Welches Programm für den KI-Kapitalismus?

Von Felix Ruga, April 2023

Künstliche Intelligenz gab es in primitiverer Form schon lange. Doch mit dem Projekt „ChatGPT“ ist eine Welle von Verblüfftheit bis Begeisterung durch die digitale Welt gegangen: Krass, was auf einmal geht! Dinge, die noch vor wenigen Jahren wie Science-Fiction gewirkt haben, sind jetzt öffentlich zugänglich. Weniger bekannt ist die neuere Version „ChatGPT-4“: Im Gegensatz zu ChatGPT-3, welches eigentlich nur bekannte Informationen gezielt und clever remixen und ausgeben kann, wird bei der neuen Version argumentiert, dass diese Formen tatsächlicher Intelligenz aufweist. Das heißt: Probleme lösen, deren Antwort oder Antworten zu äquivalenten Problemen nicht eingespeist wurden. Dieser Fortschritt ist innerhalb weniger Jahre geschehen und vor Allem viel früher, als alle erwartet haben. Daneben stehen auch einige andere Bereiche, die ebenfalls auf maschinelles Lernen zurückgreifen, in den Startlöchern: Künstliche Produktion von Bildern und Videos, autonomes Fahren und die Verwendung von „Big Data“ in den Naturwissenschaften.

Als Reaktion darauf kam schon von selbsternannten Expert_Innen wie Elon Musk, dass die Technologie so fieberhafte Fortschritte macht, dass man für eine Weile die Notbremse in den Entwicklungsstudios ziehen müsse, um rechtliche, ethische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen herzustellen. Zum einen kann das wieder ein cleverer Werbetrick sein und ist letztendlich wahrscheinlich nur schwer umsetzbar, zum anderen macht das aber schon einen richtigen Punkt: Für den Kapitalismus kann die ganze Angelegenheit tatsächlich weiterreichende Änderungen mit sich bringen. Die Rahmensetzung sollten wir aber nicht allein der herrschende Klasse überlassen. Es muss die Aufgabe der Arbeiter_Innenbewegung sein, darauf programmatische Antworten zu liefern! Diese würden wir an der Stelle grob in zwei Teile unterteilen: Die staatlichen und die wirtschaftlichen Änderungen.

Social Credits und Drohnen

Aus Filmen und Videospielen kennen wir die dystopischen Zukunftsszenarien, in denen sich künstliche Intelligenz mit autoritären Staaten mischt: Ein allmächtiger Staat, der mittels automatisierter Überwachung und Bestrafung die Bevölkerung kontrolliert, ohne dass dafür echte Menschen ihre Moral dazwischenschalten können. Erhebungen können mit Drohnen und bewaffneten Robotern zerschlagen werden. Kriege werden nicht durch Menschenhand geführt, aber dennoch sind es die Menschen, die darunter leiden.
Das sind natürlich arg einseitige und künstlerische Darstellungen, aber dennoch muss uns klar sein, dass im Zweifelsfall und in zugespitzten gesellschaftlichen Situationen alle Technologien gegen die Arbeiter_Innen verwendet werden können. Das ist sicherlich auch eine Angst, die viele momentan mit künstlicher Intelligenz verbinden und das ist auch eine Angst, die Kommunist_Innen unbedingt ernst nehmen sollten und eine Antwort darauf formulieren müssen, ohne in fortschrittsgläubigen Spott zu verfallen.

Die zentrale Losung sollte dabei sein, dass die Entwicklung und Verwendung vor Allem von fortgeschrittener künstlicher Intelligenz unter Arbeiter_Innenkontrolle gestellt werden und dafür die jeweiligen Tech-Unternehmen enteignet werden. Das ist die einzige Möglichkeit, um wirklich zuverlässig zu erreichen, dass diese nicht dazu eingesetzt wird, um automatisierte Unterdrückung und massenhaftes Leid zu produzieren, sondern um die progressiven Elemente wirklich herauszuschälen: Entlastung und Befreiung von Teilen der entfremdeten Arbeit. Außerdem hätte künstliche Intelligenz in einer demokratischen Planwirtschaft ein besonderes Potential, wenn es um die Erhebung von Bedürfnissen und Verteilung von Gütern geht. Dazu wollen wir demnächst noch einen Artikel am Beispiel von „Cybersyn“ in Chile veröffentlichen.
Klar sollte sein: Halten wir diese Technologie nicht auf, sondern greifen sie auf in ein Programm für mehr Freizeit und Freiheit! Doch wie sieht hier die wirtschaftliche Ebene aus?

Roboterarme und schmutzige Hände

Die kapitalistische Epoche wird begleitet von vielen „technologischen Revolutionen“. Und sei es nun die Dampfmaschine, die Elektrizität oder die Digitaltechnik: Jedes Mal war die Befürchtung groß, dass diese dazu führen, dass die Menschen nun ein für alle Mal überflüssig gemacht werden und die Arbeitslosigkeit riesig sein wird. Doch letztendlich ist es doch alles etwas anders gekommen, indem zwar viele Arbeitsstellen überflüssig geworden sind, aber die Arbeitskraft selbst nicht. Wird das bei der künstlichen Intelligenz genauso laufen?

Ein entscheidender Unterschied könnte sein, dass vorherige Technologien nicht so leicht vervielfältigbar sind, sondern immer an „Materie“ geknüpft sind. Für Maschinen und Elektrizität braucht man eben Rohstoffe und Arbeit, um mehr Menschen damit zu versorgen. Dadurch kommt es vor Allem in Halbkolonien dazu, dass selbst bei vorhandenem Know-How keine Technisierung durchgeführt wird, weil selbst der ineffizienteste Einsatz von Arbeitskraft immer noch günstiger ist, als eine Maschine anzuschaffen.

Je weiter nun die Technisierung fortschreitet, desto mehr Arbeitskraft wird frei und damit die Arbeitskraft insgesamt billiger, was wiederum die Technisierung ausbremst. Deswegen werden bis heute so viele Tätigkeiten weiterhin per Hand und unter scheußlichsten Bedingungen durchgeführt. Das ist eins der vielen Argumente dafür, dass der Kapitalismus in Wirklichkeit technologischen Fortschritt aufhält, statt ihn zu beschleunigen.
Doch dieses Mal könnte es anders sein: Künstliche Intelligenz kann, wenn sie erstmal entwickelt ist, relativ leicht skaliert werden und damit einen großen Teil der Kopfarbeit ersetzen. Selbstverständlich steckt dahinter immer auch ein materieller Rechner, der irgendwo stehen muss, und eine Internetverbindung dorthin. Das ist aber selbst jetzt schon sehr weit verbreitet. Und die Effizienz von künstlicher Intelligenz wird in den nächsten Jahren schnell anwachsen. Die Vermutung liegt also nahe, dass sich in Zukunft Informatiker_Innen, Designer_Innen, Ingenieur_Innen und Berater_Innen aller Art darauf gefasst machen müssen, einer künstlichen Intelligenz Aufträge zu erteilen, anstatt selbst die Arbeit des Programmierens, Designens, Entwickelns oder Beratens auszuführen.

Das würde aber viele Berufe doch wieder überflüssig machen, wenn das nicht durch kräftiges Wirtschaftswachstum abgefangen wird. Leider droht auch das Szenario, dass das deren Arbeitskraft entwerten könnte und sie wieder in technisierbare Handarbeit oder in nutzlose Bullshit-Jobs treibt. Aber wie bereits gesagt wurde: Künstliche Intelligenz hat genauso wie alle anderen technologischen Fortschritte das Potenzial, Menschen von unnötiger und ermüdender Arbeit zu befreien.
Um das zu erkämpfen, müssen Gewerkschaften und Arbeiter_Innenparteien die alte, aber ungeahnt aktuelle Forderung ergreifen: Verteilung der Arbeit auf alle Hände! Das bedeutet konkret: Wir verkürzen die Arbeitszeit radikal, während der ausgezahlte Lohn erhalten bleibt. Arbeiter_Innen sollen sich kostenlos umschulen dürfen, während der Staat die Löhne weiterzahlt. Das wird finanziert durch massive Besteuerung der Reichen, die durch diesen technologischen Fortschritt sicherlich profitieren werden.

Falls wir diesen Kampf nicht aufnehmen, wird es dazu führen, dass wieder vor Allem die Kapitalist_Innen davon profitieren und die bürgerliche Staaten ihre Macht aufbauen. Wir müssen der herrschenden Klasse die schillernde Zukunft abringen, die uns der technische Fortschritt verspricht!

Wir fordern also:

  • Enteignet die Tech-Unternehmen und stellt sie unter Arbeiter_Innenkontrolle!
  • Offenlegung aller Codes & Algorithmen, auf deren Basis KI arbeitet und Entscheidungen trifft, um rassistische und andere unterdrückerische Muster zu erkennen und zu bekämpfen!
  • Sensibilisierung und Schulung von Entwickler_Innen für die ethischen Herausforderungen dieser neuen Technologie, z.B. in der Einspeisung diskriminierender Datensätze!
  • Flächendeckende Bildungsangebote im Bereich des Codings und digitaler Kompetenz in allen Schulen!
  • Deckung des enormen Energiebedarfs der Server durch erneuerbare Energien!
  • Arbeitszeitverkürzung und kostenlose Umschulung bei gleichem Lohn!
  • Massive Besteuerung der Reichen!



Wiederholte Qual der Wahl

Zur Wahlwiederholung im Februar in Berlin von Wilhelm Schulz

Zuerst erschienen in der Neuen Internationalen der Gruppe Arbeiter:innenmacht.

Berlin wählt noch einmal. Am 12. Februar steht die Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und der Bezirksverordnetenversammlungen an. Das Bundesverfassungsgericht ordnete die Wiederholung des Urnengangs vom 26. September 2021 zur „Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung“ (Tagesschau 16.11.22) an.

Schließlich war die vergangene Wahl auch ein Desaster. Es wurden unvollständige Briefwahlzettel ausgeschickt. In 72 dokumentierten Fällen fehlten die Stimmzettel für den damaligen Volksentscheid von Deutsche Wohnen & Co. enteignen. In mindestens 424 Wahllokalen musste noch nach 18 Uhr abgestimmt werden, da nicht rechtzeitig ausreichend Stimmzettel vorlagen und 73 Wahllokale wurden aufgrund dessen zeitweise geschlossen. Teilweise wurden Stimmzettel vertauscht. Schlussendlich kam es in neun Prozent der Lokale zu Unregelmäßigkeiten.

Wiederholung und nicht Neuwahl

Politisch führte die Abgeordnetenhauswahl 2021 zu einer Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition. Sechs Parteien zogen ins Abgeordnetenhaus ein (SPD: 21,4 %, Grüne: 18,9 %, CDU: 18,9 %, LINKE: 14,1 %, AfD: 8,0 % und FDP: 7,1 %). Die Wahlprognosen ähneln diesem Ergebnis mit leichten Verschiebungen. Es ist unklar, ob SPD, Grüne oder CDU die meisten Stimmen erhalten werden. Die FDP und die LINKE drohen, 2 bzw. 3 Prozent zu verlieren.

Dabei ist zu beachten: Das Prozedere am 12. Februar ist eine Wahlwiederholung, keine Neuwahl. Dementsprechend dürfen die Parteien keine Veränderungen bezüglich der aufgestellten Direktkandidat_Innen sowie Landeslisten vornehmen – nur der Tod entschuldigt. Doch was bedeutet das für uns? Mehr als ein Jahr RGR2 liegt bereits hinter uns mit Auseinandersetzungen um die Krise der LINKEN, einer Konfrontation um die Frage „Regierungsbeteiligung oder Umsetzung des Mietenvolksentscheids?“, einem Krieg, einer Teuerungswelle und vielem mehr. Wir wollen dementsprechend in diesem Text auf die Politik der Koalition von SPD, Grünen und LINKEN, aber auch auf die Krise der LINKEN eingehen und unsere wahltaktischen Schlussfolgerungen darlegen.

Links blinken, rechts abbiegen?

Zahlreich sind die Versprechen für Verbesserungen, die Rot-Rot-Grün gegeben hat. Noch zahlreicher sind jedoch die, die über Bord geworfen oder so umgedreht wurden, dass man sie kaum als Verbesserungen verstehen kann. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Schulbauoffensive, ein Private-Public-Partnership-Modell, mit dem Versprechen, notwendige Sanierungsarbeiten zu tätigen, das mehr schlecht als recht läuft. Hinzu kommen massive Kürzungen bei den Verfügungsfonds der Berliner Schulen. Während früher pro Schule 28.000 Euro zur Verfügung standen, sind es nun 3.000 Euro.

Auch die von den Grünen geführte Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz (Senatorin: Jarasch) kann nicht besonders glänzen: Denn RGR2 setzt den Versuch der Teilprivatisierung der Berliner S-Bahn fort und schrieb am 17. Juni 2020 die sogenannte Stadtbahn (Ost-West-Verbindung) und den Nord-Süd-Tunnel aus. Die Netzausschreibung findet in Teilen statt und die Ausschreibung der Fahrzeuginstandhaltung ist ebenfalls davon getrennt.

Besonders präsent ist jedoch der Umgang mit dem Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co enteignen, der bereits während des letzten Wahlkampfes für einigen Aufruhr in der Parteienlandschaft sorgte. So machten die Regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey (SPD), und mit Abstrichen die Spitzenkandidatin der Grünen, Bettina Jarasch, schon vor der Wahl klar, dass es eine Enteignung großer Immobilienkonzerne mit ihnen nicht geben wird. Somit wurde bereits vor dem ersten möglichen Sondierungsgespräch deutlich, dass es keine Koalition geben konnte, die bereit war, den Volksentscheid umzusetzen.

Das hielt die LINKE nicht davon ab, sich bis heute als bedingungslose Unterstützerin des Volksentscheids zu inszenieren. Statt ihn aber konsequent umzusetzen, stimmte sie der Einrichtung einer Expert_Innenkommission zu, die die Enteignung objektiv verschleppt, die nicht nur das „Wie“ sondern auch und vor allem das „Ob“ diskutieren soll. Währenddessen plante DIE LINKE mit der Koalition hinterrücks die personelle Zusammensetzung der Kommission, gaukelte der Initiative DWe aber vor, selbiges mit ihr abzusprechen.

Das gibt natürlich ordentlich Raum für emotionale Empörung und ist einer der Gründe, warum sich viele Linksparteimitglieder enttäuscht von der eigenen Partei abwandten. Überraschend ist es jedoch auf der anderen Seite nicht. Schließlich besteht einer der Funktionen reformistischer Organisationen darin, soziale Proteste zu inkorporieren. Gleichzeitig hat genau dies dazu geführt, dass sich die Spaltungslinien innerhalb der Linkspartei verstärkt haben, da man auch seiner sozialen Basis gerecht werden muss.

Auch wenn die Linkspartei wahrscheinlich weiter Stimmen verlieren wird, so ist sie noch immer eine Partei mit rund 8.000 Mitgliedern und rund 250.000 Wähler_Innen allein in Berlin. Trotz Unterordnung unter die Vorgaben der Koalition und Enttäuschung vieler Anhänger_Innen setzen bis heute viele Aktivist_Innen sozialer Bewegungen (sogar von DWe!) und die politisch bewussteren Schichten der Arbeiter_Innenklasse (z. B. Krankenhausbewegung) auf DIE LINKE – und sei es als kleineres Übel angesichts von Parteien, die ansonsten entweder für offen neoliberale, konservative und rassistische Politik stehen oder die imperialistische Aufrüstungspolitik und den Wirtschaftskrieg gegen Russland an der Bundesregierung mitverantworten.

Zerreißprobe für die Linkspartei: für eine linke Opposition!

Die Auseinandersetzung rund um das letzte Wahlergebnis zeigte auf, dass es in den unterschiedlichen Flügeln der LINKEN Differenzen gibt um die Frage, welche Politik die Partei angesichts ihrer generellen Krise anstoßen muss. Das regierungssozialistische Mehrheitslager in Berlin wie bundesweit warb für Rot-Grün-Rot und gab dafür weite Teile seiner Versprechen auf, während ein Minderheitsflügel die Beteiligung an einer Regierung mit SPD und Grünen nicht prinzipiell ablehnte, jedoch die Selbstaufgabe dafür.

Diese Orientierung der Mehrheit ist nachvollziehbar, da die LINKE seit ihrer Gründung länger an der Regierung in Berlin war als in der Opposition. Berlin ist quasi zu einem Vorzeigeprojekt der Regierungssozialist_Innen geworden. Die Beteiligung an etwaigen Koalitionen wird von diesem Lager mit der Existenzberechtigung der Gesamtpartei in eins gesetzt – eine Orientierung, die ein Hindernis und keinen Zugewinn gegenüber den Angriffen auf Errungenschaften der Klasse darstellt.

Während der Minderheitsflügel in der Partei in Teilen zwar ausspricht, dass sich beide Ziele entgegenstehen, bleiben die praktischen Konsequenzen aus. In Teilen der Partei wird anerkannt, dass es sich um zwei mögliche Pfade handelt, die sie einschlagen kann: entweder Orientierung auf die Regierung oder Kampf für die Umsetzung ihrer Versprechen. Das Ausbleiben einer systematischen Opposition durch DWe selbst hängt direkt damit zusammen, dass die Initiative programmatisch auf selbige Sackgasse zusteuert: eine Umsetzung durch parlamentarische Mehrheiten.

Zwischen der Wahl und der Koalitionsbildung bildete sich innerhalb der LINKEN Widerstand. Mit der Initiative für eine linke Opposition und Anträgen gegen die Regierungsbeteiligung wurde dies greifbar, doch erstickte dies schlussendlich im Keim. Anstatt über die Urabstimmung hinaus gegen die Regierungsbeteiligung zu kämpfen, endete der organisatorische Prozess zu Beginn des Jahres 2022. Zwar gibt es weiterhin eine Reihe von Direktkandidat_Innen der LINKEN, die sich gegen eine erneute Beteiligung an RGR aussprechen, doch ändert diese nichts an ihrer Zersplitterung. Unter den Parlamentarier_Innen findet sich keine Person, die offen ausspricht, gegen Giffey gestimmt zu haben.

Keine offenen Treffen der Gegner_Innen der Regierungsbeteiligung wurden organisiert. Der Konflikt hat sich verlagert – hin zur Frage der Umsetzung des Volksentscheids. Diese Verlagerung ist ein Ausdruck dessen, in welche Sackgasse sich die LINKE manövriert hat, jedoch zugleich ein falscher Konsens. Denn es zögert den Konflikt hinaus, da zugleich passiv auf das Ergebnis einer Expert_Innenkommission gewartet werden kann, deren Urteil nicht bindend ist, und das als eine Perspektive gegen die Verhinderungstaktik von SPD und Grünen dargestellt wird.

Die Verlagerung steht also aktiv dem politischen Konflikt im Wege. In diesem Sinne muss auch die bedingungslose Unterstützung des Volksentscheides, die die LINKE kürzlich erst erneut bekräftigte, als Lippenbekenntnis gewertet werden. Für Parteilinke bedeutet das, ihre Aufgaben in der LINKEN zu erkennen, wenn sie nicht Flankendeckung zur Verteidigung der Regierungsbeteiligung bleiben möchten.

Wie verhalten wir uns dazu?

Die Aufgabe für Revolutionär_Innen lautet nun aufzuzeigen, wie der linke Flügel den Kampf um seine Inhalte führen muss. Dazu muss an dieser Stelle Druck aufgebaut werden, da eine bisher systematische Organisierung des Widerstands gegen die Regierungssozialist_Innen ausgeblieben ist. Zugleich sind dessen Kandidat_Innen durchaus Repräsentant_Innen einer bedeutenden Minderheit in der Partei und kontrollieren faktisch Bezirke wie das mitgliederstarke Neukölln.

Deswegen rufen wir zur kritischen Unterstützung der Kandidat_Innen des linken Flügels der LINKEN bei den Erststimmen auf. Wir wollen damit jene Kräfte in ihr stärken, die sich gegen eine prinzipienlose Regierungsbeteiligung ausgesprochen und, wenn auch inkonsequenten, Protest gegen den Koalitionsvertrag unterstützt und organisiert haben. Das Ziel ist es, sie in die Verantwortung zu bringen und unter Druck zu setzen, den kämpferischen Worten auch ebensolche Taten folgen zu lassen.

Wir rufen daher bei den Erststimmen nur zur Wahl jener Kandidat_Innen auf, um unsere Stimme gegen die Regierungsbeteiligung sichtbar zu machen. Diese Sichtbarkeit machen wir fest an drei Punkten; Erstens unterstützen wir jene Kandidat_Innen direkt, die auf dem Landesparteitag der LINKEN den Antrag gegen die Regierungsbeteiligung aufgestellt haben. Zweitens rufen wir zur Stimmabgabe für jene Kandidat_Innen auf, die öffentlich die Initiative „Für eine linke Opposition“ unterstützten, sowie drittens jene, die öffentlich für einen Bruch mit der Regierungspolitik der LINKEN eintreten wie beispielsweise Jorinde Schulz und Ferat Koçak, beides Direktkandidat_Innen in Neukölln.

Die Unterstützung verbinden wir mit der Forderung, dem Nein-Lager einen organisatorischen Ausdruck zu geben. Zugleich rufen wir zur Zweitstimmenabgabe für DIE LINKE auf. Schlussendlich soll die eingeschlagene Taktik dem linken Flügel im Kampf zur Klarheit verhelfen und nicht durch reine Stimmabwesenheit zum Bedeutungsverlust ohne politische Alternative führen. Wäre dies der Fall, so würde unsere Wahltaktik gegenüber den Wähler_Innen nichts aussagen, außer zuhause zu bleiben. Mit dieser Taktik hingegen rufen wir dazu auf, auch über die Wahl hinaus Druck aufs Abgeordnetenhaus und die bremsende Mehrheit der LINKEN aufzubauen. Der essentielle Punkt ist nämlich nicht einfach nur, dazu aufzurufen, ein Kreuz zu machen, sondern die Stimmabgabe mit der Aufforderung zur gemeinsamen Aktion zu verbinden.

Warum schlagen wir diesen Weg ein?

Als revolutionäre Marxist_Innen betrachten wir die Überwindung des Kapitalismus und damit einhergehend des bürgerlichen Staates als die zentrale Aufgabe unseres politischen Wirkens. In Konsequenz dessen spielt für uns die Organisierung und Mobilisierung der Arbeiter_Innenbewegung eine zentralere Rolle als die Arbeit im Parlament, die strategisch überhaupt unfähig ist, den Kapitalismus zu überwinden. Für uns ist das Abgeordnetenhaus in diesem Sinne eine Tribüne im Klassenkampf. Der Reformismus hingegen steht dieser Aufgabenbeschreibung diametral entgegen. Während er zugleich am gewerkschaftlichen Bewusstsein kämpfender Teile der Klasse ansetzend die politische Vertretung als Partei der organisierten Arbeiter_Innenschaft zu repräsentieren vorgibt, hängt er zugleich der Utopie der schrittweisen Überwindung gesellschaftlichen Elends an. Das Ziel muss also sein, das vorherrschende reformistische Bewusstsein innerhalb der Arbeiter_Innenklasse – noch bürgerlich, aber von der Notwendigkeit einer Klassenpartei überzeugt – zu brechen. Das passiert nicht allein durch Denunziation oder moralische Empörung über den Verrat der bürgerlichen Arbeiter_Innenparteien. Ansonsten wäre es schwer erklärbar, warum nach mehr als 100 Jahren der stetigen Enttäuschung Olaf Scholz Kanzler ist oder Giffey in Berlin regieren kann.

Das heißt: Wir rufen zur kritischen Wahlunterstützung für DIE LINKE nicht auf, weil wir denken, dass ihr Wahlprogramm, ihre Politik die dringlichsten Ziele von Arbeiter_Innen, Migrant_Innen, Jugendlichen, Renter_Innen, Arbeitslosen oder anderen Ausgebeuteten und Unterdrückten einlösen, sondern weil sie gewählt wird von Hunderttausenden, die sie für eine soziale Kraft angesichts massiver Preissteigerungen und inmitten eines gesellschaftlichen Rechtsrucks halten. Entscheidend ist daher nicht das Programm, sondern das Verhältnis der Kandidat_Innen und/oder ihrer Partei zur Klasse und den Unterdrückten. Die Taktik der kritischen Wahlunterstützung setzt an diesem Punkt an, weil wir als revolutionäre Marxist_Innen nicht imstande sind, aus eigenen Kräften anzutreten. Folglich geben wir eine kritische Wahlempfehlung für nicht-revolutionäre Kandidat_Innen der organisierten Klasse mit dem Ziel, auf sie Druck auszuüben und somit Teile vom Reformismus aktiv leichter wegbrechen zu können, anstatt zu warten, bis diese von selbst desillusioniert werden. Denn ob man es will oder nicht: Mit rund 8.000 Mitgliedern und rund 250.000 Stimmen bei der letzten Wahl ist DIE LINKE keine Kraft, die einfach ignoriert werden kann.

Die Illusionen zerfallen nicht durch die reine Kritik an ihrer Ausrichtung, sondern dadurch, dass die Partei in die Lage versetzt wird, ihre Politik umsetzen zu müssen. Gerade angesichts der Wahlwiederholung muss deutlich gesagt werden, dass DIE LINKE bereits anschaulich bewiesen hat, dass die Regierungsbeteiligung für sie mehr bedeutet als ihrer Wähler_Innenbasis. Doch der linke Flügel der Partei läuft Gefahr, dies durch seine Passivität zu legitimieren, anstatt in der Partei und Wähler_Innenschaft Widerstand zu organisieren.

Daher sagen wir: Schluss damit! Wir fordern die sofortige Umsetzung des Volksentscheides, ansonsten kommt keine Koalition zu Stande. Wählt die Kandidat_Innen, die diese Position vertreten haben und lasst uns gemeinsam für die Umsetzung dieser kämpfen!




Was tun mit all den Tätern?

Sexualisierte Gewalt gegen Frauen[1] ist Alltag in unserer Gesellschaft. Selbst nach offiziellen Studien, die viel Raum für Dunkelziffern lassen, haben 40% aller Frauen seit ihrem 16. Lebensjahr physische oder sexuelle Gewalt und 42% haben psychische Gewalt erfahren. International ist die Tendenz steigend. Es ist außerdem anzunehmen, dass diese Studien eine sehr enge Definition dessen verwenden, was sie unter sexueller Gewalt verstehen, sodass viele Vorfälle und Taten nicht in solcherlei Statistiken einfließen. Naturgemäß sind diese Zahlen auch eher Schätzungen, da ein großer Teil der erfahrenen Gewalt nie öffentlich gemacht wird, denn häufig findet sie im engsten Umfeld der Betroffenen statt: im eigenen Zuhause oder in der Familie. Entgegen der allgemeinen Idealisierung des “trauten Heims” als Schutzraum, stellt es diesen häufig nicht für die Betroffenen dar, sondern vielmehr für die Täter, die ihre Verbrechen vor der Öffentlichkeit verbergen. Neben den körperlichen Folgen ist die Erfahrung von sexueller Gewalt für Betroffene nicht nur in der Gewaltsituation, sondern auch danach und oftmals ein Leben lang eine schwere emotionale Belastung. So führt der durch die Gewalterfahrung verursachte Kontrollverlust bei vielen Betroffenen zu Schuldgefühlen, Identitätsproblemen, Bindungsproblemen und Traumata. Es sollte also jeder_m klar sein, wie verbreitet und alltäglich Gewalt gegen Frauen ist in dieser Gesellschaft.

„Warnt nicht eure Töchter, erzieht eure
Söhne“, steht dazu an einer Elbbrücke in Dresden. Obwohl dieser Slogan das
Problem richtigerweise bei den männlichen Tätern lokalisiert, ist es mit der
“richtigen” Erziehung leider nicht getan. Die essentialistische Annahme Männer
seien gemäß ihrer genetischen Veranlagung aggressiver und gewalttätiger und
Frauen seien biologisch eher zurückhaltend und friedliebend irgnoriert die
entscheidende Rolle, die gesellschaftliche Verhältnisse bei der Entstehung und
auch bei der Veränderung von Geschlechterrollen spielen. Deshalb kann auch eine
gewaltfreiere Erziehung von Jungen das Problem nicht allein lösen. Seine
Wurzeln liegen im kapitalistischen Patriarchat, das die als gesellschaftlich
wertvoll betrachtete Produktionsarbeit von der als wertlos betrachteten
Reproduktionsarbeit (also Erziehung, Hausarbeit und Sorgearbeit) trennt. Frauen
werden dadurch in die Abhängigkeit von Männern gedrängt, haben schlechtere
Chancen auf dem Arbeitsmarkt und werden schlechter bezahlt. Daneben führt diese
materielle Basis der sexistischen Unterdrückung auch zu geschlechtsspezifischen
Bewusstseinsformen, die uns im Alltag häufig als Geschlechterstereotype
begegnen. Bei vielen Männern führt das beispielsweise zu dem Gedanken, dass es
Teil ihrer Männlichkeit sei, Dominanz auszuüben, sich “zu nehmen was einem
zusteht”, Frauen “erobern” zu wollen und infolgedessen auch zur Annahme ein
Recht zu besitzen, die eigenen Bedürfnisse im Zweifel auch durch den Einsatz
von Gewalt gegen Frauen durchsetzen zu dürfen.

Sexuelle Gewalt in der Linken: Keine
Einzelfälle!

Wie wir durch Outings von Tätern und einer
zunehmenden Öffentlichkeit um das Thema der sexuellen Gewalt beobachten können,
ist auch die Radikale Linke nicht frei davon. Weder von Sexismus allgemein,
noch von sexualisierter Gewalt. Immer wieder müssen wir von sexuellen
Übergriffen lesen und hören: egal ob auf Festivals, in Hausprojekten oder
linken Gruppen. Immer wieder kommt es zu Outings oder zum Ruf von Betroffenen.
Zahlen gibt’s zwar keine, aber klar sollte sein: Das sind keine Einzelfälle.

Aus gegebenem Anlass wollen wir mit diesem
Artikel eine grundlegende Debatte in der Linken anregen, wie wir als Linke,
Antisexist_innen und Kommunist_innen mit Taten und Tätern kollektiv und
emanzipatorisch umgehen können. Dabei ist uns zu erst einmal wichtig zu
betonen, dass es sich bei sexueller Gewalt nicht um individuelle unglückliche
Einzelfälle handelt, sondern um ein strukturelles Problem! Der Kapitalismus
selbst profitiert von der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung und der Unterdrückung
von Frauen und LGBTIAs. Dementsprechend werden oft grundlegende patriarchale
Strukturen nicht thematisiert und kommt es zu Fällen von sexueller Gewalt, wird
nicht über gesellschaftliche Strukturen, sondern über tragische Einzelfälle
gesprochen. Die Betroffenen als auch die Täter werden individualisiert. Dabei
reproduziert der Untersuchungs- und Rechtsprechungsprozess durch bürgerliche
Polizei und Justiz häufig die Ohnmachtserfahrung der Betroffenen. Statt
Selbstermächtigung und organisiertem Handeln aus dem Kollektiv heraus herrscht
Vereinzelung vor.

Wollen wir also der Machtblindheit und Vereinzelung der bürgerlichen Strukturen eine fortschrittliche Version entgegensetzen, müssen wir uns jedoch auch die Grenzen bewusst machen, welche die kapitalistisch-patriarchalen Strukturen unserem Vorhaben setzen. Denn wir sind alle innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft sozialisiert worden und erfahren das Patriarchat jeden Tag aufs Neue. Das bedeutet, dass wir geprägt sind und täglich neu geprägt werden von den klassischen Geschlechterrollen. Davon können wir uns nicht einfach frei machen, nur weil wir heute beschließen Antisexist_innen sein zu wollen. Auch die bürgerliche Sexualmoral ist, ob wir wollen oder nicht, tief in uns verankert. Nie haben wir gelernt, eine Sprache für unsere eigenen sexuellen Bedürfnisse und Grenzen zu finden. Doch der Zwang, der Druck und die Gewalt, die die gesellschaftlichen Verhältnisse auf uns ausüben, entlädt uns nicht von der Verantwortung die wir alle haben. Dennoch sollten wir uns klar machen, dass wir nie einen vollständigen und abschlossenen Safe Space schaffen können. Das klingt hart aber wer das nicht anerkennt schürt nur Illusionen in eine vermeintliche Sicherheit. Erschwerend kommt hinzu, dass wir keine abgekapselte linke Szenebubble sein wollen, sondern neue Leute von unseren Idealen begeistern und in unsere Strukturen integrieren wollen. Wenn wir uns die Statistiken vom Anfang des Artikels anschauen, bedeutet das jedoch auch, dass eine große Zahl von Männern in der Vergangenheit schon einmal Täter waren und wir als Organisation einen Umgang damit finden müssen. Da die Menschen im Kapitalismus nicht als Kommunist_innen geboren werden, sind wir ferner ständig damit konfrontiert, dass wir mit weniger antisexistischem Bewusstsein umgehen und daran arbeiten müssen. Wir müssen jedoch auch anerkennen, dass wir sexuelle Gewalt auch in unseren linken Strukturen nie vollständig zu 100 % verhindern werden können. Umso wichtiger ist es, sich mit Unterdrückung innerhalb der eigenen Organisationsstrukturen auseinanderzusetzen. Ob Rassismus, LGBTIA+-Diskriminierung oder auch sexuelle Gewalt. Darüber zu schweigen oder so tun als gäbe es das nicht, weil man ja schon so unfassbar befreit und fortschrittlich ist, hilft da Niemandem. Es braucht Präventionsarbeit zur Verhinderung von seuxeller Gewalt genauso wie einen adäquaten Umgang mit Vorfällen im Sinne der Betroffenen.

Was tun gegen sexuelle Gewalt in den eigenen
Strukturen?

Der absolute Schritt Nummer eins muss es sein,
die Schweigekultur die um das Thema sexuelle Gewalt herrscht zu durchbrechen.
Es gilt also ein Klima zu schaffen, in dem über sexuelle Grenzüberschreitungen
gesprochen wird. Ob von Betroffenen oder auch von gewaltausübenden Personen,
deren Verantwortung es ist, auch ohne Initiative der betroffenen Person die
Verantwortung für ihre Tat zu übernehmen. Es braucht Schutzstrukturen für
FLINT-Personen (sogenannte Caucusse), um in Abwesenheit von Männern über
Unterdrückungserfahrungen sprechen und auch spezifische Forderungen an die
Männer formulieren zu können. Gleichzeitig muss vermieden werden, dass wir
Frauen in der politischen Arbeit weniger präsent sind, da wir uns ja noch mit
unserer eigenen Unterdrückung beschäftigen müssen, während die Männer die
Revolution planen. Vielmehr ist es die Aufgabe von Männern als potentielle
Unterdrücker_innen sich mit der strukturellen Rolle, die ihnen der Kapitalismus
zuweist, auseinanderzusetzen und diese zu reflektieren. Paralellel zu
Caucus-Treffen müssen antisexistische Männertreffen stattfinden.

Gleichzeitig muss uns klar sein, dass man diese
Probleme nicht “weg-reflektieren” kann. Zwischen der Erkenntnis im Rahmen eines
Reflektionsprozesses und einer nachhaltigen Veränderung des Verhaltens liegt
häufig noch ein langer Weg. Reflektion ist dabei ein wichtiger Bestandteil
antisexistischer Praxis aber nicht die alleinige Lösung, um das Patriarchat zu
zerstören. Da wir in einer kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft leben,
bewegt sich unser Denken häufig auch in den Bahnen, die diese Gesellschaft
zulässt. Es ist auch für Antisexist_innen quasi unmöglich diese vollständig zu
verlassen, solange diese Gesellschaft uns tagtäglich etwas anderes vorlebt.
Deshalb heißt es genauso diese Gesellschaft anzugreifen und im Kampf dagegen eine
antisexistische Perspektive aufzuwerfen sowie Frauen gesondert zu fördern und
zu empowern.

Daneben ist es zentral, Präventionsarbeit zu
betreiben. Mit neuen Menschen, die an die Organisation herantreten, müssen
verpflichtende Diskussionen über sexuellen Konsens und das Ja-heißt-Ja-Prinzip
geführt werden. Dabei muss uns jedoch bewusst sein, dass bei den Leuten damit
erst einmal ein Prozess angestoßen wird, an dem aktiv weitergearbeitet werden
muss, den nur weil man drei mal über Konsens philosophiert hat bedeutet das
nicht automatisch, dass man offen über Grenzen und Bedürfnisse kommunizieren
kann.

Kommt es trotz aller Präventationsmaßnahmen zu
Fällen von sexuellen Übergriffen müssen wir jede Aussage und jedes Anzeichen
darüber sofort ernst nehmen. Die weit verbreitete Angst, dass Betroffene ja mit
Absicht eine Falschaussage machen könnten, um eigene Ziele zu erreichen, ist
nicht nur zutiefst chauvinistisch, sondern auch einfach unbegründet, da sich
wohl kaum eine Frau freiwillig der mit einem solchen Prozess verbundenen
emotionalen Belastung aussetzen würde.

In vielen Fällen ist die Sachlage sofort klar
und das Geschehene eindeutig. In anderen Fällen gibt es widersprüchliche
Aussagen und es braucht Strukturen, die bei der Aufarbeitung helfen. In jedem
Fall gilt es sofort eine Kommission zu gründen, die sich mit dem Fall
beschäftigt. Bei der personellen Zusammensetzung der Kommission gilt es zu
beachten, dass diese im Sinne der Betroffenen zusammengesetzt ist und
mehrheitlich aus sexuellen unterdrückten Menschen besteht. Ebenso ist diese (im
Gegensatz zu den bürgerlichen Justiz-Strukturen) auch wieder abwähl- und
ersetzbar. Die Aufgabe der Kommission ist es, den Fall aufzuarbeiten, der
Betroffenen (insofern sie dies möchte) emotionale Unterstützung und auch ein_e
Sprecher_in bereitzustellen, sowie konkrete Handlungsempfehlungen zu machen,
wie mit dem Täter umgegangen werden soll. Diese müssen von der Organisation
dann demokratisch abgestimmt werden.

Was macht man mit einem Täter?

Wichtig ist es erst einmal zu betonen, dass es
in dem Prozess vor allem um die Betroffene gehen und nicht um den Täter. Ziel
des Prozesses muss es also sein, der betroffenen Person Handlungsfähigkeit
zurückzugeben und einen Wiedereinstieg in die politische Arbeit zu ermöglichen,
sowie potentiell weitere Betroffene vor dem Täter zu schützen. Dennoch stellt
sich natürlich trotzdem die Frage: Was macht man den nun mit einem Täter?

Auf diese Frage gibt es leider keine allgemeingültige Antwort, denn das Ausüben von sexueller Gewalt kann unterschiedlich schwerwiegend sein. So spielt es eine Rolle, ob Zwang und Gewalt aktiv ausgeübt wurden, ob ein willentlicher Machtmissbrauch stattgefunden hat und auch wie lang die Person schon organisiert ist und es besser wissen müsste. Am leichtesten wäre es doch in jedem Fall, den Täter einfach auszuschließen, ihn aus allen Räumen und Kontexten rauszuschmeißen. Problem beseitigt – müssen wir uns nicht mehr mit beschäftigen. Aber was passiert dann mit ihm? Klopft er irgendwo anders an, um weitere Taten begehen zu können? Wie können wir kollektiv Verantwortung übernehmen und die Chance verringern, dass sich sexuelle Gewalt wiederholt? Die Antwort kann nicht darin liegen, sich dem Problem der Täter so einfach zu entledigen. Für linke Kleinsgruppen und Sekten ist das vielleicht eine Perspektive, nicht aber für Organisationen die den Anspruch haben eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufzuwerfen. Als Gesamtgesellschaft kann man den Täter nicht mehr einfach rausschmeißen. Wenn wir also lebenslange Isolationshaft, Todesstrafen oder Selbstjustiz ablehnen, müssen wir uns Gedanken darüber machen, was wir als Alternative dazu vorschlagen.

Der Staat regelt?

Wohl eher nicht. Der ist nämlich selbst eine
Struktur, die der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Klassenherrschaft und
damit auch des Patriarchats dient. Und als solche ist er Teil des Problems,
Stütze des Systems, das diese gewaltvollen Umstände hervorbringt und von ihnen
profitiert, niemals Teil der Lösung. Das sehen wir schon allein daran, was das
bürgerliche Gesetzgebuch überhaupt als sexuelle Gewalt definiert und was nicht.
Eine Vielzahl von Taten wird also von den bürgerlichen Gerichten einfach
abgeschmettert, die Betroffenen damit allein gelassen und vermutlich auch
retraumatisiert, da die von ihnen erfahrene Gewalt nicht anerkannt wird. Noch
dazu stehen sie vor dem bürgerlichen Gericht selber in der Beweislast, sich für
ihre “Anschuldigungen” gegenüber dem Täter rechtfertigen zu müssen.

Das Gerechtigkeitsverständnis des bürgerlichen
Staates beruht vor allem auf dem Konzept von „Wiedergutmachung durch
Strafe“. Doch durch Isolation im Knast wird wohl keine tiefgreifende
Besserung im Bewusstsein des Täters einsetzen. Immerhin hat der Staat noch
einen kleinen Anspruch von Resozialisierung der Täter, seine Methoden dazu
erweisen sich aber erstens als unwirksam und zweitens sollen die Täter ja
überhaupt nur wieder zurück in dieselbe Gesellschaft resozialisiert werden, in
der sie erst zu Tätern geworden sind.

Im Übrigen bedeutet unsere Ablehung des Staates
nicht, dass wir nicht Betroffene dabei unterstützen eine Anzeige zu stellen.
Dies hängt damit zusammen, dass wir uns prinzipiell bei der Abwägung zwischen
Bedürfnissen der Betroffenen und Entwicklung des Täters immer für die
Betroffene entscheiden sollten und auch damit, dass wir in frühen Aufbaustadien
wie jetzt manchmal nicht die notwendige Kraft haben, um ohne den Staat alle
Maßnahmen gegen jeden Täter durchzusetzen. Sollte es die Betroffene so wollen,
kann es auch ein sinnvolles Mittel sein, eine politische Kampagne darum
aufzubauen, um genau diese Defizite der bürgerlichen Justiz im Umgang mit
sexueller Gewalt öffentlich zu entlarven und Protest zu organisieren. Dabei
gilt es aufzuzeigen, was unsere gesamtgesellschaftliche Perspektive wäre:
Nämlich Reform des Sexualstrafrechts innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft,
sinnvolle Resozialisierungsmaßnahmen, Veränderung des Gerichtssystems (statt
Trennung Exekutive/Judikative abwählbare und demokratisch kontrollierte
Arbeiter_innentribunale).

Täter klatschen?

Ist emotional sicherlich eine sehr verständliche
Reaktion. Auch würden wir es einer Betroffenen nie verwehren, sich durch ein
paar Schellen ein wenig Handlungsfähigkeit zurückzuholen, falls sie das Gefühl
hat, dass es sie weiterbringt. Als politisches Programm fällt eine Logik von Blutrache
jedoch selbst hinter die bürgerliche Justiz zurück ins Mittelalter. Selbst im
Kapitalismus wird Straftätern ein Anspruch auf Resozialisierung zugestanden und
dass sie sich nach dem Verbüßen einer Strafe ändern können.

Es scheint nahezuliegen, dass gewaltvolle Rache
gegenüber dem Täter ein Versuch ist, Gerechtigkeit zu schaffen. Allerdings muss
auch hier wieder gesagt werden: Dies ist keine gesamtgesellschaftliche
Perspektive, die wir der Arbeiter_innenbewegung als Mittel im Kampf gegen
soziale Unterdrückung vorschlagen. Vielmehr täuscht es nur vor, super radikal
zu sein. Durch die unmittelbare Aktion aus diesen Taten, scheint es so, als ob
man dem gesamtgesellschaftlichen Problem eine greifbare Antwort bietet und sich
klar gegen sexuelle Gewalt positioniert. Allerdings verkennt es gleichzeitig
den strukturellen Charakter dieser Gewalt und drückt sich um die Verantwortung,
die Frage zu stellen, wie die Leute zu einem Wandel in ihrem Bewusstsein
kommen. Denn wenn wir nicht daran glauben, dass sich Leute verändern können,
warum sind wir überhaupt in linken Strukturen organisiert?

Die Gesellschaft, in der wir leben, kann nicht moralisch in gut und böse eingeteilt werden. Das Gute und das Böse sind ideologische Kategorien, die nicht für immer wahr und feststehend sind, sondern Produkte der historischen Entwicklung. Dementsprechend sind auch Menschen nicht genetisch-festgelegt böse und selbst das Ausüben von Gewalt muss nicht zwangsläufig zur unveränderlichen Identität eines Menschen gehören. Genauso wie wir Betroffene sexueller Gewalt nicht individualisieren dürfen, da das Problem strukturelle Ursachen hat, ist auch die sexuelle Gewalt von Männern kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem. Obwohl ein Täter in der konkreten Situation natürlich die Wahl hat, sich gegen seine Tat zu entscheiden, beruht sein ganzes Verhalten und Denken im Kern auf dem, was eine patriarchale Gesellschaft vorlebt, vordenkt und vormacht. Sexuelle Gewalt ist also kein Problem, das von bösen Einzeltätern ausgeht. Dementsprechend bietet es keine Perspektive, falsches Bewusstsein mit Schlägen zu korrigieren. So sollte ja auch keine Gesellschaft aussehen, die wir erkämpfen wollen. Aber was dann?

Transformative Justice als ein Ansatz, den es
weiterzuentwickelt gilt

Das erste Ziel ist auf jeden Fall einigermaßen sicherzustellen, dass keine unmittelbare Gefahr für unsere Genossinnen von dem Täter ausgeht. Der erste Gedanke sollte also stets den Betroffenen und ihrer unmittelbaren Sicherheit gelten. Der zweite Gedanke gilt der Ermöglichung des Wiedereinstieges in die politische Arbeit für die Betroffene. Erst dann, aber dann auch wirklich, sollten wir uns dem Umgang mit dem Täter widmen. Im Prozess muss dabei der Täter zunächst eingestehen und glaubhaft anerkennen, welchen Schaden er verursacht hat und was das für die Betroffene bedeutet. Im Weiteren muss er eine tiefgehende Auseinandersetzung führen mit Fragen wie: Was hat dazu geführt, dass ich Grenzen überschritten habe? Warum habe ich Signale der Betroffenen nicht gesehen oder ignoriert? Welche Abhängigkeiten bestanden zwischen der Betroffenen und mir? Inwiefern habe ich zur Schaffung dieser Abhängigkeiten beigetragen oder habe mich ihrem Abbau gegenüber passiv verhalten? Ich wusste doch was ich für Schaden und Verletzungen anrichten könnte, ich kannte doch Wege und Strategien gegen dieses schädliche und verletzende Verhalten, warum habe ich mich dennoch selbst zum Täter gemacht? Wie kann ich verhindern, dass ich dieses Verhalten in der Zukunft wiederhole? Wie kann ich mein Leben fortführen mit dem Wissen, dass ich eine Tat begangen habe, die nicht wieder gut zumachen ist, wie kann ich mich unter anderen Menschen bewegen ohne die Tat zu verleugnen?

Dabei ist wichtig anzuerkennen, dass zwar der
Täter die volle Verantwortung für seine Tat trägt, dass die Verantwortung aber
auch immer irgendwo von seinem direkten Umfeld
(„Community“/“Szene“/“Gruppe“) mitgetragen wird.
In welcher Umgebung konnten die subtilen Anzeichen von z.B. male supremacy, die
die Tat schon im Vorhinein angekündigt haben, nicht gesehen oder ignoriert
werden? In welcher Umgebung wurden selbst Signale gegeben, dass so gewaltvolles
Verhalten akzeptabel sein könnte,  oder
dass es „nicht schlimm genug“ sei, um zu intervenieren?

Aber wie ein einzelner Täter nicht isoliert von seinem direkten Umfeld betrachtet werden kann, so kann auch eine einzelne Community nicht isoliert von der gesamten kapitalistischen Gesellschaft betrachtet werden. Diesen Schritt geht der transformative-justice-Ansatz häufig leider nicht. Ohne die Überwindung dieses Systems werden wir jedoch niemals die Voraussetzungen und Bedingungen, in denen gewaltvolles Verhalten entsteht, beseitigen können. Gleichzeitig ist jeder Transformationsprozess mit einem Täter extrem energie- und ressourcenaufwendig für das Umfeld, daher im Rahmen einer kleinen Organisation in seiner Vollständigkeit unmöglich umsetzbar. Dennoch bleibt es unserer Meinung nach als einzige Möglichkeit für einen Ansatz zum Umgang mit Tätern, wie er in revolutionäre Politik eingebettet sein kann.


[1]Da für die folgenden Fragen vor sozialisierte gender roles wichtig
sind, wichtiger als z.B. gender identity oder biological sex, wollen wir im
Folgenden die Vokabeln “Frauen” und “Männer” im Sinne von “als weiblich” und
“männlich sozialisierte Personen” benutzen.




Zwischen Entmündigung und Sparzwang: Jugendwohnen in Zeiten der Pandemie

Eine betroffene Genossin berichtet

Im Frühjahr 2017 wurde ich
von dem für mich zuständigen Jugendamt in Obhut genommen. Seitdem lebte ich
drei Jahre lang in einer Einrichtung der Jugendhilfe. Ich entschied mich damals
selbst, in Obhut genommen zu werden, um meinem Elternhaus zu entkommen. Während
ich in diesem Hilfesystem lebte, lernte ich dessen Stärken, aber vor allem auch
dessen Schwächen kennen. Im Grunde soll es Jugendliche dabei unterstützen, in
ihr selbständiges Leben zu starten. Dabei stehen aber leider weniger die
Entwicklung und Bedürfnisse der Jugendlichen im Vordergrund, sondern eher die
Kostenminimierung und die traditionelle Hoheit der Familie. In Zeiten der
Corona- und Wirtschaftskrise verstärkt sich dieser Zustand zunehmend, wie ich
am eigenen Leib spüren musste.

Bereits bevor ich in die Jugendhilfe
aufgenommen worden bin, merkte ich, welchen Stellenwert ich für das Jugendamt
hatte. Erst nachdem zwei voneinander unabhängige Therapeutinnen und zwei
voneinander unabhängige Sozialarbeiterinnen sich mit der Bitte, mich dabei zu
unterstützen, mein Elternhaus zu verlassen, an das Jugendamt wandten und meine
Eltern jegliche Zusammenarbeit verweigerten, wurde ich in Obhut genommen. Aber
selbst dann war alles noch abhängig von der Unterschrift meiner Eltern. Diese
mussten der Hilfe für mich zustimmen und auch einen Teil, gemessen an ihrem
Einkommen, davon bezahlen. Im Endeffekt mussten sie von einem Familiengericht
zur Unterschrift gezwungen werden. Da zeigt sich bereits, dass der_die
Jugendliche kaum als mündiges Individuum betrachtet wird, sondern eher als
Besitztum der Eltern. Auch, dass die Familie als Institution in konservative
Weise immer noch als „Keimzelle der Gesellschaft“ betrachtet wird, behindert
die Unterstützung der Jugendlichen, welche zuhause Gewalt erfahren. Dadurch
bekommen die Eltern über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder die Chance,
meist bei angemeldeten Hausbesuchen, den Schein zu wahren, dass doch alles in
Ordnung sei. Egal von welchen schlimmen Taten der_die Jugendliche berichtet. Im
schlimmsten Fall wird nach harmlosen angemeldeten Hausbesuchen dann die
Intervention des Jugendamtes in der Familie beendet, der Fall zu den Akten
gelegt und die Gewalttaten können wieder ungestört von statten gehen.
Eigentlich alle Jugendlichen, welche ich während meiner Zeit in der Jugendhilfe
kennengelernt habe, haben nicht nur eine, sondern mehrere Gewalttaten über
einen langen Zeitraum hinweg erlebt, auch trotz mehrfacher Interventionen des
Jugendamtes in diesen Familien.

Die Dunkelziffer an Familien,
in denen Jugendliche physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt sind, ist
unglaublich hoch. Hinter der bürgerlichen Fassade der
Friede-Freude-Eierkuchen-Familie tut sich für manche von uns die Hölle auf. Nur
ein kleiner Teil der Betroffenen schafft es daraus zu entkommen. Wenn man dann
das Glück hat, in die Jugendhilfe aufgenommen zu werden, ist man zwar vor dem
Elternhaus weitestgehend geschützt, wird aber stattdessen mit anderen
Schwierigkeiten konfrontiert. Die Einrichtungen der Jugendhilfen unterscheiden
sich sowohl stark vom Konzept als auch vom konkreten Zustand. Sie werden nicht
direkt vom Jugendamt kontrolliert oder unterhalten. Dies wird von sogenannten freien
Trägern übernommen. Diese sind meistens non-profit Organisationen. Diese bekommen
pro Kind oder Jugendliche_r einen Betrag, um dessen Betreuung zu finanzieren.
Davon werden dem_der Jugendlichen auch gewisse Beträge, anhängig vom Alter und
Jugendamt und Träger, als Taschengeld, Hygiene-, Guthaben-, Fahrkarten- und
Bekleidungsgeld ausgezahlt. Hört sich erstmal gut an. Allerdings sind diese
Beträge weniger als ausreichend. Von meinem Fahrkartengeld konnte ich höchstens
einmal in der Woche in die Stadt fahren. Für weitere Fahrten ging dann mein
Taschengeld drauf, welches auch der einzige Betrag ist, über den ich, ohne eine
Abrechnung zu schreiben, verfügen durfte. Alkohol durfte ich davon trotz
Volljährigkeit dennoch nicht kaufen. Über das wenige Geld, was man bekommt,
kann man also nicht einmal frei verfügen. Aber nicht nur bei diesen Geldern wird
gespart, was das Zeug hält: auch die Ausstattung der meisten Einrichtungen ist
sehr heruntergekommen. Bei den wenigsten kann man da von einem Zuhause
sprechen. Jegliche Ausgaben der Wohngruppe, ob Ausstattung oder Ausflüge,
müssen bei dem Träger begründet und genehmigt werden.

Dieser hat auch bei allem anderen die Entscheidungsgewalt.
Er bestimmt, wer einziehen darf, welche Betreuer_Innen angestellt oder
gekündigt werden und welches Konzept in der Wohngruppe angewendet wird. Daraus
resultierte dann einige Male, dass Betreuer_Innen eingestellt oder einfach
nicht entlassen worden sind, nachdem alle Jugendliche sich gegen die
Zusammenarbeit mit diesen ausgesprochen haben. Gründe dafür waren zum Beispiel,
dass der_die Betreuer_In handgreiflich geworden ist oder einfach ständig
anfing, ungefragt über sexuelle Themen zu sprechen. Somit blieb uns
Jugendlichen nichts anderes übrig als zu vermeiden, Zuhause zu sein, wenn
der_die Betreuer_In Dienst hatte.

Sowie der Eintritt ist auch der Austritt aus der Jugendhilfe
mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Viele Jugendliche, welche diese Hilfe in
Anspruch nehmen, haben keine Eltern, die sie finanziell nach der Jugendhilfe
unterstützen könnten. Somit müssen sie mit spätestens 21 Jahren ein geregeltes
Einkommen und ein paar Rücklagen haben, um Dinge wie eine Mietkaution oder eine
Erstausstattung zu finanzieren. Gelder für solche Dinge kann man zwar bei der
wirtschaftlichen Jugendhilfe beantragen, aber auch diese Beträge reichen nicht
aus. Selbst Geld anzusparen ist auch für Jugendliche mit einem Einkommen durch
eine Beschäftigung nicht möglich. Jugendliche, welche in der Jugendhilfe
landen, tragen meistens so krasse Lebensgeschichten mit sich rum, dass ein
reibungsloser Bildungsweg oder dem Nachkommen einer geregelten Tätigkeit nicht
möglich sind. Selbst wenn man arbeiten geht, ist man verpflichtet, ab einem
Freibetrag, welcher unter 200 Euro liegt und in das Taschengeld mit
eingerechnet wird, 75% deines Einkommens an das Jugendamt zu zahlen. Diese
Pflicht wird damit begründet, dass die Kosten für die eigene Betreuung ja sehr
hoch seien und auch irgendwie finanziert werden müssen. Du musst am Ende also
dafür bezahlen, was deine Eltern angerichtet haben und musst dir so die Chance
auf ein kleines finanzielles Puffer trotz harter Arbeit nehmen lassen. Dies
führte bei den Jugendlichen, welche ich kennengelernt habe, entweder dazu, dass
sie erst gar nicht arbeiten gegangen sind oder angefangen haben, Gelder zu
hinterziehen. Jugendliche aus prekären Lagen werden durch die Hilfen also
weiter prekarisiert.

Durch die momentane Corona- und Wirtschaftskrise hat sich
die Situation der Jugendlichen weiter verschärft. Sie dürfen keine Kontakte
außerhalb der Wohngruppe mehr haben und müssen so ihre gesamte Zeit in der
Wohngruppe mit Betreuer_Innen verbringen. Dies ist eine hohe psychische
Belastung. Für viele sind ihre Wohngruppen kein Zuhause, sondern hauptsächlich
der Ort, an dem sie schlafen und essen. Ihre Freizeit verbringen sie
hauptsächlich mit vertrauten Personen aus ihren Freundeskreisen, welche sie in
der schweren Zeit in der Jugendhilfe begleiten. Zudem gibt es in den meisten
Wohngruppen kaum Beschäftigungsmöglichkeiten. Auch unter den Einschränkungen,
die ihrer Betreuer_Innen erfahren, leiden die Jugendlichen. Diese dürfen selbst
keine sozialen Kontakte außerhalb der Wohngruppe pflegen und haben aufgrund der
Corona Auflagen viel mehr zu tun bei gleichbleibendem Gehalt. Hinzu kommt noch
das ohnehin schon erhöhte Arbeitsaufkommen durch Ausfall von Kolleg_Innen aus
Risikogruppen. Durch diese hohe Arbeitsbelastung ist viel weniger Zeit, um sich
mit den Jugendlichen auseinanderzusetzen und der Stress steigert sich täglich.
Dies bekommen am Ende die Jugendlichen dadurch zu spüren, dass ihre Betreuer_Innen
so viel mit sich zu tun haben, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die
Jugendlichen angemessen zu betreuen. So kam es in den letzten Monaten meines
Aufenthaltes dort zu massiven Auseinandersetzungen und der Tatsache, dass ich
meinen Auszug allein planen musste. 

Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass die bestehenden
Betreuungskonzepte bei Weitem nicht ausreicht, um Jugendlichen die
Unterstützung zu bieten, welche sie brauchen und verdienen. Es müssen viel mehr
Mittel für die Zukunft dieser Menschen zur Verfügung gestellt werden, damit sie
die Chance haben, sich ein eigenständiges Leben unabhängig von ihren Eltern
aufzubauen und die Benachteiligung aufgrund ihrer Familiengeschichte überwinden
können. Statt dem Trägersystem braucht es gut finanzierte staatliche
Einrichtungen unter vollster demokratischer Kontrolle durch die betroffenen
Jugendlichen, Pädagog_Innen und Organisationen der Arbeiter_Innenklasse. Diese
Rätestrukturen müssen auch das repressive Jugendamt ersetzen, dessen Aufgabe es
ist, die Erziehungs- und Rechtsvorstellungen eines patriarchalen
kapitalistischen Nationalstaates Namens Deutschland durchzusetzen, ob für oder
gegen den Willen der Kinder und Jugendlichen. Wir fordern stattdessen vollste
Mitspracherechte für uns darüber, wo wir mit wem wie wohnen wollen. Außerdem
müssen die Hierarchien durchbrochen werden. Jugendliche sind mündige Menschen, die
selber am besten einschätzen können, ob sie mit ihrer Familie zusammenleben
oder mit welcher_m Betreuer_In sie zusammenarbeiten können. Zudem müssen
Familien antastbar sein, damit sie keinen Schutzraum für Gewalttaten
darstellen. Jugendliche sind nicht der Besitz ihrer Eltern, sondern
eigenständige Menschen!

  • Frühere rechtliche
    Gleichstellung von Jugendlichen, angepasst an die Situation der jeweiligen
    Länder!
  • Für das Recht auf gegenständliches
    Eigentum und die eigenständige Verfügung darüber für Jugendliche!
  • Für den Ausbau von
    Schutzräumen für Kinder und Jugendliche! Niemand soll bei seiner Familie
    bleiben müssen, wer das nicht möchte!
  • Für selbstverwaltete
    Freiräume für Jugendliche, den massiven Ausbau von unabhängigen  Jugendzentren und kostenloser Zugang zu einem
    ausgebauten Freizeit- und Kulturangebot für Jugendliche bezahlt durch die
    Besteuerung der Reichen!
  • Für ein bedingungsloses
    Mindesteinkommen für Jugendliche, das uns ein unabhängigeres Leben ermöglicht.
    Bezahlt durch die höhere Besteuerung der Reichen!
  • Massives staatliches
    Investitionsprogramm in Jugendbetreuung, Soziale Arbeit und Bildung! Bezahlt
    durch die Bestreuerung des Kapitals und kontrolliert durch die
    Arbeiter_Innenbewegung!



Was der Bundesligastart über den Zustand des Profifußballs aussagt:

Marcel Möbius

Seit dem 15. Mai wird in der 1. und 2. Bundesliga wieder
Fußball gespielt. Seit dem 30. Mai auch in der 3. Liga. Das Alles ohne
Zuschauer, als sogenannte „Geisterspiele“ und unter Einhaltung strenger
Hygieneregeln. Damit nimmt die Deutsche Fußball-Liga (DFL) im internationalen
Vergleich eine Vorreiterrolle ein. Nachdem dies sich als wirtschaftlich
lukrativ herausgestellt hat, werden andere große europäische Ligen diesem
Beispiel folgen. So wird in Spanien beispielsweise am 11. Juni der Spielbetrieb
fortgesetzt. Um dies möglich zu machen, werden extra regelmäßige Tests auf das
Coronavirus bei SpielerInnen und BetreuerInnen durchgeführt und diese in
Quarantäne gesetzt, wenn nötig. Dies ist besonders international ein Hohn, wenn
man betrachtet, dass in Italien und Spanien nicht einmal genügend Tests
existieren, um die Zivilbevölkerung zu versorgen. Allerdings sollen für den
Profisport hier massiv die Ressourcen locker gemacht werden. Dafür riskiert man
eine fortschreitende Verschlechterung der Versorgung der Zivilbevölkerung und
die Leben der ArbeiterInnenklasse. Dies alles tut man nur um den sportlichen
Wettbewerb aufrechtzuerhalten? – Wohl kaum! Man muss sich vor Augen führen,
dass der Profifußball ein riesiger Markt geworden ist, in dem es um hunderte
Millionen Euro geht. Es ist eine Unterhaltungsindustrie, die sich durch
Fernsehgelder, Werbekampagnen, Eintrittspreise und Merchandise finanziert.

Besonders deutlich wird die Entfremdung des Profifußballs
vom ursprünglichen Gedanken des Sport, wenn man betrachtet, dass der gesamte
Amateurfußball unverzüglich eingestellt wurde. Dies ist wiederum
nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die meisten Amateursportvereine sich
ohnehin finanziell in miserablen Situationen befinden. Kaum ein Verein
generiert Überschüsse, die den Zwecken der Erhaltung der eigenen Infrastruktur
genügen. Zumeist ist man auf die finanzielle Unterstützung von Kleinunternehmen
angewiesen, für die der Verein zur Werbefläche wird. So zeigt sich, dass auch
bei Amateurvereinen die gleichen Mechanismen gelten wie im Profibereich.
Lediglich die Summen und die Größen von Vereinen und Unternehmen variieren.

Noch mehr verdeutlicht sich die Entfremdung des
Profifußballs vom Grundgedanken des Sports, wenn man betrachtet, welche
Transfersummen und Gehälter im Profifußball fließen. Nicht selten werden hier
Millionen als Jahresgehalt für Vollzeitsportler gezahlt. Das echt absurd, wenn
man es in Relation zu durchschnittlichen ArbeiterInnenlöhnen setzt – schon
allein im Vergleich, wenn man sieht, dass die Spieler vieler Vereine auf ihre
Gehälter ganz oder teilweise verzichtet haben, um die Lohnzahlungen der ArbeiterInnen
des Vereins zu sichern. Was wie eine große Geste wirkt, ist doch eher ein Akt
der Selbsterhaltung für die kapitalistische Maschinerie der Fußballindustrie.

Darüber hinaus hat die ökonomische Betrachtung des
Profifußballs auch einen sexistischen Aspekt, da im Frauenfußball die Gehälter
und auch die gesamte Marketingindustrie drum herum um ein vielfaches kleiner
sind, sodass es Vollprofifußballerinnen in Deutschland kaum gibt. Die Gehälter
reichen nicht aus, um den Lebensunterhalt zu sichern. Daher müssen die Frauen
neben dem zeitlich und körperlich ebenbürtigen Aufwand zum Männerfußball auch
noch Lohnarbeit oder einem Studium nachgehen.

Dabei ist es doch nicht die gesamte Industrie und das
Marketing, weshalb die meisten Menschen den Fußball mit Leidenschaft verfolgen
– aktiv im Amateurbereich, als aktive Fans im Stadion oder auch als stille
BeobachterInnen zu Hause. Fußball ist der beliebteste Sport der
ArbeiterInnenklasse in Deutschland, doch er hat sein Gesicht verändert – er
wurde bis zur Unkenntlichkeit von der Kommerzialisierung und der Vermarktung
aus Profitinteressen verdreht. Diese haben dazu geführt, dass sich allen voran
die Fußballverbände und FunktionärInnen daran bereichert haben. So ist es  auch kein Wunder, dass die Korruption
floriert. Dies sind Effekte, die sowohl in Europa, in der UEFA, wie auch im
Weltfußballverband FIFA, beobachtet werden können. Man sieht, dass auch die
50+1-Regel, die verbietet, dass ein Investor eine Entscheidungsmehrheit im
Verein erhält, den Ausverkauf der Vereine nicht aufhalten kann. Dabei ist es
nur eine Frage der Zeit, bis man in der Konkurrenz mit anderen Ligen, wo ganze
Klubs großen Sponsoren gehören, mit diesem Grundsatz bricht und Martin Kind,
Dietmar Hopp, Red Bull, Volkswagen, Bayer und anderen auch ganz offiziell den
Besitz an ihren Promoklubs überlässt.

Warum also begeistern sich trotz all dieser Probleme so
viele Menschen und besonders ArbeiterInnen und Jugendliche für diesen Sport?
Für Fans ist besonders der Zusammenhalt wichtig, dass der Fußball ein soziales
Event ist, welches Menschen verbindet. Gerade für Jugendliche, die durch den
allgemeinen Leistungsdruck und die Abhängigkeit durch das Konzept der
bürgerlichen Familie, unterdrückt werden, hat dieser soziale Aspekt des Sports
eine besondere Bedeutung. Hier bilden sich Fanszenen, die man durchaus wie
Subkulturen betrachten kann. Jeder ist gleich, wenn er in der Kurve das gleiche
Team anfeuert. Dabei können Menschen ganz verschiedener Charaktere, Ideologien
oder politischer Orientierungen zusammengebracht werden, auch wenn Fans sehr
politisch werden können, indem sich zB. jetzt die Fans der eigentlich
verfeindeten Vereine São Paulos im Kampf
gegen die Angriffe Bolsonaros zusammenschließen. Doch
abseits
davon geht um Emotionen: Euphorie bis zur Ekstase, Trauer und auch Wut – all
das leben Menschen im Stadion und auch auf kleineren Fußballplätzen aus, wenn
der sonst so triste Alltag aus Arbeit, Schule oder Uni eine Auszeit bekommt.
Probleme des Alltags können vergessen werden, wodurch diese Form der Unterhaltungsindustrie
besonders betrachtet werden muss, da es nicht nur um Unterhaltung wie im Film
geht, sondern darum, dabei zu sein und teilnehmen zu können – zumindest
gefühlt.

Im Block werden Menschen klassenübergreifend zusammengeführt
– so war es zumindest einmal. Die Kommerzialisierung drängt die
ArbeiterInnenklasse aus den Stadien – Leidenschaft, die mit Fangesängen voller
Kraft und Entschlossenheit, gelegentlich auch mit Pyrotechnik ausgelebt wird,
wird kriminalisiert und ist heute nicht mehr erwünscht. Ticketpreise steigen,
Stehplätze verschwinden und damit verschwindet auch die Leidenschaft und die
ArbeiterInnenklasse aus den Stadien. Dies verdeutlicht sich auch, wenn man
betrachtet, dass große Teile der Tickets an Sponsoren gegeben werden. Die Ultras,
die für die von allen so geliebte Stimmung im Stadion sorgen, werden von den
Medien kriminalisiert und diskreditiert. Dabei sind sie diejenigen, die allen
voran ihr Leben für ihren Verein aufopfern, oftmals auf eigene Kasse.

Die Gründe für diese Entwicklung sind ökonomisch begründet.
Wo Menschen in Massen Interessen entwickeln oder praktisch immer, wenn
irgendwas cooles im Kapitalismus entsteht, greifen Marktmechanismen und fangen
an, die Profite maximieren zu wollen und den Spaß zur Ware zu machen – so werden
Merchandise, Werbung und Pay-TV-Übertragungen auf die Plätze gebracht. Teilhabe
für Menschen der ArbeiterInnenklasse erschwert, da ein soziales Ereignis zu
einem finanziellen Problem wird. Ähnlich sehen wir diesen Effekt auch bei der
Kommerzialisierung von Musik, Kunst, Festivals, der Filmindustrie und
Ähnlichem.

Hiermit zeigt sich deutlich, aus welchen Gründen wirklich
der Profispielbetrieb nun fortgesetzt wird und dass dies nichts mit sportlichen
Interessen zu tun hat. Der Profifußball wird also nur aus Profitinteressen
fortgesetzt und damit die Gesundheit von SpielerInnen, BetreuerInnen und aller
ArbeiterInnen im Umfeld der Vereine riskiert.

Es gilt nun dafür einzutreten, dass Profisportler_Innen
durchschnittliche Arbeiter_Innenlöhne bekommen, Pyrotechnik legalisiert wird
und Ticketpreise reduziert werden, um die Teilhabe der ArbeiterInnenklasse an
sportlichen Ereignissen sicherzustellen.

Aus diesem Grund müssen wir nun gemeinsam als ArbeiterInnen
den Kampf gegen die Kommerzialisierung des Profifußballs und für den Schutz der
Gesundheit aller Beteiligten aufnehmen. Hierzu braucht es Streiks aller
ArbeiterInnen, die für Fußballvereine arbeiten, gemeinsam mit den SpielerInnen.
Dieser Kampf muss gemeinsam mit den Fans geführt werden. Die aktuellen Sportverbände
müssen zerschlagen und ihre Vermögen enteignet werden. Der Profisport muss
unter demokratische Kontrolle der Beteiligten gestellt werden – gemeinsam in
Räten von Sportler_Innen, Fans und anderen UnterstützerInnen.




Was bedeutet die Corona-Krise für Menschen mit Behinderung*?

Die Corona-Pandemie hat Einfluss auf
alle Bereiche unseres Lebens. Oft werden dabei aber Menschen mit Behinderung*,
welche schon in „normalen Zeiten“ Opfer von Diskriminierung, Entmündigung und Ausbeutung
werden, völlig außen vorgelassen. Um auf die unsichtbar gemachte
Lebenssituation dieser Menschen hinzuweisen, haben wir einen Genossen unserer
Organisation interviewt, der momentan in einem Wohnheim lebt und in der
Altenpflege arbeitet.

Zunächst wollen wir aber noch
darauf hinweisen, dass wir den Begriff „Behinderung“ nicht als medizinische
Kategorie verstehen, wie es die in kapitalistischen Gesellschaften geläufige
Begriffsverwendung ist. Wenn ihr wissen wollt, was es mit dem Sternchen * auf
sich hat, schaut doch mal in diesen Artikel: https://onesolutionrevolution.de/es-sind-nicht-wir-die-die-behindert-sind-sondern-der-kapitalismus-der-uns-behindert/.

In vielen Wohnheimen für Menschen
mit Behinderung* gibt es seit Beginn der Pandemie Ausgangs- und Kontaktverbote.
Da unser Genosse innerhalb des Komplexes eine eigene Wohnung hat, darf er zwar
das Gelände verlassen, jedoch keinen Besuch empfangen, auch nicht von der engen
Familie oder einer Person. Er lebt dort mit anderen betreuten Wohngruppen
zusammen, welchen es untersagt ist, das Gelände zu verlassen, weder zum
Spazieren, zum Einkaufen oder mit Betreuung. Dies sorgt dafür, dass die
Menschen völlig aus der Normalität gerissen werden und keinerlei Autonomität
mehr haben. Sie haben nicht die Möglichkeit, Dinge außerhalb des Grundbedarfs
zu erhalten, können kaum Kontakt zu nahstehenden Personen halten oder Hobbys
bzw. ihren Berufen nachgehen. Damit einhergehend sind sie also dauerhaft den
Betreuer_Innen und dem beengten Raum der Wohngruppe ausgesetzt und Aussicht auf
Lockerung besteht dabei bislang nicht.

Wie bereits erwähnt arbeitet
unser Genosse in der Altenpflege und ist auch dort großem Stress ausgesetzt.
Gerade in Altersheimen ist die Pandemie eine große Gefahr und dies führt
natürlich im Zusammenspiel mit den massiven personellen Notständen und den
Maßnahmen gegen die Verbreitung der Pandemie zu einer zusätzlichen Belastung,
welche aber mehr als ungerecht entlohnt wird. Wir sind uns alle bewusst, dass
der Carearbeitssektor mehr als unterbezahlt ist. Menschen mit Behinderung* sind
davon allerdings sogar noch viel stärker Betroffen. Sie leisten ähnliche
Arbeit, wie die anderen Kräfte und haben die gleichen miserablen
Arbeitsbedingungen, sowie ungeregelte Pausen und die gleiche 36-Stunden-Woche
und erhalten dafür nur ca. 300 Euro monatlich. Ebenso werden sie massiv
ausgebeutet und eine bevorstehende Ausbildung immer weiter herausgezögert oder
mit fadenscheinigen Ausreden abgelehnt. Vielen wird aufgrund ihrer Behinderung*
der Anspruch auf einen Mindestlohn verwehrt. Ähnliche wie Geflüchtete oder
Jugendliche scheinen sie in den Augen des Staates nicht als „vollwertige
Menschen“ zu zählen, denen ein Anspruch auf ein überlebensnotwendiges Minimum
an Gehalt zukommen würde.

Erschwerend kommt noch die
Diskriminierung von Kolleg_Innen und Arbeitgeber_Innen hinzu. Unser Genosse
berichtete, dass er an seiner alten Arbeitsstelle nicht ernst genommen wurde,
seine Arbeit nicht wertgeschätzt oder heruntergespielt wurde, sich des Öfteren
über ihn lustig gemacht und die „Drecksarbeit“ an ihm hängen blieb, weil ihm
nicht zugetraut wurde, mehr zu schaffen.

Damit schlagen Arbeitgeber_Innen
aus der diskriminierenden Behandlung von Menschen mit Behinderung* gleich
doppelt Profit. Zum einen werden Menschen mit Behinderung* zu Hungerlöhnen zum
Arbeiten verpflichtet und können damit noch billiger ausgebeutet werden als
Menschen ohne Behinderung*. Zum anderen kommen Arbeitgeber_Innen der
Verpflichtung nach, Menschen mit Behinderung* anzustellen und entgehen so evtl.
Strafzahlungen und können teilweise sogar Fördergelder dafür einstreichen. Denn
ab einer Betriebsgröße von mind. 20 Angestellten sind Arbeitgeber_Innen verpflichtet
ca. 5 % Mernschen mit sogenannter „schwerer Behinderung*“ einzustellen.

Unter all diesen Gesichtspunkten
ist es nun wichtig, sich den Gesetzesentwurf für das geplante „Reha-und
Intensivpflegestärkungsgesetz“ anzusehen, in welchem Jens Spahn aktuell versucht,
die häusliche Krankenpflege massiv zu beschneiden. Diese ermöglicht es,
pflegebedürftigen Menschen und vor allem Menschen mit Behinderung*, welche auf
Dauerbeatmung angewiesen sind, ambulant und damit in ihrem gewählten Zuhause zu
leben. Mit Spahns Entwurf soll jedoch nun die stationäre Unterbringung in
speziellen Einrichtungen für alle „Versicherten mit einem besonders hohen
Bedarf an medizinischer Behandlungspflege“ zur Pflicht werden. Ausgenommen
davon sind nur Kinder, Jugendliche und Menschen für die das Leben in einer
solchen Unterbringung unmöglich oder unzumutbar wäre. Darüber entscheiden
sollen willkürliche Sacharbeiter_Innen. Offensichtlich hierbei ist, dass das
Ziel dieses Gesetztes nicht die Qualitätsversorgung ist, sondern dass es um
eine Senkung der Kosten geht. Das Ganze ist jedoch nicht nur diskriminierend, es
entmündigt die Menschen auch massiv und nimmt jegliche Selbstbestimmung und
damit auch ein großes Stück Lebensqualität. Darüber hinaus verdrängt die
Isolierung von Menschen mit Behinderung* aus der Öffentlichkeit in die Heime
diese völlig aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung.

Das ist ein harter Schlag ins
Gesicht für die Behinderten*bewegung und alle, die gegen die Diskriminierung,
für gleiche Rechte für Menschen mit und ohne Behinderung** kämpfen. Dass solche
Vorschläge von der konservativen CDU vorgebracht werden ist dabei nicht
verwunderlich. Wer konsequent die Ansicht vertritt, dass individuelle Leistung
die Stellung in der Gesellschaft maßgeblich bestimmt, gewährt Menschen mit
eingeschränkter Leistungsfähigkeit auch weniger Persönlichkeitsrechte,
degradiert sie so ganz bewusst zu Menschen zweiter Klasse.

Der Sparzwang geht nicht nur in
der Pflege von Menschen mit Behinderung*, sondern im gesamten Sorge,- und
Gesundheitssektor um. Er ist Grund für die Unterfinanzierung der Einrichtungen,
die miserablen Betreuungsschlüssel in der Pflege und die oft hinfälligen
hygienischen Zustände in Krankenhäusern, Heimen, oder auch betreuten Wohngemeinschaften.
Dagegen zu kämpfen hilft uns allen, ob Pflegebedürftig, Pflegend, oder Voll in
der Pflege beschäftigt, von einem menschenwürdigen Gesundheits,- und
Pflegesystem zu profitieren.

Deswegen ist es wichtig sich mit
Menschen mit Behinderung* zu solidarisieren und dagegen zu protestieren und
darum fordern wir:

  • Die konsequente
    Ausfinanzierung der Pflege, sowohl in Einrichtungen als auch in der Heimpflege,
    für den massiven Aus,- und Neubau von Pflegekapazitäten!
  • Mehr Raum für Menschen mit Behinderung*,
    damit es möglich ist, sich frei innerhalb von Einrichtungen zu bewegen und dass
    Platz ist, um infizierte Personen unabhängig von anderen Bewohnern in
    Quarantäne zu stellen!
  • Benachteiligung aufheben,
    statt Menschen weiter zu Entmündigen, egal ob beruflich oder im sozialen Leben!
  • Das Recht und die
    Möglichkeit frei zu wählen, ob man zu Hause lebt oder in einer Einrichtung, die
    man selbst wählt!
  • Die Verstaatlichung von
    Wohnheimen und Pflegeeinrichtungen unter Kontrolle der Beschäftigten und
    Bewohner_Innen! Die Betroffenen selbst sollen entscheiden, wie ein gutes Leben
    mit professioneller Pflegeunterstützung aussieht und nicht die kapitalistische
    Profitlogik!
  • Gleiches Geld für gleiche Arbeit!



Fulda: Rechtsruck in der BI L14 nach Telefonat mit Investor

Diese Woche Dienstag gab es ein Telefonat zwischen dem Investor Burg und einem Mitglied der Bürgerinitiative (BI) L14. Burg beteuerte dass er sich darüber freue, wie freundlich die BI bisher war und wie verhandlungsbereit sie sich gezeigt hat. Er verstehe gar nicht, wieso wir jetzt überhaupt eine Demo organisieren. Außerdem seinen ihm Facebook-Posts übel aufgestoßen, gemeint waren natürlich unsere.

Daraufhin hat die BI einen scharfen Rechtsschwenk vollzogen. Man störte sich plötzlich an unseren Parolenvorschlägen, wie z.B. „Für kulturelle Vielfalt brauchen wir ne Räumlichkeit!“ oder „Hoch mit den Löhnen, runter mit der Miete!“. Ob es überhaupt noch eine Demo geben soll, stand plötzlich auf der Kippe. Es wurden Rufe laut, die BI sei nicht politisch, sie führe keinen Kampf, sondern habe ein Miteinander mit der Stadt und den Investoren. Wir wurden, weil wir eine politische Jugendorganisation sind, rausgeschmissen.

Die Spannungen begannen auf einem Bündnistreffen vor 1,5 Wochen damit, dass Revolution in Eigeninitiative Sticker gedruckt und verklebt hat, um für die Panama-Bleibt-Demo am Wochenende zu mobilisieren. Das ging eine Mehrheit der BI unverständlicherweise total gegen den Strich. Einzelpersonen der BI haben daraufhin angefangen unsere Sticker zu entfernen, was auch offen beim letzten Treffen zugegeben wurde: „Ich hab abgerissen was ging!“ Sicherlich wäre es besser gewesen, die Aktion vorher anzukündigen. Zumindest aber sollten die Sticker von den Mitgliedern der BI nicht wieder abgerissen und damit die Mobilisierung für die Demo sabotiert werden! Das wurde damit begründet, dass die illegal in der Stadt verklebten Sticker ein schlechtes Licht auf die BI werfen würden („Zitat: Wenn das der Oberbürgermeister sieht!“). L14-Sticker kleben allerdings seit Jahren in der Stadt. Gleichzeitig war die BI bis zum letzten Treffen nicht in der Lage eigenes Material zu erstellen.

Die Spaltung des Bündnisses schwächt den Widerstand gegen die Bedrohung des Panamas und wird die Stadt und die Investoren Burg und Geisendörfer bestimmt freuen. Die Bürgerinitiative biedert sich ihnen an und lässt sich mit lauwarmen Aussagen abspeisen. Offensichtlich ist, dass die BI mit den Versprechen von einer fristlosen Verlängerung der Mietverträge mit dreimonatiger Kündigungsfrist handzahm und ruhig gemacht werden soll. Haben die Investoren ihre Pläne für das Gelände jedoch erst mal gemacht, werden die Verträge einfach gekündigt. Dann können nach drei Monaten die Abrisskräne anrücken. Wir müssen deshalb eine große, entschlossene Bewegung und viel öffentlicher Druck aufbauen, um unseren Forderungen Gewicht zu verleihen, denn was haben wir sonst in der Hand?

Klar teilt wahrscheinlich keine Mehrheit aus der BI unsere Positionen, das ist auch vollkommen in Ordnung. Trotzdem sollte es an vorderster Stelle stehen, gemeinsam für den kleinsten gemeinsamen Nenner, den Erhalt des Panamas, einzutreten! Aber anscheinend wird von der kulturellen Vielfalt nur geredet und am Ende doch unliebsame Gruppen rausgeschmissen.

Wegen der Sticker haben wir Fehler eingeräumt, bei den Parolenvorschlägen und der geplanten Rede unsererseits haben wir uns kompromissbereit gezeigt. Wir sind schockiert und enttäuscht, dass wir die Abstimmung verloren haben, ohne das überhaupt irgendjemand für uns gestimmt hat. Die überwiegenden Enthaltungen waren ein bewusstes Hinnehmen des Rauswurfs.

Trotzdem werden wir uns an der Demonstration/ Parade beteiligen und einen kämpferischen und politisch ausdrucksstarken Jugendblock machen; Parolen und Schilder inklusive. Außerdem fordern wir die BI auf ihre Entscheidung zu überdenken und zurück zu nehmen und die einzige am Bündnis beteiligte Jugendgruppe wieder aufzunehmen.

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Schämt euch, ihr (geistigen) Brandstifter_Innen!

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Verfassungsschutz gegen Jugend gegen Rassismus Sachsen – Verfassungsschutz ruft zum Boykott antirassistischer Aktionen auf und verschickt Hetzbriefe an sächsische Schulen


Mit diesem Fax versucht der sächsische Verfassungsschutz Jugendliche weiter in die Arme
ihrer braunen Geldempfänger_Innen zu treiben:

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Während Häuser brennen, Menschen pogromartig durch die Straßen gehetzt werden wie in Bautzen, ganze Stadtviertel mit Terror überzogen werden und antirassistische Aktivist_Innen auf offener Straße niedergestochen werden, fällt dem sächsischen Verfassungsschutz nichts besseres ein, als diejenigen zu kriminalisieren und öffentlich zu brandmarken, die sich gegen die rassistischen und faschistischen Gewalttaten und Massenmobilisierungen zu organisieren versuchen um dagegen Widerstand zu leisten!So gibt der Verfassungsschutzbericht für Sachsen 2015 bekannt, dass sie PEgIdA und die AfD nicht überwachen müssen, weil sie keine “extremistischen” Bestrebungen feststellen konnten. Die Realität zeigt, dass Pegida und auch die AfD in Sachsen und Thüringen regelmäßige Massendemonstrationen organisiert hat, von denen fast jedes Mal Gewalt ausging. Ständige Angriffe auf Journalist_Innen, der Großangriff auf Connewitz am 11.01.16 sind nur zwei Beispiele für das Gefahrenpotenzial dieser Bewegungen. Teilweise werden diese Bündnisse sogar von Faschisten angeführt. So sitzen Bekannte Nazikader wie Enrico Böhm (NPD) oder Marcus Johnke (Legida) in den Orga-Kreisen der Demonstrationen. NPD, Die Rechte und der III. Weg, sowie einige rechtsradikale Hooligan-Vereinigungen stellen die ersten Reihen bei den Gida-Demonstrationen in Sachsen und Thüringen. Die AfD forderte währenddessen den Schießbefehl gegen Geflüchtete an den Grenzen und beflügelte die braune Pest in ihrem Tatendrang Andersdenkende offen anzugreifen! Ein weiteres Zeichen dafür, dass wir uns im Kampf gegen die neue Qualität der rassistischen Bewegung nicht auf den Staat verlassen dürfen.

Auf der anderen Seite stehen einige wenige Jugendliche, die sich zusammengeschlossen haben, um genau dagegen etwas zu unternehmen. Jugendliche die gemeinsam mit Geflüchteten kämpfen, um mit klaren Forderungen ihre Lebenssituation zu verbessern und entschiedene Gegenwehr zu organisieren. “Jugend gegen Rassismus” ist ein Bündnis aus Schüler_Innen und unabhängigen Jugendorganisationen, die begriffen haben, dass Forderungen wie das Recht auf freie Wohnungswahl für Geflüchtete, die Abschaffung der Residenzpflicht oder die Aufnahme der Geflüchteten in Gewerkschaften mit der Organisierung der Jugendlichen und Arbeiter_Innen im Betrieb, der Uni und vor allem in der Schule miteinander verbunden werden müssen. Dafür hat das Bündnis “Jugend Gegen Rassismus” Ende Mai verkündet, dass es am 29. September einen weiteren bundesweiten Aktionstag gegen Rassismus geben wird. Mit Streiks, Demonstrationen, Kundgebungen, Soli-Aktionen und Veranstaltungen haben wir versucht Jugendlichen eine Kampfperspektive gegen die rassistische Welle, dort wo sie sich tagtäglich bewegen, zu geben. Deshalb wurde öffentlich angekündigt dafür an den Schulen aktiv zu werben.

Dies ist dem Verfassungsschutz in Sachsen sauer aufgestoßen und so verfasste dieser besagtes Fax, welches über die sächsische Bildungszentrale an nahezu alle Leipziger und Dresdner Schulen geschickt wurde. Die Reaktionen fielen dann auch ähnlich aus. JgR- Aktivist_Innen wurden von Lehrkräften beiseite genommen und “verhört”, Tadel und Schulverweise wurden teilweise allein für die Entgegennahme eines Flyers angedroht und an mehreren Schulen fanden Sonderkurse zum Thema “Linksextremismus” statt. JgR-Kontakte an manchen Schulen berichteten dass es selten Infoveranstaltungen zu Rassismus gegeben hat, sich die zentrale Bildungsstelle aber massiv für den Kampf gegen die ´fiesen´ Linksextremisten eingesetzt habe. Auch in Dresden wurde die Hetzpropaganda des sächsischen Verfassungsschutz an Schulen geschickt

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An diesem Beispiel sehen wir deutlich, dass der Staat kein Interesse am Kampf gegen Rechts hat. Vielmehr profitiert der Staat vom Rassismus, also der Spaltung unserer Klasse in Staatsbürger_Innen und entrechtete nicht – Staatsbürger_Innen, wobei antirassistische und antikapitalistische Losungen dazu dienen, diese vom Staat geschaffenen Trennlinien zu überwinden und damit den Weg in eine neue – eine bessere – Gesellschaft zu ebnen. Für uns ist dies nur durch den bewussten Bruch mit der nationalstaatlichen Spaltung möglich. Dem stellen wir unsere internationale Solidarität und die Forderung nach vollen Staatsbürger_Innenrechten für alle entgegen!

Dies versteht der Staat als Widerspruch zur sogenannten “Freiheitlich demokratischen Grundordnung”, während Hitler-Grüße und Hetzjagden auf Geflüchtete vom VS heruntergespielt werden, um den Widerstand gegen die faschistische Bedrohung zu verunglimpfen und als verfassungsfeindlich darstellen zu können. Wir und auch die Genoss_Innen von Jugend gegen Rassismus Sachsen werden uns von dieser braunen Schmierkampagne nicht abhalten lassen gegen Rassismus auf die Straße zu gehen. Das zu tun ist es was im Angesicht der dauernden Gefahrenlage die Pflicht aller fortschrittlichen und linken Kräfte ist. Den Kampf gegen jede Form von Chauvinismus in jeden Winkel der Gesellschaft zu tragen!

Wir werden auch weiterhin an Schulen und Universitäten Für den Kampf gegen diese braune Suppe werben!

Daher lauten unsere Forderungen:
– Zerschlagt den Verfassungsschutz und alle Geheimdienste!
– Schluss mit der Isolation der Bewegung! Für eine Solidarisierung mit den Geflüchteten und einen gemeinsamen Kampf aller Jugendlichen, Gewerkschaften, radikaler Linker, antirassistischer Arbeiter_innen, der LINKEN und SPD.
– Leistet Widerstand! Bildet antirassistische Aktionskomitees an der Schule, dem Betrieb, im eigenen Viertel oder Dorf, die auch Informationen über Naziaktivitäten sammeln, um im Falle von
Naziangriffen oder Abschiebungen nicht allein zu sein – Nur so können wir konsequenten Widerstand gegen die täglichen rassistischen Angriffe leisten
– Kämpft gegen die 80 Cent Jobs für Geflüchtete – Für den gemeinsamen Kampf um einen flächendeckenden Mindestlohn! Für die Rücknahme aller rassistischen Asylgesetze, wie dem Integrationsgesetz!

Kampf dem Rassismus, bedeutet Kampf dem Staat – wir dürfen uns nicht spalten lassen! Wenn du in Sachsen lebst, etwas gegen die Scheiße hier unternehmen willst, dir aber die Leute oder der Plan dafür fehlen, dann schreib uns an! Wir sind in Leipzig und Dresden vertreten und dort finden wöchentlich offene Treffen statt. Auch in anderen Orten Sachsens sind wir um den Aufbau antirassistischer Strukturen bemüht, also melde dich. Du bist nicht allein!

Ein Artikel von Revolution Leipzig.




Fulda: Rede bei Jugend gegen Rassismus

Liebe Aktivistinnen und Aktivisten,
ich bin Ole von der unabhängigen Jugendorganisation REVOLUTION.

Der heutige Tag ist ein Erfolg für alle Antirassistinnen und Antirassisten, da es der erste Schritt ist, der rechte Massenbewegung eine klare, antikapitalistische Perspektive entgegenzusetzen. Ich möchte hier nicht noch einmal über das schockierende Ausmaß der rechte Welle eingehen, die über weite Teile des Kontinentes hereingebrochen ist und weswegen wir uns hier versammelt haben. Ich möchte den Fokus auf die Ursache und die Funktion des Rassismus in der kapitalistischen Gesellschaft richten.

In der Ideologie der Rechten werden Feindbilder geschaffen, denen die Probleme angelastet werden können. So sieht ihre jämmerliche Analyse den Islam und die Zuwanderung als Hauptprobleme der Gesellschaft. Die Menschen, die den Rechten Führer_Innen folgen, scheint es einfacher gegen Schwächere zu Felde zu ziehen, als gegen die Chefs, den Staat und das gesamte Wirtschaftssystem. Da es keine linke Alternative gibt, schließen sich trauriger Weise auch viele Arbeiter_Innen dieser Politik an. Die Grenzen werden so zwischen den Geschlechtern, den Völkern, der sexuellen Orientierung oder der Religion gezogen. Alle rechten Gruppen lenken damit von den realen Problemen unserer Gesellschaft und deren Ursachen ab, von denen es unzählige gibt, wie wir alle wissen.

Denn klar ist, dass vor allem in Zeiten der jetzigen, historischen Krise viele Menschen unter sozialer und materieller Verwerfung leiden oder Angst haben dorthin abzurutschen. Erzeugt wird dieses Leid durch das kapitalistische System: Die Kapitalistenklasse (also die Besitzer von Fabriken und Firmen) beutet die Lohnabhängigen aus, indem ein niedrigerer Lohn gezahlt wird, als ihre Arbeit wert ist. Diese Ausbeutung findet, in mehr oder weniger verschärfter Form, in allen Ländern der Erde statt. Auch Deutschland ist da, gerade mit seinem gewaltigen Niedriglohnsektor (Stichwort Minijobs und Harz IV), keine Ausnahme. Wirtschaftliche Erpressung, Ausbeutung und Krieg sind gängige Mittel auch der deutschen Außenpolitik und führen zum Beispiel dazu, dass Menschen überhaupt erst fliehen müssen.

Die Anhänger der rechten Bewegung begreifen nicht, dass es auch innerhalb ihres Landes eine Ausbeutung der Lohnabhängigen gibt und, dass diese gerade durch ihre nationale Kapitalistenklasse betrieben wird. Die Spaltung der Gesellschaft in wirtschaftliche Klassen wird systematisch verschleiert, die Solidarität innerhalb der Arbeiter_Innenklasse untergraben. Stattdessen wird ein nationaler oder rassischer Zusammenhalt konstruiert.

Die Besitzenden haben also ein direktes Interesse an der Spaltungspolitik der Rechten. Internationale Solidarität der Lohnabhängigen ist dagegen eine reelle Gefahr für sie. Die etablierte Politik verwaltet den Imperialismus der Banken und Konzerne und handelt damit direkt in deren Interesse. Deshalb gehen alle bürgerlichen Parteien weiter nach rechts, was beispielsweise die laufende Verschärfung der Asylgesetze beweist. Sie und die großen Medien hetzen gegen wirtschaftlich Benachteiligte, Flüchtlinge, den Islam oder Linke und geben so den Rassist_Innen eine Steilvorlage für ihre Ansichten.

Um zu klar zu stellen, auf welcher Seite des Klassenkampfes die Rechten stehen, sollte man sich das arbeiter_Innenfeindliche Wahlprogramm der AfD angucken: Reichensteuern und Arbeitslosengeld sollen stark gesenkt werden, Umweltschutz schränkt für sie nur die Profite der Wirtschaft ein. Frauen sollen an den Herd zurück, staatliche Kitas gleich ganz abgeschafft werden. Außerdem will sie Erbschaftssteuern und Gewerbesteuern streichen und Eingriffe des Staates in die Wirtschaft minimieren. Alles in allem ein durchweg neoliberales Programm.

Wir müssen aufzeigen, dass das jetzige bürgerliche System für Ausbeutung, Krieg und Rassismus verantwortlich ist. Unser Ziel ist eine bundesweite, sozialistische Massenbewegung aus Arbeiter_Innen und Jugendlichen, die dem Kapitalismus offen den Kampf ansagt! Mit „Jugend gegen Rassismus“ wollen wir in Deutschland endlich den Startschuss für eine solche Bewegung geben. Wir wollen eine revolutionäre Perspektive aufzeigen, gegen die Diskriminierung der Rechten und die Ausbeutung im Kapitalismus. Dazu müssen wir antirassistische Selbstverteidigung aufbauen und uns in den Schulen, der Uni und den Betrieben selbst organisieren. Mit Kundgebungen, Demos und Streiks, wie sie momentan im gesamten Bundesgebiet stattfinden, können wir unsere Ideen in die Öffentlichkeit tragen und Druck ausüben. Wenn unsre Bewegung stark genug ist werden wir gemeinsam durch die revolutionäre Umgestaltung des Systems eine neue, alle Untersetzungsverhältnisse abschaffende, Gesellschaft errichten.

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Interview mit Kaveh

Kaveh ist innerhalb der radikalen Linken als Musiker bekannt, der sich immer wieder mit dem Widerstand gegen den Kapitalismus solidarisiert und mit seinen antikapitalistischen Tracks immer wieder bei Demonstrationen und Solikonzerten auftritt.

Im Oktober hat der Rapper, der auch schon zweimal bei unserem Camp aufgetreten ist, sein Album „Gegen den Strom“ veröffentlicht. Grund genug sich einmal ausführlicher mit ihm zu beschäftigen.

Hallo, Kaveh. Du bist ein bekannter, linker Rapper und schreibst seit 20 Jahren Texte. Wie kam die Politik in deine Musik bzw. wie kam die Musik in deine politische Aktivität?

Es sind unterschiedliche Einflüsse gewesen. Einerseits ist es die familiäre Umgebung, die mich geprägt hat, wo viel über politische Themen diskutiert wurde. Es war immer an der Tagesordnung zu debattieren und sich auszutauschen. Dazu kamen durch Freunde auch musikalische Einflüsse hinzu, wie KRSOne, Public Enemy, usw. Ich habe auch ziemlich früh angefangen politische Bücher zu lesen wie das „Manifest der Kommunisten Partei“ von Marx und Engels und auch viele Romane, wie „Siddhartha“ von Hermann Hesse, „die Schachnovelle“ von Stefan Zweig sowie persische Poesie von Hāfez und Rumi, die mich früh geprägt haben.

Dadurch hatte ich eine ziemlich breite Inspirationsquelle von verschiedenen Texten, familiären Einflüssen und Einflüssen aus dem Freundeskreis, die mich dann auch dazu verleitet haben das politische Wissen, das ich mir angeeignet habe, auch musikalisch umzusetzen.

In deinen Liedern sind fast keine Punchlines zu finden. Wieso?

Das würde ich so nicht sagen. Ich habe schon eine Menge Punchlines, wie zum Beispiel in dem Track „Nur ein Augenblick“ oder in „Therapie“, wo es gegen Rassismus geht. Aber es ist natürlich immer sehr gezielt und die Zielscheibe ist niemals beliebig. Wir hatten damals auch den Track „Sarrazynismus“ gemacht, in dem wir auch gegen Sarrazin polemisiert haben.

Es gibt ja auch den Song gegen Antideutsche, wo Thawra und ich so einige Pseudolinke dissen.

Es gibt zwar immer wieder Punchlines, aber es steht nicht im Mittelpunkt der Musik, sondern es kommt immer dann auf, wenn es gerade mal wieder raus muss und wenn Leute aus dem Kunst-, Kultur- und Politikbereich mir besonders auf die Nerven gehen. Dann kommt natürlich auch ein Disstrack raus, aber ich sehe es nicht als meine Hauptaufgabe Disstracks zu schreiben.

Du bist ein Rapper der sich offen mit Palästina solidarisiert. Viele andere, linke Rapper, Produzenten, usw. sind israelsolidarisch. Kommt es vor, dass Antideutsche deine Musik blockieren? Hast du oft Schwierigkeiten deshalb einen Produzenten, Beats, etc. zu finden?

Das kommt natürlich vor, z. B. auf Konzerten von mir. Das erste Konzert wo ich Erfahrungen damit gemacht habe, war in Leipzig 2010. Dort haben Antideutsch die Bühne gestürmt und ich wusste noch nicht einmal was Andideutsche sind. So habe ich erst gemerkt, was es für unterschiedliche Strömungen innerhalb der deutschen radikalen Linken gibt.

Danach ist immer mal wieder was passiert. Zuletzt wieder in Leipzig bei einer antirassistischen Demonstration, wo ich aufgefordert wurde entweder meine Kufiya abzunehmen oder die Veranstaltung zu verlassen. Ich habe das natürlich nicht gemacht. Während ich gerappt habe, kam dann noch ein anderer Ordner an, der mich wieder aufforderte die Kufiya abzunehmen, was ich natürlich wieder ignorierte.

Interessanterweise habe ich auf dieser Veranstaltung – das war eine klassische AntiRa-/ RefugeesWelcome-Demo – weit und breit niemanden gesehen, der eine Kufiya trug. Das sagt schon sehr viel über die Zustände in Leipzig aus.

Als Allerletztes ist mir das im AZ Mülheim passiert, wo ich ein Tag vor dem Konzert eine Absage bekommen habe. Das war die aktuellste Erfahrung.

Ansonsten gibt es natürlich unheimlich viele Shitstorms von Antideutschen unter Facebookposts und es gibt Blogeinträge von ihnen gegen mich. Die sind da ziemlich aktiv. Es ist schon fast eine professionelle Propagandamaschinerie, die sich da aufgebaut hat.

Bei den Antideutschen hat man das Gefühl, sie haben den ganzen Tag nichts zu tun als im Internet rumzutrollen, irgendwelche Zitate aus dem Kontext zu reißen und irgendwelche Artikel zu schreiben, die mit pseudo-wissenschaftlichen Methoden daherkommen. Auf propagandistische Art und Weise werden Zitate herangezogen und Texte vollkommen entstellt. In ihrer Berichterstattung findet eine starke Manipulation gegenüber mir, aber auch anderen Kollegen, statt.

Dass viele andere Rapper, unter anderem auch „Linke“, sexistische Äußerungen in ihren Texten haben, ist nichts Neues. In der Vergangenheit hast du dich schon diesbezüglich dazu geäußert. Würdest du dich auch in deinen Tracks mit dem Thema befassen?

Ich kann mir natürlich vorstellen, das zu thematisieren. Ich mache das ja auch unabhängig von meinen Songs. Ich mache immer wieder darauf aufmerksam, dass viele eine sehr diskriminierende Sprache benutzen, sei es sexistisch, homophob, behindertenfeindlich oder was auch immer für eine Form von Diskriminierung. Das ist kritikwürdig und ich finde, dass man schon darauf achten sollte, dass man keine Sprache benutzt, die Individuen und Gruppen diskriminiert.

Thematisieren werde ich das schon irgendwann, aber es ist ein Thema, das innerhalb der radikalen Linken schon ziemlich viel behandelt wird, etwa von Leuten wie Lena Störfaktor oder Sookee. Insofern sehe ich nicht den Bedarf das Gleiche zu tun, da es ja eine Vielzahl wichtiger Themen gibt, wie den Imperialismus, Interventionskriege oder das Thema Rassismus. Was das Thema Krieg und Frieden angeht, denke ich, dass das innerhalb der radikalen Linken viel zu wenig behandelt wird. Vor allem vor dem Hintergrund der zunehmenden deutschen Kriegsbeteiligung in Afrika und Asien ist das meiner Meinung nach sehr schade und letztendlich auch gefährlich.

Zum Thema Sexismus wird in Zukunft aber auch was kommen.

Glaubst du, dass man das Bewusstsein mit solchen Tracks verändern kann?

Ich denke schon, dass man Denkanstöße geben kann und dass man dadurch auch bestimmte Prozesse in Gang setzt, aber dass man Leute durch Musik verändern kann, glaube ich eher weniger. Es mag sein, dass man die eine oder den anderen beeinflussen und vielleicht sogar auf einen nicht-diskriminierenden antikapitalistischen Pfad bringen kann, aber in der Regel müssen die Prozesse von den Personen selbst gemacht werden. Man kann also immer nur Hilfe leisten.

Musik ist da in dem Falle auch eine Art Empowerment und Identifikationsfaktor. Leute identifizieren sich gerne mit Musik. Jeder von uns will gerne in bestimmten Songs repräsentiert werden und fühlt sich auch bestätigt und gestärkt, wenn man Songs hört, die einem aus der Seele sprechen.

Wenn es wirklich gut läuft, dann gibt man Leuten Denkanstöße, die dann bestenfalls dazu führen, dass sie auch ihre Ansichten verändern, aber das ist im Normalfall nicht die Regel und das sollte man auch nicht erwarten.

Was ist deine Meinung zu den Diskussionen hinsichtlich der Übergriffe in Köln und Hamburg?

Es besteht wohl kein Zweifel darüber, dass die Übergriffe in Köln und Hamburg vollkommen inakzeptable Angriffe sexistischer Natur waren, für die es keinerlei Rechtfertigung gibt. Es ist lächerlich, wie manche nun versuchen den Frauen eine Mitschuld daran zu geben oder dass die Oberbürgermeisterin den Frauen eine Handlänge Abstand empfiehlt. Entweder spiegeln solche Aussagen die Frauenfeindlichkeit der Männer wider oder den verinnerlichten Sexismus gewisser Frauen. Aber besonders krass ist die Heftigkeit der rassistischen Reaktionen. Typen, die seit Jahren ihre oder auch andere Frauen schlecht behandeln und sich nie um Frauenrechte geschert haben, entdecken plötzlich ihre „feministische“ Ader, und zwar nicht deshalb, weil es ihnen um die Frauen gehen würde, sondern weil sie Frauen lediglich als Projektionsfläche benutzen um ihren Rassismus offen zur Schau zu stellen. Auch Menschen, von denen man es nicht erwartet hätte, machen auf einmal einen eurozentrischen Unterschied zwischen den „machistischen Muslimen“, den „wilden Arabern“ und „testosterongeladenen Flüchtlingen“ – die angeblich stärker zum Sexismus neigen – und den „aufgeklärten“ und „zivilisierten Europäern“. Dieser Essentialismus ist nichts neues, aber immer wieder erschreckend, denn Klischees, Vorurteile und die Reproduktion anti-muslimischer Rassismen ersetzen dabei viel zu oft einer Analyse sozialer Umstände, die zu solchen Taten führen können.

Falls das tatsächlich überwiegend Menschen mit muslimischem Hintergrund oder Geflüchtete gewesen sind, dann muss man sich die Frage stellen, warum dies der Fall ist. Aber bevor man das tut, sollte man sich erst mal vergegenwärtigen, dass Sexismus und Patriarchat nichts neues sind, kein Problem von Muslimen, sondern von Männern im Allgemeinen darstellen und dass es auch viele weiße deutsche Männer gibt, die Frauen begrapschen und vergewaltigen. Aber über die Typen auf Mallorca, auf dem Karneval oder Oktoberfest regen sich die Menschen in Deutschland nicht so sehr auf, weil sie voller Doppelstandards stecken, so dass immer nur bei den
„Kanaken“ und „Schwarzköpfen“ die Alarmglocken angehen.

Aber wenn man über die Ursachen spricht, sollte man eines nicht vergessen. Der Alltags- und strukturelle Rassismus auf dem Arbeitsmarkt, bei der Ausbildung, in der Schule, bei der Wohnungssuche und vor der Disco, führen dazu, dass sich Asylsuchende oder Jugendliche mit muslimischem Migrationshintergrund immer stärker ausgegrenzt fühlen. Dies führt manchmal zu starken aggressiven Handlungen, einer Besinnung auf rückständige Ideologien oder zu einer nationalistischen und religiösen Identitätssuche. Gleichzeitig wird ihnen tagtäglich der Sexismus von den „Vorbildern“ in Medien und Werbung vorgelebt. Diese Jugendlichen sind also vor allem eines: Sie sind entweder Produkte der rassistischen, frauenfeindlichen und kapitalistischen Gesellschaft in der sie leben oder im Falle der Geflüchteten auch noch Opfer westlicher Interventionskriege, Wirtschafts- und Flüchtlingspolitik. Das soll aber wie gesagt nicht bedeuten, dass sie keine Verantwortung für ihre abscheulichen Taten tragen, sondern nur, dass man diese kontextualisieren sollte, bevor man mit „orientalistische“ Stereotypen um sich schmeißt. Aber leider schon zu spät, denn auch die Mainstreampresse wie SZ zeigt sich ungeniert von ihrer rassistischen Seite. Selbst Heribert Prantl spricht sich für die Abschiebung von kriminellen Flüchtlingen aus. Der Rassismus steckt den meisten Deutschen anscheinend noch tief in den Knochen. Und davon sind leider nicht einmal die Linken ausgenommen, wie regelmäßige Äußerungen von Oskar Lafontaine über notwendige Obergrenzen für Geflüchtete deutlich machen.

GEFÜHRT VON BEN ZIMMER