein Problem mit der Uterus-Größe zu geben. Was also ist der Grund dafür?

Eine Ursache liegt in der Regelung, dass deutsche Krankenkassen die Finanzierung der Spirale bis zum 22. Lebensjahr übernehmen, dafür aber nur einen Minimalbetrag an Ärzt_Innen zahlen. Eine von der Kasse bezahle Spirale erwirtschaftet für die ärztliche Praxis also viel weniger Gewinn als eine, die ab dem 23. Lebensjahr privat gezahlt wird.

Eine Option, die noch weniger Menschen bekannt sein dürfte, ist die Kupferspirale Danach. Denn eine Kupferspirale kann ebenfalls zur Notfallverhütung genutzt und sogar bis zu 5 Tage nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr eingesetzt werden. Sie beeinträchtigt die Beweglichkeit der Spermien und verhindert die Einnistung einer befruchteten Eizelle in die Gebärmutter. Obwohl sie deutlich zuverlässiger ist als die Pille Danach, wird sie in Deutschland fast nie genutzt. Die Kosten dafür sind für viele Menschen zu hoch, um sie spontan aufzubringen.

Problematisch ist auch, dass es noch viele Forschungslücken gibt, was die Verhütung mit Kupfer angeht: Es ist nicht bekannt, wie oft die Spirale unbemerkt ausgeschieden wird oder wie stark sie das Risiko für Eileiterschwangerschaften erhöht. Das Budget für aussagekräftige Langzeitstudien haben nur die großen Pharmakonzerne – und die haben kein Interesse daran, dass weitere unerwünschte Nebenwirkungen aufgedeckt werden.

Immer wieder wird von mangelhaften Spiralen und gebrochenen Kunststoffarmen berichtet, die lose in der Gebärmutter herumschwimmen und von Frauenärzt_Innen herausgefischt werden müssen, meist ohne Narkose. Erst 2018 kam ans Licht, dass zig Tausende Europäerinnen eine brüchige Spirale des Herstellers Eurogine eingelegt bekommen hatten, welches dringend entfernt werden musste. Die meisten Betroffenen wurden darüber nicht in Kenntnis gesetzt.

Mental Load und Verhütungsverantwortung

Selten wird darüber gesprochen, dass Verhütung mit einem dauerhaften Mental Load verbunden ist. Der Begriff Mental Load bezeichnet die geistige Arbeit, ständig an etwas denken zu müssen oder etwas organisieren zu müssen, damit die Funktionalität des täglichen Lebens gewährleistet ist.

In diesem Fall heißt das, die Verhütungsmethode auszuwählen, sich mit ihrer Funktionsweise auseinanderzusetzen, sie fortlaufend korrekt durchzuführen und ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Das kann bedeuten, ärztliche Beratung einzuholen, die Temperatur zu messen, um den Eisprung zu bestimmen, Pillenrezepte zu holen, Kondome einzukaufen, Schwangerschaftstests zu machen, sowie vor dem Sex ein Gespräch über das Thema zu beginnen. Auch körperlich ist Verhütung in den meisten Fällen eine Belastung.

In den meisten Fällen sind es Frauen und Mädchen, die sich diesen Strapazen aussetzen. Dass Frauen mehr Verhütungsverantwortung übernehmen, liegt nicht nur daran, dass die meisten Verhütungsmittel für ihre Körper entwickelt wurden – auch vor der Erfindung der hormonellen Verhütung war das bereits der Fall.

Vielmehr liegt es daran, dass Männer und Jungen weniger Konsequenzen zu befürchten haben, falls es zu einer ungewollten Schwangerschaft kommen sollte. Einerseits, weil sie ihren Körper nicht der Belastung einer ungewollten Schwangerschaft aussetzen müssen, andererseits, weil gesellschaftlich von Müttern viel mehr elterliches Engagement verlangt wird als von Vätern.

Häufig haben Männer und Jungen Wissenslücken, oder ihnen fehlt die Bereitschaft, sich an der Verantwortung zu beteiligen. Beispielsweise ist die häufigste Ursache für gerissene Kondome, dass Männer sich zu wenig mit verschiedenen Größen, Formen und Materialien auseinandersetzen. Dadurch kaufen bis zu 80% der Kunden das falsche Größenmodell.

Vielen Männern scheint nicht klar zu sein, dass jemand anders für sie die Verhütungsarbeit übernimmt, die ihnen zu unangenehm, unpraktisch oder lästig erscheint. Sie neigen dazu, die Verantwortung als gleichberechtigt aufgeteilt wahrzunehmen, auch wenn das nicht der Fall ist.

Und was ist mit der Pille „für den Mann“?

Trotz dieser Ungerechtigkeiten haben 25 internationale Studien und Umfragen der letzten Jahrzehnte gezeigt, dass die meisten Männer verhüten wollen. Doch der gute Wille allein ist nicht genug, und immer wieder wird die berechtigte Frage aufgeworfen: Warum gibt es noch keine Pille „für den Mann“? Wann wird die Verantwortung endlich gerecht aufgeteilt? Denn Kondom und Sterilisation reichen als Optionen nicht und dieser Mangel ist eine Verletzung von reproduktiven Rechten. Gibt es denn keine Alternative?

Aktuell sind der Wissenschaft über 100 Methoden bekannt, mit denen man für die Verhütung an Penis und Hoden ansetzen könnte. Diese Möglichkeiten ergeben sich aus allen Stadien der Spermienproduktion: Man könnte sie am Wachsen hindern, ihnen die Beweglichkeit nehmen oder ihnen den Durchgang versperren.

Eine tatsächliche Pille ist nach dem aktuellen Stand der Forschung unwahrscheinlich, weil Testosteron im Magen zu schnell abgebaut wird. Eine vielversprechendere Methode wäre zum Beispiel ein Gel, welches die Samenleiter vorübergehend verschließt.

Auch die wärmebasierte Verhütung hat sich bereits als effektiv erwiesen: Beim Verhütungsring handelt es sich um einen einfachen Silikonring, mit dem die Hoden zurück in den Körper gedrückt werden. Durch die Körpertemperatur wird die Spermienproduktion außer Kraft gesetzt. Diese Methode ist günstig, nebenwirkungsarm und umweltschonend.

In Frankreich kommt der Verhütungsring schon seit Jahren zur Anwendung, wurde jedoch nie offiziell zugelassen. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Erstens ist der Ring technisch so einfach gehalten, dass die Industrie sich nicht für ihn interessiert. Zweitens gibt es noch große Forschungslücken beim Thema Spermienproduktion: Die Andrologie, der medizinische Fachbereich für Männergesundheit, ist bis heute ein unterfinanziertes Randgebiet. Auch im Medizinstudium wird das Thema wärmebasierte Verhütung nicht behandelt.

Damit neue Verhütungstechnologien sich durchsetzen können, bedarf es jedoch einer kompletten Umstrukturierung des Gesundheitswesens: Die Ausbildung unzähliger Fachleute, das Errichten von Gesundheits- und Forschungszentren, das Durchführen von Langzeitstudien, das Drucken neuer Medizinlehrbücher, die Durchführung von Aufklärungskampagnen samt Plakaten, Filmen und Werbeanzeigen. Es braucht ein über Jahre aufgebautes Netzwerk aus ärztlichen Praxen, Apotheken und Privatpersonen, die das Mittel kennen, bewerben und verschreiben, sowie aufklären und beraten.

Nur wenige Konzerne hätten genug Kapital, um so ein Projekt durchzuführen. Aber warum sollte ein Konzern im Privatbesitz auf gut Glück in irgendeine unerforschte Technologie investieren, wenn das bisherige Modell blendend funktioniert und so viel Gewinn abwirft? Warum neue Vertriebswege aufmachen, wenn das gesellschaftliche Einverständnis für die bestehenden Produkte seit Jahrzehnten gegeben ist?

Kein Luxus, sondern Grundbedürfnis

Verhütung ist nicht nur eine körperliche, sondern auch eine finanzielle Belastung. Eine Pillenpackung für 3 Monate kostet zwischen 20 und 60€, eine Kupferspirale ca. 200€. Den Anspruch auf die finanzielle Übernahme durch die gesetzliche Krankenkasse haben nur Menschen unter 22, und selbst dann kann es im Einzelfall schwierig sein, den Anspruch durchzusetzen.

Bei Hartz-4-Empfänger_Innen sind ca. 15€ pro Monat für die Gesundheit vorgesehen und damit auch für die Verhütung. Es können zwar Anträge für die Kostenübernahme von Pille oder Spirale gestellt werden, ein grundsätzliches Recht darauf gibt es aber nicht.

Aufgrund dieser prekären Situation werden von einzelnen Städten Finanzierungsprogramme organisiert, z.B. durch Pro Familia. Doch von diesem Angebot wissen nur die wenigsten. Das führt dazu, dass die Geldsummen ungenutzt liegen bleiben.

Für Jugendliche ohne finanzielle Mittel bleiben meist Hormone die einzige Option. Denn Kondome können nicht von der Krankenkasse übernommen werden, weil sie nicht rezeptpflichtig sind. Und viele Frauenärzt_Innen weigern sich, jungen Menschen eine Kupferspirale einzusetzen.

Wie drastisch die Lage ist, stellte eine Studie im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fest: ein Drittel der Studienteilnehmer_Innen verhüten aus finanziellen Gründen gar nicht. Weil mit der Inflation der Preis für die Verhütungsmittel angestiegen ist, hat sich die Lage weiter verschärft. Als Folge ist die Zahl der ungewollten Schwangerschaften bei Sozialleistungsbezieher_Innen dreimal so hoch wie bei Nichtbezieher_Innen.

All diese Zahlen zeigen, dass Verhütung eine Klassenfrage ist und dass die Barrieren für die Kostenübernahme viel zu hoch sind.

Forderungen

Eine befreite Gesellschaft kann es nicht ohne befreite Sexualität geben. Kein Konzern darf seine Profite über unsere reproduktive Gesundheit stellen. Dafür stellen wir folgende Forderungen auf:

  • Die Reformierung des Sexualkundeunterrichts, Information über alle Verhütungs- und Abtreibungsmethoden, auch über unbekannte Optionen wie die Spirale Danach.
  • Keine Verschreibung von Verhütungsmitteln ohne ärztliche Aufklärung über die Nebenwirkungen. Information auch darüber, dass die Entzugsblutung optional ist. Schluss mit der Moralisierung und Beschämung bei der Pille Danach.
  • Die vollständige finanzielle Übernahme für alle Verhütungsmittel und Abtreibungen durch den Staat, unabhängig von Alter, Aufenthaltsstatus, Versicherung oder ärztlicher Verschreibung.
  • Die Finanzierung von Langzeitstudien, um sichere Verhütungsmittel zu gewährleisten. Die Entwicklung von nebenwirkungsarmen Verhütungsmitteln für alle Geschlechter, gemeinsam mit dem Ausbau der Andrologie.
  • Den Ausbau von Kinderbetreuung, Elternzeit und sozialem Wohnungsbau, damit bei der Familienplanung tatsächlich eine freie Entscheidung gewährleistet ist.
  • Enteignung der Pharmakonzerne! Der Kampf gegen die Frauenunterdrückung muss mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verknüpft werden. Dafür brauchen wir ein Gesundheitssystem unter Arbeiter_Innenkontrolle, welches sich an unseren Bedürfnissen orientiert.



5 Gründe, warum wir als Marxist_Innen gegen das nordische Modell sind

Von Leonie Schmidt, Juni 2023, zuerst veröffentlicht in der Neue Internationale 274 der Gruppe Arbeiter:innemacht

Nach wie vor ist es eine relevante Diskussion in der feministischen und linken Bubble, wie zum Sexkauf und zu Sexarbeit gestanden wird und welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Dominierend sind hierbei einerseits ein Spektrum, was Sexarbeit als Arbeit wie jede andere hinstellt und von selbstbestimmten Dienstleister_Innen ausgeht, welche größtenteils keine Gewalterfahrungen während ihrer Tätigkeit erleben, wohingegen auf der anderen Seite Stimmen laut werden, die alle Sexarbeiter_Innen zu Opfern stigmatisieren, die wenn sie nicht direkt oder indirekt (bspw. durch Armut oder Drogensucht) gezwungen sein sollten, lediglich versuchen würden, ihre Traumata zu verarbeiten. Diese Argumentation basiert u. a. auf diversen Studien von Melissa Farley, welche den Anschein haben, dass alle Personen in der Prostitution Gewalterfahrungen sowie psychische Probleme erleben. Jedoch ist die Stichprobe von Farley höchst umstritten, da sie ihre Interviewpartner_Innen teilweise aus Aussteigerprogrammen bezieht (u. a. Farley 2004). Dass die Personen, die sowieso aufhören wollen, von den schrecklichen Zuständen berichten, die ihnen wiederfahren sind, ist logisch, lässt aber keinen Allgemeinschluss zu. Die Personen, die dennoch Farleys Argumentation folgen, repräsentieren oft radikalfeministische und bzw. oder kleinbürgerliche Tendenzen und fordern auch in Deutschland eine Regelung nach dem „nordischen Modell“.

Einige grundlegende Annahmen

Bevor wir uns dies näher anschauen, wollen wir einige Sachen kurz darstellen, die für die Auseinandersetzung mit diesem relevant sind. Wir wollen in diesem Text differenzieren zwischen Prostitution und Zwangsprostitution, da das für uns nicht dasselbe ist. Prostitution verstehen wir als den einvernehmlichen Verkauf direkter, zwischenmenschlicher sexueller Dienstleistungen, während das für Zwangsprostitution nicht gilt, denn diese ist nicht einvernehmlich. Diese klare Trennung kann aber nicht in jedem Fall getroffen werden, da Zwangsverhältnisse nicht nur durch physischen Zwang, sondern auch durch ökonomische Abhängigkeiten und Armut entstehen können.

Demnach verstehen wir Sexarbeit in einem ökonomischen Sinne jedoch als Arbeit, in jenem Sinne, dass nicht der Körper, sondern eine Ware in Form einer Dienstleistung „produziert“ wird, wofür die Ware Arbeitskraft notwendig ist, wenn die Dienstleistung in einem Lohnarbeitsverhältnis stattfindet. Dies passiert in einem abgesteckten Rahmen, in welchem eine zeitliche Begrenzung und eine der Praktiken festgelegt wird. Voraussetzung dafür, dass eine sexuelle Dienstleistung verkauft wird, ist also Konsens, mit anderen Worten: Konsens kann nicht gekauft werden. Wenngleich die Optik der Sexarbeiter_Innen eine Rolle in ihrer Tätigkeit spielt, so gilt das ebenso für andere Dienstleistungsberufe wie bpsw. Models oder Schauspieler_Innen, doch auch diese verkaufen nicht ihren Körper, wenngleich dieser ein Teil der Produktion der Dienstleistung ist. Sind die Sexarbeitenden angestellt oder scheinselbstständig, streicht sich ein/e Kapitalist_In bspw. als Bordellbetreiber_In oder Zuhälter den Mehrwert ihrer Arbeit ein, besitzt die Produktionsmittel (bspw. Räumlichkeiten, Verhütungsmittel etc.) und bestimmt die Arbeitsbedingungen. Insofern kann Sexarbeit als Lohnarbeit angesehen werden. Das soll nicht verharmlosen, dass es während dieser Tätigkeiten nicht selten zu Gewalt und Übergriffen kommt und das auch in einer patriarchalen Klassengesellschaft keine Seltenheit ist, sondern betonen, dass Konsens lediglich die Möglichkeit eröffnet, dass Sexarbeitende selbstbestimmt für ihre Arbeitsrechte eintreten können, insofern sie sich in keinem Zwangsverhältnis befinden und sich genau gegen diese Gewalt und schlechten Arbeitsbedingungen organisieren können. Das bedeutet außerdem, dass Sexarbeit nicht der Grund für die Unterdrückung von Frauen und queeren Personen ist, sondern die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Produktion und Reproduktion im Kapitalismus sowie das daraus resultierende Ideal der bürgerlichen Familie und der damit einhergehenden Geschlechterrollen.

Natürlich dürfen nicht die Augen davor verschlossen werden, dass es auch bessergestellte Sexarbeitende gibt, welche ohne Zuhälter_In selbstständig agieren und mehr Freiheiten bzgl. der Arbeitsbedingungen und Gestaltung der Dienstleistung genießen. Diese sind auch oft im öffentlichen Diskurs zu finden und propagieren Sexarbeit als etwas per se Ermächtigendes. Sie machen allerdings nur einen sehr geringen Teil der Sexarbeitenden aus und somit kann man von deren Sichtweisen und Erfahrungen nicht auf die Gesamtheit schließen.

Genauso gibt es auch Personen, die sich in Zwangsverhältnissen befinden. Wie stark sie vertreten sind, ist schwer auszumachen, denn sie befinden sich unter dem Radar. Zwangsprostitution und Menschenhandel stellen klar Verbrechen und Vergewaltigungen dar und sind oft mit Sklaverei vergleichbar. Zwangsprostitution ist grundsätzlich abzulehnen und zu bekämpfen, dies steht nicht zur Diskussion. Aber nur weil imperialistische Mächte bis ins 19. Jahrhundert Sklav_Innen auf Baumwollplantagen quälten, ist es keine logische Schlussfolgerung, die Forderung nach einem Verbot der Arbeit auf Baumwollplantagen aufzustellen.

Was ist überhaupt das „nordische Modell“?

Das „nordische Modell“ wurde erstmals in Schweden in den 1990er Jahren eingeführt und besteht grob gesagt aus 3 Säulen, welche aber von Land zu Land variieren können: Entkriminalisierung der Sexarbeitenden, Kriminalisierung der Sexkäufer und Zuhälter, Förderung und Finanzierung von Ausstiegshilfen. Aktiv sind verschiedene Formen des „nordischen Modells“ neben Schweden unter anderem auch in Norwegen, Frankreich, Irland, Island, Israel und Kanada. Eingeführt werden diese Gesetze auf Basis einer feministisch-humanistischen Grundlage, die davon ausgeht, dass die Nachfrage sinken wird, sobald der Sexkauf selbst unter Strafe steht, und somit die Sexarbeiter_Innen von alleine nach anderen Berufen suchen, dass das gesellschaftliche Stigma rund um Sexkauf förderlich ist, um Freier abzuschrecken und Männer umzuerziehen, und Sexkauf in jedem Fall Gewalt bzw. eine Vergewaltigung darstellt. Außerdem soll so Menschenhandel in den Griff bekommen werden. Dadurch, dass das „nordische Modell“ bereits in Kraft getreten ist, gibt es eine Datengrundlage, um dieses auszuwerten. Allerdings lassen diese Daten viel Raum für Interpretation und werden ganz unterschiedlich ausgelegt, von Befürworter_Innen des „nordischen Modells“ anders als von Leuten, die dieses ablehnen.

1. Das Sexkaufverbot reduziert nicht die Anzahl der Sexarbeiter_Innen

Ein erklärtes Ziel durch die Kriminalisierung der Sexkäufer ist, durch eine gesunkenen Nachfrage auch das Angebot zu senken. Und so scheint es auch in mehren Fällen zu funktionieren: In Schweden und Nordirland sank die Anzahl der Straßenprostituierten nach der Einführung eines Sexkaufverbots. Allerdings sank nicht die Gesamtanzahl der Prostituierten, sondern es gab eher eine Verschiebung: in Nordirland bspw. in den Onlinebereich (Ellison et al. 2019) und in Schweden kam es nach einem kurzen Abfall auch wieder zu einem Anstieg in der Straßenprostitution und diese dürfte mindestens wieder auf demselben Niveau erfolgen wie vor der Installation des Gesetzes (Global Network of Sex Work Projects 2015). Zudem macht in Schweden die Straßenprostitution sowieso nur einen sehr geringen Teil der Branche aus (ebenda).

Die Idee, Dinge würden durch Verbote verschwinden, ist aber so oder so von vorne bis hinten ein Fehlschluss, wie man bspw. auch beim Verbot von Drogen oder Alkohol sehen kann, denn konsumiert wird trotzdem, nur eben viel unsicherer als vorher. Denn durch ein Sexkaufverbot werden eben nicht die Strukturen, die zur Prostitution führen, ausgehebelt. Das sind zum einen die ökonomischen Verhältnisse des Kapitalismus, die dafür sorgen, dass ein Lebensunterhalt erworben werden muss, und zum anderen das Patriachat, welches überhaupt erst für die gesellschaftliche Nachfrage nach Prostitution sorgt, verankern. Schon Friedrich Engels bezog die Prostitution in seine Betrachtungen der Entwicklung des Patriachats mit ein. Hier wird klar, dass dieses genau wie die bürgerliche Familie untrennbar mit dem Kapitalismus verwoben ist und sich über alle Klassengesellschaften hin zur heutigen Form entwickelt hat. Laut Engels bilden bürgerliche Familie und Prostitution zwei Seiten der gleichen Medaille, da es bei Ersterer v. a. um unbezahlte Reproduktionsarbeit bzw. Vererbung der Produktionsmittel, bei Zweiterer um sexuelle Befriedigung der Freier geht. Diese Teilung zwischen klassengesellschaftlichem Nutzen und sexueller Befriedigung existierte schon in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Bspw. im antiken Griechenland wurde es besonders deutlich mit der Dreiteilung zwischen Ehefrau, welche für Geburten und Familie zuständig war und das Haus quasi nicht verlassen durfte, der Hetäre für die sexuelle Befriedigung und der Geliebten, die die Romantik ins Spiel brachte.

Diese Teilung sehen wir auch im Kapitalismus, jedoch ist es eben nur noch eine zweifache. Die weiterhin auferlegte Monogamie, insbesondere für die Frau, trägt also auch ihren Teil dazu bei, dass gesellschaftliche Nachfrage nach Prostitution besteht. Das manifestiert sich auch in der widersprüchlichen bürgerlichen Sexualmoral und dem Madonna-Whore-Komplex, in welchem eine reine Ehefrau für das öffentliche Ansehen  einer perversen und zügellosen Prostituierten für das Ausleben der gesellschaftlich geächteten Fantasie gegenüberstehen. Solange also Kapitalismus und Patriachat bestehen bleiben, wird es auch eine Nachfrage nach Sexkauf geben.

2. Das Sexkaufverbot ist nicht hilfreich gegen Zwangsprostitution und Menschenhandel

Eigentlich soll das Sexkaufverbot gegen Zwang, Gewalt und Menschenhandel vorgehen, aber wie die Beispiele Irland und Island zeigen, könnte eher das Gegenteil der Fall sein. Irland war vor der Einführung des Sexkaufverbots auf der bestmöglichen Stufe hinsichtlich Bekämpfung gegen Menschenhandel nach Einordnung des US-Außenministeriums, fiel aber um zwei Stufen zurück ebenso wie Island nach der Einführung des Sexkaufverbots (United States Department of State 2017 und United States Department of State 2020). Eigentlich liegt es auf der Hand: durch die Kriminalisierung wird Sexarbeit in den Untergrund gedrängt, wo zwielichtige Gestalten das Sagen haben und Zwangsverhältnisse an der Tagesordnung sind, was ebenso Menschenhandel fördern dürfte.

Wenn wir uns die Praxis anschauen, ist noch deutlicher, wie wenig hilfreich das „nordische Modell“ beim Kampf gegen Menschenhandel ist. Natürlich sind so die Hürden für Sexkäufer größer, Missstände zu melden, da sie eine Bestrafung fürchten (Global Network of Sex Work Projects 2015), wohingegen in einem entkriminalisierten oder legalisierten Rahmen wie in Italien auch Freier vermutete Zwangsprostitution melden (Krause-Schöne 2014). Interessanterweise wird in Italien auch aus allen politischen Richtungen gefordert, das Verbot von Bordellen wieder aufzuheben, um gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution besser vorgehen zu können (Migge 2018).

Auch die Polizei selber sagt, dass ihre Ressourcen so unnötig gebunden werden, denn wenn es keinen Fokus auf Zwangsprostituierte gibt, werden alle überprüft und es ist eben nicht so leicht nachzuvollziehen, wer das auf Basis von Konsens tut und wer nicht (Krause-Schöne 2014).

An dieser Stelle wollen wir uns natürlich nicht auf die Argumentation der Polizei verlassen genauso wenig, wie wir uns im Kampf gegen sexuelle Gewalt auf sie verlassen können. Denn die Zahlen sprechen Bände: Selbst in den für viele alltäglichen sexistischen gesellschaftlichen Verhältnissen führen Anzeigen sexueller und im allgemeinen patriarchaler Gewalt nicht zu sonderlich hohen Verurteilungen, im Gegenteil: Die Verturteilungsraten in Deutschland sinken sogar (Schwarz 2020). Das mag an der Definition davon liegen, wo diese Strafttatbestände beginnen, aber es liegt ebenso an den Beamt_Innen, die die Ermittlungen schleifen lassen oder Betroffene retraumatisieren. Weswegen also sollten wir uns nun drauf verlassen, dass die Polizei auf einmal ihre vermeintliche Rolle als Freund und Helfer ernst nehmen sollte?! Aus unserer Sicht besteht ihre Rolle in bürgerlichen Demokratien darin, die herrschenden Verhältnisse zu schützen. Dazu zählen die kapitalistischen Besitzverhältnisse genauso wie das Patriachat und die Ausbeutung von Arbeiter_Innen. Es gibt also keinen Grund zur Annahme, dass sie in dieser Hinsicht einmal auf der richtigen Seite stehen könnte.

3. Das Sexkaufverbot schützt Sexarbeiter_Innen nicht gegen Gewalt durch Polizei und Freier und verschlechtert die Arbeitsbedingungen

Polizeigewalt gegen Prostituierte ist somit auch in Ländern, wo Sexkauf verboten ist, keine Seltenheit. Vorkommen können bspw. sexualisierte oder physische Gewalt, willkürliche Arreste, Bestechung, Abnahme von Kondomen, keine Hilfe bei Anzeigenaufnahme, nicht konsensuelle HIV-Tests (Platt et al. 2018). Das führt dazu, dass die Arbeitsumgebung der Sexarbeitenden massiv unsicher wird und sie isoliert werden, weil gemeinschaftliche Unterstützung und Sicherheitsmaßnahmen durch andere Sexarbeitende (das gemeinsame Anmieten einer Wohnung zum Beispiel) oder sogar romantische Beziehungen als Zuhälterei gewertet werden könnten. Des Weiteren gaben 70 % der befragten Sexarbeiter_Innen in einer Studie in Frankreich, wo auch ein Sexkaufverbot gilt, an, dass sich ihr Verhältnis zur Polizei entweder verschlechtert habe oder es keine Verbesserung zu vorher gab (Le Bail et al. 2019). Ebenso können 38 % der Sexarbeitenden die Verwendung von Kondomen schlechter durchsetzen (ebenda), was zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, sich HIV oder andere sexuell übertragbare Krankheiten einzufangen, führen kann (Platt et al. 2018).

Des Weiteren wird das Screening der potentiellen Sexkäufer durch das „nordische Modell“ massiv erschwert (Global Networkt of Sex Work Projects 2015), was dazu führt, dass zwielichtige Kunden nicht einfach so aussortiert werden können. Gleichfalls sanken die Preise und Sexarbeitende sehen sich gezwungen, Kunden zu bedienen, die sie unangenehm finden, und Praktiken außerhalb ihrer Grenzen durchzuführen aufgrund der erhöhten Konkurrenzsituation (ebenda). Wir können also sehen: Selbst wenn offiziell die Sexarbeitenden nicht Opfer des „nordischen Modells“ sein sollen, so sind sie es doch am Ende, auf deren Rücken bürgerliche Moralvorstellungen verhandelt werden und deren Leben zusätzlich erschwert wird. Deswegen setzen wir uns für eine gewerkschaftliche Organisierung der Sexarbeiter_Innen ein, wie es auch mancherorts in der Gewerkschaft ver.di der Fall ist. So kann ein selbstbestimmter Kampf für bessere Arbeitsbedingungen (gegen Lohndumping durch festgeschriebene, angemessene Entlohnung der Arbeit, bestimmt durch die Arbeiter_Innen selbst) inklusive Schutzmaßnahmen (bspw. in Form von Selbstverteidigungskomitees) geführt werden.

4. Die Ausstiegsangebote richten sich nicht nach den realen Bedürfnissen der Sexarbeiter_Innen

Eine Sache, die immer wieder von Befürworter_Innen betont wird, ist, wie toll doch die Ausstiegsangebote als eine der Säulen des „nordischen Modells“ sind. Doch schaut man sich diese genauer an, wird man schnell feststellen, dass diese alles andere als wirksam sind. So sind Zugänge zu den Angeboten in Schweden einerseits dadurch erschwert, dass an ihnen nur teilnehmen kann, wer sofort mit der Prostitution aufhört. Das ist offensichtlich unrealistisch, weil es für viele aus finanziellen Gründen nicht unmittelbar möglich ist. Außerdem gilt die Möglichkeit in Schweden lediglich nur für Staatsbürger_Innen, wohingegen Personen mit Migrationshintergrund statt Hilfsangeboten eben mal die Abschiebung droht (Vuolajärvi 2019). Das führt sogar zu einer Praxis, in welcher Polizeibeamt_Innen mit Absicht nach nicht-schwedischen Personen suchen, um diese leichter abschieben zu können (ebenda). Das „nordische Modell“ wird an dieser Stelle also völlig zweckentfremdet und offenbart auch hier wieder die eigentlichen Interessen von Polizei und herrschender Klasse. Auch in Frankreich sind die Ausstiegsangebote alles andere als beliebt: Teilweise nahmen weniger als 100 Personen an den Programmen teil (Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen 2021).

5. Das Sexkaufverbot verschiebt das Problem

Wie bereits dargestellt, verschiebt das Sexkaufverbot die Tätigkeit in die Illegalität und liefert somit die Sexarbeitenden dubiosen Freiern und Zuhältern schutzlos aus und erschwert den Zusammenschluss von Sexarbeitenden, um kollektiv für ihre Rechte einzutreten, massiv. Aber das Problem wird nicht nur innerhalb der Länder verschoben, sondern das „nordische Modell“ fördert auch Sextourismus in zumeist halbkoloniale Länder, wo die Arbeitsbedingungen viel eher sklavenartig sind und es fast ausschließlich Zwangsprostitution gibt. Denn die Freier verlieren nicht auf einmal ihre Nachfrage nach gekauftem Sex, nur weil er auf einmal verboten ist, und fahren lieber in den Urlaub, um dort ihren Bedürfnissen nachzugehen.

Das „nordische Modell“ ist letztlich ein Weg in die Sackgasse, weil es die Verhältnisse, die es zu bekämpfen vorgibt, nur illegalisiert und verlagert. Es stellt ironischer Weise an ein patriarchales System die Aufgabe, eine Tätigkeit abzuschaffen, von welcher es insbesondere auch profitiert. Außerdem ist es realitätsfern zu glauben, dass der bürgerliche Staat wirklich das Interesse verfolgt, Sexarbeit abzuschaffen, ohne Sexarbeitende zu kriminalisieren, und es überhaupt möglich ist, diese Arbeit, genauso wie ganz grundsätzlich die Lohnarbeit, innerhalb des Kapitalismus abzuschaffen.

Fazit: Vier Ansatzpunkte

Was aber ist nun die Lösung? Grundsätzlich müssen wir als Marxist_Innen an vier Punkten ansetzen. Erstens müssen wir Seite an Seite mit Sexarbeiter_Innen für die komplette Entkriminalisierung und gegen jegliche Repression von staatlicher Seite kämpfen sowie für bessere Arbeitsbedingungen und Selbstorganisierung (natürlich auch in Form von Selbstverteidigungsstrukturen) eintreten, denn nur wenn die Sexarbeit ohne Zuhälterei und Kriminalisierung organisiert ist, kann überhaupt erst eine Kontrolle über die Verkaufs- und Arbeitsbedingungen durch die Sexarbeiter_Innen selbst durchgesetzt werden. Das inkludiert natürlich nicht nur die Selbstorganisierung am Arbeitsplatz, sondern schließt auch eine gewerkschaftliche Organisierung mit ein (wie es sie zeitweise bei ver.di in Hamburg gab), um größeren Druck im Kampf gegen Diskriminierung und für Arbeiter_Innenrechte auszuüben, der Vereinzelung der Sexarbeitenden und der Stigmatisierung entgegenzuwirken.

Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch notwendig, den Personen, welche unter dem ökonomischen Zwang und den teilweise sehr schlechten Arbeitsbedingungen leiden, eine Möglichkeit zu bieten, ohne größere Probleme auszusteigen. Dahingehend müssen wir uns für kostenfreie und seriöse Beratungsstellen und bezahlte Umschulungen, Aus- und Weiterbildungen für berufliche Alternativen einsetzen. Nur wenn der ökonomische Zwang und die Illegalisierung entfallen, können Ausstieg und Umschulung eine attraktive reale Option werden. Ansonsten bleiben sie eine schöne, aber letztlich leere Versprechung.

Egal, wofür sich die individuelle Person entscheidet, es gilt das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und sie sollte in ihrer Entscheidung unterstützt werden, natürlich ohne einerseits die Sexarbeit zu stigmatisieren oder andererseits sie zu romantisieren.

Um Zwangsprostitution insbesondere in Kombination mit Menschenhandel entgegenzuwirken, müssen wir uns neben ihrem Verbot auch für offenen Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für alle einsetzen, denn nur so kann den Versprechungen eines besseren Lebens in einem fremden Land unter Kontrolle von Mafiastrukturen entgegengewirkt werden.

Langfristig muss das Ziel von Marxist_Innen darin bestehen, die materielle gesellschaftliche Basis umzugestalten und somit die ökonomischen Zwänge zu zerstören, die Menschen dazu nötigen, sexuellen Dienstleistungen aufgrund von Gewalt oder Not nachzugehen. Es wäre allerdings verkürzt und nicht hilfreich, ein Verbot zu fordern, da sich Prostitution, wie bereits beschrieben, nicht einfach abschaffen lässt, zumal nicht innerhalb einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft, die diese erst hervorgebracht hat. Dementsprechend ist es natürlich auch nötig, eine Massenbewegung aufzubauen, in welcher Sexarbeiter_Innen Seite an Seite mit allen Unterdrückten gemeinsam für das Ende von Kapitalismus und Patriarchat kämpfen können, ohne stigmatisiert zu werden.

Zwei andere Artikel zum Thema Sexarbeit, der sich mit einigen anderen Fragen beschäftigen:

Literaturverzeichnis

Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen. (2021): Stellungnahme zum Antrag „Nein! Zum Sexkaufverbot des Nordischen Modells“ der Fraktionen der CDU und FDP in NRW. https://berufsverbandsexarbeit.de/wp-content/uploads/2021/01/210114_Stellungnahme-desBesD-zu-No-Nordic-Model-NRW.pdf; https://doi.org/10.1007/s13178-018-0338-9 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Ellison, G., Ní Dhónaill, C., & Early, E. (2019): A Review of the Criminalisation of the Payment for Sexual Services in Northern Ireland; http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3456633 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Farley, M. (2004): Prostitution and trafficking in nine countries: Update on violence and posttraumatic stress disorder; Journal of Trauma Practice, 2(3-4), 33-74

Global Network of Sex Work Projects (2015): The Real Impact of the Swedish Model on Sex Workers; https://www.nswp.org/sites/nswp.org/files/Swedish%20Model%20Advocacy%20Toolkit%20Community%20Guide%2C%20NSWP%20-%20November%202015.pdf (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Krause-Schön, E. (2014): Das sind häufig sehr junge Mädchen; TAZ, 17.6.2014, S. 5; https://taz.de/Das-sind-haeufig-sehr-junge-Maedchen/!338223/? (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Le Bail, H., Giametta, C., & Rassouw, N. (2019): What do sex workers think about the French Prostitution Act? A Study on the Impact of the Law from 13 April 2016 Against the „Prostitution System“ in France [Research Report]; Médecins du Monde, pp. 96;  http://hal.archives-ouvertes.fr/hal-02115877f (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Migge, T. (2018): Prostitution in Italien: Katholiken für Bordelle; Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/prostitution-in-italien-katholiken-fuer-bordelle-100.html#:~:text=Seit%2060%20Jahren%20gibt%20es,ausgenutzt%20werden%2C%20etwa%20durch%20Zuh%C3%A4lter. (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Platt, L., Grenfell, P., Meiksin, R., Elmes, J., Sherman, S. G., Sanders, T., Mwangi, P., Crago, A. L. (2018): Associations between sex work laws and sex workers’ health: A systematic review and meta-analysis of quantitative and qualitative studies; PLOS Medicine, 15(12), e1002680; https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1002680 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Schwarz, C. (2020): Sexualisierte Gewalt in Deutschland: Kaum Verurteilungen von Tätern; TAZ;  https://taz.de/Sexualisierte-Gewalt-in-Deutschland/!5727344/ (zuletzt aufgerufen 31.5.23)

United States Department of State. (2017): Trafficking in Persons Report; https://www.state.gov/reports/2017-trafficking-in-persons-report/ (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

United States Department of State. (2020): Trafficking in Persons Report;  https://www.state.gov/reports/2020-trafficking-in-persons-report/ (zuletzt aufgerufen 30.5.23)

Vuolajärvi, N. (2019): Governing in the Name of Caring—the Nordic Model of Prostitution and its Punitive Consequences for Migrants Who Sell Sex; Sexuality Research & Social Policy Journal of NSRC, 16(2), 151-165; https://doi.org/10.1007/s13178-018-0338-9 (zuletzt aufgerufen 30.5.23)




Die Türkei vor den Wahlen: ein Land vor neuen Entscheidungen?

Dilara Lorin, zuerst erschienen in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Mai 2023

Am 14. Mai stehen nun die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei an. Und sie könnten auch zu einer Entscheidung über die Zukunft des Regimes Erdogan werden.

Zweifellos spekulierten der Präsident und die regierende Koalition um die AKP beim Ansetzen des Wahltermins auf eine zumindest vorübergehende Erholung der Wirtschaft. Doch die blieb aus. Im Gegenteil: Die hohe Inflationsrate sowie eine hohe Verschuldung, aber auch die Covid-19-Pandemie haben die Ökonomie stark beeinträchtigt.

Das verheerende Erdbeben vom 6. Februar hat noch einmal für ein großes Loch bei Hunderttausenden Menschen gesorgt, aber auch die miserable Politik im Interesse des Kapitals und der Günstlinge von Erdogan hat nicht nur tiefe Spuren hinterlassen, sondern auch die über Jahre andauernde Korruption dieses Regimes aufgezeigt. Diese Politik hat nicht nur Millionen in Armut gestürzt, sondern auch Tausenden Menschen das Leben gekostet.

Leidtragende sind vor allem die Arbeiter:innenklasse sowie die unterdrückten Minderheiten des Landes, denn sie müssen die Lasten der Wirtschaftskrise schultern. Aber selbst die Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum zweifeln mittlerweile am Regime.

Erdogans Wahlantritt

Dabei zeigt schon die Tatsache, dass Erdogan überhaupt ein weiteres Mal antreten darf, wie biegsam die türkische „Demokratie“ ist. Eigentlich darf ein Präsident gemäß der Verfassung nur zwei Amtszeiten regieren. Erdogan steht aber mittlerweile 20 Jahre an der Spitze des Staates. Wie ist das „legal“ möglich?

Mit dem Referendum 2018 wurde zugleich die bonapartistische Herrschaft, die er ausübt, verstärkt und per Plebiszit legitimiert. Die Abstimmung zog eine Verfassungsänderung nach sich, die es gestattet, dass der/die Staatspräsident:in gleichzeitig auch das Amt des/r Regierungschef:in ausübt. Das Referendum erlaubt es Erdogan außerdem, im Jahr 2023 ein weiteres Mal als Präsident zu kandidieren. So wurde per Plebiszit zwar festgelegt, dass man lediglich zwei Amtszeiten regieren darf – aber jene vor 2018 werden nicht mitgezählt.

Mit dem Vorverlegen der Wahl auf Mitte Mai kann Erdogan außerdem sogar bei der nächsten Wahl dafür plädieren, wieder kandidieren zu dürfen. Denn eigentlich darf man nur zwei Perioden als Präsident:in regieren, was bedeuten würde, dass die kommende Amtszeit seine letzte wäre. Aber Erdogan und die AKP können behaupten, dass dadurch, dass die Wahl aktuell vorgezogen wurde, die Zeit von 2018 bis 2023 nicht als komplette Amtszeit gilt.

Dennoch könnte es eng werden. Sollte kein/e Kandidat:in bei den Präsidentschaftswahlen im ersten Wahlgang eine Mehrheit erhalten (was sehr durchaus wahrscheinlich ist), so soll zwei Wochen später eine Stichwahl abgehalten werden.

Bei den Parlamentswahlen werden 600 Abgeordnete für die Große Nationalversammlung der Türkei bestimmt. Diese Sitze werden auf die 81 Provinzen des Landes aufgeteilt, wobei jede durch eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten vertreten wird. Wie viele eine Provinz wiederum erhält, wird durch die Proportion zu ihrer Bevölkerungszahl festgelegt. Damit eine Partei ins Parlament einziehen kann, muss sie aber bei den Wahlen die undemokratische 10 %-Hürde überschreiten.

Wie sieht die aktuelle Stimmung in der Bevölkerung aus?

Die Regierung wird aktuell durch eine Koalition aus AKP und MHP gebildet. Dabei ist das Regime der AKP schon in den letzten Jahren nicht nur durch Autoritarismus, Repression, regionale Machtambitionen und einen permanenten Krieg vor allem gegen die Kurd:innen im eigenen Land und in Rojava geprägt. Die AKP ist auch immer wieder von Konflikten zerrissen, infolge derer einige Abgeordnete und Mitglieder die Partei verließen.

Gleichzeitig findet eine weitere Stärkung des autoritären, bonapartistischen, auf die Person Erdogans zugeschnittenen Regimes auch innerhalb der AKP statt. Der Präsident wurde immer mehr zur einzigen führenden Figur entwickelt, um seine Kontrolle innerhalb der Partei weiter zu stärken. Kritiker:innen wurden in gleichem Zuge ausgeschlossen oder verließen die Reihen. Damit hält die Person Erdogan faktisch immer mehr Partei wie Regime zusammen. Daher ist die Verlängerung seiner Vorherrschaft nicht nur ein Zeichen seiner Stärke, sondern unfreiwillig auch der Schwäche eines auf einen mittlerweile recht kranken „starken Mann“ zugeschnittenen Regimes.

Nach den letzten Wahlen 2018 musste die AKP eine Koalition mit der MHP eingehen, weil sie alleine nicht die absolute Mehrheit gewinnen konnte. Die MHP ist eine extrem rechtsnationale Partei, die mit den faschistischen und militant organisierten Grauen Wölfen eng verbunden ist. Sie gelten wie andere protofaschistische und extrem reaktionäre Kräfte als Reserven eines bonapartistischen Regimes, das sich aber vor allem auf die Kontrolle des Staatsapparates, der Medien, eine Wahlmaschinerie, Teile des Kapitals, große Schichten des Kleinbürger:innentums, der konservativen Mittelschichten, aber selbst rückständige, nationalistische Schichten der Lohnabhängigen und Armen stützt. Chauvinismus, Nationalismus und die ideologische Wiederbelegung des „Osmanismus“, die eine regionale Führungsrolle begründen sollen, sind ebenso ein Bindeglied dieser Allianz wie Erdogan als übergroße Führungsfigur, die die Einheit durchaus heterogenerer Kräfte repräsentiert.

Doch große Teile der Bevölkerung wenden sich auch ab. Sie wollen dem AKP- und MHP-Regime nicht mehr folgen. Die Inflation sowie der stetige Fall der Lira drücken die Mittelschicht der Türkei, die unter den Anfangsjahren der AKP-Regierung noch aufblühte, immer mehr an den Rand. Sie steht zum Teil ablehnender als vorher zur Regierung. Das Erdbeben und die damit immer deutlicher werdenden Missstände, Vetternwirtschaft sowie Korruptionsskandale haben die Regierung weiter diskreditiert.

Wachsende Teile dieser Schichten setzen nun bei der kommenden Wahl ihre Hoffnung in Kemal Kılıçdaroğlu, den Vorsitzenden der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP. In den Umfragen liegt sie oft nur einige Prozentpunkte hinter der AKP und hat im Vergleich zu den Wahlen von 2018 einen Gewinn von bis zu 5 % zu verzeichnen, wobei die AKP einen Verlust von ganzen 11,5 % erlitt. In den aktuellen Umfragen liegen je nach Meinungsforschungsinstitut der Regierungs- oder der Oppositionsblock vorne. In jedem Fall hat die CHP geführte Oppositionsallianz eine realistische Chance auf einen Wahlsieg bei den Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen.

Die Sechser-Opposition

Die Unzufriedenheit mit dem AKP/MHP-Regime bildet auch den größten Pluspunkt der Opposition. Sie pocht darauf, dass alles besser werde, wenn Erdogan und die AKP nicht mehr an der Macht seien.

Inhaltlich und programmatisch hält sich die bürgerlich-nationalistische Oppositionsallianz allerdings bedeckt. Wie sie Inflation und Armut bekämpfen will, welche Politik sie gegenüber den unterdrückten Nationalitäten und von allem den Kurd:innen verfolgt, das lässt sie bestenfalls (!) offen. Ein Rückzug aus Syrien, eine Aufgabe der geopolitischen Ambitionen der Türkei sind natürlich auch unter der CHP nicht zu erwarten, wohl aber ist es eine zumindest verbale Verbesserung der Haltung zur NATO und zum Westen.

Um die Mehrheit der AKP und Erdogans zu brechen, hat die nationalistische CHP, die sich zwar „sozialdemokratisch“ nennt, jedoch immer eine offen bürgerliche Partei war, eine Allianz mit fünf anderen bürgerlichen Teilen der rechten bzw. extrem nationalistischen und islamistischen Oppositionsparteien gebildet – eine Allianz des Grauens, die in vielem fast schon ein Spiegelbild des AKP-MHP-Bündnisses darstellt. Dass sie von der Bevölkerung als mögliche Alternative und zumindest als kleineres Übel akzeptiert und wahrgenommen wird, zeigt deutlich, dass sich die Stimmung weit weniger stark auf Erdogan fixiert als im Jahr 2015/2016. Um wenigstens ihn loszuwerden, setzen viele – auch linke und progressive – Menschen ihre Hoffnungen auf sie. Angesichts von 20 Jahren AKP-Regime ist es sicher verständlich, dass viele Linke, Unterdrückte, Frauen und große Teile der LGBTIAQ-Community sehnsüchtig auf den Sturz eines Tyrannen hoffen. Und natürlich wollen auch alle klassenkämpferischen, ja alle demokratischen Kräfte ihn und die reaktionäre AKP fallen sehen. Aber ein Sieg der CHP-geführten Opposition wird keine echte Freiheit, Frieden oder eine Verbesserung für Unterdrückte und Lohnabhängige bringen.

Im Gegenteil: Sie würde letztlich das kapitalistische, autoritäre Regime nur unter anderen Vorzeichen weiterzuführen versuchen. Die kemalistische CHP tritt bei dieser Wahl mit einem Wahlbündnis an, welches insgesamt aus 6 Parteien besteht. Dieses Bündnis wird von den Medien auch „Altılı Masa“, Sechsertisch, genannt. Neben der CHP beteiligen sich daran İYİ Parti, Saadet Partisi, Demokratik Parti, Gelecek Partisi und die Demokrasi ve Atılım Partisi. Dabei traten vier der sechs Parteien schon 2018 als „Nationale Allianz“ an. Die İYİ-Partei, eine nationalistische Abspaltung von der MHP, ist in den letzten Jahren auf ca. 10 % bei den Wahlen gekommen und wird darum auch am Sechsertisch als zweitstärkste Kraft nach der CHP gesehen. Dass die HDP keinen Sitzplatz erhielt, liegt vor allem an der İYİ Parti, die extrem chauvinistisch ist und die Unterdrückung der HDP und andere kurdischer Organisationen als „terroristischer“ fordert. Die CHP und die anderen Parteien am „Sechsertisch“ folgten diesen Bedingungen ohne große Diskussion.

Die größten Konflikte in der instabilen Allianz gab es um die Frage des/r Spitzenkandidat:in und die Verteilung des zukünftigen Einflusses, sollten die Wahlen gewonnen werden. Wie kaum eine Regierung davor wird eine mögliche CHP-geführte von großen inneren Widersprüchen geprägt sein, wahrscheinlich von größeren als die aktuelle Regierung. Falls sie gewinnen sollte, werden früher oder später die unterschiedlichen Interessen von rechten, ultrakonservativen, nationalistischen, islamischen bis hin zu liberal-reformerischen Strömungen aufbrechen.

Keine Stimme für die CHP und Kılıçdaroğlu!

Auch wenn die CHP und der Sechsertisch vielen als geringeres Übel erscheinen mögen, so sollten ihnen Arbeiter:innen, Linke, unterdrückte Minderheiten, die Frauen- und Umweltbewegung kein Vertrauen schenken und keine Stimme geben.

In Wirklichkeit würde das nur eine kapitalistische Alternative zu Erdogan, eine alternative bürgerlich-nationalistische Koalition stärken, die in allen grundlegenden ökonomischen, geopolitischen und auch demokratischen Fragen letztlich der AKP näher steht als den Arbeiter:innen und Unterdrückten. Auch sie würde eine Wirtschaftspolitik im Interesse des türkischen Kapitals vertreten. Sie mag zwar –ähnlich wie Erdogan – ein paar Verbesserungen für die Armen versprechen, letztlich sollen aber die Massen über Preissteigerungen, Kürzungen, Angriffe auf Arbeits- und Gewerkschaftsrechte die Kosten der Krise zahlen, die sie mit einem Austeritätsprogramm und Privatisierung überwinden will. Eine Aufhebung gewerkschaftsfeindlicher Gesetze lehnt die Opposition ab. Für die unterdrückten Minderheiten, allen voran für das kurdische Volk, wird es auch unter der CHP keine Selbstbestimmung geben, ja nicht einmal die politischen Gefangenen werden freikommen. Sie wird Rojava ebenso wie die PKK weiter bekämpfen. Sie wird weiter gegen Geflüchtete vorgehen. So verspricht sie, in den nächsten zwei Jahren einen Großteil aller Geflüchteten abzuschieben. Die türkische Armee wird weiter in Syrien ihr Unwesen treiben. Das Regime wird, ebenso wie Erdogan, gegen die Geflüchteten vorgehen und seine geostrategischen Interessen verfolgen.

Angesichts der tiefen Widersprüche am Sechsertisch, der Wirtschaftskrise und der vom Standpunkt der Herrschenden notwendigen Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse wird auch ein Präsident Kılıçdaroğlu auf jene bonapartischen Machtbefugnisse zurückgreifen, die Erdogan eingeführt hat. Auch seine Herrschaft wird sich auf den bestehenden Staats- und Militärapparat stützen müssen, was ein Übereinkommen mit den Leuten beinhaltet, die von der AKP an die Spitze der Institutionen gesetzt wurden.

Würde Erdogan eine Niederlage akzeptieren?

Dies wird umso wahrscheinlicher, als es keineswegs sicher ist, dass Erdogan und die AKP eine etwaige Wahlniederlage akzeptieren würden. Schon Trump und Bolsonaro brachten es fertig, von Wahlbetrug zu sprechen, als sie selbst an der Macht waren. Erdogan und die AKP verfügen zweifellos über weit stärkere Stützen in der türkischen Gesellschaft und Elite als Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien. Andererseits würde ein Putschversuch das Land weiter destabilisieren. Daher ist es auch fraglich, ob die AKP insgesamt, die MHP, das Militär einen Putsch inszenieren würden.

In jedem Fall besteht die Gefahr. So sprechen einige von der Ruhe vorm Sturm, wenn es um die AKP und Erdogan geht. Dieser scheint derzeit eher ruhiger in der Politik zu agieren, wenn man seine aktuelle Wahlpropaganda mit der vor den letzten 2 Wahlen vergleicht. Viele Menschen bezeichnen den Urnengang am 14. Mai als Schicksalswahl zwischen Demokratie und Autokratie.

Die Frage „Was kommt?“ teilt sich dabei in die Phase vor und nach der Wahl. Vor der Wahl ist noch immer ungeklärt, wie die bis zu 3,7 Millionen Menschen aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten wählen können. Viele sind nicht in der Lage, ihre Dörfer zu verlassen, um in den Städten zu wählen, viele befinden sich außerhalb ihrer Heimatstädte und haben keine Ahnung, wie sie ihre Stimme nutzen können. Und auch die Wahlbehörde hat sich dazu bis dato nicht geäußert. Das Erdogan Wahlmanipulation und -betrug durchführt und weiter durchführen wird, ist kein Geheimnis. Beobachter:innen gehen davon aus, dass alleine im Referendum zur Verfassungsänderung bis zu 2 Millionen Stimmen gefälscht wurden.

Dass kurdische, linke Politiker:innen, kritische Journalist:innen mit Repression überschüttet werden, wundert auch nicht. Alleine bei der Eröffnung der Wahlbüros für die YSP (Yeşil Sol Parti; Grüne Linke Partei) wurden etliche Menschen, die sich in Solidarität mit ihr versammelt hatten, in mehreren Städten und Gemeinden festgenommen. Dass vor allem den Minderheiten erschwert wird, bei Wahlen anzutreten, konnten wir schon 2018 beobachten und dies scheint sich auch dieses Mal nicht zu bessern, sondern zu verschärfen.

Die Linke

Um ein durchaus mögliches Parteiverbot kurz vor den Wahlen zu umgehen, treten die Kandidat:innen der HDP diesmal in Form der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti; YSP) an. Zusammen mit anderen linken Parteien bildet sie das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“.

In diesem Rahmen stellt die HDP (Halkların Demokratik Partisi) für viele Linke, Gewerkschafter:innen, die LGBTIAQ-Community und Teile der kurdischen Minderheit die wichtigste Kraft dar. Die Repression gegenüber den Abgeordneten und Mitgliedern der Partei ist immens. Im Mai 2016 entzog die AKP-Regierung 138 Abgeordneten ihre Immunität. Die Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sitzen seither (!) in Untersuchungshaft und mit ihnen etliche weitere Abgeordnete.

Bei diesem schmutzigen Vorgehen spielte auch die CHP eine wichtige Schlüsselrolle, denn erst mit ihren Stimmen konnte die nötigen Zweidrittelmehrheit im Parlament erreicht und damit die Aufhebung der Immunität durchgesetzt werden. Nach den Kommunalwahlen 2019 setzte die Regierung 47 der 65 gewählten HDP-Bürgermeister:innen ab und ihre eigenen Leute als Zwangsverwalter:innen ein. Der türkische Generalstaatsanwalt Bekir Şahin reichte am 17. März 2021 einen Verbotsantrag gegen die HDP beim Verfassungsgericht ein. Dass die HDP und ihre Strukturen systematisch angegriffen und immer wieder zerschlagen werden, ist nichts Neues und die Verhaftungs- sowie Verleumdungswellen haben in den letzten Jahren nicht nachgelassen. 

Die TIP, die türkische Arbeiter:innenpartei, stellt im Bündnis die zweitstärkste Kraft dar. Außerdem sind die EMEP (Partei der Arbeit), die EHP (Partei der Arbeiter:innenbewegung), SMF (Föderation der sozialistischen Räte) und die TÖP (Soziale Freiheitspartei) beteiligt. Außerdem rufen die meisten linken Gewerkschaften für die HDP bzw. die YSP bei den Parlamentswahlen auf.

Die sechs Parteien kandidieren auf einer gemeinsamen Liste bei der Wahl, aber alle Mitgliedsparteien können auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten. Dies wurde als Kompromiss durchgesetzt, da zuvor vor allem die TIP darauf bestand, sich mit eigenen Kandidatenlisten und eigenem Logo zur Wahl aufzustellen an den Orten, wo sie regionale Schwerpunkte hat.

Dass die TIP und die HDP auch Menschen aus der LGBTIAQ-Community sowie aus den unterschiedlichen Minderheiten des Landes als Kandidat:innen aufstellen lassen, stellt einen Fortschritt gegenüber den anderen Parteien dar. Das Nichtaufstellen eines/r Präsidentschaftskandidat:in seitens des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ ist ein großer Fehler und zeigt auch dessen politische Schwächen deutlich. Mehr oder weniger offen wird zumindest im zweiten Wahlgang für Kılıçdaroğlu aufgerufen.

Auch wenn sich die CHP auf einer Pressekonferenz unverbindlich dafür ausgesprochen hat, die Anliegen der HDP, die Frage der Kurd:innen usw. weiterzutragen, wissen wir aus der Geschichte, aber auch durch die Einschätzung des Sechsertisches, dass dies eine blanke Lüge ist.

Während der Wahl gibt es eigentlich drei bis vier Themen, bei welchen sich die Linke von den reaktionären und offen bürgerlichen Kräften für alle deutlich wahrnehmbar unterscheidet: die Frage der Geflüchteten in der Türkei, der Rechte der Kurd:innen und aller unterdrückten Minderheiten, die Aufarbeitung des Erdbebens und vpn dessen Folgen und, wie die wirtschaftliche Krise sowie die miserable Lage der Arbeiter:innenklasse verbessert werden können, ohne dies den Lohnabhängigen aufzuschultern. Und zum wiederholten Mal zeigt sich dabei die reaktionäre Ader der CHP. So stach in den letzten Jahren und Monaten immer brisanter hervor, wie ihre Abgeordneten im Parlament und in öffentlichen Reden gegen Geflüchtete hetzen.

Das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ stellt zwar eine linke Bündniskandidatur, aber keine revolutionäre Kraft dar, die sich auf ein klares antikapitalistisches Programm der sozialistischen Revolution beruft. Es handelt sich vielmehr um eine Allianz mit einer kleinbürgerlich-nationalistischen Kraft, der HPD, die sich vor allem auf kurdische, Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, aber auch Kleinbürger:innen und kleine Unternehmer:innen stützt. Auch wenn sie sich in den letzten Jahren mehr in Richtung Gewerkschaften entwickelt hat und z. B. über einen wichtigen Einfluss bzw. Verbindungen zur DISK verfügt, so ist sie keine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, sondern eher ein Hybrid aus kleinbürgerlichem Nationalismus, Stalinismus, Populismus und Linksreformismus.

Die anderen Parteien in der Koalition sind durchweg reformistische Arbeiter:innenparteien, oft mit stalinistischer Ausrichtung oder solchen Wurzeln, die jedoch in einzelnen Regionen und Sektoren eine gewisse Verankerung in der Arbeiter:innenklasse aufweisen.

Bei den Parlamentswahlen rufen wir zur kritischen Unterstützung des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ auf.

Es handelt sich dabei um die einzige Kraft mit einer Massenunterstützung aus der Arbeiter:innenklasse und seitens der unterdrückten Kurd:innen, die eine fortschrittliche Alternative gegenüber beiden bürgerlich-reaktionären Blöcken aus AKP/MHP einerseits und CHP/Sechsertisch andererseits verkörpert.

Zugleich kritisieren wir jedoch das Programm des Wahlblocks. Auch wenn viele der sozialen und demokratischen Versprechungen selbst unterstützenswert sind wie, sich für die Arbeitenden, die Gewerkschaften, die demokratischen Rechte der Kurd:innen und anderer nationaler Minderheiten einzusetzen, so geht es über demokratisch-reformistische Reformversprechungen nicht hinaus. Allenfalls wird es mit dem Gedanken an eine sozialistischen Zukunft verknüpft, aber ohne die aktuellen Reformforderungen mit konkreten Übergangslosungen zu verbinden.

Zweitens verhält sich das Bündnis gegenüber der CHP, dem Sechsertisch und Kılıçdaroğlu opportunistisch. Ihre Politik wird nicht offen als bürgerlich und arbeiter:innenfeindlich kritisiert, sondern als kleineres Übel gegenüber Erdogan beschönigt. Damit unterlässt es, die Arbeiter:innen, die städtische Armut und die Unterdrückten auf die Angriffe einer möglichen CHP-geführten Regierung schon jetzt vorzubereiten und den Widerstand gegen jede kommende aufzubauen. Natürlich würde das auch einschließen, gegen einen möglichen Putschversuch Erdogans auf die Straße zu gehen, sollte er die Wahl verlieren. Aber es bedeutet vor allem auch, die Massen auf jede Form des Kampfes gegen die nächste Regierung vorzubereiten.

Dennoch wäre es ein wichtiges Zeichen für alle Unterdrückten, Arbeiter:innen und Armen, wenn die Liste über die 10 %-Hürde käme. Aber zugleich müssen Revolutionär:innen in der Türkei in diese Wahlen mit zwei zentralen Stoßrichtungen eingreifen. Erstens müssen sie von allen Kräfte des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ fordern, eine Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen, der HPD, der Gewerkschaften, der Umwelt-, der Frauenbewegung gegen die Angriffe der nächsten Regierung aufzubauen. Das 10-jährige Jubiläum der Gezi-Proteste am 24. Mai könnte dazu einen wichtigen ersten Mobilisierungschwerpunkt bilden und damit auch soziale Sprengkraft entfalten.

Zweitens müssen Revolutionär:innen dafür eintreten, dass im Bündnis selbst offen die Frage diskutiert wird, welche Partei die Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten in der Türkei brauchen. Eine wirkliche, revolutionären Arbeiter:innenpartei ist unserer Meinung nach nötig – und das erfordert, mit dem Schwanken zwischen linkem kleinbürgerlichen Nationalismus und „linken“ Parteiprojekten ohne klare klassenpolitische Ausrichtung ebenso zu brechen wie mit stalinistischen und linksreformistischen Traditionen.

Eine solche Partei kann entstehen, aber nur, wenn der gemeinsame Kampf verbunden wird mit einem politisch-programmatischen Bruch hin zu eine Arbeiter:innenpartei, das sich auf ein Program von Übergangsforderungen stützt, um die Lohnabhängigen und Unterdrückten zur sozialistischen Revolution zu führen. Dies ist keine Frage einer fernen Zukunft, sondern stellt sich im Klassenkampf. Die wirtschaftliche Lage lässt sich nicht mit einigen Reformen wieder geradebiegen. Dies kann alleine die Arbeiter:innenklasse, indem sie für die Enteignung der Betriebe und Konzerne unter ihrer Kontrolle, für ein Notprogramm für die Opfer der Erdbebenkatastrophe eintritt, dafür, die Wirtschaft gemäß einem demokratischen Plan im Interesse der Massen neu zu organisieren.

Drittens müssen wir die Möglichkeit ernst nehmen, dass Erdogan und die AKP entweder versuchen könnten, die Wahl offenkundig zu stehlen oder sich an der Macht zu halten, indem sie sich auf Wahlbetrug berufen. Obwohl die Arbeiterklasse und alle fortschrittlichen Kräfte keine Illusionen in die CHP-Opposition haben sollten, sollten sie sofort die Gewerkschaften, die fortschrittlichen Parteien, die Frauenbewegungen und die national Unterdrückten zu einem Generalstreik mobilisieren, um Erdogans Festhalten an der Macht zu stoppen. Sollte dieser haben, wäre Erdogans Unterdrückung wahrscheinlich noch schlimmer als nach dem gescheiterten Putsch vom 16. Juli 2016.

Aber das Ziel, ihn zu besiegen, sollte mehr als ein negatives sein. Die Bewegung sollte die Wahl einer souveränen verfassungsgebenden Versammlung fordern, um das gesamte bonapartistische System hinwegzufegen und die sozialen und politischen Forderungen der Arbeiter, der städtischen und ländlichen Bevölkerung, der unterdrückten Nationalitäten, insbesondere des kurdischen Volkes, zu erfüllen.

Solche und andere grundlegende Maßnahmen können nicht mit dem bestehenden kapitalistischen Staatsapparat umgesetzt werden. Sie können nur durch eine Bewegung der Arbeiter:innen und Unterdrückten, durch landesweite Massenstreiks, durch Besetzungen der Betriebe, durch die Errichtung von Räten und Selbstverteidigungsorgane der Massen in allen Regionen durchgesetzt werden, durch eine Kraft, die den bonapartistischen, autoritären Staatsapparat hinwegfegen und eine Regierung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen stattdessen an die Macht bringen kann.




Riot, don’t Diet: Wir geben dem Kapitalismus nicht unseren Körper!

Von Erik Likedeeler, April 2023

Aktuell wird die neue Staffel von Germany’s Next Topmodel im Fernsehen ausgestrahlt. Zu Recht steht die Sendung seit Jahren dafür in der Kritik, ihre Kandidatinnen zu sexualisieren und Essstörungen zu befeuern. Überwiegend wird jedoch davon ausgegangen, Fernsehshows und soziale Medien hätten mit ihren unerreichbaren Schönheitsidealen die alleinige Schuld an der Entstehung von Diätkultur. Doch GNTM und Instagram sind nur die jüngsten Ausprägungen eines Phänomens, welches schon lange zuvor in kapitalistischen Gesellschaften verbreitet war.

In diesem Artikel soll es darum gehen, wie Diätkultur historisch entstanden ist und welchen Zweck sie im Kapitalismus erfüllt. Es soll gezeigt werden, wie Fettfeindlichkeit im Gesundheitssystem wirkt und wie sich diese in Zusammenhang mit anderen Formen der Diskriminierung verstärkt.

Einige Ursprünge der Diätkultur: Streiks und Militär

Im Zuge der Industrialisierung begannen Forscher_Innen in Europa, Russland und den USA, den Körper als Maschine zu begreifen, und Nahrung als deren Arbeitsenergie. Input und Output sollten effizienter gemacht werden. Die Einheit der Kalorie wurde eingeführt, um hochkalorische Lebensmittel zu identifizieren, mit denen Menschen ihren Nahrungsbedarf kostengünstig decken konnten. In Zeiten von Streiks, Hunger und Sozialreformen diente die Kalorienforschung dazu, den Arbeiter_Innen Haferflocken und Bohnen als wirtschaftlich effiziente Nahrungsmittel schmackhaft zu machen. Dadurch sollten Forderungen nach Lohnerhöhungen ausgehebelt werden.

In den 1920er Jahren wurde das Kalorienzählen zur Strategie bürgerlicher Schichten, um den eigenen Status zu erhöhen. Über die Körperform sollte bewiesen werden, dass man bereit für die Anforderungen der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft war.

Teile der heutigen Diätindustrie haben ihren Ursprung beim Militär. Mithilfe von Größe-Gewichts-Tabellen und Formeln zur Bestimmung des „Idealgewichts“ sollte die Kriegstauglichkeit junger Männer festgestellt werden.

Auch Personenwaagen waren zunächst im Labor und beim Militär im Einsatz. Ende des 19. Jahrhunderts waren sie auch zur spielerischen Unterhaltung auf Jahrmärkten verbreitet. Bis sich in den 1960ern die Badezimmerwaage durchsetzte, konnte man öffentliche Personenwaagen auch an Bahnhöfen finden. Heute ist das Wiegen zu einem alltäglichen, intimen Ritual der Selbstvermessung geworden, welches wissenschaftliche Exaktheit und die Selbstversicherung der eigenen Normalität imitiert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Figur des dicken Mannes vorübergehend als Gegenbild zum Hunger des Krieges gefeiert. Der dicke Bauch des Unternehmers wurde zum Symbol seiner beruflichen Karriere und den Erfolg des Kapitalismus. Dieser Zusammenhang wird heute immer noch geknüpft: In linker Propaganda ist es beliebt, sich den Kapitalismus als den „dicken Mann im Anzug“ vorzustellen und damit Gewicht moralisch zu bewerten.

Körper und Eigenverantwortung auf dem Arbeitsmarkt

Damit die Ungerechtigkeit des kapitalistischen Systems im Verborgenen bleibt, sollen wir glauben, alle Menschen hätten die gleichen Aufstiegschancen und mit Anstrengung könnten wir alles schaffen. In dieser Welt des Wettbewerbs werden Körper zum Symbol für Arbeitsmoral.

Als in den 1970er Jahren das Zeitalter der Fitness begann, wurde der durchtrainierte Manager zum Idealtyp für eine erfolgreiche Existenz. Die Fähigkeit, die eigene Nahrungsaufnahme zu kontrollieren, gilt seitdem als Zeichen von Stärke, Unabhängigkeit und Persönlichkeitsentwicklung, Muskeln stehen für Willenskraft und Handlungsfähigkeit.

Das mit Passivität und Verweichlichung assoziierte Fett hingegen stellt den Produktionskörper infrage – es wurde zum Kennzeichen der Erfolgslosen erklärt, welche die Kontrolle über sich selbst und ihr Leben verloren hätten.

Bilder von der „dicken Unterschicht“ werden von Politik und Presse gezielt genutzt, um den Rückbau des Sozialstaats zu rechtfertigen. Deutlich wurde dies zur Zeit der Arbeitsmarktreformen der 2000er Jahre. Damals wurden Vorstellungen von den „degenerierten Arbeitslosen“ zum zentralen Argument dafür gemacht, dass in Wirklichkeit nicht ein Mangel an Geld, sondern ein Mangel an Disziplin für die miesen Lebensumstände der Bevölkerung verantwortlich wäre.

Fotograf_Innen lauern dicken Menschen noch immer auf und hoffen, „skandalöse“ Schnappschüsse von billig gekleideten Frauen der Unterschicht zu ergattern, die auf der Straße Fast Food essen. Auch in vermeintlich fortschrittlichen Umfeldern, in denen offener Sexismus und Sozialchauvinismus verpönt sind, können diese Muster innerhalb von Fettfeindlichkeit unangetastet weiter bestehen.

Auch mangelnde Gesundheitsvorsorge soll durch den Verweis auf das Gewicht gerechtfertigt werden. So kann der Fokus von gesundheitsbezogenen Maßnahmen auf die individuelle Lebensweise verlagert werden. Auch wenn in imperialistischen Ländern tatsächlich der Ernährungsfrage heute eine große gesundheitspolitische Bedeutung zukommt und eine schlechte Ernährung Auslöser für viele Erkrankungen ist, wird die Verantwortung weg von der Nahrungsmittelindustrie und deren profitorientierter Ausrichtung auf die Erhöhung des Konsums und die Verringerung der Produktionskosten gelenkt.

Während der COVID-19-Pandemie wurde von westlichen Regierungen die Behauptung in Umlauf gebracht, die Ursache der unkontrollierten Krankheitsausbrüche wäre nicht im zusammenbrechenden Gesundheitssystem zu suchen, sondern dicke Menschen wären für die hohe Todesrate verantwortlich.

Wenn hohes Gewicht mit Begriffen wie „Epidemie“ bezeichnet wird oder der „Krieg gegen das Übergewicht“ ausgerufen wird, verstärkt das den Hass. Es impliziert, dicke Menschen wären eine ansteckende Gefahr für andere oder Feind_Innen, die man bekämpfen müsste.

Auch beim Thema Klimakrise wird versucht, von der Tierindustrie, fossilen Brennstoffen und großen Konzernen abzulenken. Angeblich würden dicke Menschen zu viel essen und beim Fernsehen und Autofahren zu viel Strom verbrauchen. Es werden Erzählungen von der angeblich unersättlichen Gier des Menschen erfunden, um die wahren Verantwortlichen zu schützen.

Warum Selbstakzeptanz nicht allein die Antwort ist

Innerhalb der Body-Positivity-Bewegung wird dicken Menschen wiederholt erklärt, sie müssten einfach nur lernen, sich selbst zu lieben. Doch der Leitsatz, den eigenen Körper zu akzeptieren, kann keine Probleme lösen in einer diskriminierenden Welt, die permanent das Gegenteil kommuniziert. Eine Studie hat ergeben, dass die meisten Menschen lieber blind, gehörlos, amputiert, zuckerkrank oder herzkrank wären, als dick zu sein.

15% der Bevölkerung in Deutschland meiden dicke Menschen aktiv, und das fängt schon früh an: In Studien erzielten besonders dicke Jungen schlechte Sympathiewerte. Ihnen wurden Faulheit und geringe Intelligenz zugeschrieben, als Spielpartner wurden sie abgelehnt. Wie Roxane Gay in ihrer Autobiographie „Hunger“ schreibt: „The bigger you are, the smaller your world becomes.”

Meist gehen der emotionale Ekel und die negativen Zuschreibungen gegenüber dicken Personen zurück, sobald die Proband_Innen erfahren haben, dass die dicke Person besonders viel getan hat, um abzunehmen. Es wird sich also nicht vor dem Körper selbst geekelt, sondern es werden Arbeitsscheu und Trägheit unterstellt – die schlimmsten Eigenschaften, die Arbeiter_Innen in der Leistungsgesellschaft haben können. Erst, nachdem die Vorwürfe zurückgewiesen wurden, wird die dicke Person als gleichwertiger Mensch erkannt.

Fettfeindlichkeit äußert sich auf vielfältige Weisen, denn in den meisten Ländern ist es nicht verboten, Menschen aufgrund ihres Gewichts zu diskriminieren. Ein hohes Gewicht wirkt sich insbesondere bei dicken Frauen auf das Gehalt aus (Weight Pay Gap). Auch, dass Menschen aufgrund ihres Gewichts entlassen oder gar nicht erst eingestellt werden, ist keine Seltenheit.

Manche Fluggesellschaften schließen dicke Menschen aus oder lassen sie mehr bezahlen. 2008 wurde in Mississippi sogar ein Gesetz vorgeschlagen, welches Restaurants verbieten sollte, dicke Kund_Innen zu bedienen – glücklicherweise konnte es verhindert werden. Ein weiteres Problem ist, dass immer wieder sehr junge Kinder aus ihren Familien geholt und in Heime gesteckt werden, wenn die Eltern sie nicht zum Abnehmen zwingen können oder wollen.

Sexismus, Dating-Kultur und Victim-Blaming

Wie ein Blick auf die Dating-Kultur zeigt, sind Fettfeindlichkeit und Sexismus eng miteinander verknüpft. Während hetero Frauen am meisten befürchten, von ihrem Date ermordet zu werden, haben hetero Männer die größte Angst davor, ihr Date könnte zu dick sein. Sogenannte Pick-up-Artists flirten gerne mit dicken Frauen, da sie diese für dankbare Beute für sexuelle Übergriffe halten, oder auch deshalb, um mit ihrer scheinbaren Nicht-Oberflächlichkeit schlanke Frauen zu ködern.

Der kulturelle Glaube, dicke Menschen könnten nicht sexuell begehrt werden, führt dazu, dass ihnen nach sexuellen Übergriffen nicht geglaubt wird, oder dass sie sogar beglückwünscht werden. Sogar vor Gericht wird das hohe Gewicht von Betroffenen dazu genutzt, ihnen zu unterstellen, der Angriff hätte ihnen gefallen. Selbst innerhalb antisexistischer Bewegungen gibt es für dicke Frauen kaum Zufluchtsorte: Schon seit dem Beginn der Frauenbewegung gelten sie als nicht vorzeigbar, wenn es um das gemeinsame Einfordern von Rechten geht.

Auch in der Öffentlichkeit werden dicke Personen beleidigt, belästigt und bloßgestellt, was insbesondere für Frauen mit sexuellen Übergriffen einhergeht. Bei dem „Partyspiel“ Fat Girl Rodeo geht es darum, sich auf eine dicke Frau zu werfen und sich darüber lustig zu machen, wie sie sich dagegen wehrt. 

Sogenannte Pig Roast Contests werden durch Männergruppen wie Studentenverbindungen veranstaltet. Dabei geht es darum, Sex mit einer dicken Frau zu haben, der heimlich beobachtet und gefilmt wird. Hinterher kommen die anderen Männer heraus, um die nackte Frau auszulachen und zu erniedrigen. All das führt dazu, dass viele dicke Frauen nur auf die fiese Pointe warten, sobald mit ihnen geflirtet wird.

Rassismus und Polizeigewalt

Ein weiteres Problem ist, dass dicke Menschen überdurchschnittlich oft beschuldigt werden, Verbrechen begangen zu haben und mehr Polizeigewalt erleben. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Schwarze Mann Eric Garner, der 2014 von New Yorker Polizist*innen ermordet wurde.

Für den Polizisten, der ihn in den Würgegriff nahm, gab es keine rechtlichen Konsequenzen, unter anderem deshalb, weil die Polizei Garners Gewicht für seinen Tod verantwortlich machte.

Dies steht in direktem Zusammenhang mit rassistischen Vorstellungen über die angeblich unbändige Kraft Schwarzer Männer, welche exzessive Gewalt zum vermeintlichen Selbstschutz weißer Menschen rechtfertigen würde.

Der Rassismus hört hier längst nicht auf. Obwohl Schwarze Jugendliche mit 50% höherer Wahrscheinlichkeit als weiße Jugendliche bulimische Verhaltensweisen wie Binge-Eating (wiederkehrende Essanfälle) und Erbrechen zeigen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie von medizinischem Personal nach Essstörungssymptomen gefragt werden, deutlich geringer. Rassismus und Fettfeindlichkeit wirken auch dann zusammen, wenn Flüchtende bei der Einreise aufgrund von hohem Gewicht zurückgewiesen werden.

Fettfeindlichkeit im Gesundheitssystem

Auch im Gesundheitssystem werden dicke Menschen massiv diskriminiert. Manche Ärzt*innen haben Gewichts-Obergrenzen für die Patient*innen, die sie behandeln. Medizinische Untersuchungen werden bei dicken Menschen schneller und ungenauer durchgeführt oder weggelassen. Bei Migräne verbringen sie ca. 10 Minuten weniger im ärztlichen Sprechzimmer.

Ein beträchtlicher Teil des medizinischen Personals ekelt sich vor dicken Menschen und weigert sich, dicke Körper zu berühren. Häufig bleibt es bei Blickdiagnosen oder anstatt der richtigen Werte werden Fantasiezahlen notiert. Immer wieder werden Krankheitssymptome einfach unterstellt und es werden Medikamente verschrieben, die Cholesterin, Blutdruck oder Blutzucker senken sollen. Wenn keine tatsächliche Erhöhung besteht, kann das lebensgefährlich sein.

In anderen Fällen führen Fehldiagnosen dazu, dass Menschen nicht die Rezepte bekommen, die sie eigentlich bräuchten: Bei tatsächlichem Bluthochdruck wäre die Wunschkindpille kein geeignetes Verhütungsmittel. Dicken trans Personen werden mit dem Verweis auf ein hohes Gewicht lebenswichtige geschlechtsangleichende Maßnahmen wie Hormone und Operationen verweigert.

Selbst wenn irgendwann doch die richtigen Medikamente verschrieben werden, hören die Probleme nicht auf: Weil keine medizinischen Studien an dicken Körpern durchgeführt werden, haben Medikamente wie Antibiotika die falsche Dosierung, auch die Pille Danach und Chemotherapien sind weniger wirksam.

Wenn sämtliche Krankheitssymptome auf das Gewicht zurückgeführt werden, kann das sogar dazu führen, dass Tumore in der Brust oder im Bauchraum nicht rechtzeitig bemerkt werden. Auch Essstörungen werden bei dicken Menschen ignoriert, oder sie bekommen sogar Glückwünsche dafür, dass sie ihre „Pflicht“ des Abnehmens erfüllen. Ein niedriges Gewicht ist ein Diagnosekriterium für Magersucht – so als könnten nicht auch dicke Menschen durch Verhungern und Nährstoffmangel sterben. Die Suche nach neuen Ärzt_Innen ist erschöpfend, und wegen solchen Erfahrungen gehen dicke Menschen deutlich seltener zu ärztlichen Untersuchungen.

Pillen und Operationen: Die Diätindustrie ist tödlich

Oftmals wird unterschätzt, wie gefährlich die Diätindustrie sein kann und wie viele ihrer Maßnahmen tödlich enden. Dicken Patient_Innen wird von Ärzt_Innen ganz selbstverständlich zu Magenverkleinerungen geraten. Viele Menschen, die eine solche Operation mitgemacht haben, müssen hinterher für den Rest ihres Lebens mehrmals pro Monat ins Krankenhaus. Eine weitere Folge, von der 40% der Operierten betroffen sind, ist das Dumping-Syndrom, das sich durch Durchfall, Übelkeit, Erbrechen, Blähungen, Krämpfe, Schwindel, Schwäche und Schweißausbrüche äußert – im Prinzip so, als wäre man für den Rest des Lebens verkatert.

Nach der OP kommt es häufig zu einem rasanten Anstieg von Drogenkonsum und Selbstverletzung. 1-5% der Patient_Innen sterben bei der OP. Solche gewichtsreduzierenden Operationen werden bereits an Kindern durchgeführt, lange bevor diese einwilligen können. 2013 war das jüngste operierte Kind 2,5 Jahre alt.

In den letzten Jahren kam die sogenannte Sanduhrfigur in Mode und damit auch die Operation Brazilian Butt Lift, welche als gefährlichster Schönheitseingriff der Welt gilt. Dabei wird Fett aus anderen Körperregionen in den Hintern operiert. Damit verbunden sind hohe Risiken für Blutgerinnung und Herzstillstand, aufgrund der wichtigen Nervenenden und Gefäße in diesem Bereich. Eine_r von 3000 Behandelten stirbt daran.

Auch Diätpillen können extrem gefährlich sein, von einigen kann man sogar blind werden. Rimonabant ist ein Appetitzügler, der 2008 vom Markt genommen wurde, weil er Suizidgedanken extrem steigerte und auch zu Suiziden führte.

In vielen Ländern sind „Fat Camps“ ein weiterer Bestandteil der Diätindustrie. Diese bieten Programme an, bei denen die Klient_Innen extrem wenige Kalorien zu sich nehmen, brutale Workouts durchführen und sich demütigen lassen müssen, um in kurzer Zeit viel Gewicht zu verlieren. Hauptsächlich richten sie sich an Kinder. In ihrer Rhetorik und ihren Mitteln bedienen sie sich bei Anti-Drogen-Kampagnen. Fat Camps in den USA nehmen bis zu 6000$ pro Nacht und sind nichts anderes als Kindesmisshandlung.

Fazit

Wenn eine Gesellschaft sich wandelt, dann wandeln sich auch ihre kulturellen Vorstellungen über die Nahrungsaufnahme. In den 1990ern und 2000ern waren sehr dünne Models wie Kate Moss das Körpervorbild vieler Frauen und Mädchen. Mittlerweile wurde dieses weibliche Ideal abgelöst: Fitnesskult und der Wunsch nach Muskelaufbau wirken sich heute auch auf Frauen stärker aus.

Heutzutage macht man keine Diät mehr, sondern eine Lifestyle-Veränderung, man hungert nicht mehr, sondern fastet. Man nimmt nicht mehr aus Selbsthass ab, sondern für Self-Care und Wellness. Doch dem Körper ist es völlig egal, ob man ihn liebt oder hasst, während man ihn aushungert, und ob man das Ganze dann als Diät oder als Detox bezeichnet.

Die moderne Diätindustrie folgt dem Prinzip, dass nur ein gesunder Körper ein wertvoller Körper wäre, und der neoliberalen Annahme, dass alle Menschen, die nicht gesund sind, es einfach nicht genug versuchen würden. Krankheit wird mit moralischem Versagen gleichgesetzt, um strukturelle Probleme weiter zu privatisieren.

Jeder Mensch sollte selbstbestimmt und frei von Diskriminierung mit dem eigenen Körper umgehen dürfen. Um diese Möglichkeit zu erkämpfen, fordern wir:

  • Gegen unterdrückerische Schönheitsideale in Werbung und Medien! Enteignet die großen Medienhäuser und die kulturschaffende Industrie. Für organisierte Medienarbeit durch Räte aus Zuschauer_Innen, Arbeiter_Innen und Kreativen unter Beteiligung von Menschen mit Diskrimnierungserfahrung und ohne die Reproduktion von Unterdrückung.
  • Anhebung des Mindestlohns und der Grundsicherung!
  • Abschaffung der Polizei!
  • Ausbau des Gesundheitssystem, diskriminierungssensibilisierende Schulungen für das Gesundheitspersonal! Ausbau von Anlaufstellen für Betroffene von Diskriminierung!
  • Arbeitszeitverkürzung und Entspannung des Arbeitsalltags statt Leistungszwang und individueller Selbstoptimierung!

Literatur

Fat Studies. Ein Glossar. Hg. v. Anja Herrmann, u.A. Bielefeld 2022: Transcript.

Michelberger, Melodie. Body Politics. Hamburg 2021: Rohwolt.

Lechner, Elisabet. Riot, Don’t Diet! Aufstand der widerspenstigen Körper. Wien 2021: Kremayr & Scheriau.

Gordon, Aubrey: What We Don’t Talk About When We Talk About Fat. New York 2021: Random House.




Trash TV – harmlose Unterhaltung oder pure Ideologie?

Von Leonie Schmidt, April 2023, REVOLUTION-Zeitung April/Mai 2023

Wer kennt es nicht: nach einem anstrengenden Tag in der Schule, Uni oder auf Arbeit mal eben auf der Couch entspannen und etwas anschauen, was keine große Denkleistung erfordert und Unterhaltung verspricht. Und zufälligerweise ist auch gerade die neue Staffel einer Datingshow im Fernsehen angelaufen. Das passt ja eigentlich perfekt! Doch den meisten Zuschauenden wird an einigen Stellen auffallen, dass manche Sachen, die in solchen Sendungen passieren, irgendwie komisch bis problematisch sind. Was das für Elemente sind und weswegen Trash TV trotzdem so erfolgreich ist, wollen wir in diesem Artikel näher betrachten.

Was ist überhaupt Trash TV?

Starten wir erst mal mit den Grundlagen; Trash TV ist kein eigenes Genre, sondern ein Überbegriff, für Sendungen, die man grob in Scripted Reality Sendungen wie „Mitten im Leben“, Dating Shows wie „Der Bachelor“ und Castingshows wie „Germanys Next Topmodel“ einteilen kann, es gibt aber auch noch andere Formate, wo sich vor allem Z-Promis gegenseitig die Köpfe einschlagen, wie bspw. „Promis unter Palmen“. Sie alle haben gemeinsam, dass sie möglichst realistisch wirken sollen, auch wenn es in den meisten Fällen mindestens ein grobes Script, Anregungen durch die Produktionsfirma oder einen Schnitt gibt, der Sachen in ein ganz anderes Licht rücken soll. Diese vermeintliche Realität ist also ziemlich gekünstelt und wird dem Dramafaktor entsprechend zurecht gebogen. Viele können das auch nicht erkennen und so fällt es ihnen dann auch schwer, zwischen den Teilnehmer_Innen einer Show und ihnen als Privatperson zu unterscheiden. Und auch den Darsteller_Innen fällt das auf die Füße, wenn sie für meist wenig Geld, ziemlich entwürdigende Sachen tun müssen (es sei denn sie sind Promis mit hochdotierten TV-Verträgen und Agenturen).

Trash TV gibt es in der deutschen Fernsehgeschichte noch nicht so lange, denn nach dem 2. Weltkrieg und der Zweiteilung Deutschlands wurde im BRD-Fernsehen eher ein Fokus auf „Erziehung zur Mündigkeit“ gelegt, weswegen es hauptsächlich ernsthafte Formate gab, in denen auch in vielen Fällen Wissen vermittelt wurde. Erst mit der Einführung der Privatsender wie z.B. RTL in den 1980er Jahren wurde ein neuer Fokus deutlich: es ging auf einmal um Einschaltquoten (und Werbeeinnahmen), denn anders konnte man sich nicht gegen die gefestigten Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durchsetzen. So gab es bspw. Shows wie „Tutti-Frutti“, eine Erotik-Game-Show in den 90er Jahren auf RTL. Klares Vorbild: das US-amerikanische DayTime TV. Gerne wurden hier vor allem Talkshow-Formate mit skandalträchtigen Dramen als Anregung übernommen, diese waren besonders in den späten 90ern bis zu den frühen 2000ern angesagt, zum Beispiel „Britt – Der Talk um eins“. Aber auch heute noch kann festgestellt werden, dass alle Trash TV Formate ein Art Äquivalent im englischsprachigen Raum haben, sei es nun „Love Island“ oder „Too hot to handle“.

Medienwissenschaftler_Innen sehen die Vorläufer außerdem in Freakshows und französischem Kasperletheater: mit anderen Worten, reißerische Inhalte, Fremdscham und seichte Unterhaltung prägen die Sendungen und sind auch deren Erfolgsrezept. Denn ja, natürlich wollen wir sehen, wie 10 Singles gegen ihren Sex Drive ankämpfen und uns darüber lustig machen, dass sie es wirklich nicht 14 Tage aushalten können wie bei „Too hot to handle“. Wenn die Einschaltquoten stimmen, stimmen natürlich auch die Werbeeinahmen (oder wie bei Netflix die Einnahmen aus den Abo-Gebühren). Aber der Fokus auf Geld und Aufmerksamkeit sind mitnichten die einzigen Probleme, die die beliebten Shows haben. Sie lenken uns ab von den wichtigen Themen des Lebens, lassen uns abstumpfen, haben also eine Art Zerstreuungseffekt, der uns vom Leben während kapitalistischer Krisen ablenken soll. Außerdem vermitteln sie auch in vielerlei Hinsicht falsche Werte und Bilder über bestimmte Personengruppen.

Klassismus und der Hass auf Hartz IV-Empfänger_Innen

Besonders sieht man das zum Beispiel in scripted reality Sendungen wie „Mitten im Leben“, „Familien im Brennpunkt“ oder im Doku-Format „Hartz aber herzlich“, umgangssprachlich auch als „Assi-TV“ bezeichnet, in welchen Stereotypen über Menschen, welche in Armut leben, vermittelt werden. Oft soll es so wirken, als hätten diese selbst Schuld an ihrer Lage, seien faul, egoistisch, drogen- und alkoholabhängig, schlechte Eltern mit viel zu vielen Kindern, aus denen auch nie etwas werden wird. Auch werden sie auffällig oft als besonders dick mit besonders ungesunder Ernährung dargestellt, die den ganzen Tag nur auf der Couch sitzen und fern sehen. Das alles passiert, während in Deutschland Hartz IV-Empfangende Sanktionen herein gedrückt bekommen und in Maßnahmen gezwungen werden, wollen sie nicht ohne das Minimum an Lebensstandard dastehen.

Laut Armutsforscher Christoph Butterwegge wird durch diese Darstellung einerseits Angst angeheizt, ebenso wie Dome & Co. im Plattenbau zu landen, den Zuschauenden fällt es aber auf Basis der Stereotypisierung und extremen Überspitzung umso leichter, sich zu distanzieren und zu erheben und  sich  auch im realen Leben als etwas Besseres zu fühlen.

Diese These lässt sich gut daran beobachten, wie die Sendungen in sozialen Netzwerken kommentiert werden. Hier wird gefordert, den Frauen in Armut ihre Kinder wegzunehmen, es wird darüber gelästert, dass sie es wagen von ihrem Hartz V nicht nur Lebensmittel einzukaufen, sondern auch mal Zigaretten oder sich die Nägel machen zu lassen. Wer arm ist, verdient nur das allernötigste, so der Tenor.

Allerdings sei an dieser Stelle gesagt, dass die Herabwürdigung der Armen in den letzten Jahren eher subtiler geworden ist, als es vorher noch üblich war und der Blick vermeintlich differenzierter wirkt. Aber die Distanzierung und der Argwohn bleiben natürlich trotzdem bestehen. Denn nicht immer ist das Gefühl der Zuschauenden, etwas Besseres zu sein, ausschließlich reine Arroganz. Manchmal zeigt es sich auch eher in der Hinsicht, dass man sich denkt, dass man es im Vergleich zu „denen“, doch eigentlich ganz gut hat und sich nicht beschweren kann.

So wachsen Vorurteile und Hass, es kommt zu einer Entsolidarisierung und Spaltung innerhalb der Arbeiter_Innenklasse, was natürlich besonders schlimm ist, wenn es aufgrund der Krise wieder Sozialkürzungen gibt und die geeinte Solidarität gegen diese umso notwendiger wird.

Den Traumprinz in 10 Folgen finden?

Aber im Trash TV geht es nicht immer nur um Armut und Elend. Oft genug werden auch Datingshows produziert, die meistens an exotischen Orten spielen, wo alle Teilnehmenden halbnackt am Pool flanieren, Party machen und ab und zu ein paar „anstrengende“ Challenges bewerkstelligen oder auf Einzel – und Gruppendates gehen. Was das Ziel ist, ist eigentlich klar: hier soll der_die Traumpartner_In gefunden werden. An dieser Stelle wird also ein bestimmtes Ideal von romantischen, hetero- und cis- normativen Beziehungen vermittelt, die auch schön monogam zu sein haben. Denn wer es wagt, bei den Datingshows nicht nur eine Person im Visier zu haben, wird unter Garantie mit Drama oder, je nach Format, sogar mit dem Ausschluss konfrontiert.

Doch so romantisch wie das Ideal einer Zweierbeziehung auch wirken mag, oberflächlicher als in diesen Shows geht es eigentlich gar nicht. Der Fakt, dass es insbesondere in Shows  wie „Der Bachelor“, wo es einen Hauptcharakter und um sie konkurrierende Teilnehmende gibt, darum geht, jemanden von sich in ca. 10 Folgen zu überzeugen und die restlichen Kandidat_Innen auszuschalten, klingt nicht nach einem Rahmen, in welchem sich eine zwischenmenschliche Beziehung, basierend auf Gemeinsamkeiten, Kommunikation und Nähe entwickeln kann. Konkurrenz zwischen potentiellen love interests, wie wir es aus der Realität von Datings Apps kennen, wird hier noch einmal zugespitzt und durch symbolische Interaktionen wie die Rosenübergabe untermauert. Die Oberflächlichkeit dieser Beziehungen zeigt sich auch an ihrer Dauer, die meistens kaum den Zeitraum von Produktion und Ausstrahlung überschreiten.

Auch wird in den meisten dieser Sendungen Sexualität zwar konstant durch Anspielungen angedeutet, aber es wird immer auf den „richtigen“ Moment gewartet, oder es wird gleich klar gemacht, dass es im Rahmen der Sendungen keinen Raum einnehmen darf und bis nach dem Finale gewartet werden muss, wobei vorher das Höchste der Gefühle schlabbrige Zungenküsse sind. Auch das entspricht der bürgerlichen Sexualmoral, dass man, wenn man es mit jemandem ernst meint, nicht gleich drauf los vögeln darf und Intimität aufgespart werden muss (was natürlich in extremer Form auf das Warten bis zur Hochzeitsnacht zurückzuführen ist).

Des Weiteren haben viele, vor allem männliche Teilnehmer ein sehr rückschrittliches Geschlechterbild, Frauen werden als passive Objekte gesehen, die „klar gemacht“, „abgeschleppt“ oder überredet werden müssen, die ruhig sein sollen, wenn der Mann spricht, kein Drama machen und sich ganz einfach unterordnen sollen. Der Mann hingegen tritt als klassischer, aktiver Macho und Eroberer auf, der sich nimmt, was ihm vermeintlich zusteht. Auch werden schon nach einer kurzen Kennenlernphase, oder auch wenn sie gerade mal ein Auge auf den oder die Angebetete geworfen haben, ziemlich schnell besitzergreifend.

Das alles basiert natürlich auf der Rollenverteilung, die uns allen im Kapitalismus auferlegt wird, um die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die doppelte Ausbeutung der Frau durch unbezahlte Reproduktionsarbeit und Lohnarbeit zu legitimieren. Ebenso basiert darauf das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie, mit all seinen Einschränkungen, aus dem sich auch die hier reproduzierte bürgerliche Sexualmoral ergibt.

Aber wer macht da eigentlich alles mit?

Wenn wir uns die Anforderungen anschauen, im Bikini oder in der Badehose am Pool zu lungern, wird schnell klar: vor allem normschöne Menschen, die auch als Models und Influencer_Innen tätig sein könnten oder dies bereits spätestens nach Ausstrahlung sind. Die Männer sind durchtrainiert und sollen teilweise durch Tattoos noch männlicher wirken. Die Frauen kommen mit langen Haaren, makelloser Haut und schlanken Kurven daher. Personen abseits dieser Ideale sieht man so gut wie gar nicht. Vor allem im Format „love island“ wird auch oft in der Villa trainiert und über Ernährung philosophiert, außerdem geben viel Teilnehmende in den Interviews an, dass ihre Partner_Innen durchtrainiert und schlank, und bloß nicht dick sein sollten. So wird auch das Bild zementiert, dass nur normschöne Personen es verdient haben, geliebt zu werden. Und für alle anderen gibt es dann Datingshows, in denen ausschließlich plus-size-Personen auftreten, sie sich also nur „unter ihresgleichen“ umsehen dürfen.

Außerdem sind die meisten, die dabei sind, weiß und stehen auch offenkundig auf weiße, blonde Frauen, wie Onyi, Teilnehmerin der aktuellen Staffel „Too hot to handle Germany“ kritisiert. Netflix hatte sie zwar als diversity bonus gecastet, aber es war klar gewesen, dass die meisten anderen Teilnehmenden ganz andere Präferenzen haben. Das hat sie als Außenseiterin da stehen lassen, wie sie selber und andere auf Tik Tok kritisierten. Das ist natürlich alles andere als gute Repräsentation in dieser Show und es ist verständlich, dass dieser Umgang mit einer WOC im TV dem Selbstbewusstsein von Rassismus-Betroffenen nicht gerade gut tut, sondern sogar schadet.

Aber nicht nur in dieser Hinsicht sollten sich die Produktionsfirmen überlegen, ob sie sich Diversität wirklich auf die Fahne schreiben sollten. Grundsätzlich wird nämlich immer davon ausgegangen und die Sendungen sind auch so aufgebaut, dass alle hetero sind und eine binäre Geschlechtsidentität haben. Denn die Einteilung nach Mann und Frau spielt eine große Rolle in Challenges oder Auswahlverfahren bzw. Pärchenbildungen bspw. bei „love island“. Außer in der aktuellen Staffel von „Too hot to to handle Germany“, wo Bisexualität aber auch eher eine untergeordnete Rolle spielt, gibt es keine gleichgeschlechtlichen Verpaarungen, es sei denn, es ist ein explizit homosexuelles Datingformat.

Das selbe in Regenbogenfarben oder alles besser bei Prince(ss) Charming?

Explizit queere Datingformate gibt es in Deutschland für Schwule mit Prince Charming seit 2019, mit Princess Charming für Lesben seit 2021. Alleine, dass es so lange gebraucht hat, ist schon ein Witz, die ersten hetero Folgen von „Der Bachelor“ gab es bereits erstmals 2003 in der deutschsprachigen Version!

Aber so gut wie es gemeint ist, so schlecht ist es auch umgesetzt. Werfen wir einmal einen Blick auf Princess Charming. Vor allem in der ersten Staffel gab es einiges an „Problemen“, was fast noch beschönigend ausgedrückt ist. Die Teilnehmer_Innen konnte man queeren bzw. lesbischen Stereotypen geradezu zuordnen, vielleicht mit einigen Ausnahmen. Wer da nicht reingepasst hat, wurde unter den Teppich gekehrt, denn auch hier wurde bspw. Bisexualität nicht ernst genommen, denn in der Show geht es ja „nur um Frauen, die auf Frauen stehen“. Realistische Repräsentation sieht anders aus. Ebenso, dass immerzu von lesbischen Frauen gesprochen wurde, obwohl sich unter den Teilnehmenden auch eine nicht-binäre Person, nämlich Gea, befand. In einer Folge wurde sogar über their nicht-binäre Identität gesprochen und they musste einer anderen Kandidatin alles genaustens erklären. Die Sendung ist also auch ziemlich cis-normativ.

Weitere Kritikpunkte sind der unbegrenzte Zugriff und der damit zusammenhängende Konsum von Alkohol. Im Prinzip sieht man die Teilnehmer_Innen ständig mit einem Glas Sekt in der Hand und natürlich werden auch so die eigenen Hemmungen fallen gelassen. Einerseits trägt das natürlich zur gesamtgesellschaftlichen Normalisierung dauerhaften Alkoholkonsums bei, auf der anderen Seite kam es (unter anderem, aber natürlich nicht nur deswegen) auch mehrfach zu  übergriffigem Verhalten am Set. So gab es zum Beispiel einen Outcall wegen sexualisierter Gewalt gegenüber der Influencerin Wikiriot durch Jo, eine andere teilnehmende Person. Besonders in der Kritik steht hier neben der Täterin auch die Produktionsfirma, die sich nicht zu den Vorkommnissen äußern will und ein an die Öffentlichkeit Treten für die betroffenen Personen durch eine Verschwiegenheitsklausel erschwert hat. Auch in der zweiten Staffel kam es zu bedrängenden Szenen während einer Party mitsamt aufgezwungenen Küssen, obwohl vorher Grenzen aufgezeigt wurden. Anstatt, dass die Produktionsfirma hier eingreift und verantwortungsvoll handelt, wurde das sogar in die Dramaturgie mit eingebaut!

Wir sehen also, nur weil LGBTIA+ drauf steht, ist leider nicht alles perfekt, im Gegenteil. Denn natürlich werden auch diese Sendungen im Kapitalismus produziert und sind somit den gesellschaftlichen Zwängen und Einschaltquoten unterworfen. So positiv, wie höhere Diversität erst einmal scheinen mag, zeigen diese Beispiele doch einmal mehr, dass Unterhaltung, welche auf Basis von Kapitalinteressen, erstellt wird, nicht derartig progressiv sein kann, wie wir uns das vielleicht erhoffen.

Daher fordern wir:

  • Gegen unterdrückerische Schönheitsideale in Werbung und Medien! Enteignet die großen Medienhäuser und die „kulturschaffende“ Industrie (Gameentwickler, Filmproduktionen,..) genauso wie Google, Instagram und Co.!
  • Für organisierte Medienarbeit durch Räte aus Zuschauer_Innen, Arbeiter_Innen und Kreative ohne die Reproduktion von Unterdrückung!
  • Für eine internationale, proletarische antisexistische Bewegung!



Keine Sexualität, kein Problem? – Über Asexualität und echte sexuelle Befreiung

Von Erik Likedeeler, April 2023

„I was angry at the world for making me hate who I was. It was all because of that, that this new identity felt like a loss, when in reality, it should have been a beautiful discovery.” So beschreibt Georgia, die Hauptfigur aus Alice Osemans Jugendroman „Loveless“, ihre Erkenntnisse zum Coming Out als asexuell und aromantisch.

Ihre Gefühle des Verlustes und Selbsthasses sind in der asexuellen Community kein Einzelfall: Ohne sexuelle Anziehung zu leben, kann beängstigend sein in einer Welt, in der Sex einen Warencharakter hat und Desinteresse mit Gefühlskälte gleichgesetzt wird. Die Befürchtung, nicht „normal“ zu sein, ist verständlich in einer Welt, in der Anpassung scheinbaren Schutz vor Diskriminierung bietet. Auch das Gefühl, die eigene Zukunft zu verlieren, ergibt sich unmittelbar aus einer Gesellschaft, die viel Spannung und Drama künstlich aus Sexualität herauszieht.

Asexualität wird häufig als irrelevanter Aspekt der queeren Identität eingeordnet und nur selten als Ursache für Diskriminierung erkannt. Doch es gibt viele Arten, auf die sexuelle Befreiung im Kapitalismus verhindert wird. Wie asexuelle Menschen davon betroffen sind und wie dagegen vorgegangen werden kann, soll in diesem Artikel dargestellt werden.

„Keine Angst, das kommt schon noch“: Outing und Jugendunterdrückung

Einerseits werden Jugendliche durch Beschämung, Tabuisierung, Verbote und Homofeindlichkeit daran gehindert, ihre Sexualität frei zu erkunden. Andererseits wird ihnen Sexualität als biologisch alternativlos vermittelt: als etwas Selbstverständliches, das sie unweigerlich eines Tages tun werden. Im Sexualkundeunterricht wird davon gesprochen, sich Zeit zu lassen und auf „die richtige Person“ zu warten. Doch dass ein „Nein“ auch eine dauerhafte Option sein darf, wird selten vermittelt.

Jugendliche, die sich als asexuell outen, bekommen häufig unterstellt, sie wären „Spätzünder_Innen“ und würden ihre Präferenzen ändern, wenn sie älter wären. Das passt perfekt in das Vorurteil, Jugendliche wären impulsive und entscheidungsunfähige Opfer ihres Hormonhaushalts. Es wird so getan, als wüssten Jugendliche so wenig über sich selbst, dass ihre aktuelle Identität wertlos wäre und sie eines Tages als völlig andere Menschen aufwachen könnten. Viele Jugendliche kennen ihre Gefühle und Bedürfnisse, bekommen jedoch beigebracht, sich selbst nicht zu vertrauen. Das ist der Grund, warum asexuelle Menschen im Durchschnitt länger als andere queere Personen brauchen, um ihre sexuelle Orientierung herauszufinden.

 „Hattest du schon einmal Sex?“ ist eine häufige Fangfrage, bei der asexuellen Menschen abverlangt wird, möglichst viele negative Erfahrungen vorzuweisen. Sie sollen ihre ganze Jugend lang leiden, an sich zweifeln und sich traumatisieren lassen, bevor sie erwarten dürfen, dass ihnen geglaubt wird. Die Behauptung, sie hätten einfach noch nicht „den_die Richtige_n“ gefunden, ist nutzlos und irrelevant. Es ist makaber, von asexuellen Personen zu verlangen, sie sollten ihr ganzes Leben auf der Suche nach etwas verbringen, das es ihnen ermöglicht, sich an unterdrückerische sexuelle Normen anzupassen.

„Du hast bestimmt ein leichtes Leben“: Asexualität ist kein Ausweg aus dem Patriarchat

Asexuelle Menschen werden regelmäßig als naiv und unreif abgestempelt. Das Recht auf Selbstbestimmung und Vernunft wird ihnen abgesprochen. Hier zeigt sich die sogenannte Chrononormativität: die Idee, dass Menschen ihr Leben nicht nach ihrem eigenen Tempo leben sollten, sondern dass es Meilensteine gibt, die ab einem bestimmten Alter erreicht werden müssen, wie zum Beispiel das „Erste Mal“. Dieser Kampf gegen unsichtbare Deadlines wird im Kapitalismus absichtlich provoziert, um Menschen effizienter auszubeuten.

Häufig müssen asexuelle Menschen sich herablassende Kommentare darüber anhören, wie „einfach“ ihr Leben doch wäre. Aber Asexualität ist nur dann einfach, wenn sie auf einen einzigen Satz heruntergebrochen wird, wie es in Mainstream-Medien oft der Fall ist. Genau wie jede andere sexuelle Orientierung hat Asexualität viele Facetten und sexuelle Anziehung zu empfinden ist keine mystische Schwelle, die den Unterschied zwischen Kindheit und Erwachsensein markiert.

Asexualität ist keine Freikarte, um der Unterdrückung durch das Patriarchat zu entkommen. Tatsächlich sind asexuelle Menschen massiv von sexualisierter Gewalt betroffen. Durch die anerzogene Verunsicherung gegenüber den eigenen Bedürfnissen geraten sie leicht an manipulierende Täter_Innen, die ihre Verletzlichkeit ausnutzen, um ihnen Schuldgefühle einzureden. Nicht selten kommt die Gewalt in Form von „korrektiver“ Vergewaltigung daher, mit dem Ziel, die Person wieder „normal“ zu machen.

Viele asexuelle Menschen erlernen ein hypersexuelles Verhalten, um die eigene Orientierung vor sich selbst und anderen zu verstecken. Sie erfahren weder von Asexualität, noch von Konsensprinzipien wie „Nur Ja heißt Ja“. Deshalb wachsen sie mit dem beängstigenden und verstörenden Gedanken auf, eines Tages Sex haben zu müssen. Miranda Fricker bezeichnet das als hermeneutische Ungerechtigkeit: Sprache und Diskurse sind von den Belangen der Herrschenden geprägt, deshalb haben unterdrückte Menschen kaum Möglichkeiten, ihre eigene Unterdrückung zu erkennen, über sie nachzudenken und sie sprachlich auszudrücken.

„Empower dich doch einfach“: Was bedeutet sexuelle Befreiung?

Die rückständigsten Teile des bürgerlichen Familienideals abzulehnen, gilt mittlerweile als aufgeklärt und emanzipiert. Doch ein gewisses Maß an harmloser „Ich mag den Valentinstag nicht“-Rebellion darf nach wie vor nicht überschritten werden. So gilt Sexualität immer noch als unverzichtbarer Teil jeder romantischen Beziehung.

In linken Strukturen werden insbesondere asexuelle Frauen oft als verklemmt abgestempelt. Sie gelten als Objekte des Mitleids, die sich noch von anerzogener Prüderie und Scham befreien müssen. Kein aufregendes Sexualleben vorweisen zu können, wird mit konservativen Ansichten gleichgesetzt. Weibliche Sexualität soll kultiviert werden, um „feministische“ Politik zu performen – damit auch Frauen Sex konsumieren und sich „empowert“ fühlen können. Das Patriarchat wird dabei als der einzige valide Grund genannt, warum manche Frauen keinen Sex haben möchten.

Es wird an der Idee festgehalten, dass gesellschaftlich tabuisierte Formen von Sex, wie z.B. BDSM, einen Menschen inhärent befreiter machen würden. Das Bedürfnis, Sex zu einer lässigen Performance werden zu lassen, um sich selbst als aufgeschlossen zu inszenieren, hängt damit zusammen, dass die politisch Konservativen sich in der Öffentlichkeit auch gern sexuell konservativ präsentieren.

Es stimmt, dass sexuelle Praktiken Menschen dabei helfen können, Scham abzubauen und sich in ihrem Körper selbstbewusst zu fühlen und natürlich unterstützen wir die freie sexuelle Entfaltung aller Menschen- insofern sie das Bedürfnis danach haben. Doch Sex allein hat nicht die Macht dazu, die Welt zu einem gerechten Ort zu machen. Er ist keine antikapitalistische Praxis, die auf magische Weise gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen aushebeln könnte.

„Wer zweimal mit derselben pennt…“: Sex als Waffe gegen Krieg und Faschismus?

Schon die 68er-Bewegung definierte die sexuelle Befreiung damit, möglichst viel unverbindlichen Sex zu haben und betrachtete dies als Mittel gegen Krieg und Unterdrückung. Diese Idee mag sich richtig anfühlen, ist jedoch fehlgeleitet. Wie Angela Chen schreibt: „The revolution will not come on the tidal wave of your next multiple orgasm, on the floor of your communal living space. It will only happen if you have an actual plan for destroying systems of oppression and exploitation.” Asexualität ist kein politisches Versagen, das überwunden werden muss, sondern eine Identität, die respektiert gehört.

Auch psychoanalytische Ansätze versuchen, Sex als Patentlösung zu verkaufen und jedes gesellschaftliche Problem in Bezug darauf zu erklären. Die Idee der 68er, mit einer „befreiten“ Sexualität die Antikriegsbewegung zu stärken, geht auf den Freud-Schüler Wilhelm Reich zurück. Dieser glaubte, eine unterdrückte Sexualität wäre die Ursache des Faschismus. Doch der Faschismus ist in den materiellen Verhältnissen einer Gesellschaft begründet. Er ist ein Phänomen des Imperialismus und das letzte Mittel zur Niederschlagung des Klassenkampfes. Ihn mit unterdrückter Sexualität zu begründen, ist eine faule Erklärung für ein komplexes Phänomen. Das menschliche Verhalten ist vielfältiger als das und es ist übergriffige Spekulation, Menschen heimliche, unbewusste sexuelle Wünsche zu unterstellen.

Nicht selten müssen asexuelle Menschen sich auf respektlose Weise mit sogenannten Incels vergleichen lassen. Häufig wird davon ausgegangen, ein Mangel an Sex hätte die extrem frauenverachtenden Incels zu frustrierten Sexisten und Faschisten gemacht. Dabei wird ausgeblendet, dass das traditionelle Bild des Mannes als Ernährer und Beschützer angesichts kapitalistischer Krisen und sich wandelnder Rollenbilder ins Wanken geraten ist. Incel zu werden ist nicht die Folge von zu wenig Sex, sondern die Ausweitung einer Sozialisation, in der Abwertung und Erniedrigung Teil des Systems sind und man als Jugendliche_r oder Arbeiter_In ständig Angst vor dem Abstieg haben muss. Unterdrückungsformen wie Sexismus lassen uns dabei die Schuldigen in anderen Teilen der Arbeiter_Innenklasse suchen, anstatt bei den Kapitalist_Innen, die tatsächlich von unserer Ausbeutung profitieren. In unterdrückerischen Verhältnissen ist die Incel-Ideologie ein leichter Weg, um sich selbstwirksam zu fühlen. Dieses toxische Verhalten führt mitunter dazu, dass sexuelle Erfolge ausbleiben und nicht umgekehrt.

„Bist du eigentlich depressiv?“: Asexuelle Menschen sind nicht krank!

Unsere Gesellschaft wird von der gewaltvollen Norm strukturiert, dass alle Menschen romantische und sexuelle Anziehung spüren sollen. Wer diese Erwartung nicht erfüllen kann oder möchte, wird schnell für krank erklärt, also pathologisiert. Genau wie es früher bei Homosexualität der Fall war, wird Asexualität oft als Traumafolge verbucht. Allerdings gibt es keine wissenschaftliche Studie, die beweisen kann, dass Trauma die sexuelle Orientierung ändern kann.

Auch für Depressionen ist fehlendes Interesse an Sex ein Diagnosekriterium. Normerfüllende, romantisch-sexuelle Beziehungen werden von Therapeut_Innen als Beweis dafür gesehen, dass sich soziale Ängste verringert haben. Eine bestimmte Art von menschlicher Intimität als Idealfall zu verbuchen, führt zu Fehldiagnosen und falschen Behandlungen. Für trans Personen können „falsche“ Antworten auf die Abfrage der Sexualität zur Verweigerung der Behandlung führen, weil davon ausgegangen wird, dass sexuelle „Erfüllung“ und psychische Gesundheit sich proportional zueinander verhalten.

40% der asexuellen Menschen wurde schon einmal angeboten, sie zu „heilen“. Für Menschen mit geringem sexuellem Verlangen gibt es die Diagnose HSDD (hypoactive sexual desire disorder), umgangssprachlich Frigidität genannt. Nach dem DSM-4, einem wichtigen psychiatrischen Leitfaden, konnte HSDD bis 2013 selbst dann diagnostiziert werden, wenn ausschließlich der_die Partner_In darunter litt. Seit der Erscheinung des DSM-5 wird die Störung nur noch diagnostiziert, wenn die Person selbst leidet und sich nicht als asexuell identifiziert.

Auch diese neuen Diagnosekriterien ergeben wenig Sinn. Keine oder wenig sexuelle Anziehung zu verspüren, ist keine Krankheit, unabhängig davon, welches Wort dafür verwendet wird. Der Unterschied zwischen einer psychischen Krankheit und einer sexuellen Orientierung besteht nicht darin, wie eine Person sich damit fühlt. Ist ein schwuler Mann nur dann schwul, wenn er mit seiner Homosexualität glücklich ist?

HSDD und Asexualität haben unterschiedliche intellektuelle Ursprünge. HSDD stammt aus dem medizinischen Bereich, während Asexualität im Bereich der sozialen Gerechtigkeit verwurzelt ist. Bei der Diagnose von HSDD sind Ärzt_Innen die Autorität, während asexuelle Menschen betonen, dass jeder Mensch selbst entscheiden muss. Bei HSDD wird eine Abweichung zum Problem erklärt, bei der Asexualität geht es darum, Vielfalt zuzulassen, auch wenn sie sich unbequem anfühlt.

Asexuelle Menschen glauben nicht an eine moralische Verpflichtung zur Steigerung des sexuellen Verlangens. Sie kritisieren, dass Menschen ihre Asexualität erst dann akzeptieren dürfen, wenn eine „Heilung“ ausgeschlossen wurde. Die HSDD-Diagnose ist nutzlos, weil es eine sinnvollere Alternative gibt: zu akzeptieren, dass das Leid durch Stigmatisierung zustande kommt, und gegen diese Diskriminierung anzukämpfen.

„Das ist doch keine gesunde Beziehung“: Diskriminierung durch den Staat

Die Diskriminierung gegen asexuelle Menschen wird auch von staatlicher Seite getragen: Die Kosten für eine künstliche Befruchtung werden nur in heterosexuell gelesenen Partner_Innenschaften von der Krankenkasse übernommen, bei denen der „natürliche Weg“ nicht funktioniert.  Auch beim Adoptionsverfahren muss eine „stabile“ Ehe vorgewiesen werden. Dazu zählt üblicherweise auch körperliche Intimität.

Wenn eine verheiratete Person keine deutsche Staatsbürger_Innenschaft besitzt, kann der Verdacht aufkommen, dass sie diese über die Heirat erlangen wollte. Menschen in Ehen mit getrennten Schlafzimmern haben kaum eine Möglichkeit zu beweisen, dass es sich nicht um eine Scheinehe handelt. Daran zeigt sich, wie willkürlich Beziehungsnormen zusammengewürfelt sind. Heutzutage fallen getrennte Schlafzimmer unter den Begriff „Eheproblem“, früher waren sie im Bürgertum die Norm. Daran, wie vielen gesetzlichen, kulturellen und moralischen Erwartungen Sexualität unterworfen ist, lässt sich leicht erkennen, dass sie alles andere als die „natürlichste Sache der Welt“ ist.

Fazit

Asexuell zu sein ist mühsam in einer Welt, die Sex als das Highlight einer jeden Beziehung markiert. Doch sexuelle Interaktion ist nicht die einzige bedeutungsvolle Verbindung, die Menschen in ihrem Leben eingehen können. Sie ist weder die Quelle des höchsten Glücks, noch der ultimative Beweis dafür, dass Menschen sich lieben. Die Verbundenheit zu Freund_Innen, Familie, Natur, Sport, Wissenschaft, Politik oder Kunst ist für viele Menschen ein ebenso erfüllender Teil des Lebens.

Ziel der sexuellen Befreiung ist, dass es eines Tages selbstverständlich und leicht sein wird, ohne Zwang oder Rechtfertigung nach Konsensprinzipien zu leben. Wenn soziale Skripte wie das Ideal der bürgerlichen Familie absterben, kann Sexualität vom Profitdruck gelöst werden. Das heißt, sie wird nicht länger als Marketingstrategie ausgeschlachtet werden oder ein Werkzeug sein, um den Nachschub an Lohnarbeitenden sicherzustellen. Eine Gesellschaft, die Asexualität vollends akzeptieren möchte, muss sich nicht nur von hierarchischen Beziehungsformen, Vergewaltigungskultur und oberflächlichen Vorstellungen von vertraglichem Konsens verabschieden, sondern letztendlich auch von Leistungsdruck, kapitalistischer Ausbeutung und Profitmaximierung, sowie von geschlechtlicher Arbeitsteilung. 

Deshalb fordern wir:

  • Gegen die Vergewaltigungskultur! Für einen inklusiven Sexualkundeunterricht, der eine Vielfalt an sexuellen Orientierungen vermittelt und sich an Konsensprinzipien orientiert.
  • Für den vollen Zugang zu Elternschaft, Adoptionsrechten und reproduktionsmedizinischen Behandlungen auch für queere Menschen. Gegen das Ideal der bürgerlichen Familie und die kulturelle Überhöhung von Sexualität.
  • Gegen Konversionstherapien, korrektive Gewalt und die Pathologisierung von Asexualität. Für eine echte sexuelle Befreiung, auch für Jugendliche.

Literaturverzeichnis

  • Chen, Angela. Ace. What Asexuality Reveals About Desire, Society, and the Meaning of Sex. New York 2020: Random House.
  • Decker, Julie Sondra. The Invisible Orientation. An Introduction to Asexuality. New York 2015: Simon & Schuster.
  • DeWinter, Carmilla. Das asexuelle Spektrum. Eine Erkundungstour. Hamburg 2021: Marta Press.
  • Kroschel, Katharina; Baumgart, Annika. [un]sichtbar gemacht. Perspektiven auf Aromantik und Asexualität. Münster 2022: Edition Assemblage.



Kapitalismus macht krank

Von Pippine Garterbelt, März 2023

Triggerwarnung: Erwähnung von (sexualisierter) Gewalt, (sexualisierte) Gewalt an Kindern, Transfeindlichkeit, psychische Erkrankungen, Suizid, Krieg und Drogenmissbrauch

Dies ist der erste Teil unserer Artikelreihe, die sich mit mentaler Gesundheit im Kapitalismus beschäftigt. Sie beschäftigt sich einerseits mit den Ursachen psychischer Erkrankungen und warum der Kapitalismus kein Interesse daran hat, diese zu bekämpfen, aber auch mit den Perspektiven und notwendigen Forderungen für eine Zukunft, in der Gesundheit kein Luxus mehr sein muss.

Zahlen & Fakten: Lage der Arbeiter_Innen

Die folgenden Zahlen und Fakten verschaffen uns einen Eindruck davon, wie ernst die Ausmaße psychischer Erkrankungen in Deutschland sind und wie vielfältig ihre Auslöser sein können:

Seit neustem Stand sind 13,8 Millionen Menschen (das sind 600.000 Menschen mehr als noch vor der Pandemie), also 16,6% der Deutschen, aktuell von Armut betroffen, davon 2,8 Millionen Kinder und 9,3 Millionen Rentner_Innen. Jede zweite Rente liegt unter 900 Euro. Wir müssen meist 8 bis 10 Stunden täglich arbeiten, um unsere Lebenserhaltungskosten zu decken und unsere wenige Freizeit müssen wir dann noch unserer eigenen Reproduktionsarbeit widmen. Während durch die Inflation alles teurer wird, besonders die Lebensmittel- und Energiekosten auf Rekordniveau steigen, bleiben unsere Löhne unten. Unsere hohen Arbeitszeiten und dem massiven Leistungsdruck, der uns im Berufsalltag begegnet, sind verantwortlich für psychische Erkrankungen wie Burnout und Depressionen. Studien belegen, dass eine Arbeitswoche von 8 bis 20 Stunden die Menschen zufrieden und produktiver macht, während eine Arbeitswoche mit über 39 Stunden sogar negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit hat.  Das Burnout-Syndrom entsteht durch chronischen Stress am Arbeitsplatz, der nicht erfolgreich verarbeitet wird und ist erst seit diesem Jahr als Krankheit anerkannt. 2020 waren 180.000 Menschen an Burnout erkrankt, zusammen brachten sie es zu 4,5 Millionen Krankheitstagen. Das Risiko an einem Burnout zu erkranken, steigt mit zunehmendem Alter. Besonders soziale Berufsgruppen sind betroffen. 2021 gab es 611.000 leerstehende Wohnungen, trotzdem leben Menschen auf der Straße oder in heruntergekommenem, für die Wohngemeinschaften viel zu kleinem Wohnraum. Etwa 1,5 Millionen Mietwohnungen fehlen, besonders in Großstädten ist der Zustand extrem. 2019 wurden knapp 300.000 Wohnungen neu gebaut, weniger als ein Drittel davon sind klassische Mietwohnungen und weniger als ein Zehntel bezahlbare Sozialwohnungen. 2022 wurde in Berlin keine einzige Sozialwohnung gebaut – dafür wurden etliche abgerissen, um Platz für noch mehr Eigentumswohnungen zu schaffen. Im Schnitt bewerben sich um jede freie Wohnung in der Stadt mehr als 200 Menschen. Die Mieten haben sich in den letzten 10 Jahren in der Stadt mehr als verdoppelt. Der Quadratmeterpreis der länger bewohnten Wohnungen liegt im Durchschnitt bei 6,37€ und bei 10,55€ bei den neu zu vermieteten Wohnungen. Jeder zweite Berliner hätte Anspruch auf eine Sozialwohnung. Mediziner bestätigen, dass Menschen in Folge ihrer ungelösten Wohnungsfrage, und der damit einhergehenden Bedrohung der eigenen Existenz, depressiv werden. Menschen sexueller und geschlechtlicher Minderheiten, Menschen mit Migrationshintergrund oder einem ausländischen Nachnamen oder Menschen, die Teil einer religiösen Minderheit sind, sind auch bei der Wohnungssuche besonders diskriminiert. Gleichzeitig sind diese Menschen auch um ein Vielfaches eher von Armut betroffen. Dieses Jahr wurden mehr als 178.000 von Obdachlosigkeit betroffene Menschen in Unterkünften untergebracht. Die Lebenserwartung von obdachlosen Menschen liegt im Durchschnitt bei gerade einmal 49 Jahren – das sind 30 Jahre weniger als das aktuelle natürliche Sterbealter eines Menschen. Menschen, die in Armut leben, erkranken eher an Depressionen als Menschen aus reichen Verhältnissen. 2017 wurden 71.000 Menschen aufgrund psychischer Erkrankung arbeitsunfähig und mussten in Frührente gehen. Etwa 20% der Kinder und Jugendlichen leiden an psychischen Erkrankungen. Die viert häufigste Todesursache hierzulande von Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren ist Suizid. 42% der Mobbingopfer denken über Suizid nach. Menschen, die von psychischen Erkrankungen betroffen sind, sterben etwa 10 bis 20 Jahre früher als der Durchschnitt. Jährlich begehen mehr als 700.000 Menschen Suizid. Die häufigsten Gründe hierbei sind neben psychischer Erkrankung: Armut, Stress und familiäre Konflikte. In Deutschland sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten, AIDS und illegalem Drogenmissbrauch zusammen. Die meisten Menschen, die Suizid begehen sind unter 25 Jahre alt. Die Selbsttötungsrate liegt bei männlich sozialisierten Menschen dreimal so hoch, als bei weiblich sozialisierten Menschen und auch trans Personen und Personen sexueller und geschlechtlicher Minderheiten haben ein erhöhtes Risiko Suizid zu begehen, gegenüber cis Personen. 14% aller trans Jugendlichen und Jugendliche sexueller und geschlechtlicher Minderheiten denken im Jahr einmal daran, Suizid zu begehen. Der Grund warum der absolute Großteil der Selbsttötungsopfer männlich sozialisierte Personen sind, liegt auch genau daran: An ihrer Sozialisierung. Denn von ihnen wird Stärke erwartet, was der Grund dafür ist, dass sie sich seltener Hilfe suchen und seltener über Probleme sprechen. Auch Betroffene, die über ihre Probleme sprechen, schaffen es oft nicht, sich Gehör zu verschaffen, da psychische Erkrankungen, vor allem bei männlich sozialisierten Personen nach wie vor nicht ernst genommen werden.

Sexualisierte und häusliche Gewalt und emotionaler Missbrauch

Fast jede weiblich gelesene Person wird im Laufe ihres Lebens mindestens einmal Opfer sexualisierter Grenzüberschreitungen. Etwa 29,5% der weiblich sozialisierten Personen haben schon einmal sexualisierte Gewalt im erwachsenen Alter erfahren und etwa 27,7% im Kindesalter. Als sexualisierte Gewalt wird hierbei Nötigung zu ungewollten sexuellen Handlungen oder das (versuchte) Eindringen in den Körper gemeint. Menschen mit Behinderungen sind besonders betroffen: etwa jede zweite Person mit Behinderung wurde schon einmal Opfer sexualisierter Gewalt. Etwa 38% der Menschen, besonders männlich Sozialisierte, sind der Meinung, dass Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein kann. 2019 wurden in Deutschland 15.701 Kinder als Opfer sexuellen Missbrauchs polizeilich erfasst, während der Corona-Pandemie stieg die Zahl deutlich an. Dabei sind das nur die polizeilich bekannten Fälle, die Dunkelziffer ist um ein deutliches höher, denn nur jeder 15. bis 20. Missbrauchsfall wird angezeigt. Auch die Zahl der Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie stieg während der Corona-Pandemie um etwa 53% an. Kinder und Jugendliche sind doppelt so oft von häuslicher Gewalt betroffen, als weiblich wahrgenommene Personen. Die Zahl der Betroffenen von häuslicher Gewalt stieg um 100% an, wenn sich die Opfer mit ihren Tätern in Quarantäne befanden. Auch Familien die finanzielle Probleme haben, sind um ein Vielfaches häufiger von häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffen. Opfer emotionalen Missbrauchs, lassen sich viel schwerer statistisch erfassen, da die Gewalt auf rein zwischenmenschlicher Gefühlsebene stattfindet und so schwerer nachzuvollziehen ist, im Gegensatz zu physischer oder sexualisierter Gewalt. Emotionaler Missbrauch ist psychische Misshandlung die als Gehirnwäsche wirkt, durch ein regelmäßiges Muster verbaler Angriffe, konstanter Kritik und Erniedrigung, Manipulation, Kontrolle, Schuldzuweisungen, Isolierung und emotionaler Distanzierung, um so die Opfer in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Täter zu manipulieren. Chronische Traumatisierung im Kindesalter, etwa in Form regelmäßiger emotionaler, psychischer Misshandlung, sind Grundstein psychischer Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen im Erwachsenenalter. Emotionaler Missbrauch kann in jedem Alter und in jeder Art von Beziehung stattfinden, dabei sind die Täter immer in einer höher gestellten Machtposition zu dem Opfer.  

Flucht und Krieg

2021 wurden weltweit insgesamt 28 Kriege und bewaffnete Konflikte geführt. 100.000.000 Menschen sind aktuell auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen. Das sind mehr Menschen als jemals zu vor in der Geschichte der Menschheit. Menschen, die gezwungen sind, vor Konflikten, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung zu fliehen, kommen meist nur mit dem, was sie am Körper tragen und schweren Traumata aus ihren Herkunftsländern her. Alles andere mussten sie zurücklassen, wurde zerstört oder ihnen genommen. Doch auch während der Flucht kommt es oft zu weiteren traumatischen Geschehnissen, durch unsichere Fluchtwege, Repressionen, Vergewaltigung, Gewalt und systematischer unterlassener Hilfeleistungen an den Grenzen. Jedes Jahr sterben tausende Menschen auf der Flucht. In einem sicheren Land angekommen, hören die Probleme nicht auf: Hier bekommen die Menschen, die ihre Reise überlebt haben, erst einmal jahrelang keine Arbeitserlaubnis, ihre absolvierten Schul- und beruflichen Abschlüsse werden oft nicht anerkannt, sie sind isoliert in Massenunterkünften, haben keine Reisefreiheit um auch mal nur eine andere Stadt zu besuchen. Alles ist bürokratisiert, dabei sind wichtige Dokumente nicht in allen Sprachen verfügbar und es fehlt an übersetzendem Fachpersonal. Die Quote von falsch bearbeiteten Anträgen und eigentlich verbotenen Abschiebungen ist erschreckend hoch. Geflüchtete Menschen müssen hier in dauerhafter Unsicherheit über ihr Bleiberecht und Angst vor einer plötzlichen Abschiebung leben und dann liegt ihr Schicksal meist nur in den Händen einer einzigen Person, die die Macht hat völlig willkürlich Entscheidungen zu treffen. 

Gesundheitssystem und psychische Erkrankungen

Ambulante Therapieplätze für Betroffene

Vor der Pandemie lagen die Wartezeiten auf einen Therapieplatz bei 3 bis 9 Monaten, denn schon vor Corona fehlten mindestens 1750 Kassensitze für Psychotherapeut_Innen. Dabei sind die Fälle von Depressionen und Angststörungen während der Pandemie weltweit um etwa 25 Prozent gestiegen. Seit 2017 hat jeder Mensch ein Recht auf eine psychotherapeutische Akutsprechstunde, jedoch erhalten 40% der Betroffenen nach einer solchen Sitzung keinen Therapieplatz. Die richtige Therapie für sich zu finden ist schwer. Es gibt unzählige Therapieverfahren, nur drei der vielen Behandlungsformen gelten in Deutschland derzeit als anerkannte Psychotherapieverfahren im Sinne der Psychotherapie-Richtlinie und werden von der gesetzlichen Krankenkasse, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, übernommen. Nur etwa 18,9% der betroffenen erwachsenen Bevölkerung geht überhaupt auf Therapieplatzsuche. Denn wer in Deutschland einen Therapieplatz sucht, ist auf sich allein gestellt. Wer mit Symptomen psychischer Erkrankungen zum Hausarzt geht, dem_der wird eine Psychotherapie empfohlen und bekommt bestenfalls noch eine Liste aller ambulanten Psychlog_Innen in der Umgebung. Darunter ein bunter Mischmasch von Verhaltenstherapeut_Innen, Tiefenpsycholog_Innen, Traumatherapeut_Innen, systemischer und psychoanalytischer Therapien. Dann heißt es eine Praxis nach der anderen abzutelefonieren, in eine Mailbox zu der anderen reinsprechen, um eine Absage nach der anderen zu bekommen – falls man denn überhaupt eine Antwort bekommt. Doch wer weiß schon, was man als erkrankte Person meist noch ohne erste Diagnose für eine Therapieform braucht? Oft landen Patient_Innen dann in völlig falschen Therapieverfahren und Erlangen trotz zum Teil jahrelanger Therapie keinen Fortschritt. So steht die Psychotherapie schon seit geraumer Zeit aufgrund mangelnder oder gar fehlender Wirksamkeit in Kritik. 20 bis 50% der Patient_Innen, besonders Menschen in Armut, Menschen mit einem geringen Bildungsstand, Menschen, die Teil einer ethnischen Minderheit sind, Jugendliche, Rentner_Innen und Menschen mit Ess- oder Persönlichkeitsstörung brechen ihre Therapie frühzeitig ab.

Lage der deutschen Psychiatrien

Die Zustände in deutschen Psychiatrien bezeichnet die Aufsichtskommission als skandalös. Personalmangel, Überbelegung, fehlende Aufenthaltsräume und Freiflächen. Verdeckte Reporter_Innen berichten von verstörenden Bestrafungen von Patient_Innen in geschlossenen Psychiatrien. So werden Menschen, die aufgrund ihrer selbst- oder fremdgefährdenden Symptomatik eine 1 zu 1 Betreuung bräuchten, für mehrere Stunden mit Gurten fixiert. Teilweise immer wieder, auch Wochen und Monate. Dabei ist eine Fixierung länger als 30 Minuten nicht legal und müsste mit einem gerichtlichen Beschluss angeordnet werden. Enthüllungsjournalist_Innen aus einer Vivantes Klinik berichten, ein_e Psycholog_In betreue 40 bis 60 Patient_Innen gleichzeitig, daher kommt es oft zum Ausfall von Therapien. Aus einer Jugendhilfe- und Wohneinrichtung aus Eifel wird berichtet, dass es dort im Keller einen „Deeskalationsraum“ ohne Tageslicht und Toilette, mit Guckloch in der Tür gäbe, in denen die jugendlichen, psychisch kranken Bewohner_Innen als Strafmaßnahme teilweise mehrere Tage lang eingesperrt werden. „Deeskalationsräume“ so und ähnlich finden sich in psychologischen Einrichtungen überall im Land und die Gefahr, dass sie als Strafmaßnahmen missbraucht werden ist, besonders aufgrund des massivem Personalmangels, hoch. Aus anderen Kliniken wird berichtet, dass Patient_Innen die Einnahme von Beruhigungsmitteln aufgezwungen wird, indem sie zum Beispiel heimlich unters Essen gemischt wird. In vielen Kliniken macht es den Eindruck, die Medikation stehe über der eigentlichen Therapie. Aus Berichten geht hervor, dass viele Patient_Innen keine stationäre Behandlung und lieber ambulante Hilfe bräuchten, ein stationärer Platz jedoch profitabler ist.
Schon 1971 wurden die Zustände in den Psychiatrien untersucht und als „katastrophal“ erklärt. Ziele einer sogenannten „Psychiatrie-Reform“ wurden beschlossen – und bis heute nicht vollständig erreicht. Die neuen Berichte schätzen ein, die Situationen in den Psychiatrien wären zum Teil wie noch vor 20 bis 30 Jahren.

Heilung ist ein Privileg

Etwa 1.000.000.000 Menschen auf der Welt sind aktuell von psychischen Erkrankungen betroffen – dabei dürfte die Dunkelziffer noch viel höher sein, da viele aufgrund der schweren Zugänglichkeit zu professioneller Hilfe und der gesellschaftlichen Stigmatisierung nicht diagnostiziert werden. Während arme Menschen am stärksten betroffen sind, sind sie gleichzeitig auch die Menschen, die am seltensten in Behandlung sind. In Deutschland sind die häufigsten Krankheitsbilder Angststörungen, Depressionen und Sucht – mehr als jeder vierte Erwachsene ist jährlich davon betroffen. Menschen in Therapie müssen oft ihre Arbeitszeiten für ihre Sitzungen opfern, sofern sie die Möglichkeit dafür haben, oder müssen eher sogar zwischen ihrem Job und Therapie wählen. Somit sind Betroffene häufiger von Arbeitslosigkeit und Armut bedroht. Armut ist also nicht nur Auslöser, sondern kann auch Folge einer psychischen Störung sein. Sich von einer psychischen Erkrankung erholen zu können ist also ein Privileg. Und das sollte es nicht sein.

Die Befreiung der Menschen als wirksamste Therapie

Wer sich jetzt diese Zahlen angesehen hat und immer noch glaubt, der Kapitalismus würde die Menschen nicht krank machen, kann nur Klassenfeind der unterdrückten Masse sein oder Martin Dornes heißen. Denn aus den Zahlen lässt sich eindeutig schlussfolgern: Menschen, die eine besondere Unterdrückung im Kapitalismus erfahren, sind auch gefährdeter eine psychologische Erkrankung zu erleiden oder an einem Suizid zu versterben. Übermäßige Arbeitsbelastung, fehlende Sozialleistungen, traditionelle Geschlechterrrollen und Familienverhältnisse, Krieg & ein kaputtgespartes Gesundheitssystem nützen einzig und alleine den Kapitalist_Innen und ihrem Streben nach maximalem Profit, während sie den Großteil der Menschen krank machen. Würde die Menschheit in Folge einer sozialistischen Revolution befreit werden und eine Gesellschaft aufgebaut werden, in der jeder Mensch an seinen Bedürfnissen orientiert leben kann, frei von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung, würde auch die psychoanalytische Forschung einen rasanten Sprung nach vorne machen. Weil sie nur noch dem wissenschaftlichen Interesse verschrieben wäre und nicht mehr von einem Kapitalinteresse bestimmt oder der Finanzierung der Herrschenden abhängig wäre und nicht in Konkurrenz zu anderen Forschungsinstituten stände. Menschen, die in Staaten leben, die ein stabileres Gesundheitssystem, kürzere Arbeitszeiten, bessere Bezahlung und weniger Leistungsdruck in der Gesellschaft ausgesetzt sind, sind statistisch gesehen glücklicher, als Menschen aus konservativeren oder kolonialisierten Staaten. Wie glücklich könnten wir also in einer Welt sein, die auf unsere freien Entfaltungen ausgelegt ist und sich nach unserer aller Bedürfnisse richtet, weil wir nun alle Teil der demokratischen Organisierung unserer Gemeinschaft wären?
Mit der Zahl der Arbeitslosen in der BRD und dem technologischen Fortschritt, wäre es möglich, dass wir mit 4 Arbeitstagen pro Woche und 5-6 Stunden am Tag, bei vollem Lohnausgleich weiter machen könnten. Studien belegen, dass 8-20 Stunden Arbeit pro Woche förderlich für die Gesundheit sind, während über 39 Stunden sich als schädlich für die Gesundheit herausgestellt haben, körperlich wie auch psychisch! Diese Änderungen sind sofort umsetzbar, Zahlen müssen dafür die Menschen, die mit unserer Gesundheit und unserer Arbeit ihren Reichtum ergaunert haben. Dieses System macht krank und nur wir können es durch gemeinsamen Kampf der Arbeiter_Innen, Jugendlichen, Arbeitslosen und Betroffenen ändern!

Daher fordern wir:

  • Sofortige Einführung der 6 Stunden-Tage und 4 Tage-Arbeitswoche, höhere Löhne und mehr Personal!
  • Hartz IV endlich abschaffen! Inflationsgedeckte staatliche Auszahlungen an von Arbeitslosigkeit betroffene Menschen und selbstversorgenden Jugendlichen in Heimeinrichtungen.
  • Mehr Personal und Geld in die Kinderbetreuung und Bildungseinrichtungen! Lasst die Kinder und Jugendlichen gemeinsam mit den Erwachsenen über ihren Betreuungs- und Schulalltag bestimmen!
  • Kollektive Selbstverteidigungsstrukturen für alle unterdrückten Gruppen!
  • Sofortiger staatlich finanzierter Inflationsausgleich!
  • Enteignung der Immobilienkonzerne – die Häuser denen die sie brauchen! Kein Mensch darf mehr von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen oder gar nur bedroht sein!
  • Transsexuellengesetz abschaffen! Für eine sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung!
  • Emotionaler Missbrauch ist Missbrauch und muss als solcher anerkannt und verfolgt werden! Ausbau von Schutzeinrichtungen für Gewaltopfer jeder Art und Geschlecht!
  • Bleiberecht für alle! Für sichere Fluchtwege und offene Grenzen!
  • Keine Profite auf Kosten unserer Gesundheit! Entprivatisierung des Gesundheitssystem und Enteignung der pharmazeutischen Industrien unter Kontrolle der Arbeiter_Innen!

Quellen:

Armut und Depression: https://amp.focus.de/gesundheit/ratgeber/depression/soziale-ungleichheit-ganz-unten-was-ihr-ueber-den-teufelskreis-aus-armut-und-depression-wissen-muesst_id_10183665.html

Abbruchquote Therapie: https://m.faz.net/aktuell/wissen/medizin-ernaehrung/warum-patienten-psychotherapien-abbrechen-13524579.amp.html

Wirksamkeit und Methodik Psychotherapie: https://www.spektrum.de/news/psychotherapie-was-tatsaechlich-wirkt/1991017

Depression und Corona: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/who-corona-anstieg-psychische-krankheiten-101.html

Mobbing: https://www.experto.de/businesstipps/Suizid-als-letzter-ausweg-aus-der-mobbing-falle.html

Emotionaler Missbrauch: https://blog.cognifit.com/de/emotionaler-missbrauch/amp/

8 Stunden Tag: https://hire.workwise.io/hr-praxis/organisationsentwicklung/sechsstundentag

Wohnungsfrage: https://www.deutschlandfunknova.de/amp/beitrag/psyche-wohnungssuche-kann-krank-machen

https://www.deutschlandfunknova.de/amp/beitrag/psyche-wohnungssuche-kann-krank-machen

https://www.wz.de/nrw/mehr-wohnraum-gefordert_aid-57926687

https://www.empirica-institut.de/nc/nachrichten/details/nachricht/cbre-empirica-leerstandsindex-2021/

Burnout: https://anti-stress-team.de/blog/stress/burnout-statistiken/

Flucht: https://www.dw.com/de/unhcr-mehr-menschen-denn-je-auf-der-flucht/a-61894830

Psychiatrien/Psychotherapie: https://www.empirica-institut.de/nc/nachrichten/details/nachricht/cbre-empirica-leerstandsindex-2021/

https://www.stern.de/amp/wirtschaft/news/team-wallraff-deckt-untragbare-zustaende-in-psychiatrien-auf-8628102.html

https://www.psychologie-aktuell.com/news/aktuelle-news-psychologie/news-lesen/der-psychiatrie-skandal-hunderttausende-patienten-landen-aus-finanziellen-gruenden-im-krankenhaus.html

https://www.spiegel.de/politik/das-dasein-wird-seziert-a-0e34f794-0002-0001-0000-000013691520

https://www.spiegel.de/politik/das-dasein-wird-seziert-a-0e34f794-0002-0001-0000-000013691520

https://www.aerzteblatt.de/archiv/25936/Psychiatrie-Reform-Auf-halbem-Weg-stecken-geblieben




Pakistan: Rechte versucht, minimalen Schutz für trans Personen rückgängig zu machen

Vom Revolutionary Socialist Movement (Pakistan), Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Während im Iran die Arbeiter:innenklasse gegen das diktatorische, patriarchale Regime auf die Straße geht, wird über die Attacke der fundamentalistischen Rechten auf trans Personen in Pakistan, die ohnehin schon massiv unterdrückt werden, geschwiegen.

Ebenso wie die Mullahs im Iran versuchen, Frauen daran zu hindern, selbst zu entscheiden, was sie tragen, will das pakistanische Äquivalent mit seiner protofaschistischen Basis die kleinen Erfolge des Gesetzes zum Schutz von trans Personen aus dem Jahr 2018 zurücknehmen. Es war zwar kein großer Wurf, kann jedoch als kleiner Fortschritt angesehen werden. Es gewährt trans Personen zum Beispiel nicht das Recht, sich entgegen ihrem eingetragenen Geschlecht als Mann oder Frau zu identifizieren. Dennoch erlaubt es ihnen, sich selbst dem dritten Geschlecht im Unterschied zu ihrem bei Geburt zugeschriebenen zuzuordnen. Dies gilt auch für Ausweisdokumente.

Die religiöse Rechte begehrt, wie zu erwarten war, bewaffnet gegen dieses Gesetz auf und verbreitet eine Deutung, die wie gewöhnlich in Betrug und Verderbtheit wurzelt, die typisch für ihresgleichen ist. Als Begründung gibt sie an, dass die amtliche Änderung des Geschlechts als Möglichkeit genutzt werden könne, das Verbot von Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare zu umgehen, indem sie vorgeben, ein anderes Geschlecht zu repräsentieren. Doch das ist unwahr.

Die Kräfte, die gegen dieses Gesetz mobilisieren, welches im Jahr 2018 verabschiedet wurde, sind dafür bekannt, seit langem protofaschistische Tendenzen zu umfassen. Sie sind ebenfalls dafür bekannt, ein extrem patriarchales und rückschrittliches Frauenbild zu vertreten. Die Partei Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft; JI) spielte eine zentrale Rolle für die drakonischen Gesetze, die der Diktator Zia-ul-Haq (1978 – 1988) während der Militärdiktatur eingeführt hat. Die Jamiat Ulema-e-Islam (Fazl) (JUI-F; Versammlung Islamischer Kleriker), deren Führer Maulana Fazal-ur-Rehman ist, wurde vor kurzem, als die PDM (Pakistan Democratic Movement; Pakistanische Demokratische Bewegung; Parteienkoalition gegen Expremierminister Imran Khan, 2020 gegründet) in Opposition zu Imran Khan gegründet wurde, als  Held:in der reformorientierten und liberalen Linken Pakistans gefeiert. Doch sie pflegt die hässliche Tradition, die Gesichter von Frauen, die in öffentlichen Anzeigen zu sehen sind, mit schwarzer Farbe zu beschmieren. In der Zwischenzeit hat sich noch eine weitere Partei, die Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) der widerwärtigen Hasskampagne angeschlossen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Vorsitzende und ehemalige Premierminister Imran Khan ein Frauenhasser vom selben Schlag ist.

Senator Mushtaq Ahmad Khan von der Partei Jamaat-e-Islami steht an der Spitze der derzeitigen Hasskampagne gegen die Rechte von trans Menschen, die zumindest auf dem Papier bestehen. Er hat vorgeschlagen die Gesetzeslage dahingehend zu ändern, dass Gremien von Ärzt:innen geschaffen werden sollen, die dann wiederum die Entscheidungsmacht darüber hätten, ob eine Person „komplett“ männlich oder weiblich sei. Dies solle mit einer invasiven körperlichen Untersuchung einhergehen. In seiner Vorstellung sollten nur die, bei denen das Geschlecht auf Basis der Fortpflanzungsanatomie bei Geburt „unklar“ sei, das Recht dazu haben, über ihr Geschlecht zu entscheiden. Kurz gesagt sollten lediglich Menschen mit mehrdeutigen Genitalien (Anm.: in der Regel sog. Intersexuelle) wählen dürfen und auch nur, wenn sie sich vorher der Tortur einer Leibesuntersuchung durch eine ärztliche Instanz unterzögen. In einem Land, wo die meisten Ärzt:innen (Anm: in der Regel Männer) bereits massiv in die Privatsphäre ihrer Patient:innen durch wertende Kommentare eingreifen, bspw. wenn es um Themen rund um Sex geht, kann man sich ausdenken, was das für Leben und Gesundheit von trans Personen an Belastung mit sich bringt.

Die Begründung Mushtaq Ahmad Khans hat gezeigt, dass sowohl Frauenunterdrückung als auch die Geschlechterungleichheit und die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten eine Klassenfrage darstellen. So gab er bei Voice of America zu, dass die eigenständige Wahl des Geschlechtes „eine Gefahr für die Familie und das Erbschaftssystem darstellt“ und es „die Tür dafür öffnet, dass 220 Millionen Menschen auswählen zu können, irgendwas zu sein“. Die Familie ist in der bürgerlichen Gesellschaft der Garant für das Überleben des kapitalistischen Systems, denn sie dient in erster Linie dazu, das Privateigentum dort zu halten. Für Pakistan ist wichtig anzumerken, dass insbesondere in islamischen Gesellschaften Frauen den halben Anteil des Mannes am Erbe erhalten. Die mickrige Hälfte, die ihnen zusteht, wird dennoch als Teil angesehen, der der Familie des Mannes zustünde. Die Ängste, dass Privatbesitz anders verteilt würde, und die Bedrohung, die das Gesetz offensichtlich für das „Familiensystem“ darstellt, zeigen, wie die Institutionen der Familie, des Klerus und des Gesetzes zusammenwirken, um die Existenz und den Fortbestand des Systems des Privateigentums zu sichern. Dieses System sorgt dafür, dass die Reichen reich und die Armen arm bleiben. Es sorgt dafür, dass der Sohn eines Kapitalisten auch nach dem Tod des Vaters Eigentümer des Familienunternehmens bleibt und der Sohn eines Arbeiters auch nach dem Tod seines Vaters zu einem Hungerlohn arbeiten muss. Die regressive Anhäufung von Reichtum in wenigen Händen kann ohne Familiensystem nicht fortbestehen. Das derzeitige Gesetz zum Schutz von trans Personen sieht vor, dass eine Person, die sich als trans Mann identifiziert, auch doppelt so viel Erbe erhält wie eine trans Frau. In einem Land, in dem es üblich ist, dass Brüder ihre Schwestern emotional so manipulieren, dass sie auf ihren ohnehin schon geringen Anteil am Erbe verzichten, oder es sich einfach ohne ihre Zustimmung aneignen, kann man sich vorstellen, welche Ängste das Gesetz bei reaktionären Männern auslöst, die nun mit der Bedrohung konfrontiert sind, dass ihre leiblichen Schwestern sich möglicherweise in Männer „verwandeln“. Auch wenn es keine Zahlen gibt, die solche lächerlichen Befürchtungen untermauern, ist die Klassenbasis dieser Ängste mehr als deutlich.

Obwohl sie unbegründet sind, bedeuten sie in der Realität eine Bedrohung für das Leben und die Sicherheit von trans Personen. Im Jahr 2021 wurden nachweislich mindestens 20 trans Personen in Pakistan umgebracht. Das pakistanische Religionsgericht sowie der ständige Ausschuss für die Überprüfung im Senat prüfen die Argumente zum Gesetz. Der Rat für Islamische Ideologie (ein weiteres Verfassungsorgan Pakistans), dessen Aufgabe es ist, die pakistanischen Gesetze im Lichte des Islam zu überprüfen, hat das Gesetz aus dem Jahr 2018 für unislamisch erklärt. Wenn das Gesetz geändert wird, um die religiöse Rechte und ihre frauenfeindlichen Verbündeten in fast allen etablierten Parteien Pakistans zu besänftigen, käme das einer großen Niederlage für die Arbeiter:innenklasse und die unterdrückten Menschen in Pakistan gleich. Heute haben sie es auf trans Personen abgesehen. Morgen könnten sie versuchen, den Hidschab (Verschleierung oder Kopfbedeckung nach islamischem Gesetz) im Namen des Islam durchzusetzen wie ihre benachbarten Kleriker im Iran. Es ist ein Teufelskreis, in dem die imperialistischen Mächte diese Beispiele nutzen werden, um zu Hause weiter mit der Islamophobie hausieren zu gehen, während die arbeitenden Massen sowohl in den imperialistischen Kernländern als auch in den Halbkolonien weiter leiden.

Daher rufen wir Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, Gewerkschaften und alle fortschrittlichen Kräfte in Pakistan auf, sich gegen diese dogmatischen Kräfte zu stellen. Wir können nur selbst etwas bewirken, denn die Bourgeoisie wird keinen Finger rühren. Mushtaq Khan hatte bereits 2021 versucht, seine unsägliche Agenda durchzusetzen. Doch es schlug damals dank des Einsatzes von Shireen Mazari (pakistanische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin, Vorsitzende der Parlamentskommission für die Ernennung der/s Chef:in der Wahlkommission und ihrer Mitglieder) fehl. Gegenwärtig braucht die pakistanische Bourgeoisie eine Angst, die sie über ihre Medien und Kleriker in den Köpfen der Massen hervorrufen kann, um von den wirklichen Problemen der Wirtschaftskrise, den verheerenden Überschwemmungen und der ständig wachsenden Auslandsverschuldung abzulenken. Jamaat-e-Islami spielt langjährig die Rolle der Schutzmacht eines sich auflösenden kapitalistischen Systems. Ohne selbst je an die Macht kommen zu können, besteht darin ihr einziger Job, um sich ihren Anteil an den Pfründen zu sichern. Denn die Gruppe, auf die sie sich in der Gesellschaft stützt, ist überschaubar. Es sind vor allem kleine Geschäftsleute und Händler:innen, also Kleinbürger:innen. Historisch gesehen sind das genau diejenigen, die dazu mobilisiert werden können, auch mit Gewalt gegen die Arbeiter:innenklasse und ihre Organisationen vorzugehen. Genau deswegen ist es unsere Aufgabe, sie nicht gewähren zu lassen und uns mit all unserer Kraft gegen diese Attacken (auf Rechte von trans Personen) als Ausdruck patriarchaler Gewalt durch reaktionäre Kräfte zu stellen. Unsere Brüder und Schwestern im Iran weisen uns den Weg!




USA: Anstieg von Femiziden nach Verschärfung von Abtreibungsgesetzen

von Veronika Schulz, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Die Angriffe auf hart erkämpfte Errungenschaften, Grund- und Bürgerrechte im Zuge des Aufstiegs von Rechtspopulist:innen weltweit gehen weiter – und erste Folgen sind jetzt schon spürbar. Trotz der Abwahl von Donald Trump und der neuen Bundesregierung unter Joe Biden erleben wir in den USA einen enormen Angriff auf Frauenrechte.

Insbesondere reproduktive und Selbstbestimmungsrechte von Frauen werden immer häufiger infrage gestellt. Damit wird Frauen der Zugang zu Beratung sowie Abtreibung im Falle ungewollter Schwangerschaften bewusst erschwert oder gleich gänzlich kriminalisiert, was neben finanziellen Belastungen und gesundheitlichen Risiken im Falle nun illegal durchgeführter Abbrüche weitere Auswirkungen mit sich führt: In den USA lässt sich bereits ein deutlicher Anstieg von Femiziden feststellen, insbesondere an schwangeren Frauen.

Hintergründe

Der Begriff Femizid (engl. femicide) wird seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Abgrenzung zum englischen Begriff „homicide“ (Mord, Totschlag) benutzt. Die feministische Soziologin Diana Russell definiert Femizid als einen Mord an einer weiblichen Person durch einen Mann auf Grund der Tatsache, dass sie weiblich ist. Diese Definition schließt auch die Tötung von Kindern mit ein. Dadurch wird die geschlechtsspezifische Motivation der Morde verdeutlicht, die Frauen durch Männer erleiden. Der Femizid stellt, noch vor der Vergewaltigung, die höchste Manifestation der Unterdrückung der Frau und eine extreme Form patriarchaler Gewalt dar.

Auch wenn Boulevardmedien mit reißerischen Schlagzeilen das Gegenteil suggerieren, so sind Femizide keine rein individuellen Tragödien. Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext zwar einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie [beim Feminizid, dem organisierten, massenhaften Femizid] eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung.

Die gesellschaftliche Dimension von Femiziden, also Morden an Frauen, weil sie Frauen sind, erfordert eine Betrachtung der Ursachen für die Zunahme dieser Gewalttaten.

Der von konservativen Richter:innen dominierte Supreme Court (Oberster Gerichtshof) der USA hatte im Juni 2022 das fast 50 Jahre geltende Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“ aufgehoben. Dieses garantierte bisher das landesweite Grundrecht auf Abtreibung. Durch die Entscheidung des Supreme Court können Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche nun einschränken oder gänzlich verbieten, was mehrere konservativ regierte bereits getan haben. Das Urteil wurde deshalb nicht nur in den USA von Abtreibungsgegner:innen als Sieg gefeiert.

Betroffen sind rund 40 Millionen Frauen im gebärfähigen Alter, die in US-Bundesstaaten leben, in denen Abtreibungen entweder bereits verboten oder nur in eng gefassten Ausnahmefällen möglich sind bzw. in absehbarer Zeit verboten oder stark eingeschränkt werden.

Zunahme von Femizide an Schwangeren

Bereits Ende 2021, noch vor dem Urteil des Supreme Court und den darauffolgenden Restriktionen, gab es Bedenken bezüglich einer Zunahme von partnerschaftlicher Gewalt und Femiziden als mögliche Folgen: „Einige Experten befürchten, dass die Einschränkung des Zugangs zum Schwangerschaftsabbruch gefährdete Frauen noch mehr in Gefahr bringen könnte.“ So hatten Studien ohnehin belegt, dass partnerschaftliche Gewalt durch bzw. während Schwangerschaften zunimmt. Frauen war es oft nicht möglich, ihre Schwangerschaft fortzusetzen, und sie entschieden sich aufgrund häuslicher Gewalt zur Abtreibung. Die USA hatten demnach bereits eine sehr hohe Rate an Müttersterblichkeit: „Im Jahr 2018 kamen in den USA auf 100.000 Lebendgeburten 17 Müttersterblichkeitsfälle – mehr als doppelt so viele wie in den meisten anderen Ländern mit hohem Einkommen.“

Forscher:innen der Harvard School of Public Health kommen zu dem Ergebnis, dass es in den USA für Schwangere oder Frauen, die vor kurzem entbunden haben, wahrscheinlicher ist, ermordet zu werden, als durch schwangerschafts- oder geburtsbedingte Komplikationen zu sterben. Tötungsdelikte an Schwangeren sind somit häufiger als solche Todesfälle durch Bluthochdruck, Blutungen oder Sepsis, wie die Forscher:innen in einem Leitartikel beschreiben.

Die Verbreitung von Gewalt in der Partnerschaft ist in den USA ohnehin höher als in vergleichbaren Ländern. Die Gewalt endet oft tödlich und häufig sind Schusswaffen im Spiel. Eine weitere Studie der Tulane University bestätigt diesen Trend, wonach Tötungsdelikte eine der häufigsten Todesursachen bei Schwangeren und Wöchnerinnen in den USA sind.

Die genannten Studien können durch Zahlen belegen, dass neben schwangeren Jugendlichen insbesondere schwarze Schwangere ein wesentlich höheres Risiko hatten, getötet zu werden, als weiße oder hispanische. Dies verwundert nicht, da schwarze Arbeiter:innen in den USA auch heute noch strukturell benachteiligt sind, schlechter bezahlte Jobs haben, oft in beengten Wohnsituationen leben und seltener krankenversichert sind. Die ökonomischen Bedingungen wirken sich daher für diese Bevölkerungsgruppe besonders negativ aus.

Ähnliche Entwicklungen konnten auch in Deutschland im Zuge der Lockdowns der Coronapandemie beobachtet werden, wo aufgrund der schlechteren wirtschaftlichen Lage und der erzwungenen Nähe auf engstem Raum partnerschaftliche Gewalt um ein Vielfaches zugenommen hat.

Somit war bereits vor den Verschärfungen und Verboten, die auf das Grundsatzurteil des Supreme Court in einigen US-Bundesstaaten folgten, die Ausgangslage für Schwangere alles andere als sicher. Gesetze, die den Zugang von Frauen zu Abtreibung einschränken, können sie weiter gefährden, da die Kontrolle über die reproduktiven Entscheidungen einer Frau oft eine Rolle bei Gewalt in der Partnerschaft spielt. Die Autor:innen der Studie der Harvard School of Public Health weisen explizit darauf hin, dass schwangerschaftsbedingte Tötungsdelikte vermeidbar sind, z. B. indem im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen von Schwangeren gewaltgefährdete Frauen identifiziert und Hilfestellungen angeboten werden können.

Arbeiter:inneneinheitsfront für freie Abtreibung und körperliche Selbstbestimmung

Doch wie kann, gemessen an diesen permanenten Angriffen und vielfältigen Problemen, eine erfolgreiche Pro-Choice-Bewegung aufgebaut werden? Statt nur auf Verschlechterungen zu reagieren, müssen wir selbst Verbesserungen erkämpfen. Wir dürfen nicht auf den Staat vertrauen oder Illusionen in die Demokratische Partei hegen. Diese konnte bzw. wollte die derzeitigen Angriffe auf bestehende Frauenrechte nicht verhindern. Daher müssen wir unabhängig von ihr gegen den Abbau von Frauenrechten kämpfen. Dabei kommt es auf den Kampf als Klasse an, was bedeutet, dass er durch die Arbeiter:innenklasse geführt und von ihren Organisationen unterstützt werden muss.

Wir fordern daher die Gewerkschaften auf, für eine gemeinsame Kampagne zu mobilisieren. Betriebsräte könnten beispielsweise Betriebsversammlungen einberufen, wo diese Themen und Fragen diskutiert werden. Darüber hinaus können Gewerkschaften mit Streik als Kampfmittel, anders als Einzelpersonen oder andere Gruppen, ökonomischen und politischen Druck auf Kapital und Regierung aufbauen.

Im Rahmen von Aktionstagen und für die Durchführung eines politischen Streiks wäre es außerdem wichtig, Streik- und Aktionskomitees zu gründen, die vor Ort mobilisieren, kollektive Erfahrungen ermöglichen und auf diese Weise auch zur Stärkung und Demokratisierung des gemeinsamen Kampfes beitragen. Ebenso sind Gewerkschaften personell und finanziell in der Lage, internationale Kooperation und Koordination zu gewährleisten, z. B. durch die Organisation zentraler, internationaler Aktionstage zum Thema Abtreibungsrechte und Selbstbestimmung. Dies ist wichtig, da die Unterdrückung nicht nur in einem Land existiert und zusammen mehr Druck aufgebaut werden kann.

Das alles darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einbindung von Gewerkschaften auch einige Probleme mit sich bringt. Gerade im Dienstleistungsbereich, in dem hauptsächlich Frauen arbeiten, organisieren sich nur wenige Arbeiter:innen in ihnen. Ebenso agieren Gewerkschaften häufig reformistisch und beschränken sich auf die Besitzstandswahrung im eigenen Interesse, anstatt Fortschritte für die gesamte Klasse zu erkämpfen. Es existiert eine Gewerkschaftsbürokratie, die ihren Frieden mit dem jetzigen System geschlossen und ihre Rolle selbst auf das Feilschen um Lohn und Arbeitsbedingungen reduziert hat. Revolutionäre Kommunist:innen müssen sich deshalb für eine klassenkämpferische, antibürokratische Basisbewegung einsetzen, die sich der bürokratischen Spitze entgegenstellt, um die Gewerkschaften zu einem Glied in den Reihen des Kampfes für den Sozialismus umzugestalten.

Des Weiteren rufen wir alle bestehenden Pro-Choice-Bündnisse und -Bewegungen aktiv dazu auf, auch weiterhin gegen den bestehenden Abbau von Frauenrechten zu kämpfen und den Protest erneut auf die Straße zu tragen. Lasst uns die bisher bestehenden Bündnisse und Mobilisierungen bündeln und einen gemeinsamen Aktionstag für den Kampf für Frauenrechte ausrufen!

Gegenwehr

Zur Verhinderung von Femiziden ist der Aufbau von Organen der Gegenmacht erforderlich. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern und rechtspopulistischen oder protofaschistischen Kräften das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage selbst aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.

Zur Abwehr weiterer Angriffe auf Abtreibungsrechte, aber auch zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper, welches selbst in Staaten mit liberaler Gesetzgebung bisher eingeschränkt ist, haben wir einige Forderungen aufgestellt, die es zu erkämpfen gilt – national und international:

  • Für die Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung! Abtreibungen müssen sicher und von den Krankenkassen/öffentlichen Gesundheitsdiensten finanziert werden!
  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Für uneingeschränkten und transparenten Zugang zu Informationen, Ärzt:innen und Kliniken!
  • Schluss mit der internationalen Stigmatisierung von abtreibenden Frauen! Raus mit jedweder Religion und „Moral“ aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Das Leben einer Frau muss immer über dem eines ungeborenen Fötus stehen!
  • Vollständige Übernahme aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat bzw. die Krankenversicherung!
  • Ausbau von Kitas und Kinder-/Jugendbetreuungsangeboten, um Eltern zu entlasten!
  • Für viel mehr finanzielle und gesellschaftliche Unterstützung von insbesondere (jungen) Frauen und Alleinerziehenden und dafür, dass minderjährige Frauen mit einer Schwangerschaft nicht alle Chancen auf eine gute Zukunft verlieren!
  • Langfristig: Für die Kollektivierung der Kindererziehung in der Gesellschaft!
  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!

Ärzt:innen dürfen die Entscheidung zur Geburtshilfe (Entbindung) bei überlebensfähigen Föten treffen. Gegen leibliche Zwangselternschaft für so geborene Kinder! Der Staat soll für sie aufkommen und sich um sie kümmern bzw. zur Adoption freigeben! Adoptionsvorrang für leibliche/n Vater und/oder Mutter, falls sie das Kind später großziehen wollen und dieses zustimmt!

Quellen:

Baumgarten, Reinhard (2022): Weitere Rechte auf der Kippe?, online unter https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/abtreibung-usa-supremecourt-101.html

Chang, Leila (2020): Pro Choice: Für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper!, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/05/pro-choice-selbstbestimmung/

Chang, Leila (2022): Our bodies, our choice, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/14/our-bodies-our-choice/

Der Standard (2005): USA: Mord als eine der häufigsten Todesursachen für Schwangere, online unter https://www.derstandard.at/story/1962393/usa-mord-als-eine-der-haeufigsten-todesursachen-fuer-schwangere

Frühling, Jonathan (2020): Femizide – Frauenmorde international, Widerstand international, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/05/femizide-frauenmorde-international/

Harvard School of Public Health (2022): Homicide leading cause of death for pregnant women in U.S., online unter https://www.hsph.harvard.edu/news/hsph-in-the-news/homicide-leading-cause-of-death-for-pregnant-women-in-u-s/

Insider (2021): Homicide is the leading cause of death for pregnant women in the United States, a new study found, online unter https://www.insider.com/pregnant-women-in-the-us-homicide-leading-cause-of-death-report-says-2021-12

National Institute of Child Health and Human Development (2022): Science Update: Pregnancy-associated homicides on the rise in the United States, suggests NICHD-funded study, online unter https://www.nichd.nih.gov/newsroom/news/091622-pregnancy-associated-homicide

Sanctuary for Families (2022): The Silent Epidemic of Femicide in the United States, online unter https://sanctuaryforfamilies.org/femicide-epidemic/

Suchanek, Martin (2022): Femizide, Feminizide und kapitalistische Krise, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/17/femizide-feminizide-und-kapitalistische-krise/

The Guardian (2022): Estimated 45,000 women and girls killed by family member in 2021, UN says, online unter https://www.theguardian.com/global-development/2022/nov/23/un-femicide-report-women-girls-data