Diktator Putin? Gegenmacht zum Imperialismus? Eine kleine Analyse zu Russland annlässlich der Duma-Wahl

von Lars Keller und Felix Ruga

Nicht nur die BRD hat gewählt. Eine Woche vor der Bundestagswahl fand in Russland die Duma-Wahl statt. Nicht mitbekommen? Wirf‘ mit uns einen Blick nach Moskau.

Duma-Wahl? Was ist das?

Die Duma ist das russische Parlament und wird direkt vom russischen Volk für 4 Jahre gewählt. Sie besteht aus 450 Abgeordneten und hat diverse Aufgaben, vor allem jedoch die Verabschiedung von Gesetzen. Die eigentliche Gewalt geht jedoch von dem_der Präsident_In aus. Diese_r wird bei der Duma-Wahl nicht gewählt, sondern davon unabhängig und zwar direkt, was eine hohe Legitimität zu Macht verleiht. Präsident ist momentan Putin. Dieser hat bei praktisch allen Fragen und Personalwahlen sowohl das Veto- als auch das Vorschlagsrecht und zwar in Legislative, Exekutive und Judikative. Andere Institutionen wie die Duma haben eher eine beratende, kontrollierende oder bestätigende Rolle und nutzen diese in der Praxis nie gegen Putin aus.
Bei den Duma-Wahlen hat Putins Partei „Geeintes Russland“ gewonnen. Sie konnte 49,8 % der Stimmen auf sich versammeln, bekommt jedoch aufgrund des undemokratischen Wahlrechts mit Direktmandaten 72% der Sitze, was für sie die Allein-Regierung inklusive Verfassungsänderungen ermöglicht. Man kann sie sehr gut mit der CDU in Deutschland vergleichen: Ein klar bürgerlicher, eher konservativer Zusammenschluss verschiedener Strömungen, die sich vor allem durch die eigene Regierungsmacht definiert und zusammenhält.
Zweiter wurde die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 18,9% der Stimmen oder 12,7% der Sitze. Diese hat aber nicht so viel mit Kommunismus zu tun, sondern verfolgt aufgrund des stalinistischen Erbes letzten Endes keine revolutionäre Praxis, sondern eine eher rechte sozialdemokratische mit marxistischer Rhetorik.
Soweit, so trocken.

Ist die Wahl nicht manipuliert?

Ja. Beobachter_Innen meldeten über 4500 Fälle von möglichem Wahlbetrug, aber wahrscheinlich gab es noch mehr Fälle. Außerdem wurde zum Beispiel die Partei von Nawalny, einem Gegner Putins, von Anfang an von der Wahl ausgeschlossen, wie das auch andere Parteien betraf. Oppositionelle Menschen werden massiv vom russischen Staat verfolgt und unterdrückt, wie auch LGBTIA-Aktivist_Innen, Feminist_Innen oder Antirassist_Innen, was auch die Wahl stark beeinflusst.
Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass Putins Partei immer noch eine einigermaßen große Beliebtheit in der Bevölkerung hat. Umfragen vor der Wahl gingen von 30 % aus – im Vergleich zu vergangenen Wahlen trotzdem ein Verlust, der dann selbst in der manipulierten Wahl auffiel.
Außerdem werden bei den Wahlen noch ganz legale Manipulationen verwendet. Ein Beispiel dafür sind sogenannte „Spoiler-Parteien“: Parteien, die zwar wie eine Opposition wirken, aber eigentlich regierungstreue Politik machen. Diese werden gezielt gegründet, um Oppositionen zu spalten und lahmzulegen. Beispiel ist die Partei „Neue Leute“, die sich liberal gibt und damit Anhänger_Innen von Nawalny abgreift.
Ein anderes Beispiel ist das ungerechte Wahlsystem: Die eine Hälfte der Sitze wird per Verhältniswahlrecht bestimmt, die andere Hälfte per Direktmandate für einzelne Regionen. Dabei gibt es anders als in Deutschland keine Ausgleichsmandate, sodass die stärkste Partei noch weiter gestärkt wird. Damit konnte die Regierung von „geeintes Russland“ ihre Übermacht verewigen.

Klare Sache: Dort ist Diktatur, oder?

Das System ist von Putin zweifellos ein sehr autoritäres, aber eine Führerdiktatur, in der er einfach nur macht, was er will, ist Russland nicht. Innerhalb der letzten Jahre bröckelt nämlich das System Putin zunehmend: Seine Zustimmung bleibt überwältigend, aber sie sinkt. Die Autorität des Staates bleibt vorhanden, aber Unzufriedene bilden immer mehr Widerstand. Russland bleibt eine geopolitische Macht, die militärische Konkurrenz und auf dem Weltmarkt wächst. Um nun dieses zerbrechliche System beisammenzuhalten, braucht Putin die Duma. Zum einen um mit scheinbar demokratischen Prozessen Kritiker_Innen zu befriedigen, zum anderen um Opposition auf die Wahl in die Duma zu kanalisieren statt schwer kontrollierbare Massenaktionen wie Demonstrationen oder Streiks zu provozieren. Das sind aber definitiv Zugeständnisse an eben diese Opposition, die diese zur Kontrolle, zumindest jedoch als Bühne nutzen kann. Wir würden die politische Rolle Putins dementsprechend noch nicht als „Diktator“ bezeichnen, sondern eher als „Bonaparte“.

Bona-wer? Der war doch Franzose?!

Das stimmt, wobei „Bonapartismus“ ist, nicht nach dem Napoleon, den wir aus der Schule kennen benannt, sondern nach Napoleon III. Der Begriff beschreibt, dass wenn sich Arbeiter_Innenklasse und Kapitalist_Innen in Klassenkämpfen so sehr aufgerieben haben, dass weder die eine noch die andere die Macht übernehmen kann, ein_e Herrscher_In an die Macht kommen kann, der_die diesen Klassenkampf befriedet, eine gewisse Beliebtheit in allen Schichten hat und verbindend über ihnen steht – ein Bonaparte. Aber der Schein trügt: Eigentlich sorgt der Bonaparte dafür, dass der Kapitalismus weiterläuft. Er richtet sich zwar gegen einige Kapitalist_Innen (Putin zwang die Oligarch_Innen Steuern zu zahlen) und gibt auch der Arbeiter_Innenklasse etwas ab vom Kuchen (Putin sorgte zum Beispiel für höhere Renten), aber er macht das am Ende nur, damit der Kapitalismus weiter einen funktionierenden Rahmen hat und die Macht der Kapitalist_Innen stabilisiert wird. Diese Stabilisierung und Befriedung bedeutet am Schluss vor allem auch enorme Staatsgewalt. Es gibt zwar Zuckerbrote wie bessere Renten oder durch den Staat gerettete Arbeitsplätze – für alle darüber hinaus gehenden Bedürfnisse der Unterdrückten und Ausgebeuteten gibt‘s die Peitsche.
Nun könnte man sagen, dass es in Russland doch nie derartige Klassenkämpfe gab, dass wir sagen könnten: Deswegen gibt es den Putin-Bonaparte. Tja, aber als Putin an die Macht kam, hätte Russland leicht in diese Klassenkämpfe geraten können. Denn der Weg von der bürokratisch-planwirtschaftlichen Sowjetunion zum kapitalistischen Russland bedeutete eine krasse soziale Verschlechterung für Millionen, während einzelne Oligarch_Innen quasi über Nacht und mit viel Lug und Trug reich wurden. Dies hat jedoch auch innerhalb der Kapitalist_Innenklasse für Kämpfe gesorgt. Die fieberhafte Ausverkauf der Sowjetwirtschaft hat eine Situation hervorgerufen, in der sich innerhalb des Kapitals kein Bewusstsein dafür gebildet hat, dass es eine große Aufgabe darstellt, sich in der imperialistischen Welt zu behaupten und dass man dafür auch auf die eigenen egoistischen, kurzfristigen Vorteile verzichten muss. Putin war in dem Sinn notwendig für den russischen Kapitalismus, dass er die Oligarch_Innen disziplinierte und einen Aufstand der Armen und Arbeiter_Innen abwendete. Er ist damit ein Bonaparte, und als solcher hat er den Aufstieg des russischen Imperialismus erst ermöglicht.

Moment, was war das? Russland ist eine imperialistische Macht?

Viele Linke verstehen Russland nicht als imperialistisch, manche sehen in Moskau sogar einen Ausgleich zu den Westmächten USA und EU. Das teilen wir nicht.
Russland ist sicher ein wirtschaftlich schwaches Land, unter den Imperialist_Innen eines der schwächsten und genau deshalb ist es auch so abhängig von einem autoritären System wie den Putinismus. Dank ihm und der enormen militärischen Stärke konnte der russische Imperialismus in den letzten 30 Jahren aufsteigen. In Syrien sehen wir das besonders stark, wo die Assad-Diktatur vor allem durch die russische Unterstützung den Bürger_Innenkrieg gewinnen konnte. Es gibt auf der Welt keine größeren politischen Ereignisse, ohne dass Russland mit seinen eigenen Interessen darin mitwirken kann. Für uns heißt „imperialistisch“ nicht bloß das Abhaken von „Lenins Fünf Merkmalen“ oder der Hegemon in der Welt zu sein. Es heißt, dass dieser kapitalistische Staat die Möglichkeit hat, in der Geopolitik eigenständig zu agieren, Einflusssphären zu behaupten und auszubeuten. Das ist die etwas knappe Begründung, warum wir Russland als imperialistisch verstehen und wir es deswegen auch nicht als „Alternative zum Westen“ verstehen. In einer Auseinandersetzung zwischen Berlin, Washington, Moskau und Peking unterstützen wir keine dieser Mächte.

Und was kann jetzt die deutsche Linke tun?

Minimum ist auf jeden Fall, eine klare und kritische Analyse davon zu haben, was das politische System in Russland ist und welche Rolle es in der Welt einnimmt. Es ist zwar ein unterstützenswertes antimilitaristisches Bestreben, das Säbelrasseln gegen Russland zu beenden, wozu vor allem die Linkspartei und die DKP Politik machen. Aber das heißt nicht, dass wir uns in Kritik zurückhalten oder gar auf die Seite des russischen Imperialismus stellen.
Internationale Solidarität ist hingegen klar mit proletarischen und demokratischen Bewegungen innerhalb Russlands. Es wird mit dem Ende Putins und den wachsenden Rissen in seinem System immer wichtiger, darauf ein Auge zu haben. Diese sollten möglichst unterstützt werden und die Perspektive aufgemacht werden: Das Problem ist das imperialistische System als Ganzes und dementsprechend stehen wir auf der gleichen Seite, wenn wir gegen Angriffe des deutschen, des us-amerikanischen oder nun mal des russischen Staates und für eine friedliche und solidarische Welt kämpfen!




Russland: Der Fall Nawalny und das Regime Putin

Robert Teller, Infomail 1140, 22. Februar 2021

zuerst veröffentlicht unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/02/22/russland-der-fall-nawalny-und-das-regime-putin/

Am 20. Februar schloss der bislang letzte Akt der juristischen Farce um Alexei Nawalny, der Galionsfigur der russischen Opposition. Das Moskauer Babuschkinskij-Gericht wies die Berufung gegen seine Verurteilung zu rund 3,5 Jahren Lagerhaft ab. Im selben Gerichtssaal wurde auch die Strafe von umgerechnet 9.500 Euro wegen Diffamierung eines Kriegsveteranen bestätigt.

Zu 3,5 Jahren Haft war Nawalny schon Anfang Februar verurteilt worden. Das Berufsgericht bestätigte dies, auch wenn die Strafdauer um einige Wochen reduziert wurde.

Überraschend kamen weder die Festnahme Nawalnys am Moskauer Flughafen am 17. Januar, die von der russischen Regierung im Voraus angekündigt war, noch das Urteil, das offensichtlich darauf ausgerichtet ist, die Galionsfigur der bürgerlichen, prowestlichen Opposition gegen Putin zumindest bis zur nächsten Präsidentschaftswahl aus dem Verkehr zu ziehen – sei es durch Anschläge, sein Exil oder eben jederzeit durch willfährige Richter_Innen verlängerte Haft.

Die Begründung der Justiz wirft ein bezeichnendes Licht auf das System Putin. Nawalny hätte, so das Urteil, gegen Bewährungsauflagen verstoßen, die sich aus früheren Strafverfahren ergeben hätten. Als er knapp der Vergiftung – mutmaßlich durch Agent_Innen des russischen Staates – entgangen war, wurde er in Berlin behandelt. Einige Zeit war er komatös. Während dieser Zeit, so das Gericht, hätte er sich nicht an die Bewährungsauflagen gehalten, zu denen u. a. eine zweiwöchentliche Meldung bei den russischen Behörden gehört.

Das Skandalurteil stellt alles andere als einen Einzelfall dar. Russische Oppositionelle – ganz zu schweigen von Angehörigen unterdrückter Nationalitäten oder von regimekritischen Linken – sind seit Jahren solchen Formen staatlicher Unterdrückung ausgesetzt, die selbst nur einen Teil des Herrschaftssystems Putins darstellen.

Tatsächlich trifft die politische Repression Linke im Allgemeinen härter als bürgerliche Rival_Innen. Vor einem Jahr wurde im sog. „Network Case“ eine Gruppe antifaschistischer Aktivist_Innen in der Stadt Penza zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Urteile stützten sich auf erzwungene Geständnisse. Ende Dezember wurde Sergei Udalzow, ein führendes Mitglied der Parteienkoalition „Linksfront“, der bereits eine viereinhalbjährige Haftstrafe wegen seiner Beteiligung an den Protesten 2012 abgesessen hat, verhaftet und wegen einer nicht genehmigten Protestaktion zu 10 Tagen Haft verurteilt.

Massenproteste

Der entscheidende Unterschied zu den unzähligen Fällen politischer Repression, inklusive Skandalurteilen, langjähriger Haft wegen der Ausübung demokratischer Rechte, liegt aber in Folgendem: Über lange Jahre erzielten diese eine abschreckende Wirkung, weil sich das System Putin neben Repression und einer Monopolisierung der Medien auf eine gewisse soziale Stabilität im Inneren stützen konnte.

Diesmal ist es anders. Die Verhaftung und die Verurteilung Nawalnys lösten eine Welle von Massenprotesten im ganzen Land aus. Diese wurden zu den größten der vergangenen Jahre, mit etwa 15.000 Teilnehmer_Innen in Moskau und über 100.000 in 80 oder mehr Städten landesweit. Die Bedeutung der nicht genehmigten Demonstrationen lässt sich auch an der Anzahl verhafteter Demonstrant_Innen ablesen. Laut OVD-Info, einer russischen Menschenrechtsorganisation, wurden allein Mitte Januar mindestens 4.000 Teilnehmer_Innen festgenommen. Gegen viele wurden Strafverfahren eingeleitet oder in Schnellverfahren Geldstrafen oder Administrativhaft verhängt. Auf weiteren Demonstrationen am 31. Januar wurden erneut mindestens 5.600 Teilnehmer_Innen festgenommen. Menschen wurden nicht erst wegen der Teilnahme an Protesten verhaftet, sondern auch wegen des Teilens von nicht genehmigten Protestaufrufen auf Social Media. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, dass die Polizei ohne Anlass brutal gegen Demonstrant_Innen vorgeht. Auch einige linke Organisationen unterstützten die Proteste kritisch, also ohne dabei Nawalnys politischen Zielen Anerkennung zukommen zu lassen. Nach den Verhaftungen vom 23. und 31. Januar ruft Nawalnys Bewegung nun dazu auf, weitere Proteste zu unterlassen und sich stattdessen für die Duma-Wahlen im September bereitzuhalten.

Wie immer die weitere Mobilisierung verlaufen wird, so signalisiert die Bewegung doch eine bedeutende Veränderung der politischen Lage in Russland, die weit über die Frage der Freilassung von Nawalny hinausgeht. Angesichts der ökonomischen und politischen Probleme des russischen Imperialismus kann das Regime Putins selbst ins Wanken geraten. Nawalny und die bürgerlichen, prowestlichen Kräfte hoffen, aus dieser Lage Kapital schlagen zu können. Es ist kein Zufall, dass sie, anders als in früheren Jahren, die Kritik an Putin vor allem auf Korruptionsvorwürfe lenken, auf die Bereicherung durch ihn und seine Unterstützer_Innen. Eine eigens von Nawalny gegründete Antikorruptions-Stiftung veröffentlichte u. a. ein bekannt gewordenes Video über einen teuren Palast am Schwarzen Meer, der Putin zugeschrieben wird und dessen persönliche Bereicherung belegen soll. Mit diesen Enthüllungen versucht er zugleich, sozial heterogene Putin-Gegner_Innen, die von unzufriedenen Lohnabhängigen und Armen über städtische Mittelschichten und Aufsteiger_Innen bis zu unzufriedenen Kapitalist_Innen reichen, anzusprechen, die meinen, im System Putin zu kurz gekommen zu sein.

Nawalny und die rechtsliberale Opposition

Das darf aber nicht über seine politische Ausrichtung hinwegtäuschen. Die Korruptionsvorwürfe sind für Nawalny Mittel zum Zweck und haben darüber hinaus den Vorteil, dass er seine eigentlichen politischen, programmatischen Ziele in den Hintergrund treten lassen kann.

Nawalny ist ein Rechtsliberaler, der Russland vor Putin retten will. Er fand in der Vergangenheit an liberalen wie auch rechtsnationalistischen Gruppierungen und Organisationen Gefallen und hat – durchaus in Übereinstimmung mit Putins Ansichten – „russische Interessen“ gegenüber den demokratischen Ambitionen nichtrussischer Völker und Nationen verteidigt. Von seinen extrem rassistischen Sprüchen – so bezeichnete er 2007 die Menschen aus dem Kaukasus als „Kakerlaken“ – hat er sich zwar nicht distanziert, doch der Rassismusvorwurf scheint nun entweder mit der Zeit verblasst oder durch Märtyrertum getilgt zu sein. Seine rassistischen Ausfälle u. a. gegen Tschetschen_Innen zeigen, dass er der demokratische Weltverbesserer, als den ihn westliche Fans gerne sehen, nicht ist und nicht sein will. Nawalny präsentiert sich als ein Verbesserer der russischen Nation. Beschönigend bezeichnete er sich als „nationalistischen Demokraten“. Als solcher muss er mit Putin um die Gunst der Nation wetteifern und will nicht zurückfallen, wenn es gilt, die „Gefühle“ des Volkes zu bedienen.

Aktuell reduziert Nawalny alles Schlechte in Russland auf eine behauptete Korruptheit der Eliten. Damit knüpft er erstens an die Wahrnehmung vieler Menschen an, ihnen werde „alles geraubt“. Das stimmt zwar, aber die Korruption in Russland ist dabei eher ein Nebenaspekt gegenüber der  formell legalen Privatisierung von ehemaligem Volkseigentum nach der Restauration des Kapitalismus, die unter Putin fortgesetzt wurde. Politisch ist der bloße Korruptionsvorwurf im Übrigen vor allem demagogisch, weil Nawalny als bürgerlicher Populist natürlich nicht die politökonomischen Ursachen kritisiert, die sie hervorbringen, sondern letztlich selbst an die Futtertröge rankommen will.

Zweitens kritisiert Nawalny damit die Eigenschaft des russischen Systems, die Teilhabe sowohl des Volkes als auch von Teilen der herrschenden Klasse an der Gestaltung der politischer Macht zu beschneiden. Dies entspricht nicht seiner Vorstellung einer anständigen kapitalistischen Großmacht, die auf Augenhöhe mit anderen, v. a. westlichen, Großmächten agieren will und über entsprechende politische Strukturen verfügen sollte, in welchen vor allem auch die verschiedenen Teile der Bourgeoisie selbst demokratisch um die politische Vorherrschaft konkurrieren können. Der Zustand des russischen Staates passt in seinen Augen nicht recht zu einem imperialistischen Land, das zu neuem nationalen Selbstbewusstsein gelangt ist.

Und drittens macht ihn dieser Populismus auch für seine deutschen und westeuropäischen Unterstützer_Innen interessant, die die vorliegenden imperialistischen Konflikte mit Russland lieber als Auseinandersetzungen um „Demokratie und Rechtsstaat“ statt um Märkte und imperiale Einflusszonen verstanden haben wollen. Es handelt sich um solche, die insbesondere dort, wo unmittelbar deutsche Geschäftsinteressen in Frage stehen, auch weiterhin „vernünftig“ mit Russland zusammenarbeiten und gleichzeitig ein legitimes, gesittetes, freiheitlich-demokratisches politisches und militärisches Drohpotential schaffen und vergrößern wollen. Um Russlands Illegitimität Putin direkt in die Schuhe schieben zu können, ist es hilfreich, ein Gesicht der Legitimität vorzuführen, einen Anti-Putin. Nawalny reduziert die Ära Putin auf Korruption und Despotismus. Das reicht, um von den Vertreter_Innen des imperialistischen Deutschlands geadelt zu werden.

Nawalnys Politik drückt primär die Interessenlage nicht allzu großer Teile der Bourgeoisie und des städtischen Kleinbürger_Innentums aus, die von einer stärkeren Öffnung zum Westen mehr zu gewinnen als zu verlieren haben. Er findet, wie die Reichweite der Proteste zeigt, aber auch Anklang in der städtischen Jugend, unter Arbeiter_Innen und Mittelschichten, die entweder Illusionen in seine Version eines modernen, aufgeklärten Populismus hegen oder sich trotz Fehlens solcher Illusionen auf gemeinsame Ziele wie die Beseitigung politischer Verfolgung beziehen.

Nawalny konnte lange mit seinem Populismus einen eher beschränkten Kreis an Wähler_Innen und Unterstützer_Innen mobilisieren und diese Basis reichte bei weitem nicht aus, eine ernsthafte Bedrohung für Putin darzustellen. Dies könnte sich jedoch ändern. Bei Wahlen propagiert er die Taktik des sog. „Smart Voting“. Diese besteht darin, stets die aussichtsreichsten Putin feindlichen Kandidat_Innen zu unterstützen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit oder ihrem Programm. Bisher konnten Putins Leute oft tatsächlich deutliche Stimmenmehrheiten erzielen, was nicht in erster Linie manipulierten Wahlen zugeschrieben werden konnte, sondern auch mit der Zersplitterung und teilweisen Integration der Opposition ins Herrschaftssystem zu tun hatte. Mit seiner Wahltaktik versucht Nawalny gewissermaßen automatisch, alle Anti-Putin-Stimmen für sich zu beanspruchen. Zu den von ihm unterstützten Kandidat_Innen gehören gegebenenfalls auch Angehörige der „systemtreuen Opposition“ wie der KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation) oder der ultrarechten LDPR (Liberaldemokratische Partei Russlands).

Seine begrenzte Massenbasis und die nicht vorhandene Legitimation aus dem Staatsapparat heraus stellt bisher aber auch die Grenze der Figur Nawalny dar – und damit der möglichen Einflussnahme westlicher Mächte. Nawalny biederte sich diesen dadurch an, dass er abgesehen von dem Wunsch nach einer Öffnung zum Westen wesentliche außenpolitische Fragen – wie die der militärischen Interventionen, der Nahostpolitik usw. – offenließ oder mit unverbindlichen Phrasen beantwortete. Umgekehrt verteidigte er auch russische Interessen wie z. B. auf der Krim oder in der Ostukraine.

Auch wenn Nawalnys populistische Methode zu gewissen Wahlerfolgen führen und der Legitimität von Putins System Kratzer zufügen sollte, beinhaltet sie kein politisches Konzept für ein „Russland ohne Putin“. Nawalny mag für manche als authentische und mitreißende Oppositionsfigur erscheinen, weil er seit Jahren einen Gegenpol zu Putin bildet, sein persönliches Schicksal dabei hintenanstellt und sich nicht auf die begrenzten Möglichkeiten der „systemtreuen“ Parteien beschränkt. Letztlich ordnet er aber nicht nur sich selbst, sondern auch die Bewegung auf der Straße seiner Wahltaktik unter.

Nawalnys politisches Programm ist, soweit es überhaupt explizit formuliert wurde, reaktionär. Aber natürlich ist das längst nicht alles, was es über seine Verhaftung und die Protestbewegung zu sagen gibt. Die Verfolgung Nawalnys ist ein bewusster Akt eines bürgerlich-bonapartistischen Regimes, dessen politische Legitimität Risse bekommen hat. Dies spielt sich ab auf dem Boden einer Klassengesellschaft, einer imperialistischen Macht, die in einer wirtschaftlichen Krise steckt und ihre Interessen gegenüber imperialistischen Rival_Innen zu behaupten hat.

Ursprung des Konflikts mit Putin

Die Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen UdSSR hat aus den ehemals vergesellschafteten Industrien, vor allem im Energiesektor, privates Kapital entstehen lassen. Doch die neu entstandene bürgerliche Klasse, die Oligarchie, hatte als solche keine kontinuierliche Geschichte. Sie vermochte nicht, ein gemeinsames gesamtkapitalistisches Interesse zu verfolgen, vielmehr drohte ihre mehr oder minder ungezügelte Aneignung und Plünderung des Volksvermögens, die Wirtschaft zu ruinieren. Die Zukunft Russlands als kapitalistische Großmacht war in den 1990er Jahren ernsthaft in Frage gestellt. Das zeigte sich damals, als Kaugummi und McDonald’s das Land eroberten, es aber unter Jelzin zu zerfallen drohte. Nicht nur an der Peripherie, wo Völker und Nationen neue oder alte Ansprüche auf politische Eigenständigkeit stellten, war der Staat im Zerfall, sondern auch im Innern, wo Oligarch_Innen regionale Regierungen aus dem föderalen System herauskauften und dadurch zeigten, wie wenig „nationales Gesamtinteresse“ sie zu verfolgen beabsichtigten. Der desolate Zustand des politischen Überbaus spiegelte den inneren Zustand der Bourgeoisie wider, einer Klasse, die kein Bewusstsein dafür besaß, welche Herausforderung es bedeutet, sich in der globalen Konkurrenz zu behaupten.

Putin hat in den vergangenen 20 Jahren ein bonapartistisches Regime geschaffen, das sich durch starke zentralistische Machtstrukturen, ein Übergewicht des Sicherheitsapparates und mit diesem historisch verbundener Teile der Bourgeoisie auszeichnet. Putin setzte der drohenden Balkanisierung und Herabstufung Russlands zur Halbkolonie im Zuge der neoliberalen Schocktherapie der 1990er Jahre ein Ende und schuf einen politischen Überbau, mit dem Russland wieder als kapitalistische Großmacht auf der Weltbühne stehen kann. Dieses System funktioniert so, dass ein „nationales Gesamtinteresse“ nicht notwendigerweise durch die, sondern gegebenenfalls und häufig gegen oder über die Köpfe der Bourgeoisie hinweg zur Geltung kommen muss. Die Anerkennung Putins als Repräsentanten des „ideellen Gesamtkapitals“ durch die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie ist nicht ein Resultat, sondern eine Vorbedingung für die politische Repräsentation ihrer Interessen. Oligarch_Innen, die sich dem widersetzten, erhielten entsprechende Lektionen, wie etwa Chodorkowski 2004. Natürlich ist das nicht eine Abweichung von irgendeiner „Idealform“ bürgerlicher Demokratie, sondern ihre spezielle Form unter einer bestimmten historisch bedingten Klassenkonstellation. Der Konflikt, den Nawalny mit Putins Staatsapparat austrägt, ist letztlich ein Resultat der Art und Weise, wie das gesellschaftliche Eigentum der UdSSR privatisiert worden war. Putins „Partei von Räuber_Innen und Halunk_Innen“ entspricht einer Bourgeoisie mit genau diesen Eigenschaften.

Klassenkampf und imperialistische Konfliktlage

Der russische Imperialismus steht vor großen Herausforderungen. Abgesehen von der Rüstungsindustrie verfügt er nicht über starke Exportindustrien, mit denen er die Dominanz über andere Länder sichern kann. Die Extraprofite aus dem Export fossiler Energieträger ermöglichen zwar die Finanzierung des staatlichen Renten- und Gesundheitssystems, das gerade aufgrund der Prekarisierung weiter Teile der Bevölkerung bislang ein wichtiges integratives Element des bonapartistischen Systems darstellt. Die gefallenen Energiepreise gefährden aber das staatliche Distributionssystem und zwangen die Regierung 2018 zu einem historischen Angriff auf die Renten. 2020 brachen die Einnahmen aus dem Gasexport um 39 % und der Gesamtexport um 24 % ein. Der Öl- und Gasexport ist zudem natürlich Gegenstand imperialistischer Rivalität. Die europäischen Hauptabnehmer_Innen sind angesichts des globalen Überangebots an Energieträgern zu einem verstärkten Import aus Russland nur zu für sie vorteilhaften Bedingungen bereit, d. h. bei ihrer Beteiligung an dem dabei erzielten Extraprofit. Die genannten Aspekte beschreiben eine krisenhafte Entwicklung Russlands, die zu politischen Brüchen im Staatsapparat und Opposition innerhalb der herrschenden Klasse führen kann, und damit zu einer Zuspitzung der Verhältnisse. Sie wird zu sozialen Angriffen auf die Massen führen, die Widerstand notwendig machen.

Die schwierige ökonomische Lage geht zugleich mit einer menschenverachtenden Pandemie-Politik und dem weitgehenden Verzicht auf Einschränkungen der Wirtschaft einher – mit fatalen Folgen für die Gesundheit der Massen. Insgesamt hat das Land über 80.000 Tote zu beklagen.

Politische Schlussfolgerungen

Diese aktuelle wirtschaftliche Krise unterhöhlt die soziale Basis des politischen Herrschaftssystems Putins. Das betrifft die Masse der Lohnabhängigen, die Mittelschichten, aber auch die Superreichen und Kapitalist_Innen. Im System Putin überließen sie weitgehend der Staatsbürokratie mit einem bonapartistischen Führer die politische Macht. Im Gegenzug sicherte dieser massive Profite des Großkapitals und die Stabilität der Geschäfte.

Dieser grundlegende gesellschaftliche Krisenprozess bildet auch die Grundlage dafür, dass sich hinter Nawalny tatsächlich eine Massenbewegung formierten könnte, die Putin in Frage stellt. Das Regime ist sich dessen offenbar bewusst und sperrt daher den Oppositionsführer weg. Doch die Repression gegen Nawalny stellt dabei nur die Spitze des Eisbergs dar. Weit über zehntausend Menschen wurden in den letzten Monaten festgenommen, brutal angriffen und warten auf Verfahren.

Auch wenn Nawalny selbst ein bürgerlich-nationalistischer Reaktionär ist, dem Linke keinerlei politische Unterstützung zukommen lassen dürfen und dem gegenüber sich jegliche Illusionen in seine „demokratischen“ Absichten verbieten, so geht es bei seiner fadenscheinigen Aburteilung nicht primär um dessen Person oder Charakter.

Vielmehr geht es darum, dass das russische bürgerlich-bonapartistische Regime ein Exempel statuieren will, um jedes Aufbegehren, jede Opposition einzuschüchtern, um diese im Keim zu ersticken. Daher auch tausende weitere Festnahmen.

Die Arbeiter_Innenklasse und Revolutionär_Innen können und dürfen der staatlichen Repression nicht gleichgültig gegenüberstehen, weil die Durchsetzung dieser Urteile und willkürlichen Festnahmen die Staatsgewalt stärkt und sich nicht nur gegen Nawalny, sondern auch gegen jeden zukünftigen linken Widerstand, gegen jede Arbeiter_Innenaktion richtet.

Revolutionär_Innen müssen daher für Nawalnys Freilassung und die aller Festgenommen eintreten sowie die Einstellung aller Verfahren gegen diese fordern. Sofern Demonstrationen zu seiner Freilassung einen Massencharakter annehmen, sollten Linke auch an diesen Protesten teilnehmen und dort mit ihren eigenen Losungen und Bannern auftreten.

Außerdem wäre es falsch, eine politische Zuspitzung innerhalb des bürgerlichen Lagers links liegenzulassen. Die Auseinandersetzung unterstreicht, dass Putins Bonapartismus entgegen seinem äußeren Anschein zur Zeit ein politisch geschwächtes und instabiles Regime darstellt, das von Klassenkämpfen erschüttert werden kann. Die politische Schwäche der Arbeiter_Innenbewegung und die bonapartistische Herrschaftsform sind zwei Faktoren, die dazu beitragen, dass ein bürgerlicher Populist und Nationalist zur Ikone werden konnte, wie es auch in den Massenprotesten 2011/2012 der Fall war. Die Lösung der „demokratischen Frage“ liegt aber nicht in den Händen der liberalen Bourgeoisie, sondern der Arbeiter_Innenklasse. Sie braucht ihr eigenes Programm, das weder auf ein reformiertes Putin-Regime setzt, wie es die KPRF und die mit ihr verbundenen Gewerkschaften tun, noch auf ein besseres Russland unter einem Anti-Putin hofft. Die klassenkämpferische und radikale Linke muss vielmehr versuchen, die Lohnabhängigen aus dem Lager der Opposition politisch herauszubrechen, indem sie den Kampf für demokratische Rechte mit der sozialen Frage verbindet, mit dem Aufbau kampfstarker, vom Regime unabhängiger Gewerkschaften und sozialer Bewegungen sowie einer von Putin und Nawalny unabhängigen revolutionären Arbeiter_Innenpartei.




Bolsonaro wird Brasiliens neuer Präsident – Ein internationaler Sieg für die Reaktion!

von Jonathan Frühling, REVOLUTION Kassel

Seit gestern Nacht ist klar, was sich in den letzten Wochen abgezeichnet hat. Der ultrarechte Jair Bolsonaro gewann die Stichwahl in der brasilianischen Präsidentschaftswahl. Hinter ihm hatte sich das gesamte bürgerliche Lager gesammelt: Die Polizei, die Bourgeoisie, die Justiz und auch das Militär.

Die Wahl des reformistischen Kandidaten der PT wäre zwar richtig gewesen, um Bolsonaro aufzuhalten, allerdings hat sich die PT, selbst bis 2017 an der Regierung mit neoliberalen Kürzungsprogrammen total diskreditiert. Für Brasilien und die internationale Arbeiter_Innenklasse ist das eine totale Katastrophe. Das Land ist bis heute für seine verschiedenen sozialen Bewegungen bekannt. Dieses Jahr marschierten hunderttausende Frauen für Gleichberechtigung, es gibt eine mächtige Bewegung landloser Landarbeiter_Innen, in den letzten Jahren waren durch die Bildungsbewegung zwischenzeitlich tausende Schulen und über 300 Unis besetzt, die Gewerkschaften sind zwar reformistisch, aber militant und haben letztes Jahr zu einem Generalstreik mit 30 Millionen Menschen mobilisiert!

Für die herrschenden Klasse sind diese Bewegungen ein Hindernis bei der Umsetzung ihrer neoliberalen Ausbeutungspolitik. Bolsonaro machte deshalb von Anfang an klar, welche Politik seine Regierung umsetzen würde. Er versprach offen die existierenden sozialen Bewegungen restlos zu zerschlagen. Dafür will er die Rechte der Polizei erweitern, sich auf das Militär stützen und auch Folter und scharfe Munition einsetzen. Der Staat wird sich zweifelsohne wieder in Richtung einer faschistischen Militärdiktatur entwickeln, wie es sie von 1964-1985 in Brasilien gab, welche von Bolsonaro verehrt wird. Auch steht Bolsonaro für eine us-freundliche Außenpolitik, was innerhalb der momentan stattfindenden Blockbildung ebenfalls von internationaler Relevanz ist.

Was es jetzt braucht ist ein geeinter Widerstand in einer Einheitsfront aller Unterdrückten, um Bolsonaro und die herrschende Klasse, der er dient, aufzuhalten. Das von allen großen (zentristischen) Organisationen betriebene Sektierertum ist dagegen ein Verrat am Proletariat! Auch die Frage der Selbstverteidigung gegen den massiven Anstieg politischer Morde, sowie gegen Angriffe auf Demos oder Räumlichkeiten muss auf die Tagesordnung gesetzt werden. Letztlich müssen wir jedoch selbst zum Angriff übergehen und mit einem Generalstreik die Machtfrage stellen. Für den Sieg brauchen wir aber eine Organisation nach bolschewistischen Vorbild, die die Klasse auch in diesen schweren Zeiten führen und zum Sieg verhelfen kann.

Internationale Solidarität ist dabei sehr wichtig, um die Entschlossenheit und den Glauben an einen Sieg unter den Lohnabhängigen zu steigern. Wir verfolgen den Kampf unserer Klassenschwestern und -brüder mit großer Besorgnis, aber auch mit großer Hoffnung auf einen Sieg.

Ihr seid nicht alleine! Sieg dem Sozialismus! Hoch die internationale Solidarität!