Profit vs. Gesundheit – beides geht nicht!

Von Lucia Lo Lasso, Januar 2024

Das deutsche Gesundheitssystem wird international oft bewundert und als besonders sozial gefeiert. Spätestens seit der Corona-Pandemie sind seine Schwachstellen aber mehr als deutlich geworden. In diesem Artikel setzen wir uns mit den grundlegenden Strukturen, deren Problemen und unserer politischen Perspektive für eine faire und effektive gesundheitliche Versorgung auseinander.

Gesetzliche und Private Krankenversicherung: Ein 2-Klassen-System

Gesundheit als System lässt sich in Deutschland nicht ohne die Krankenversicherungspflicht denken. Sie ist die Basis der Versorgung, auf der alles Weitere aufbaut. Wenn es darum geht, sich eine Krankenversicherung zu suchen, steht einem die Wahl zwischen gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) oder privaten Krankenversicherungen (PKV) offen. Zwischen beiden gibt es drastische Unterschiede, wenn es um die Qualität der Behandlung geht. Dabei ist die PKV zwar teurer, man bekommt aber einfacher Termine und der Beitrag steigt mit dem Alter. Manche Privatversicherte geraten so in die Lage, dass der Kassenbeitrag zu hoch wird und sie nur schwer aus der PKV wieder raus kommen.

Bei der GKV hingegen zahlen Arbeitnehmer:innen 14,6% vom Gehalt und auch der/die Arbeitgebende:r zahlt etwas dazu. Die Krankenkassen finanzieren sich also durch Mitgliedsbeiträge. Die GKV ist sozial orientiert, da der Beitrag einkommensabhängig ist und durch das Solidaritätsprinzip hilft – unabhängig davon, wie viel man zahlt, bekommen alle Versicherten die gleiche Leistung. Die lässt allerdings im Vergleich zur PKV deutlich zu wünschen übrig.  Die Gründe für die ungleiche Behandlung liegen unter anderem im Vergütungssystem.

Eine von der Hans Böckler Stiftung geförderte Studie zeigt, dass für eine medizinisch im Grundsatz gleiche Leistung ein:e niedergelassene:r Ärzt:in von der Privatversicherung durchschnittlich das 2,28-fache der Vergütung erhält, die von der gesetzlichen Kasse gezahlt wird. 

Ein anonymer Arzt äußerte sich dazu in der Münchner Tageszeitung mit der Aussage, dass das derzeitige Abrechnungssystem ihn dazu zwinge, gesetzlich Versicherte wie „Holzbanktouristen“ zu behandeln, da er allein von seinen Privatpatient:innen lebe. Außerdem böten viele Ärzt:innen, vor allem in der Zahnmedizin, gesetzlich versicherten Patient:innen gar nicht die gesetzlich erstatteten Behandlungsformen, also die Regelversorgung an. Dadurch müssen Patient:innen teilweise riesige Summen für Zahnersatz stemmen, ohne über die Alternativen informiert zu sein.

Für Menschen ohne Papiere, deutsche Stattsbürger:innen ohne Krankenkasse, Asylsuchende und in zunehmendem Maße EU Bürger:innen, die keinen Krankenversicherungsschutz, also einen Nachweis der Krankenversicherung vorweisen können, ist der Zugang zum Gesundheitssystem kaum oder gar nicht möglich. Obwohl sie über rechtliche Ansprüche auf Leistungen verfügen, werden diese Menschen im Moment unvollständig und unentgeltlich in humanitären Parallelstrukturen versorgt.

Als Asylbewerber:in zum Beispiel ist der Kostenträger der medizinischen Versorgung nicht die GKV, sondern das Sozialamt, bei dem vor dem Besuch in der Praxis ein Behandlungsschein beantragt werden muss. Untersucht und behandelt wird man nur, wenn man akut krank ist, unter Schmerzen leidet oder schwanger ist.

Ohne Rücksicht auf Gehalt und Aufenthaltsstatus sollte medizinische Versorgung für alle Menschen überall zugänglich sein.

Diskriminierung im Behandlungszimmer

Diskriminierung kann beabsichtigt, allerdings auch ohne schlechte Intentionen stattfinden. Sie kann durch einzelne Personen (also direkt) oder durch Strukturen oder unterschwellige Mechanismen verursacht sein, sie kann offen oder unsichtbar und von den betroffenen Personen unbemerkt ablaufen – relevant ist der für die Betroffenen entstehende Schaden.

Beim Zugang, aber auch während der gesundheitlichen Versorgung, kommt es zu Diskriminierungen. Betroffene berichten dabei beispielsweise über abwertende Kommentare oder Ungleichbehandlung aufgrund ihrer Behinderung, Geschlechtsidentität, des Gewichts oder der ethnischen Herkunft beziehungsweise aus rassistischen Gründen.

Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und der Überlastung in der Gesundheitsversorgung hat eine Studie des DeZIM (Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung) in einer Reihe von Umfragen untersucht, nach welchen Kriterien Menschen in Deutschland Coronapatient:innen für eine lebenswichtige Behandlung auswählen würden, sollten die Beatmungsgeräte auf den Intensivstationen knapp werden. Die Ergebnisse zeigen, dass die Mehrheit der Befragten die wahrscheinlichste Überlebenschance von Coronapatient:innen als wichtigstes Auswahlkriterium erachtet, falls die Intensivstationen an ihre Kapazitätsgrenzen gelangen sollten. Allerdings wurde auch deutlich, dass Migrant:innen ohne deutsche Staatsbürgerschaft eine etwa 10 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit als deutsche Staatsbürger:innen haben, von der Bevölkerung für ein Intensivbett ausgewählt zu werden. Eine ebenfalls starke Diskriminierung erfahren Menschen ohne Kinder und Menschen mit Vorstrafen.

Auch jenseits der Pandemie zeichnen sich deutliche gesundheitliche Unterschiede für rassifizierte und migrantische Communitys ab. So wird eine höhere Krankheitslast durch nichtübertragbare Erkrankungen wie Diabetes Typ II, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs sowie psychische Erkrankungen für afroamerikanische Communitys in den USA, aber auch für migrantische Communitys in Europa festgestellt.

Ein beharrlicher, struktureller Fall ist der mangelnde barrierefreie Zugang zu Gesundheitsleistungen für Menschen mit Behinderungen, aber auch sprachlich erhöhen Barrieren das Diskriminierungsrisiko in der Gesundheitsversorgung, zum Beispiel für Patient:innen, die Deutsch nicht als Muttersprache sprechen und somit Schwierigkeiten damit haben, über die bürokratische Sprachbarriere hinweg an das System zu kommen.

Pharmalobby & Korruption

Deutschland, das Land der Medikamente. 114.000 Menschen arbeiten in der Pharmaindustrie, jedes Jahr erwirtschaften deutsche Pharmakonzerne Umsätze bis zu 40 Milliarden Euro. Obwohl die Pharmakonzerne auch sehr viele Ausgaben für die Forschung und Erforschung haben; bleibt doch immer ein guter Gewinn hängen. Die Pharmalobby setzt sich dafür ein, dass das auch so bleibt.Die Pharmalobby setzt sich dafür ein, dass das auch so bleibt.

Dafür beschäftigt die Pharmaindustrie Lobbyist:innen, die sich in Berlin darum kümmern sollen, dass die dort besprochenen Gesetze möglichst vorteilhaft für die Industrie sind. Die Lobbyist:innen wirken indirekt an Gesetzen mit, sie beraten Politiker:innen und sind generell sehr aktiv im Hintergrund. In Deutschland haben sie ein leichtes Spiel, sie müssen kein Verbrechen begehen, um ihren Willen zu bekommen. Das liegt daran, dass sie nicht nur die Politiker:innen beeinflussen, sondern auch diejenigen, die entscheiden, welche Medikamente verschrieben werden. 

2015 zahlten Pharmakonzerne 575.000.000 Euro an rund 70.000 Ärzt:innen, die Dunkelziffer liegt mit Sicherheit höher. Das Geld war unter anderem für Dienstreisen, Forschungsaufenthalte, neue Gerätschaften in Praxen, also Dinge, die auch den Patient:innen Gutes tun. Das Geld wurde aber auch für Anwendungsbeobachtungen gezahlt. Der Begriff hört sich sehr wissenschaftlich an, so soll er sich auch anhören. Expert:innen stimmen dem allerdings nicht zu. Wenn Ärzt:innen von einem Konzern Geld bekommen, um ein bestimmtes Medikament zu verschreiben und zu beobachten, welche Nebenwirkungen bei den Patient:innen auftreten, ist es eine Anwendungsbeobachtung. Unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit sind diese Beobachtungen vor allem Marketinginstrumente, um die eigenen Medikamente in den Markt zu drücken und die Ärzt:innen durch die Zahlung von Honoraren zu beeinflussen und an den Konzern zu binden. 

Laut Recherchekollektiv Corrective legt nur jede:r vierte Ärzt:in Zahlungen offen auf, die er oder sie von Pharmafirmen erhält. Kein Gesetz verbietet es Ärzt:innen, Leistungen von Pharmakonzernen entgegenzunehmen. Natürlich sind nicht alle Ärzt:innen bestechlich, dennoch gibt es dieses Problem, welches erst dann gelöst werden kann, wenn etwas gegen die Pharmalobby getan wird, die in der Politik weitgehend beteiligt ist

Ärzt:innenmangel

Das dritte Problem mag sich banal anhören, ist allerdings sehr ausschlaggebend, denn was wäre das System ohne Ärzt:innen? Vor allem auf dem Land ist der Ärzt:innenmangel ein prägnanter Faktor, dessen Folgen nicht zu unterschätzen sind. Dort kann es durchaus sein, dass die nächste Fachärztin 50km entfernt ist und auch Termine bei Hausärzt:innen sind nicht leicht zu bekommen. Das liegt zum einen daran, dass Ärzt:innen in den Ruhestand gehen oder wegen dem niedrigeren Gehalt ungern auf dem Land arbeiten, denn dort sind durchschnittlich mehr gesetzlich versicherte Patient:innen als privat versicherte. Zum anderen zeigt sich der Ruf in die Stadt momentan in allen Bereichen, nicht nur im Gesundheitswesen. In der Folge kommt es dazu, dass alte Leute dann häufig gar nicht zur Ärztin gehen, da sie die lange Fahrt nicht antreten können, was starke Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann. Nicht nur auf dem Land mangelt es an Ärzt:innen, auch in öffentlichen Krankenhäusern ist Personalmangel ein großes Problem. 

Das Personal steht unter hoher Belastung und die Bezahlung ist im Vergleich geringer als bei einer Privatpraxis. Eine Umfrage der „Ärztegewerkschaft Marburger Bund“ gab bekannt, dass Krankenhausärzt:innen durchschnittlich zwischen 60 und 79 Stunden in der Woche arbeiten und das auch noch häufig in 24 Stunden Schichten ohne Schlaf. Das hat leider auch Folgen für die Qualität der dort stattfindenden Behandlungen. Die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) hat ausgerechnet, dass die Wahrscheinlichkeit, im Krankenhaus durch einen Behandlungsfehler zu sterben fünfmal höher ist, als bei einem Verkehrsunfall umzukommen. Expert:innen sagen, dass die hohe Arbeitsbelastung damit zusammenhängt.

Auch in der Pflege gibt es einen ernstzunehmenden Personalmangel, da der Beruf eine hohe Arbeitsbelastung mit wenig Wertschätzung und Gehalt mit sich bringt. Im sogenannten Care-Sektor sind es immer noch vor allem Frauen, die diese Berufe ausüben und zusätzlich zur privaten Hausarbeit ausgebeutet werden. Dazu kommt noch, dass Deutschland einen demographischen Wandel erlebt. Immer mehr alternde Menschen sind auf die Hilfe von immer weniger jüngeren angewiesen.

Obwohl das deutsche Gesundheitssystem eines der besten weltweit ist, heißt das nicht, dass alles perfekt ist. Sowohl für die Patient:innen, also auch für die Arbeiter:innen gibt es noch viel zu erkämpfen!

  • Rekommunalisierung aller Einrichtungen im Gesundheitsbereich unter Kontrolle der Beschäftigten, PatientInnen und BewohnerInnen! Nur so kann letztendlich auch der Lobbyismus gestoppt werden.
  • Für die Vergesellschaftung der Hausarbeit und Schluss mit weiblicher, prekärer Care-Arbeit in Krankenhäusern & Pflegeheimen!
  • Die privaten Krankenkassen abschaffen, immerhin sind bereits 90% der Versicherten (!) GKV-PatientInnen. Auch die restlichen 10% der privat Versicherten sollten dem Solidaritätsprinzip beitreten, welches alle Menschen gesundheitlich versorgen muss.
  • Arbeitszeitverkürzung für alle – bei vollem Lohn- und Personalausgleich: Verteilung der vorhandenen Arbeit auf mehr Schultern! Einführung der 30-Stunden- und Vier-Tage-Woche als erster Schritt!
  • Aufbau von mehr Personal im Gesundheitsbereich entsprechend dem Bedarf!
  • Finanzierung der Forderungen durch höhere Besteuerung der Reichen!
  • Für eine revolutionäre Streikbewegung im gesamten Gesundheitssektor, vom Pflegeheim bis zu den Produktionen von Arzneimitteln! Vollversammlungen & Streikkomitees in den Betrieben sind der erste Schritt zur Organisierung!



Kapitalismus macht krank

Von Pippine Garterbelt, März 2023

Triggerwarnung: Erwähnung von (sexualisierter) Gewalt, (sexualisierte) Gewalt an Kindern, Transfeindlichkeit, psychische Erkrankungen, Suizid, Krieg und Drogenmissbrauch

Dies ist der erste Teil unserer Artikelreihe, die sich mit mentaler Gesundheit im Kapitalismus beschäftigt. Sie beschäftigt sich einerseits mit den Ursachen psychischer Erkrankungen und warum der Kapitalismus kein Interesse daran hat, diese zu bekämpfen, aber auch mit den Perspektiven und notwendigen Forderungen für eine Zukunft, in der Gesundheit kein Luxus mehr sein muss.

Zahlen & Fakten: Lage der Arbeiter_Innen

Die folgenden Zahlen und Fakten verschaffen uns einen Eindruck davon, wie ernst die Ausmaße psychischer Erkrankungen in Deutschland sind und wie vielfältig ihre Auslöser sein können:

Seit neustem Stand sind 13,8 Millionen Menschen (das sind 600.000 Menschen mehr als noch vor der Pandemie), also 16,6% der Deutschen, aktuell von Armut betroffen, davon 2,8 Millionen Kinder und 9,3 Millionen Rentner_Innen. Jede zweite Rente liegt unter 900 Euro. Wir müssen meist 8 bis 10 Stunden täglich arbeiten, um unsere Lebenserhaltungskosten zu decken und unsere wenige Freizeit müssen wir dann noch unserer eigenen Reproduktionsarbeit widmen. Während durch die Inflation alles teurer wird, besonders die Lebensmittel- und Energiekosten auf Rekordniveau steigen, bleiben unsere Löhne unten. Unsere hohen Arbeitszeiten und dem massiven Leistungsdruck, der uns im Berufsalltag begegnet, sind verantwortlich für psychische Erkrankungen wie Burnout und Depressionen. Studien belegen, dass eine Arbeitswoche von 8 bis 20 Stunden die Menschen zufrieden und produktiver macht, während eine Arbeitswoche mit über 39 Stunden sogar negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit hat.  Das Burnout-Syndrom entsteht durch chronischen Stress am Arbeitsplatz, der nicht erfolgreich verarbeitet wird und ist erst seit diesem Jahr als Krankheit anerkannt. 2020 waren 180.000 Menschen an Burnout erkrankt, zusammen brachten sie es zu 4,5 Millionen Krankheitstagen. Das Risiko an einem Burnout zu erkranken, steigt mit zunehmendem Alter. Besonders soziale Berufsgruppen sind betroffen. 2021 gab es 611.000 leerstehende Wohnungen, trotzdem leben Menschen auf der Straße oder in heruntergekommenem, für die Wohngemeinschaften viel zu kleinem Wohnraum. Etwa 1,5 Millionen Mietwohnungen fehlen, besonders in Großstädten ist der Zustand extrem. 2019 wurden knapp 300.000 Wohnungen neu gebaut, weniger als ein Drittel davon sind klassische Mietwohnungen und weniger als ein Zehntel bezahlbare Sozialwohnungen. 2022 wurde in Berlin keine einzige Sozialwohnung gebaut – dafür wurden etliche abgerissen, um Platz für noch mehr Eigentumswohnungen zu schaffen. Im Schnitt bewerben sich um jede freie Wohnung in der Stadt mehr als 200 Menschen. Die Mieten haben sich in den letzten 10 Jahren in der Stadt mehr als verdoppelt. Der Quadratmeterpreis der länger bewohnten Wohnungen liegt im Durchschnitt bei 6,37€ und bei 10,55€ bei den neu zu vermieteten Wohnungen. Jeder zweite Berliner hätte Anspruch auf eine Sozialwohnung. Mediziner bestätigen, dass Menschen in Folge ihrer ungelösten Wohnungsfrage, und der damit einhergehenden Bedrohung der eigenen Existenz, depressiv werden. Menschen sexueller und geschlechtlicher Minderheiten, Menschen mit Migrationshintergrund oder einem ausländischen Nachnamen oder Menschen, die Teil einer religiösen Minderheit sind, sind auch bei der Wohnungssuche besonders diskriminiert. Gleichzeitig sind diese Menschen auch um ein Vielfaches eher von Armut betroffen. Dieses Jahr wurden mehr als 178.000 von Obdachlosigkeit betroffene Menschen in Unterkünften untergebracht. Die Lebenserwartung von obdachlosen Menschen liegt im Durchschnitt bei gerade einmal 49 Jahren – das sind 30 Jahre weniger als das aktuelle natürliche Sterbealter eines Menschen. Menschen, die in Armut leben, erkranken eher an Depressionen als Menschen aus reichen Verhältnissen. 2017 wurden 71.000 Menschen aufgrund psychischer Erkrankung arbeitsunfähig und mussten in Frührente gehen. Etwa 20% der Kinder und Jugendlichen leiden an psychischen Erkrankungen. Die viert häufigste Todesursache hierzulande von Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren ist Suizid. 42% der Mobbingopfer denken über Suizid nach. Menschen, die von psychischen Erkrankungen betroffen sind, sterben etwa 10 bis 20 Jahre früher als der Durchschnitt. Jährlich begehen mehr als 700.000 Menschen Suizid. Die häufigsten Gründe hierbei sind neben psychischer Erkrankung: Armut, Stress und familiäre Konflikte. In Deutschland sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten, AIDS und illegalem Drogenmissbrauch zusammen. Die meisten Menschen, die Suizid begehen sind unter 25 Jahre alt. Die Selbsttötungsrate liegt bei männlich sozialisierten Menschen dreimal so hoch, als bei weiblich sozialisierten Menschen und auch trans Personen und Personen sexueller und geschlechtlicher Minderheiten haben ein erhöhtes Risiko Suizid zu begehen, gegenüber cis Personen. 14% aller trans Jugendlichen und Jugendliche sexueller und geschlechtlicher Minderheiten denken im Jahr einmal daran, Suizid zu begehen. Der Grund warum der absolute Großteil der Selbsttötungsopfer männlich sozialisierte Personen sind, liegt auch genau daran: An ihrer Sozialisierung. Denn von ihnen wird Stärke erwartet, was der Grund dafür ist, dass sie sich seltener Hilfe suchen und seltener über Probleme sprechen. Auch Betroffene, die über ihre Probleme sprechen, schaffen es oft nicht, sich Gehör zu verschaffen, da psychische Erkrankungen, vor allem bei männlich sozialisierten Personen nach wie vor nicht ernst genommen werden.

Sexualisierte und häusliche Gewalt und emotionaler Missbrauch

Fast jede weiblich gelesene Person wird im Laufe ihres Lebens mindestens einmal Opfer sexualisierter Grenzüberschreitungen. Etwa 29,5% der weiblich sozialisierten Personen haben schon einmal sexualisierte Gewalt im erwachsenen Alter erfahren und etwa 27,7% im Kindesalter. Als sexualisierte Gewalt wird hierbei Nötigung zu ungewollten sexuellen Handlungen oder das (versuchte) Eindringen in den Körper gemeint. Menschen mit Behinderungen sind besonders betroffen: etwa jede zweite Person mit Behinderung wurde schon einmal Opfer sexualisierter Gewalt. Etwa 38% der Menschen, besonders männlich Sozialisierte, sind der Meinung, dass Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein kann. 2019 wurden in Deutschland 15.701 Kinder als Opfer sexuellen Missbrauchs polizeilich erfasst, während der Corona-Pandemie stieg die Zahl deutlich an. Dabei sind das nur die polizeilich bekannten Fälle, die Dunkelziffer ist um ein deutliches höher, denn nur jeder 15. bis 20. Missbrauchsfall wird angezeigt. Auch die Zahl der Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie stieg während der Corona-Pandemie um etwa 53% an. Kinder und Jugendliche sind doppelt so oft von häuslicher Gewalt betroffen, als weiblich wahrgenommene Personen. Die Zahl der Betroffenen von häuslicher Gewalt stieg um 100% an, wenn sich die Opfer mit ihren Tätern in Quarantäne befanden. Auch Familien die finanzielle Probleme haben, sind um ein Vielfaches häufiger von häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffen. Opfer emotionalen Missbrauchs, lassen sich viel schwerer statistisch erfassen, da die Gewalt auf rein zwischenmenschlicher Gefühlsebene stattfindet und so schwerer nachzuvollziehen ist, im Gegensatz zu physischer oder sexualisierter Gewalt. Emotionaler Missbrauch ist psychische Misshandlung die als Gehirnwäsche wirkt, durch ein regelmäßiges Muster verbaler Angriffe, konstanter Kritik und Erniedrigung, Manipulation, Kontrolle, Schuldzuweisungen, Isolierung und emotionaler Distanzierung, um so die Opfer in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Täter zu manipulieren. Chronische Traumatisierung im Kindesalter, etwa in Form regelmäßiger emotionaler, psychischer Misshandlung, sind Grundstein psychischer Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen im Erwachsenenalter. Emotionaler Missbrauch kann in jedem Alter und in jeder Art von Beziehung stattfinden, dabei sind die Täter immer in einer höher gestellten Machtposition zu dem Opfer.  

Flucht und Krieg

2021 wurden weltweit insgesamt 28 Kriege und bewaffnete Konflikte geführt. 100.000.000 Menschen sind aktuell auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen. Das sind mehr Menschen als jemals zu vor in der Geschichte der Menschheit. Menschen, die gezwungen sind, vor Konflikten, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung zu fliehen, kommen meist nur mit dem, was sie am Körper tragen und schweren Traumata aus ihren Herkunftsländern her. Alles andere mussten sie zurücklassen, wurde zerstört oder ihnen genommen. Doch auch während der Flucht kommt es oft zu weiteren traumatischen Geschehnissen, durch unsichere Fluchtwege, Repressionen, Vergewaltigung, Gewalt und systematischer unterlassener Hilfeleistungen an den Grenzen. Jedes Jahr sterben tausende Menschen auf der Flucht. In einem sicheren Land angekommen, hören die Probleme nicht auf: Hier bekommen die Menschen, die ihre Reise überlebt haben, erst einmal jahrelang keine Arbeitserlaubnis, ihre absolvierten Schul- und beruflichen Abschlüsse werden oft nicht anerkannt, sie sind isoliert in Massenunterkünften, haben keine Reisefreiheit um auch mal nur eine andere Stadt zu besuchen. Alles ist bürokratisiert, dabei sind wichtige Dokumente nicht in allen Sprachen verfügbar und es fehlt an übersetzendem Fachpersonal. Die Quote von falsch bearbeiteten Anträgen und eigentlich verbotenen Abschiebungen ist erschreckend hoch. Geflüchtete Menschen müssen hier in dauerhafter Unsicherheit über ihr Bleiberecht und Angst vor einer plötzlichen Abschiebung leben und dann liegt ihr Schicksal meist nur in den Händen einer einzigen Person, die die Macht hat völlig willkürlich Entscheidungen zu treffen. 

Gesundheitssystem und psychische Erkrankungen

Ambulante Therapieplätze für Betroffene

Vor der Pandemie lagen die Wartezeiten auf einen Therapieplatz bei 3 bis 9 Monaten, denn schon vor Corona fehlten mindestens 1750 Kassensitze für Psychotherapeut_Innen. Dabei sind die Fälle von Depressionen und Angststörungen während der Pandemie weltweit um etwa 25 Prozent gestiegen. Seit 2017 hat jeder Mensch ein Recht auf eine psychotherapeutische Akutsprechstunde, jedoch erhalten 40% der Betroffenen nach einer solchen Sitzung keinen Therapieplatz. Die richtige Therapie für sich zu finden ist schwer. Es gibt unzählige Therapieverfahren, nur drei der vielen Behandlungsformen gelten in Deutschland derzeit als anerkannte Psychotherapieverfahren im Sinne der Psychotherapie-Richtlinie und werden von der gesetzlichen Krankenkasse, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, übernommen. Nur etwa 18,9% der betroffenen erwachsenen Bevölkerung geht überhaupt auf Therapieplatzsuche. Denn wer in Deutschland einen Therapieplatz sucht, ist auf sich allein gestellt. Wer mit Symptomen psychischer Erkrankungen zum Hausarzt geht, dem_der wird eine Psychotherapie empfohlen und bekommt bestenfalls noch eine Liste aller ambulanten Psychlog_Innen in der Umgebung. Darunter ein bunter Mischmasch von Verhaltenstherapeut_Innen, Tiefenpsycholog_Innen, Traumatherapeut_Innen, systemischer und psychoanalytischer Therapien. Dann heißt es eine Praxis nach der anderen abzutelefonieren, in eine Mailbox zu der anderen reinsprechen, um eine Absage nach der anderen zu bekommen – falls man denn überhaupt eine Antwort bekommt. Doch wer weiß schon, was man als erkrankte Person meist noch ohne erste Diagnose für eine Therapieform braucht? Oft landen Patient_Innen dann in völlig falschen Therapieverfahren und Erlangen trotz zum Teil jahrelanger Therapie keinen Fortschritt. So steht die Psychotherapie schon seit geraumer Zeit aufgrund mangelnder oder gar fehlender Wirksamkeit in Kritik. 20 bis 50% der Patient_Innen, besonders Menschen in Armut, Menschen mit einem geringen Bildungsstand, Menschen, die Teil einer ethnischen Minderheit sind, Jugendliche, Rentner_Innen und Menschen mit Ess- oder Persönlichkeitsstörung brechen ihre Therapie frühzeitig ab.

Lage der deutschen Psychiatrien

Die Zustände in deutschen Psychiatrien bezeichnet die Aufsichtskommission als skandalös. Personalmangel, Überbelegung, fehlende Aufenthaltsräume und Freiflächen. Verdeckte Reporter_Innen berichten von verstörenden Bestrafungen von Patient_Innen in geschlossenen Psychiatrien. So werden Menschen, die aufgrund ihrer selbst- oder fremdgefährdenden Symptomatik eine 1 zu 1 Betreuung bräuchten, für mehrere Stunden mit Gurten fixiert. Teilweise immer wieder, auch Wochen und Monate. Dabei ist eine Fixierung länger als 30 Minuten nicht legal und müsste mit einem gerichtlichen Beschluss angeordnet werden. Enthüllungsjournalist_Innen aus einer Vivantes Klinik berichten, ein_e Psycholog_In betreue 40 bis 60 Patient_Innen gleichzeitig, daher kommt es oft zum Ausfall von Therapien. Aus einer Jugendhilfe- und Wohneinrichtung aus Eifel wird berichtet, dass es dort im Keller einen „Deeskalationsraum“ ohne Tageslicht und Toilette, mit Guckloch in der Tür gäbe, in denen die jugendlichen, psychisch kranken Bewohner_Innen als Strafmaßnahme teilweise mehrere Tage lang eingesperrt werden. „Deeskalationsräume“ so und ähnlich finden sich in psychologischen Einrichtungen überall im Land und die Gefahr, dass sie als Strafmaßnahmen missbraucht werden ist, besonders aufgrund des massivem Personalmangels, hoch. Aus anderen Kliniken wird berichtet, dass Patient_Innen die Einnahme von Beruhigungsmitteln aufgezwungen wird, indem sie zum Beispiel heimlich unters Essen gemischt wird. In vielen Kliniken macht es den Eindruck, die Medikation stehe über der eigentlichen Therapie. Aus Berichten geht hervor, dass viele Patient_Innen keine stationäre Behandlung und lieber ambulante Hilfe bräuchten, ein stationärer Platz jedoch profitabler ist.
Schon 1971 wurden die Zustände in den Psychiatrien untersucht und als „katastrophal“ erklärt. Ziele einer sogenannten „Psychiatrie-Reform“ wurden beschlossen – und bis heute nicht vollständig erreicht. Die neuen Berichte schätzen ein, die Situationen in den Psychiatrien wären zum Teil wie noch vor 20 bis 30 Jahren.

Heilung ist ein Privileg

Etwa 1.000.000.000 Menschen auf der Welt sind aktuell von psychischen Erkrankungen betroffen – dabei dürfte die Dunkelziffer noch viel höher sein, da viele aufgrund der schweren Zugänglichkeit zu professioneller Hilfe und der gesellschaftlichen Stigmatisierung nicht diagnostiziert werden. Während arme Menschen am stärksten betroffen sind, sind sie gleichzeitig auch die Menschen, die am seltensten in Behandlung sind. In Deutschland sind die häufigsten Krankheitsbilder Angststörungen, Depressionen und Sucht – mehr als jeder vierte Erwachsene ist jährlich davon betroffen. Menschen in Therapie müssen oft ihre Arbeitszeiten für ihre Sitzungen opfern, sofern sie die Möglichkeit dafür haben, oder müssen eher sogar zwischen ihrem Job und Therapie wählen. Somit sind Betroffene häufiger von Arbeitslosigkeit und Armut bedroht. Armut ist also nicht nur Auslöser, sondern kann auch Folge einer psychischen Störung sein. Sich von einer psychischen Erkrankung erholen zu können ist also ein Privileg. Und das sollte es nicht sein.

Die Befreiung der Menschen als wirksamste Therapie

Wer sich jetzt diese Zahlen angesehen hat und immer noch glaubt, der Kapitalismus würde die Menschen nicht krank machen, kann nur Klassenfeind der unterdrückten Masse sein oder Martin Dornes heißen. Denn aus den Zahlen lässt sich eindeutig schlussfolgern: Menschen, die eine besondere Unterdrückung im Kapitalismus erfahren, sind auch gefährdeter eine psychologische Erkrankung zu erleiden oder an einem Suizid zu versterben. Übermäßige Arbeitsbelastung, fehlende Sozialleistungen, traditionelle Geschlechterrrollen und Familienverhältnisse, Krieg & ein kaputtgespartes Gesundheitssystem nützen einzig und alleine den Kapitalist_Innen und ihrem Streben nach maximalem Profit, während sie den Großteil der Menschen krank machen. Würde die Menschheit in Folge einer sozialistischen Revolution befreit werden und eine Gesellschaft aufgebaut werden, in der jeder Mensch an seinen Bedürfnissen orientiert leben kann, frei von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung, würde auch die psychoanalytische Forschung einen rasanten Sprung nach vorne machen. Weil sie nur noch dem wissenschaftlichen Interesse verschrieben wäre und nicht mehr von einem Kapitalinteresse bestimmt oder der Finanzierung der Herrschenden abhängig wäre und nicht in Konkurrenz zu anderen Forschungsinstituten stände. Menschen, die in Staaten leben, die ein stabileres Gesundheitssystem, kürzere Arbeitszeiten, bessere Bezahlung und weniger Leistungsdruck in der Gesellschaft ausgesetzt sind, sind statistisch gesehen glücklicher, als Menschen aus konservativeren oder kolonialisierten Staaten. Wie glücklich könnten wir also in einer Welt sein, die auf unsere freien Entfaltungen ausgelegt ist und sich nach unserer aller Bedürfnisse richtet, weil wir nun alle Teil der demokratischen Organisierung unserer Gemeinschaft wären?
Mit der Zahl der Arbeitslosen in der BRD und dem technologischen Fortschritt, wäre es möglich, dass wir mit 4 Arbeitstagen pro Woche und 5-6 Stunden am Tag, bei vollem Lohnausgleich weiter machen könnten. Studien belegen, dass 8-20 Stunden Arbeit pro Woche förderlich für die Gesundheit sind, während über 39 Stunden sich als schädlich für die Gesundheit herausgestellt haben, körperlich wie auch psychisch! Diese Änderungen sind sofort umsetzbar, Zahlen müssen dafür die Menschen, die mit unserer Gesundheit und unserer Arbeit ihren Reichtum ergaunert haben. Dieses System macht krank und nur wir können es durch gemeinsamen Kampf der Arbeiter_Innen, Jugendlichen, Arbeitslosen und Betroffenen ändern!

Daher fordern wir:

  • Sofortige Einführung der 6 Stunden-Tage und 4 Tage-Arbeitswoche, höhere Löhne und mehr Personal!
  • Hartz IV endlich abschaffen! Inflationsgedeckte staatliche Auszahlungen an von Arbeitslosigkeit betroffene Menschen und selbstversorgenden Jugendlichen in Heimeinrichtungen.
  • Mehr Personal und Geld in die Kinderbetreuung und Bildungseinrichtungen! Lasst die Kinder und Jugendlichen gemeinsam mit den Erwachsenen über ihren Betreuungs- und Schulalltag bestimmen!
  • Kollektive Selbstverteidigungsstrukturen für alle unterdrückten Gruppen!
  • Sofortiger staatlich finanzierter Inflationsausgleich!
  • Enteignung der Immobilienkonzerne – die Häuser denen die sie brauchen! Kein Mensch darf mehr von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen oder gar nur bedroht sein!
  • Transsexuellengesetz abschaffen! Für eine sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung!
  • Emotionaler Missbrauch ist Missbrauch und muss als solcher anerkannt und verfolgt werden! Ausbau von Schutzeinrichtungen für Gewaltopfer jeder Art und Geschlecht!
  • Bleiberecht für alle! Für sichere Fluchtwege und offene Grenzen!
  • Keine Profite auf Kosten unserer Gesundheit! Entprivatisierung des Gesundheitssystem und Enteignung der pharmazeutischen Industrien unter Kontrolle der Arbeiter_Innen!

Quellen:

Armut und Depression: https://amp.focus.de/gesundheit/ratgeber/depression/soziale-ungleichheit-ganz-unten-was-ihr-ueber-den-teufelskreis-aus-armut-und-depression-wissen-muesst_id_10183665.html

Abbruchquote Therapie: https://m.faz.net/aktuell/wissen/medizin-ernaehrung/warum-patienten-psychotherapien-abbrechen-13524579.amp.html

Wirksamkeit und Methodik Psychotherapie: https://www.spektrum.de/news/psychotherapie-was-tatsaechlich-wirkt/1991017

Depression und Corona: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/who-corona-anstieg-psychische-krankheiten-101.html

Mobbing: https://www.experto.de/businesstipps/Suizid-als-letzter-ausweg-aus-der-mobbing-falle.html

Emotionaler Missbrauch: https://blog.cognifit.com/de/emotionaler-missbrauch/amp/

8 Stunden Tag: https://hire.workwise.io/hr-praxis/organisationsentwicklung/sechsstundentag

Wohnungsfrage: https://www.deutschlandfunknova.de/amp/beitrag/psyche-wohnungssuche-kann-krank-machen

https://www.deutschlandfunknova.de/amp/beitrag/psyche-wohnungssuche-kann-krank-machen

https://www.wz.de/nrw/mehr-wohnraum-gefordert_aid-57926687

https://www.empirica-institut.de/nc/nachrichten/details/nachricht/cbre-empirica-leerstandsindex-2021/

Burnout: https://anti-stress-team.de/blog/stress/burnout-statistiken/

Flucht: https://www.dw.com/de/unhcr-mehr-menschen-denn-je-auf-der-flucht/a-61894830

Psychiatrien/Psychotherapie: https://www.empirica-institut.de/nc/nachrichten/details/nachricht/cbre-empirica-leerstandsindex-2021/

https://www.stern.de/amp/wirtschaft/news/team-wallraff-deckt-untragbare-zustaende-in-psychiatrien-auf-8628102.html

https://www.psychologie-aktuell.com/news/aktuelle-news-psychologie/news-lesen/der-psychiatrie-skandal-hunderttausende-patienten-landen-aus-finanziellen-gruenden-im-krankenhaus.html

https://www.spiegel.de/politik/das-dasein-wird-seziert-a-0e34f794-0002-0001-0000-000013691520

https://www.spiegel.de/politik/das-dasein-wird-seziert-a-0e34f794-0002-0001-0000-000013691520

https://www.aerzteblatt.de/archiv/25936/Psychiatrie-Reform-Auf-halbem-Weg-stecken-geblieben




Britannien: Klassenkampf gegen die Krise des Gesundheitswesens

von Andy Yorke, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Der Winter ist da und mit ihm die bisher schwerste Krise des Gesundheitssystems. Trotz der Atempause nach der Covidpandemie im Jahr 2022 erreichten die Wartelisten im Dezember einen neuen Rekord von 7,2 Millionen, mit bis zu 500 zusätzlichen Todesfällen pro Woche als Folge von Verzögerungen.

Eine Rekordzahl von Patient:innen wartete über 12 Stunden auf eine Behandlung in der Notaufnahme. Daher herrschte weithin Ungläubigkeit, als der Sprecher der konservativen Sunak-Regierung bestritt, dass es sich bei dieser „beispiellosen Herausforderung“ um eine Krise handele, und behauptete: „Wir sind zuversichtlich, dass wir den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) mit den erforderlichen Mitteln ausstatten“. So versuchte er, die Krise auf die Pandemie zu schieben.

Doch diese begann lange davor. Das jährliche Wachstum der Ausgaben von 6 % im Gesundheitswesen unter der letzten Labour-Regierung wurde durch die Sparmaßnahmen auf weniger als 1,8 % gesenkt. Das Vereinigte Königreich liegt bei der Bettenzahl pro Kopf weit unter dem internationalen Durchschnitt, selbst im Vergleich zu ärmeren Ländern, und weist seit 2010 eine dauerhaft zu niedrige Zahl freier Betten auf. Das Ziel, die durchschnittliche Belegung auf 18 Patient:innen pro Woche und Bett zu erhöhen, wurde seit 2016 nicht mehr erreicht.

In der Winterkrise 2017 war der NHS gezwungen, Zehntausende von Operationen abzusagen. Im Jahr 2022 lag die Zahl bei 350.000, also fast tausend pro Tag! Schon vor der Pandemie warteten 8.270 Patient:innen in der Notaufnahme im Jahr 2019 mehr als 12 Stunden auf eine Behandlung (ein Sechsfaches gegenüber 2015). Die Krise des Gesundheitssystems wird durch die des unterfinanzierten, überwiegend privaten Sozialfürsorgesektors noch verschärft.

Das Scheitern des NHS

Der Schlüssel zum Verständnis der Krise sind unzureichende Finanzierung und Personalmangel. Die Zahl der unbesetzten Stellen für medizinisches Personal und die Wartelisten sind parallel angestiegen. Jede Regierung der britischen Konservativen (Tories) führt eine weitere schmerzhafte Umstrukturierung durch, doch trotz der Forderungen der Gewerkschaften und der Britischen Medizinischen Vereinigung nach transparenten Personalbewertungen hat keine Regierung seit 2003 eine nationale Personalstrategie für den Gesundheitssektor vorgelegt. Stattdessen verlassen sich die Tories auf „Lückenbüßer:innen“, d. h. den privaten Sektor, Leiharbeitsagenturen mit Aushilfskräften für die Krankenhäuser.

46.000 unbesetzte Stellen für Krankenschwestern und -pfleger (11,7 % der Belegschaft) zeigen den Zusammenhang zwischen der Unterfinanzierung von Seiten der Tories und Privatisierung. In einem Teufelskreis verlassen nun tausende Pflegekräfte den NHS aufgrund von Überlastung, Stress und sinkender Bezahlung. Ihr Streik setzt einen ersten Schritt, um diese von den Konservativen verursachte Katastrophe rückgängig zu machen.

Die Regierung Sunak nutzt die Krise wie alle ihre Tory-Vorgänger:innen, um die Privatisierung weiter voranzutreiben. Sie umgeht Gespräche mit den Gewerkschaften und setzt die Covidpolitik fort, private Krankenhäuser und Pflegeheime für Betten zu bezahlen, was den öffentlichen Gesundheitsdienst bis zu eine Milliarde Pfund kostet.

Für die Tories blockieren Krankenhäuser weitere Privatisierungen. Deshalb sind die Pläne, 150 psychiatrische Behandlungszentren zu bauen und Patient:innen von den Notaufnahmen fernzuhalten, Teil des Vorhabens, die Gesundheitsversorgung in die Wohnviertel zu verlegen und den NHS zu zerschlagen.

Die Tories wollen nicht mehr Krankenpfleger:innen finanzieren, sind aber sehr darum besorgt, den NHS immer wieder umzustrukturieren, um mehr Profit herauszuholen. Bei der jüngsten Umstrukturierung wurden 42 integrierte Pflegegremien für den NHS England eingerichtet. Diese sind Teil des Ansatzes der Tories, den NHS zu fragmentieren und den Zugang für private Unternehmen auf jeder Ebene, einschließlich der Auftragsvergabe und Planung, zu verbessern.

In der Zwischenzeit schloss eine halbe Million Menschen im Jahr 2022 eine private Krankenversicherung ab, und viele weitere bezahlten für eine private Behandlung, mit der sie die Warteschlange des staatlichen Gesundheitsdienstes praktisch überspringen konnten und eine Untersuchung oder Operation beim selben Arzt/bei derselben Ärztin im gleichen Krankenhaus erhielten, von der ihnen gesagt worden war, dass sie erst in einigen Monaten verfügbar wäre!

Wird Labour das Gesundheitswesen retten?

Viele setzten ihre Hoffnungen auf Labour. Doch die New-Labour-Regierung verband die Aufstockung der Mittel mit Kürzungen bei Betten und Personal und einer weiteren Öffnung des staatlichen Gesundheitsdienstes für die Privatisierung. Labour-Vorsitzender Keir Starmer verspricht, dass seine Regierung die Mittel aufstocken wird, aber „Investitionen allein nicht ausreichen“. Das bedeutet noch mehr Umstrukturierungen und eine größere Rolle für den privaten Sektor.

In Wirklichkeit wird die Wiedereinführung des Spitzensteuersatzes von 45 Prozent nicht annähernd ausreichen, um das schwarze Loch in der Finanzierung des staatlichen Gesundheitsdiensts zu stopfen, und es gibt keinen Plan, um die Schäden von vier Jahrzehnten Marktwirtschaft und Privatisierung rückgängig zu machen. Schlimmer noch, die Lösung des Schattengesundheitsministers besteht darin, den privaten Sektor zu nutzen, um die Wartelisten zu verkürzen.

Ein siegreicher Streik der Krankenschwestern und -pfleger erfordert nicht nur das Festhalten an einer voll finanzierten realen Gehaltserhöhung, sondern hängt von der Gründung einer Massenbewegung zur Verteidigung des staatlichen Gesundheitswesens und dem Kampf für den Ausbau des öffentlichen Dienstes ab, der durch die Besteuerung der Reichen finanziert wird. Dies ist der erfolgversprechendste Weg, um sicherzustellen, dass die Beschäftigten und Nutzer:innen des NHS in der Lage sind, Labour dazu zu bringen, ihn wirklich zu verteidigen.

Streikwelle geht weiter

In einer historischen Premiere haben sich die Krankenschwestern und -pfleger der Gewerkschaft RCN (Royal College of Nursing; Britanniens größte Gewerkschaft und Berufskörperschaft für Pflegende), die bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben wurden, der Streikwelle gegen die Lebenshaltungskostenkrise angeschlossen. Und trotz der Versuche der Medien, die öffentliche Missbilligung auszutesten, erhalten sie massive Unterstützung. Eine Million Mal werden Patient:innen alle 36 Stunden im öffentlichen Gesundheitsdienst behandelt, und sie sind dem hart arbeitenden Personal in überwältigender Weise dankbar und unterstützen es.

Jahrelang sinkende Reallöhne (um mehr als 20 % seit 2010), unterbesetzte und chaotische Stationen, die nur mit Überstunden arbeiten, und der unerbittliche Druck der Covid- und Grippewinterepidemien haben viele Krankenpflegekräfte veranlasst, trotz der Ängste um ihre Patient:innen zu streiken. Weit davon entfernt, den Patient:innen zu schaden, wie in den Medien behauptet wird, scheint ein Arbeitskampf für viele die einzige Möglichkeit zu sein, nicht nur die Löhne zu erhöhen, sondern auch mehr Personal anzuwerben und das staatliche Gesundheitssystem zu retten. Es gibt über 132.000 unbesetzte Stellen.

Erstmals schließen sich auch die Krankenwagenfahrer:innen der Gewerkschaften GMB (National Union of General and Municipal Workers) sowie Unison und Unite (zwei weitere Gewerkschaften im öffentlichen und privaten Dienstleistungssektor) und außerdem Physiotherapeut:innen, Hebammen und Röntgenassistent:innen dem Kampf gegen die sinkenden Löhne an. Bei der Urabstimmung der gewerkschaftlichen medizinischen Vereinigung BMA von 45.000 Ärzt:innen in der Ausbildung über eine beleidigende Gehaltserhöhung von 2 % in diesem Jahr wird wahrscheinlich mit „Ja“ für eine Aktion gestimmt werden. Mit einer für März geplanten 72-stündigen Arbeitsniederlegung werden sich noch mehr Ärzt:innen dem Kampf für Gehalt und Finanzierung anschließen. Am 6. Februar fand der bisher größte Streik im Gesundheitswesen statt, bei dem Krankenschwestern und -pfleger, Sanitäter:innen und andere Beschäftigte die Arbeit niederlegten.

Organisiert die Basis!

Die Beschäftigten müssen Einigkeit, Koordinierung und eskalierende Maßnahmen fordern. GMB- und Unison-Ambulanzbeschäftigte streiken bisher zumeist getrennt. Das RCN lässt verschiedene Sektionen von Krankenpersonal an unterschiedlichen Tagen streiken. In Schottland und Wales haben die Gewerkschaften ihre Streiks für Gespräche mit den (dezentralen) Regionalregierungen ausgesetzt.

Belegschaftsversammlungen zur Bildung von Delegiertenausschüssen in und zwischen Krankenhäusern und weiteren Einrichtungen (z. B. ausgelagerten, privatisierten Abteilungen) sind der Schlüssel zum Erfolg der Streiks. Diese können die Entschlossenheit stärken, diejenigen unterstützen, die noch an der Urabstimmung teilnehmen, und auf weitere Maßnahmen drängen, um den Konflikt zu kontrollieren.




Kapitalismus macht krank! 5 Fragen und 5 Antworten zum Zusammenhang von psychischen Erkrankungen und Kapitalismus

von Leila Cheng

Was sind psychische Erkrankungen?

Es gibt viele verschiedene psychische Erkrankungen. Diese sind immer noch stigmatisiert und es wird öffentlich kaum darüber gesprochen, obwohl jeder zweite Mensch einmal im Leben an ihnen erkrankt. Psychische Erkrankungen sind ebenso vielfältig wie die Krankheiten des Körpers. Sie beinträchtigen Stimmungen und Gefühle, verursachen Ängste und Zwangshandlungen, verzerren die Wahrnehmung oder stören Denkvermögen und Gedächtnis.

Macht uns der Kapitalismus krank?

Wenn man nicht so funktioniert, wie es die Gesellschaft von einem erwartet, ist man halt selbst schuld und sollte das eigenverantwortlich wieder in den Griff kriegen. So ist das allgemeine Bild, das im Kapitalismus von psychischen Erkrankungen vermittelt wird. Die strukturellen Probleme des Kapitalismus selbst, die es eigentlich sind, die uns krank machen, werden dabei verschleiert. Denn unser Sein bestimmt unser Bewusstsein: Was wir täglich erleben, wie wir aufwachsen, was unser Umfeld und die Gesellschaft tun, in welcher sozialen Lage wir uns befinden, all dies prägt unser Bewusstsein, unseren Charakter, unsere Psyche.

Im Kapitalismus befinden wir uns in einem System, was auf ständiger Konkurrenz aufbaut. So bekommt nur eine_r von vielen einen Arbeitsplatz, nur die mit dem besten Notendurchschnitt können studieren. Ständig geht es darum der oder die Beste, Schnellste, Größte, Tollste zu sein. Denn in der kapitalistischen Ideologie sind nur die etwas wert, die auch etwas leisten. Das sorgt für enormen Stress, Streit, Zwietracht, Selbstzweifel, Versagensängste und Mobbing. Viele Menschen arbeiten sich durch diesen Druck ins Burnout oder bekommen vom Stress Panikattacken oder Depressionen. Wer sich nach oben strecken muss, tritt häufig nach unten. So werden laut gewerkschaftlichen Studien ca. 3 bis 5 Prozent aller Beschäftigten am Arbeitsplatz gemobbt. In Schulen ist die Zahl weitaus höher. Diskriminierungsstrukturen verstärken dies noch: Rassismus, Sexismus, Ableismus, LGBTIA-Feindlichkeit, Antisemitismus und vieles mehr sorgen für schlimme Traumata, Mobbing und daraus folgende Angststörungen. Als hätten es sexistisch unterdrückte oder migrantisierte Menschen nicht schon schwer genug. So sind gerade sie es, die oft noch unter Traumata durch sexuelle Gewalt, Krieg und Flucht leiden.

Auch Armut und Geldsorgen verursachen permanenten Stress, Angst und Leid. Auch sie sind ein Auslöser für viele psychische Erkrankungen. Gerade arme Menschen sind überdurchschnittlich oft betroffen. Gleichzeitig werden gerade Jugendliche, die sich nicht anpassen wollen, nicht brav genug sind, sich nicht den autoritären Regeln beugen, häufig mit Diagnosen von Persönlichkeitsstörungen, Entwicklungsstörungen und psychischen Erkrankungen gebrandmarkt und aussortiert.

Warum sind Jugendliche besonders von psychischen Erkrankungen betroffen?

Nach Angaben der World Health Organization sind weltweit etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychisch erkrankt. Der WHO-Chef dazu: „Eine der wichtigsten Ursachen für Depressionen sind Missbrauch, Mobbing oder Schikane im Kindesalter.“ Tatsächlich entstehen die meisten psychischen Erkrankungen bereits in der Kindheit und Jugendzeit, bzw. haben da ihre Ursache.

Das liegt zum einen an unserem Bildungssystem. Um uns auf die Anforderungen der kapitalistischen Verwertungslogik vorzubereiten und vorzusortieren, wer später welche Drecksarbeit macht, baut auch die Schule auf Konkurrenz, Disziplinierung und Leistungsdruck auf. Wir spüren dies durch das Notensystem, Tadel, Versetzungsentscheidungen, unendliche Berge an Schulstoff, Strafarbeiten und viele Prüfungsängste. Dieser große Druck führt teilweise zu erhöhten Selbstmordraten unter Jugendlichen und dazu, dass sich dieser Druck in Mobbing zwischen den Schüler_Innen entlädt. Neben dem Schulstress wirkt auch der gesellschaftlich gemachte Optimierungswahn großen Druck auf uns aus. Einem unerreichbaren Schönheitsideal hinterherrennend, spritzen sich Jugendliche Steroide oder hungern sich magersüchtig. Viele verfallen in Depressionen oder werden zu Mobbingopfern, weil sie den Bildern von angeblich perfekten Körpern nicht entsprechen. Hinzu kommen kapitalistische Statussymbole wie Markenklamotten, iPhones, Sneaker usw. Wer das nicht hat, wird oft zum Außenseiter gemacht.

Doch der Druck kommt nicht nur von Mitschüler_Innen und der Schule, sondern auch aus der Familie, die angeblich ein save space sein soll. Dabei bedeutet Familie im Kapitalismus vor allem die Herrschaft des Mannes über Frau und Kinder. Immer noch kommt es oft zu Gewalt an Kindern oder sexuellem, psychischem und körperlichem Missbrauch. Der Leistungsdruck kommt oft schon vor dem Schulbesuch aus den Elternhäusern und hört nie auf. Da wir von unseren Eltern finanziell abhängig sind, werden wir von ihnen entmündigt. Wir erfahren die ersten Jahrzehnte unseres Lebens, dass wir machtlos sind, unsere Meinung nicht zählt und wir uns unterzuordnen haben. Dabei sorgt die starke Belastung, die der Kapitalismus auf Arbeiter_Innenfamilien durch Reproduktionsarbeit, Zukunftsängste, Kündigungen, Teilzeitverträge, Überstunden, Jobcenter-Sanktionen, Kreditrückzahlungen usw. ausübt, dafür, dass die glückliche Mutter-Vater-Kind-Familie aus dem Kinderbuch in der Realität kaum existiert. Stattdessen existieren Trennungsstreits, Gewalt und Vernachlässigung und all das kann psychische Erkrankungen im frühen Kindesalter auslösen.

Warum können psychische Erkrankungen im Kapitalismus nicht effektiv geheilt werden?

Das liegt zum einen daran, dass der kapitalistische Staat, um wettbewerbsfähig zu bleiben, kontinuierlich im Gesundheitssektor Geld einspart. Zum anderen liegt es daran, dass die angebotenen Therapieformen fast nur Symptome bekämpfen und nicht die dahinterliegenden Ursachen. Denn das Ziel einer Therapie im Kapitalismus ist leider oft nicht die Gesundung, sondern die schnellstmögliche Wiedereingliederung in das System, also das Arbeiten gehen, Hausarbeit machen und Leistungen bringen. Außerdem hält sich der Irrglaube, dass psychische Erkrankungen keine „richtigen“ Erkrankungen seien. Deswegen lässt sich auch nur ein Drittel der Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland behandeln. Ein weiterer Grund dafür ist die schnelle Kategorisierung von Menschen in Krankheitsbilder, die ihnen oft auch aufgepresst werden (zum Beispiel ohne Gespräche über schriftliche Fragebögen). In unserem kaputtgesparten Gesundheitssystem wird zudem häufig zur günstigeren Medikamentenvergabe gegriffen und das Pflegepersonal hat kaum genügend Zeit, um sich angemessen um die Patient_Innen zu kümmern.

Aber das größere Problem ist nicht, dass Leute sich nicht behandeln lassen, sondern, dass es nicht genügend Angebote gibt. Es kommt nämlich zur künstlichen Verknappung von Therapieplätzen durch Krankenkassen, um Geld zu sparen. So kommt es teilweise zu Wartezeiten von 6 Monaten bis 1 Jahr auf einen ambulanten Therapieplatz, noch länger auf Klinikplätze. Wer reich ist, kann sich meist bessere und einfacher zugängliche Privattherapien leisten, während wir lange auf einen staatlich finanzierten Therapieplatz warten müssen. Außerdem kommen jede Menge versteckte Kosten einer Therapie dazu, z.B. therapiebedingter Arbeitsausfall, Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Erkrankung, Krankenhausgeld und Medikamentenzuzahlungen. Für Lohnabhängige ist das alles schwer finanzierbar.

Für Jugendliche unter 18 kommt noch die völlige Abhängigkeit von ihren Eltern als ein weiteres Problem hinzu. Sie können z.B. nicht allein mit dem_der Therapeut_In über die Medikamenteneinnahme oder den Beginn einer Therapie entscheiden. Bei unter 16-Jährigen dürfen die Eltern sogar bei der Therapie dabei sein, obwohl sie oft Teil des Problems sind.

Was können wir tun, um unsere Situation zu verbessern?

Wer einen Therapieplatz ergattert hat, kann sich glücklich schätzen. Es ist gut und wichtig, dass wir uns Hilfe holen, wenn wir selbst nicht mehr weiterwissen. Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass unsere Probleme nicht aus unserem individuellen Versagen herrühren, sondern gesellschaftliche Ursachen haben. Und um diese Ursachen langfristig zu bekämpfen, hilft nur revolutionäre Organisierung, um dieses Scheißsystem endlich in eine gerechtere und menschenwürdigere Gesellschaft zu verwandeln. Trotzdem müssen wir im Hier und Jetzt für Verbesserungen eintreten und diesen Kampf zu einem Kampf gegen den Kapitalismus ausweiten. Wir fordern:

  1. Für eine flächendeckende Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich! Weg mit Hartz IV und ein Mindesteinkommen von 1.600 Euro/Monat für Jugendliche, Arbeitslose und Rentner_Innen!
  2. Für den Ausbau von Schutzeinrichtungen für Gewaltopfer jeder Art, Herkunft und Geschlecht! Kollektive Selbstverteidigungsstrukturen für alle unterdrückten Gruppen!
  3. Für mehr Schulpsycholog_Innen und Sozialarbeiter_Innen! Aufklärung über die menschliche Psyche und eine Entstigmatisierung ihrer Erkrankungen gehört in den Schulunterricht!
  4. Keine Profite auf Kosten unserer Gesundheit! Entprivatisierung des Gesundheitssystems und Enteignung der pharmazeutischen Industrien unter Kontrolle von Patient_Innen, Jugendlichen und Arbeiter_Innen!
  5. Für die Abschaffung der privaten Krankenkassen und die Auflösung der bürokratischen Hürden bei der Therapieplatzvergabe! Kostenlose Therapieplätze und freie Wahlmöglichkeiten der Therapieform und der Therapeut_Innen!



Bericht: Lage in den psychischen Kliniken in Sachsen

Im Kapitalismus leiden viele Menschen unter Depressionen, Angststörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Drogenabhängigkeit und vielen anderen psychischen Krankheiten. Diese werden unter anderem durch enorme Belastung und den Stress in 40 Stunden Lohnarbeit, durch die Mehrbelastung von Frauen, Job und Familie unter einen Hut zu bekommen, durch traumatische Erlebnisse wie Kriegserfahrungen, sexuelle oder rassistische Gewalt verursacht, was alles mit dem kapitalistischen System zusammenhängt. Aber anders als körperliche Krankheiten sind psychische meist ein Tabuthema in der Öffentlichkeit. Menschen, die sich in Therapie begeben, haben es sowieso schon oft super schwer einen Platz zu bekommen, weil es für die ganzen Erkrankungen viel zu wenige Therapeut_Innen gibt. Dann werden sie noch von Arbeitskolleg_Innen ausgelacht, oder ihren Freund_Innen oder Familien fehlt das Verständnis und sie nehmen es nicht ernst. So wird Vielen mit Depression gesagt, sie sollten „einfach mal mehr raus gehen, dann würde das schon wieder“, als ob es an ihrer Faulheit liegen würde.

Während der Coronakrise hat sich das noch einmal verschlimmert. Therapeut_Innen wurden krank, die Zahlen von häuslicher Gewalt, Depressionen aufgrund der ewigen sozialen Isolation, und die Selbstmordrate stiegen stark an. Gleichzeitig mussten auch psychischen Kliniken zeitweise schließen oder ihre Betten reduzieren. Da die nächste Welle von Corona gerade wütet und in Sachsen besonders schlimme Ausmaße annimmt, habe ich mich entschlossen einen kurzen Bericht zu der Lage in den sächsischen Kliniken, am Beispiel von meiner, zu schreiben.

Aktuell ist die Lage hier in den sächsischen Kliniken besonders schlimm. Für Erkrankte gibt es Wartelisten von 6 Monaten bis ein Jahr (vor Corona waren es im Durchschnitt 3 bis 4 Monate). Wer eher in eine Klinik möchte, muss sich einweisen lassen. Dort herrscht aufgrund von Corona ein Besuchsverbot. In meiner psychosomatischen Klinik gibt es zumindest noch die Möglichkeit, einmal die Woche jemanden mit Abstand und Maske für eine Stunde zu treffen. So werden psychisch eh schon von der sozialen Isolation des Lockdowns angeschlagene Menschen noch mehr isoliert, nur weil die Regierung, einen kurzen Wirtschaftslockdown und eine Impfpflicht, sowie internationale Aufhebung der Impfpatente immer noch verweigert (Siehe Artikel: http://onesolutionrevolution.de/alle-jahre-wieder-lockdown-wie-kann-es-der-letzte-werden/). In den Kliniken gibt es auch regelmäßige PCR-Tests (2 bis 3 Mal die Woche), dennoch finden alle Therapien und Aufenthalte außerhalb des Zimmers mit Maske statt. Diese Regelungen sind auch sinnvoll und es ist gut, dass sie so umgesetzt werden. Allerdings wäre ein tägliches Testen schon sinnvoller.

Die Kliniken hier sind jedoch mit der massiven Anzahl an Neuzugängen überlastet. Unsere Station ist immer voll, und aufgrund des Zustroms hat die Dresdner Klinik sogar Patient_Innen aus Bautzen und Görlitz aufgenommen, die in ihren Städten keine Plätze mehr bekamen. Für diese Leute ist es natürlich schwer, überhaupt jemand zu sehen, denn ihre Freund_Innen müssten für eine Stunde ein ganz schönes Stück nach Dresden fahren. Und trotz dieser aufwändigen Verfahren erkranken auf unserer Station immer wieder Leute an Corona, die dann nach Hause geschickt werden müssen. Zusammen mit ihnen alle Personen, die nach dem Test noch mit ihnen Kontakt hatten. Eine Mitpatientin von mir wurde so insgesamt schon 2 Mal nach Hause geschickt (für 2 Wochen) ohne ein einziges Mal erkrankt zu sein. Aufgrund dessen sind die Kontakte auch hier drin reduziert. Man darf nur noch mit der Gruppe Kontakt haben, in die man je nach Erkrankung unterteilt ist. Das macht die angespannte Lage mit dem sozialen Kontakt noch schwieriger. Auch viele Gemeinschaftsaktivitäten, die es sonst hier gibt, mussten aufgrund der Coronalage gestrichen werden.

In den nächsten Wochen bietet unsere Klinik allen Patient_Innen sogar die Booster-Impfung an. Leider gibt es unter meinen Mitpatient_Innen aber auch einige Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, weshalb so ein freiwilliges Angebot nur bedingt etwas bringt.

Zusammengefasst ist die Lage in den psychischen Kliniken in Sachsen sehr angespannt. Für die Pfleger_Innen, Ärzt_Innen und Therapeut_Innen, weil sie jeden Tag schauen müssen, wie sie überhaupt die Kliniken offenhalten können. Für die Patient_Innen, weil sie der eh schon angespannten Lage nicht entkommen können und zusätzliche soziale Isolation erleben.

Um diesen Missstand zu ändern, braucht es die sofortige Umsetzung folgender Forderungen, um die Coronalage zu entspannen und den Patient_Innen mehr Kontakt zu ermöglichen:

  • Tägliche PCR-Tests in allen Kliniken, sofortiger Ausbau von Kliniken und mehr Therapeut_Innen-Plätze finanziert durch staatliche Gelder, die aus einer Erhöhung der Vermögenssteuer kommen, da psychische Gesundheit über Profitmaximierung steht
  • Menschen, die in den Kliniken Kontakt mit coronapositiven Patient_Innen hatten, sollten nochmal getestet werden, statt nur auf Verdacht nach Hause geschickt zu werden
  • Möglichkeit für alle sich in den Kliniken impfen zu lassen, sodass niemand raus zu einem Impfzentrum muss, und sich so in Gefahr begibt, infiziert zu werden
  • Einstellung und Ausbildung von mehr Pflegepersonal! Der Pfleger_Innenmangel und die hohe Belastung für Pfleger_Innen sind auch in psychischen Kliniken, gerade während Corona, spürbar.