Was ist eigentlich ECOWAS?

Von Lia Malinovski, September 2023

Im Zuge des Putsches im Niger und der darauf folgenden Diskussionen kommt immer wieder das Akronym ECOWAS auf. Doch was ist ECOWAS, wie ist es entstanden und welche Funktion hat es im imperialistischen Weltsystem? Das versuchen wir im folgenden Artikel zu beantworten.

ECO – was?

ECOWAS ist ein Akronym für Economic Community of West African States (dt. Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft). Es ist also ein Bündnis zwischen verschiedenen westafrikanischen Ländern, um die Wirtschaft zwischen den Staaten zu fördern. Teil der ECOWAS sind 15 Staaten, unter anderem Nigeria, Ghana, die Elfenbeinküste und der Senegal. Direkt auffallend ist, dass die Amtssprache in den meisten Ländern Französisch ist, an zweiter stelle steht Englisch und an dritter Portugiesisch (gesprochen nur in Kap Verde und Guinea-Bissau), in den aller meisten Fällen ist die Amtssprache abhängig davon, welche Kolonialmacht das Land einst unterdrückte. Zusätzlich zur französischen Sprache ist in den meisten ECOWAS-Staaten auch der CFA-Franc offizielle Währung, ein weiteres Relikt des Französischen Kolonialismus und heute wichtiges Werkzeug des Französischen Imperialismus.

Führender Staat in der ECOWAS ist Nigeria. Es hat das höchste BIP mit 376.400 Mio. US-Dollar und die mit Abstand höchste Einwohner_Innenzahl. Im Parlament der ECOWAS werden die Sitze nach Bevölkerungsgröße vergeben. Nigeria besetzt 35 der 115 Sitze, gefolgt von Ghana (8) und der Elfenbeinküste (7). Die anderen Staaten entsenden jeweils 6 bzw 5 Abgeordnete.

Neben dem Parlament gibt es noch weitere wichtige Strukturen, insbesondere die ECOMOG sollte hier genannt werden. Kurz für ECOWAS Monitoring Group (dt. ECOWAS-Überwachungsgruppe), bildet sie einen Militärverband der ECOWAS Staaten, offiziell um für Sicherheit in der Region zu sorgen. Den Großteil der Truppen stellt Nigeria – also auch hier hat Nigeria die Hegemonie. Drei größere Einsätze hatte sie, als sie in die Bürgerkriege in Liberia, in Sierra Leone und in Guinea-Bissau bewaffnet intervenierte. Dabei waren ausschlaggebende Gründe antiwestliche Putsch-Versuche oder eine Stärkung antiwestlicher Politik – also schwindender Einfluss der USA oder Frankreichs in der Region. Besonders wichtig sind diese Interventionen für Frankreich, da die meisten ECOWAS-Länder wichtige wirtschaftliche Funktionen für Frankreich inne haben, aufgrund ihrer natürlichen Rohstoff-Vorkommen und der Geschichte des französischen Kolonialismus.

Wegen dem Putsch im Niger und antifranzösischen Regierungen wurden die Staaten Niger, Mali, Burkina Faso und Guinea suspendiert, sie können also nicht mitbestimmen was die ECOWAS tut, haben aber weiterhin Verpflichtungen. Das ist besonders für die aktuellen Entwicklungen rund um den Niger wichtig, denn nur so kann die ECOWAS Drohungen und Angriffe gegen den Niger durchbringen.

Wie entstand die ECOWAS?

Das gibt uns gewisse Antworten über den Zweck von ECOWAS. Dieser wird noch deutlicher, wenn wir uns die Geschichte angucken. Nachdem Frankreich seine Kolonien in Westafrika abgeben musste und diese formal-politisch unabhängig wurden, musste eine Lösung gefunden werden um die Kontrolle über die Region beizubehalten. Ein entscheidender Faktor war die Beibehaltung des CFA-Franc, der an die Französische Währung gekoppelt war und ist, sodass eine eigenständige Abwertung der Währung für die CFA-Franc Staaten unmöglich wurde. Zusätzlich müssen diese Staaten etwa die Hälfte der Finanzmittel in Französischen Banken lagern, sodass eine starke Kontrolle über die Region gewährleistet ist. Wenn eine Regierung nicht im Interesse Frankreichs handelt, kann dieses Geld beschlagnahmt und damit die Wirtschaft des Landes ruiniert werden. Folge wären Hungersnöte und ökonomischer Kollaps – Folgen die Frankreich schon öfters in Kauf genommen hat, um seinen Status in der Region zu sichern.

Mit ECOWAS kann dieses Verhältnis zu Frankreich verstärkt und die französische Kontrolle über die Region noch leichter verschleiert werden. Es macht sich einfach besser, wenn eine scheinbar unabhängige Instanz im Interesse Frankreichs sich in Bürgerkriege einmischt, Regierungen stürzt oder Sanktionen erhebt – wie es gerade beim Niger der Fall ist. Die ECOWAS muss ebenfalls die Hälfte des Vermögens in Frankreich lagern, sodass die Kontrolle über ECOWAS gesichert ist. Mit der aktuellen Regierung Nigerias hat die ECOWAS auch eine stark prowestliche Führung, was den politischen Status Frankreichs, aber auch der USA, weiter verstärkt. Die ECOWAS ist also vor allem ein Mittel Frankreichs, den eigenen Einfluss in der Region zu verschleiern und nach Möglichkeit zu vertiefen.

Mit der Einführung des Euros und der Abschaffung des Französischen Francs wurde der CFA-Franc an den Euro gekoppelt, welcher noch starrer ist, als der Franc, da hier nicht ein Staat sondern gleich mehrere über den Wert bestimmen. Dadurch und durch französische Unternehmen in der Region werden die ECOWAS Staaten wirtschaftlich am Boden gehalten (Niger ist auf Platz 189 von 191 was die Entwicklung der Staaten anbelangt) und der Import von Rohstoffen nach Frankreich/in die EU ist einfacher, als wenn die Staaten alle eine eigene Währung hätten.

ECOWAS im Niger

Das zeigt auch die generelle Funkton der ECOWAS. Als Staatenbündnis sichert sie die Interessen Frankreichs und marschiert im Zweifel sogar in die Staaten ein, die sich gegen Frankreich stellen, setzt Regierungen ab und bestimmt neue. Mit angeblichen westlichen Werten von Demokratie und Menschenrechten hat das alles rein gar nichts zu tun, auch wenn das immer wieder behauptet wird wie aktuell im Konflikt im Niger. Nach dem Putsch der Regierung wurden Sanktionen verhängt, die die EU unterstützt. Es gibt Pläne, ins Land einzumarschieren – scheinbar um den demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum wieder an die Macht zu bekommen. Sicher, er wurde demokratisch gewählt (soweit das in einer Halbkolonie überhaupt möglich ist) und die ECOWAS und die EU/Frankreich wollen ihn wieder in der Regierung haben. Das hat aber nichts mit Demokratie zu tun, sondern, wie wir es bereits von US-amerikanischen Kriegen kennen, mit Rohstoffen. Der Niger hat ein extrem hohes Uranaufkommen, welches von französischen Unternehmen gebraucht wird um die Stromproduktion Frankreichs zu sichern deren Großteil aus Atomkraftwerken stammt, die größtenteils mit nigrischem Uran betrieben werden.

Es ist also nicht die Demokratie, die hier verteidigt werden soll, sondern die Wirtschaft Frankreichs. Nachdem bereits Burkina Faso, Mali und Guinea aus französischem Einfluss herausgebrochen sind und sich nun Russland anbiedern, könnte diese Entwicklung auch den Niger treffen. Frankreich kann diesen weiteren Verlust einer Halbkolonie jedoch nicht mehr einfach so zulassen: Einmal aus dem oben beschriebenen Grund, aber auch weil das eine weitere Stärkung Russlands, und möglicherweise mittelfristig auch Chinas, in der Region bedeuten und damit die generelle Konkurrenz im Weltsystem und die eh schon schwindende Hegemonie des westlichen Blocks unter Führung der USA weiter bedrohen würde. Kein Wunder also, dass die ECOWAS, als Marionette dieses westlichen Blocks und vor allem Frankreichs, hier Sanktionen verhängt und mit einem militärischen Einmarsch droht.

Was tun?

Die Spannungen im Niger und innerhalb der ECOWAS-Staaten könnten zu einem Flächenbrand und einem neuen großen afrikanischen Krieg führen, einem weiterer Brandherd im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten. Hier könnten sich im schlimmsten Fall NATO Soldat_Innen und russischen Wagner-Truppen gegenüberstehen, was unkalkulierbare Konsequenzen nach sich ziehen könnte.

Für uns ist klar, dass ein solches Szenario nicht im Interesse der Arbeitenden, Unterdrückten und der Jugend sein kann, weder im Niger oder Nigeria noch in Europa. Unsere Perspektive muss eine Überwindung der imperialistischen Ausbeutung sein. Dies kann nur revolutionär gelingen, nur ein demokratisches Bündnis aus Bäuer_Innen und Arbeiter_Innen, organisiert als Rätemacht, kann die Abhängigkeit überwinden. Es dürfen keine Illusionen in Frankreich, aber auch nicht in Russland existieren, keine dieser Mächte steht für Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie sondern nur für weiteres Auspressen Afrikas im Interesse von Großkonzernen aus den imperialistischen Zentren.

Der Kampf gegen diese imperialistischen Mächte und ihr System der Unterdrückung halbkolonialer Länder darf nicht beschränkt sein auf den Niger oder Westafrika. Insbesondere in den imperialistischen Zentren selber, in Frankreich und in Deutschland, müssen wir für eine ersatzlose Streichung der Schulden einstehen, sowie dafür, dass die Gelder der Staaten die französischen Banken verlassen und unter die Kontrolle einer Räteregierung der westafrikanischen Arbeiter_Innen und Bäuer_Innen gelangen. Dabei muss auch der Kampf gegen den Imperialismus auf der militärischen Ebene geführt werden, sodass eine Invasion erschwert oder gar verunmöglicht wird, Waffenfabriken müssen bestreikt und Waffenlieferungen blockiert werden!

Weder die Putschisten im Niger noch die ECOWAS finden in dieser Perspektive eine progressive Rolle, wollen beide doch nur die Abhängigkeit von dem einen oder dem anderen imperialistischen Zentrum. Was es stattdessen braucht ist eine Föderation aus Westafrikanischen Räterepubliken die alle Imperialisten, ihre Streitkräfte, ihre Unternehmen und ihre Banken, aus ihren Ländern schmeißt und in einem Bündnis mit Räteregierungen, mit Arbeiter_Innenstaaten, in Deutschland, Frankreich und Russland, gerechte Handelsbeziehungen schließen die alle weiterbringen und nicht Konzernen gigantische Profite durch Ausbeutung verschaffen.




Niger: Putsch legt akute Krise offen

Dave Stockton in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Am 26. Juli verhaftete in Niamey, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Niger, die Präsidentengarde unter der Führung von Brigadegeneral Abdourahamane (Omar) Tchiani Präsident Mohamed Bazoum und setzte ihn ab. Nach kurzem Zögern folgte der Rest der Armee diesem Beispiel.

Staatsstreich

Den Staatsstreich begrüßten zahlreiche Demonstrant_Innen, von denen viele von der M62-Allianz (M62: Heilige Union zur Wahrung der Souveränität und der Würde des Volkes) politischer und sozialer Bewegungen organisiert wurden, die sich während der Straßenproteste gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise im vergangenen Jahr gebildet hatte. Sie schwenkten nicht nur die Flagge Nigers, sondern auch die der Russischen Föderation und trugen Plakate mit der Aufschrift „Frankreich raus!“ Die Redner_Innen forderten, dass die Wagner-Truppen nach Niger kommen sollten, wie sie es in Mali getan haben. Auslöser für den Putsch waren offenbar die Pläne von Präsident Bazoum, die Chefs der Präsidentengarde und der Armee auszutauschen.

Unter den jungen Offizieren der westafrikanischen Streitkräfte gibt es eine Tradition der antikolonialen Politik, die auf Persönlichkeiten wie Thomas Sankara, der Burkina Faso von 1983 – 1987 regierte, oder Jerry Rawlings in Ghana zurückgeht. Sie waren beide von panafrikanistischen Idealen motiviert und von der kubanischen Revolution beeinflusst.

Es ist unwahrscheinlich, dass die heutigen Putschisten durch eine solche Radikalität motiviert sind. Die Vorstellung, dass die Hinwendung zu Wagner oder Putins Russland den Staaten der Region zu Unabhängigkeit oder Entwicklung verhilft, ist in der Tat eine völlige Illusion. Aber das ist auch die Vorstellung, dass Frankreich oder die EU/USA für Demokratie stehen. Sie sind gegen den Putsch, weil Bazoum ihr Mann war.

Kein Wunder also, dass seine größte Hoffnung auf Wiederherstellung seiner Präsidentschaft aus dem Ausland kommt. Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht, hat den Staatsstreich sofort verurteilt und jegliche Hilfe für Niger eingestellt. Ein erhebliches wirtschaftliches Druckmittel, da 40 Prozent des nigrischen Staatshaushalts aus ausländischer Hilfe stammen. Emmanuel Macron drohte, dass „jeder Angriff auf Frankreich und seine Interessen nicht geduldet wird“. Seine Verurteilung wurde von der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten unterstützt.

Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) verhängte Sanktionen, darunter eine Flugverbotszone und Grenzschließungen, und ihr dominierender Staat Nigeria, der 70 Prozent der nigrischen Elektrizität liefert, unterbrach die Stromversorgung, so dass das Land in nächtliche Dunkelheit fiel.

Die Verteidigungsminister der ECOWAS, die in der nigerianischen Hauptstadt Abuja zusammentrafen, drohten mit einer militärischen Intervention, falls Bazoum nicht bis zum 6. August an die Macht zurückkehren würde. Die Frist ist bereits verstrichen, aber bisher gibt es keine Anzeichen für einen Angriff. Als Reaktion auf die Drohungen haben Nigers Nachbarstaaten Mali, Tschad und Burkina Faso jedoch versprochen, dem Land im Falle einer Invasion zu Hilfe zu kommen, wodurch ein umfassender regionaler Krieg droht.

Imperialistische Interessen

Frankreich ist mit 1.500 Soldat_Innen in Niger vertreten, die USA mit 1.100. Angeblich sollen sie die nigrischen Streitkräfte ausbilden und bewaffnen, um islamistische Rebellen zu bekämpfen. Brigadier Tchiani hat alle Militärabkommen mit Frankreich aufgekündigt.

Der Grund für die Feindseligkeit gegenüber Frankreich liegt nicht nur in seiner brutalen kolonialen Vergangenheit und auch nicht in den wiederholten militärischen Interventionen in den ehemaligen Kolonien zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“ oder zur Rettung französischer Zivilist_Innen, sondern in der wirtschaftlichen Ausbeutung der Region und dem Versagen, eine ernsthafte wirtschaftliche Entwicklung herbeizuführen.

Frankreich hat derzeit rund 30 Unternehmen oder Tochtergesellschaften in Niger, darunter das Konglomerat Orano, das die riesige Uranmine im Tamgakgebirgsmassiv betreibt. Niger ist der siebtgrößte Uranproduzent der Welt, und seine Produktion ist seit langem für die französische Atomindustrie, die 68 Prozent des Stroms des Landes produziert, von großer Bedeutung. Das Land verfügt auch über große Lithiumvorkommen, die aufgrund der schnell wachsenden Elektrofahrzeugindustrie immer wertvoller werden.

Trotz oder gerade wegen dieses immensen natürlichen Reichtums und derjenigen, die ihn ausbeuten, rangiert Niger im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen für 2022 immer noch auf Platz 189 von 191 Ländern. 40 Prozent der Bevölkerung leben in extremer Armut.

Ein Wegfall von Niger wäre ein schwerer Schlag für Frankreich und die USA, Großbritannien und Länder wie Deutschland und Italien, die die französischen Streitkräfte in Afrika im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ unterstützt haben. Seit den US-geführten Interventionen in Afghanistan, Irak und Libyen hat sich das Zentrum der islamistischen Guerillabewegungen in die Regionen rund um die Sahara verlagert.

Die Anwesenheit der imperialistischen Truppen hat die Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber Frankreich und seinen Verbündeten neu entfacht, zum einen, weil die versprochene Sicherheit ausblieb, zum anderen, weil französische Unternehmen die Region weiter ausbeuten, wo die Armut zunimmt und der Klimawandel (z. B. Ausweitung der Wüste) die Spannungen zwischen der bäuerlichen und der nomadischen Bevölkerung verschärft hat.

Imperialistische Konkurrenz

Diese Bedingungen haben das Vordringen Russlands in die Region begünstigt, und zwar in Form der russischen Söldnergruppe Wagner, die bereits im benachbarten Mali und in der Zentralafrikanischen Republik operiert, wo sie auch die Goldminen des Landes ausbeutet. Vor dem Ukrainekrieg verfügte Wagner über schätzungsweise 5.000 Operationskräfte in Afrika. Bemerkenswert ist auch, dass der Anführer der Organisation, Jewgeni Prigoschin, den Staatsstreich in Niger sofort begrüßte, während Putin vorsichtig vor einer Militärintervention der ECOWAS warnte.

Niger ist ein besonders schwerer Schlag für Macron. Nachdem er gezwungen war, die gemeinsamen „Antiterror“-Operationen mit den fünf Sahel-Staaten aufzugeben, und nachdem er seine Truppen auf demütigende Weise aus Mali zurückziehen musste, hatte er das Land zum Zentrum einer niedrigschwelligeren Operation bestimmt, die sich auf westafrikanische militärische Vertreter_Innen mit französischen „Ausbilder_Innen“ stützen sollte. Diese sollte die diskreditierte und verhasste Opération Barkhane (2014 – 2022) ersetzen, an der bis zu 3.500 französische Soldat_Innen beteiligt waren. Der stark profranzösische Bazoum sollte der gehorsame Erfüllungsgehilfe dieser Politik sein.

Das gesamte Staatensystem, das früher als „Françafrique“, Frankreichs „Hinterhof“, bezeichnet wurde, ist in den letzten Jahren zusammengebrochen. Frankreichs Banken und Rohstoffkonzerne dominieren jedoch nach wie vor die Wirtschaft dieser Länder. Die westafrikanischen Staaten haben es trotz wiederholter Versuche nicht geschafft, ein gemeinsames, von der französischen Zentralbank unabhängiges Währungssystem zu schaffen. Der CFA-Franc ist nach wie vor die gemeinsame Währung der 14 afrikanischen Länder und dieses System erfordert, dass jedes Land die Hälfte seiner Reserven in Paris hält.

Die Staatsstreiche in Niger und in den umliegenden Staaten sind ein Resultat des halbkolonialen Systems in seiner unverhüllten und ausbeuterischen Form. Aber die Hinwendung zum russischen (oder chinesischen) Imperialismus ist keine Lösung für die Überausbeutung und Plünderung der Region, die Hunderttausende dazu bringt, die Überquerung der Sahara und des Mittelmeers zu riskieren, um Europa zu erreichen. Auch die Militärregime werden sich nicht als resistent gegen Korruption oder Anstiftung dazu durch westliche oder russische Imperialist_Innen erweisen.

Die Jugend und die Arbeiter_Innenklassen dieser Länder müssen sich über die künstlichen kolonialen Grenzen, über die frankophonen und anglophonen staatlichen Trennlinien hinweg zusammenschließen und dafür kämpfen, die Kontrolle über die enormen Ressourcen dieser Länder zu übernehmen und sie so zu nutzen, dass der Lebensstandard der Bevölkerung massiv angehoben wird. Kurz gesagt, eine wirklich antiimperialistische Revolution muss auch eine sozialistische werden, aber eine, die auf der Demokratie und Herrschaft der Arbeiter_Innen in den Städten und auf dem Lande, auf Räten der Arbeiter_Innen, Bäuer_Innen und der einfachen Soldat_Innen und nicht auf ihrem Offizierskorps beruht.




Tourismus – von der kapitalistischen Verwertung zur internationalen Solidarität

von Jona Everdeen, Juli 2023

Somme, Sonne, Urlaubszeit! Bald beginnen in ganz Deutschland wieder die Schulferien und an den Unis neigt sich das Sommersemester schon langsam seinem Ende entgegen. Viele werden von ihren Mitschüler_Innen oder Studierenden die Frage gestellt bekommen: Und wohin fährst du in Urlaub? Und während man dann im Herbst in Schule, Uni und am Ausbildungsplatz davon schwärmt, wie toll doch die Strände Spaniens und Kroatiens und die Städte von Paris, Amsterdam und Athen sind, wird man gleichzeitig anfangen zu schimpfen, dass in Kreuzberg und St. Pauli nur noch Touris abhängen und „Antiturista“-Parolen an den Wänden lesen. Doch wie passt das zusammen?

Tourismus im Kapitalismus

Nach monatelanger harten Arbeit in der Fabrik endlich mal raus aus dem tristen Alltagsleben und sich zwei Wochen am Strand sonnen, ehe dann der Arbeitsalltag wieder weitergeht. Das ist die Realität vieler Menschen. Und eben diese zwei Wochen Urlaub sind dann auch das Highlight des Jahres, wofür sich die ganze Schufterei vermeintlich lohnt.

Dass Tourismus überhaupt massentauglich wurde, also für die meisten auch lohnabhängigen Menschen im Globalen Norden zugänglich, ist ein Ergebnis der Zeit der kapitalistischen Hochkonjunktur nach dem 2. Weltkrieg. Zuvor war Urlaub eigentlich nur möglich, wenn man Verwandte anderswo besuchen konnte. Die Möglichkeit wirklich echten Urlaub zu machen, war ein Zugeständnis an die Arbeiter_Innen. In einer Zeit des massiven Wirtschaftswachstums durften sie auch mal ein wenig Pause machen und als kleine Entschädigung für die alltägliche Plackerei ein bisschen Erholung bekommen. Die Vorfreude auf den Sommerurlaub sorgt dafür, dass man seine Arbeitsbedingungen zumindest etwas genügsamer hinnimmt.

Auch wurde der Urlaub in dieser Zeit immer mehr zu einem Statussymbol: Mitglieder reicherer Familien prahlten mit exotischen Reisezielen, während die Kinder armer Fabrikarbeiter_Innen, die wieder „nur“ an die Nordsee oder in den Schwarzwald fahren konnten, sich schlecht fühlten, dass sie so wenig zu erzählen hätten.

Wie in eigentlich allem, entdeckte der Kapitalismus auch im Tourismus ein großes Potenzial Profite zu schöpfen und begann auch schnell dieses auszunutzen. Große Hotelketten mit Filialen auf der ganzen Welt entstanden, Reiseagenturen eröffneten und immer neuere, immer exotischere Urlaubsangebote wurden geschaffen, um den dahinterstehenden Kapitalist_Innen Profite zu ermöglichen. Wie bei jeder kapitalistischen Mehrwertproduktion gibt es auch im Tourismus zwei Quellen, die für die Produktion von Profit ohne Rücksicht auf Verluste ausgeschöpft werden: die menschliche Arbeitskraft und die natürlichen Ressourcen.

Imperialistische Ausbeutung und Umweltzerstörung im Tourismus

Für uns in Berlin oder Paris ist es relativ einfach, nach Ägypten oder Thailand zu reisen. Andersherum ist das nicht der Fall. Kaum ein Mensch aus Ägypten oder Thailand fährt jemals in den Urlaub nach Berlin oder Paris, außer sie sind Teil der dortigen privilegierten Klassen. Selbst wenn sie es schaffen würden, überhaupt mal ein Visum für Europa oder Nordamerika zu erhalten, hätten die dortigen Arbeiter_Innen, durch ihre lokalen Kapitalist_Innen und die Imperialist_Innen aus dem globalen Norden doppelt ausgebeutet, kein Geld für solche Reisen, egal wie hart sie arbeiten und egal wie viel sie sparen.

Stattdessen dürfen sie sich in den Ferienresorts der Karibik und der Malediven zu Hungerlöhnen ausbeuten lassen. Während sich mittelalte Westeuropäer_Innen auf Kreuzfahrtschiffen wie auf einem schwimmenden Hotel durch die Weltmeere fahren lassen, schuften philippinische Crews unter Deck und sorgen dafür, dass der Kahn fährt und sämtliche Annehmlichkeit zur Verfügung stehen.

Tourismus führt immer wieder zu massiver Zerstörung und Verdrängung. Die indigenen Massai sollen in Tansania für einen Safaripark von ihrem Land vertrieben werden. Im Süden Mexikos soll der „Tren Maya“ durch den Urwald und durch das Land indigener Völker und den Lebensraum für unzählige Tier- und Pflanzenarten geschlagen werden, damit Urlauber_Innen schneller und einfacher zu den Ruinen der antiken Mayakultur gelangen können.

Ganz generell ist die ökologische Bilanz von Tourismus häufig katastrophal. Einige wenige Kreuzfahrtschiffe stoßen so viel CO₂ im Jahr aus wie zig Millionen Autos und zahlreiche ökologisch wertvolle Räume wie Korallenriffe werden durch den Massentourismus in Seaside-Ressorts für immer zerstört.

Doch während die Auswirkungen des Imperialismus in diesem Wirtschaftsbereich hier wohl, wie so viele andere Formen der imperialistischen Ausbeutung, wenig Beachtung finden würden, sorgt der Tourismus anderswo für große Empörung. Im Globalen Norden, in den westeuropäischen Metropolen.

Tourismus und Gentrifizierung

Nicht nur ferne sonnige Strände lassen sich von der Tourismusbranche gut vermarkten und entsprechend verwerten, auch die Innenstädte von Paris, Berlin und Barcelona eignen sich dafür prima. Doch so wie der Tourismus für die Menschen in der Karibik oder in Thailand meist negative Konsequenzen mit sich bringt, tut er das auch hier.

Die Innenstädte verkommen durch den Druck der kapitalistischen Verwertung im Bereich des Tourismus immer mehr zu reinen Attraktionen, umliegende Geschäfte passen ihr Angebot nicht mehr auf die Bewohner_Innen an, sondern darauf, ausländischen Touris das Geld aus der Tasche zu ziehen und statt Öffis oder Wohnbau sprechen alle nur noch von dem Ausbau „touristischer Infrastruktur“.

So gibt es in den zentralen Straßen von Großstädten teilweise mehr Hotels als Wohnhäuser. Die Nähe zu touristischen Attraktionen treibt die Mieten in diesen Gegenden massiv in die Höhe und sorgt dafür, dass sich nur noch reiche Hipster oder Investor_Innen eine Wohnung in der Innenstadt leisten können. Das Konzept von Airbnb, also dem Angebot von normalen Wohnungen an Tourist_Innen, bietet außerdem Vermieter_Innen eine alternative Verwertungsmöglichkeit für den eh schon knappen Wohnraum in innenstadtnahen Vierteln. Wohnungen werden zu Hotels.

So fungiert Tourismus als massiver Treiber der sowieso in den meisten Großstädten des Globalen Nordens grassierenden Gentrifizierung, die zur Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten aus den innenstadtnahen Stadtteilen an den Stadtrand führt. Städte geben ihre Bewohnbarkeit für die breite Masse zugunsten von Angeboten für Besserverdienende und eben auch Touris auf.

Internationale Solidarität statt Tourihass!

Gerade auf das Problem der Gentrifizierung durch Tourismus antworten viele Linke, gerade aus dem autonomen Spektrum, mit einem grundsätzlichen Hass gegen die „Scheißtouris“. Dieser äußert sich in Graffiti und Stickern, mit Inhalten wie „Touris go home“ oder „Refugees welcome, Tourists not“. Doch ist es wirklich etwas Schlechtes in Städte und Länder für deren Kultur, Architektur und Landschaft zu reisen? Ist die Lösung, dass alle nur noch zu Hause bleiben oder höchstens ihre Ferien auf einem nahegelegenen Campingplatz verbringen?

Nein, sicher nicht! Denn was wir eigentlich wollen, ist das Gegenteil. Eine Welt, in der sich alle Menschen frei bewegen können, wie sie wollen und in der Nationen und Grenzen keinerlei Rolle mehr spielen!

Es ist völlig legitim dahin zu reisen, wohin es einen verschlägt und unser Ziel sollte sein dafür zu kämpfen, dass die Möglichkeit nicht mehr nur den Menschen aus dem Globalen Norden, sondern allen Menschen offen steht! Wir sollten Menschen, die aus anderen Ländern zu uns reisen, mit offenen Armen willkommen heißen und nicht mit Hass überziehen, weil wir sie als Bedrohung für unsere Stadtkultur wahrnehmen. Gleichzeitig sollten auch wir mit der Erwartung in andere Länder reisen können, mit offenen Armen willkommen geheißen zu werden.

Damit das aber Wirklichkeit werden kann, muss das Reisen von den Gesetzen des Kapitalismus befreit werden, muss die touristische Infrastruktur unter die Kontrolle der dort Beschäftigten gestellt werden. Auf der ganzen Welt. Nur dann ist es möglich, dass sich das Verhältnis zwischen Reisenden und Einheimischen von einer Art Dienstleistungsverhältnis, hin zu einem genossenschaftlichen Verhältnis zwischen Gäst_Innen und Gastgeber_Innen wandelt.

In einer sozialistischen Gesellschaft wird der Tourismus als ein kommerzialisierter Wirtschaftszweig verschwinden, nicht aber der Urlaub und das Reisen!

Schließlich, werden wir in so einer Welt viel mehr Urlaubszeiten haben und unser Interesse, unsere Genoss_Innen auf der ganzen Welt zu besuchen, wird vermutlich noch viel größer sein! In so einer Gesellschaft kann auch viel leichter die Grenze zwischen Urlaub und Arbeit verschwimmen und Work & Travel vermutlich von einem Randphänomen zum gesellschaftlichen Standard werden.

Wenn eine 20-jährige Deutsche Lust hat für ein Jahr in Bangkok zu leben und zu arbeiten, ist das einfach möglich und wenn eine 20-jährige Thailänderin dasselbe in Berlin tun möchte, sollte es genauso sein!




1 Jahr Ukrainekrieg: Wie geht’s jetzt weiter?

Von Emilia Sommer, April 2023, REVOLUTION-Zeitung April/Mai 2023

Vor kurzem jährte sich der Ukrainekrieg zum ersten Mal. Resultat dessen sind mehrere 100.000 Tote und eine massive Fluchtbewegung aus der Ukraine in andere europäische Staaten. Damit einhergehend findet eine massive Annäherung der Ukraine an den Westen statt. Waffenlieferungen und Kredite lassen ihn als Gegenpol Russlands nicht nur für die Ukraine extrem attraktiv wirken. Auch Finnland und Schweden, die bislang keine Mitglieder des Militärbündnis NATO sind, welches mit den USA, Deutschland und 28 weiteren Mitgliedsstaaten schon seit Jahren der größte globale Gegenspieler Russlands ist, haben am 18. Mai 2022 gemeinsam ihre Anträge zum NATO-Beitritt offiziell eingereicht. Gleichzeitig treffen die Sanktionen gegen Russland vor Ort besonders die Arbeiter_Innenklasse und nicht die Machthabenden, während die Folgen im globalen Süden Hungersnöte, Lebensmittelknappheit und eine Hyperinflation sind. Besonders interessant verhält sich hierbei China. Nachdem sie zu Beginn des Kriegs auf Seiten Russlands standen, haben sie nun ihre Neutralität verkündet, rufen zu einer friedlichen Lösung des Konflikts auf und versuchen als Vermittler zu fungieren, obwohl sie weiterhin Hauptgegenspieler der USA sind.

Was wollen die einzelnen Beteiligten?

Die aktuelle Entwicklung rund um den Ukrainekrieg ist ein Symptom der sich immer weiter verschärfenden imperialistischen Krise. Wir befinden uns inmitten der Neuaufteilung der Welt unter den imperialistischen Mächten, welche sich durch die geschwächte Wirtschaft immer weiter zuspitzt. Diese Zuspitzung zeigt sich unter anderem im Konflikt zwischen den USA und China. Die amerikanische Vormachtstellung in der globalen Wirtschaft wird durch China ins Wanken gebracht. Erst kürzlich waren die Medien voll mit Meldungen von dem vermeintlichen Spionageballon Chinas, der von Alaska bis zum Atlantik flog, bevor er vom USA-Militär abgeschossen wurde. China wies diese Vorwürfe zwar als Teil eines Informationskriegs ausgehend von den Vereinigten Staaten ab- dennoch ist der Konflikt damit nicht gelöst. So begannen die USA, die NATO massiv zu stärken und so zum Beispiel rund 300.000 schnelle Einsatzkräfte aufstockte. Auch zeigt sich in dieser Auseinandersetzung eine weitere Annäherung der EU, und damit auch Deutschlands, an die USA, die sich z.B. in europäisch-amerikanisch-koordinierten Exportkontrollen gegenüber China ausdrückt.

Auch der Anspruch Chinas auf Taiwan, welches seit der Teilung Chinas 1949 faktisch als unabhängiger Staat gilt, aber formell noch nicht als unabhängig gilt, sorgt für Spannungen. China droht, sollte Taiwan formell ein unabhängiger Staat werden wollen, militärisch einzugreifen um dies zu verhindern. Die USA pflegen zwar keine formellen Beziehungen zu Taiwan als unabhängigem Staat, jedoch unterstützen sie diesen durch Verkäufe von Waffen, informellen diplomatischen Austausch und durch das Aufstocken US-amerikanischer Kräfte in der Region.

Zu diesen ohnehin gefährlichen Spannungen kommt nun der Versuch Russlands durch den Angriff auf die Ukraine wieder an Bedeutung und Einfluss zu gewinnen. Das Aufgeben von wessen Seite auch immer würde automatisch Schwäche bedeuten und damit die jeweilige imperialistische Kraft im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zurückwerfen, weshalb nicht zu erwarten ist, dass einer der Beteiligten zurückrudert. Resultat dessen sind nun Auswirkungen auf die ganze Welt und vor allem natürlich auf die ärmeren Teile, auf die Arbeiter_Innen und auf die Jugend. Wir stehen aktuell einer realen Gefahr eines nuklearen Weltkriegs gegenüber. An jeder Ecke wird das Militär massiv aufgerüstet, Deutschland exportiert Waffen in die Ukraine und natürlich sind die 100 Milliarden für die Bundeswehr der Ampel-Regierung noch nicht vergessen. Aber auch unser aller Leben ist aktuell schon von dem Wettringen der imperialistischen Mächte betroffen: Unsere Lebenserhaltungskosten steigen in die Höhe, Gemüse und Obst sind kaum noch bezahlbar und ob die Heizung angeschaltet wird, muss man sich genau überlegen. Von den Profiten, die gerade Deutschland aus dem Aufrüsten macht, spüren Arbeiter_Innen und Jugendliche absolut nichts, sie werden mit den weiter steigenden Preisen weitestgehend allein gelassen.

Auf welcher Seite sollten wir als Revolutionär_Innen also stehen?

Keiner der imperialistischen Staaten steht wirklich für die Unabhängigkeit der Ukraine ein. Russland natürlich nicht. Für diese war die Ukraine in Vergangenheit nur Rohstofflieferant. Es galt bei der immer schwächer werdenden russischen Wirtschaft wenigstens mit der militärischen Stärke bestehende Partner zu erhalten und jetzt soll die Eroberung ein Sprungbrett zurück in den Kampf um die Neuaufteilung der Welt sein. Aber auch Deutschland und die USA und damit die NATO, haben keinerlei ernsthaftes Interesse an der Unabhängigkeit der Ukraine, geschweige denn wirklich an Frieden. Zwar propagieren sie das und die NATO nennt sich selbst Friedensbündnis, doch die Realität sieht anders aus. Ziel des amerikanischen und europäischen Imperialismus ist es, die Ukraine möglichst abhängig von westlichen Krediten zu machen, um weitere Geldflüsse an die Durchsetzung von günstigen Investitionsbedingungen für westliche Konzerne zu knüpfen. Diese Perspektive verkörpert die pro-westlich-neoliberale Ausrichtung der Selenskyj-Regierung. Unter dieser Regierung kämpft die Ukraine also nicht gegen die russische Invasion für ihre Unabhängigkeit. Vielmehr kämpft sie dank massiver Militärhilfen aus Europa und den USA dafür, verlängerte Werkbank, Getreidelieferant und Absatzmarkt des Westens sein zu dürfen. Der osteuropäische Raum ist schon länger ein potentiell interessanter Raum für Kapital- und Waffenexporte. Durch die Sanktionen soll die russische Wirtschaft endgültig geschwächt werden und den USA waren die europäisch-russischen Beziehungen (z.B. Bau der Erdgaspipeline Nord-Stream-2) ohnehin ein Dorn im Auge. Ebenso darf nicht vergessen werden, wie massiv vor allem der deutsche Staat und deutsche Rüstungsunternehmen an kriegerischen Auseinandersetzungen profitieren. Der Ukraine-Krieg ist also eindeutig eine Konfrontation zwischen zwei imperialistischen Blöcken. Und genau da liegt das Problem: Es kann keinen friedlichen Imperialismus geben, denn Imperialist_Innen geht es immer um das Ausdehnen des eigenen Einflusses, um wirtschaftliche und politische Macht. Um dies zu erlangen, sind kriegerische Auseinandersetzungen im Kapitalismus unausweichlich.

Wir können uns also nicht darauf verlassen, dass die Staaten gemeinsam eine friedliche und faire Lösung finden, denn das ist nicht in ihrem Interesse. Die, die wirklich Interesse an einem sofortigen Frieden haben, sind vor allem die Arbeiter_Innenklassen, sowohl in der Ukraine, als auch in Russland, denn sie sind die, die am meisten unter der imperialistischen Konfrontation leiden. Deswegen ist es wichtig, gemeinsam mit der russischen und der ukrainischen Arbeiter_Innenklasse eine internationale Antikriegsbewegung aufzubauen, welche sich auf keine Seite stellt, sondern sich gemeinsam gegen alle imperialistischen Mächte auflehnt und die Waffen gegen diese wendet. Denn es gibt in diesem Konflikt keine gute Seite geben und selbst wenn der Ukrainekrieg endet, wird es keinen endgültigen Gewinner geben. Die Konfrontationen der unterschiedlichen Blöcke werden an anderer Stelle weiter gehen und es gibt immer die gleichen eindeutigen Verlierer: Die Arbeiter_Innenklasse und die Jugend.

Deshalb fordern wir:

  • Sofortiger Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine! Anerkennung der ukrainischen Unabhängigkeit und Staatlichkeit durch Moskau!
  • Solidarität mit der Arbeiter_Innenklasse in Russland und der Ukraine und allen, die sich gegen Krieg stellen!
  • Keine Unterstützung für westliche Wirtschaftssanktionen gegen Russland! Für Arbeiter_Innenaktionen, um die Lieferungen von Waffen und Munition an alle Kriegstreiber_Innen zu stoppen, solange die Aggression andauert!
  • Abzug aller NATO-Berater_Innen aus der Ukraine und der Seestreitkräfte der Westmächte aus dem Schwarzen Meer!
  • Für das Recht der Regionen Donezk, Luhansk und Krim auf demokratische Selbstbestimmung, einschließlich der Optionen der Autonomie innerhalb der Ukraine, der Unabhängigkeit oder des Beitritts zu Russland!
  • Auflösung von NATO und Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit!
  • Für eine neue globale Bewegung gegen imperialistische Kriege und Aufrüstung und für die Umleitung der enormen technischen und wissenschaftlichen Ressourcen, die dafür aufgewendet werden, um die brennenden Probleme der Klimakatastrophe, der Armut, des Hungers und der Krankheiten zu lösen!
  • StaatsbürgerInnenrechte für alle! Damit niemand, egal ob europäisch oder nicht, im Krieg leben muss.



Warum muss die Umweltbewegung international sein?

Von Felix Ruga, aus der REVOLUTION-Zeitung April/Mai 2023

Die Klimakrise betrifft uns zwar alle, aber manche Menschen leiden stärker unter ihren Folgen als andere. Schon das durch das Pariser Klimaabkommen gesetzte Klimaziel von höchstens 1,5° Erderwärmung wird die verletzlichen Bevölkerungen überproportional stark treffen. Die Hauptsymptome dessen dürften sein: Unsichere Nahrungsmittelversorgung, höhere Lebensmittelpreise, Einkommensverluste, negative Auswirkungen auf die Gesundheit und Vertreibung von ihrem Zuhause, zum Beispiel durch Wetterextreme oder sich ausbreitende Wüsten.

Das kommt nicht nur durch die klimatischen und geographischen Verhältnisse am Wohnort selbst, wodurch zum Beispiel in einigen afrikanischen Ländern der Ertrag von Mais, Weizen und Hirse jetzt schon sinkt, während der Großteil des „globalen Nordens“ weniger betroffen ist. Sondern es geht auch darum, wie viel Einkommen man innerhalb der Länder hat: Arme Menschen sind besonders verletzlich, da diese einen Großteil ihres Geldes für Essen ausgeben und bei Ernteausfällen nicht die steigenden Preise mittragen können.

Außerdem fehlt ein finanzieller Puffer, um nach Naturkatastrophen wie Überschwemmungen die zerstörte Lebensgrundlage zu erneuern. Sowieso hat dann wohl auch schon vorher das Geld gefehlt, um wie reichere Menschen ihr Haus abzusichern, zum Beispiel durch eine stabile Bauart oder Wasserablaufsystemen.

Gleichzeitig haben wir aber den Punkt, dass die Menschen, die am stärksten unter dem Klimawandel leiden, ihn nicht verursacht haben. Eine sehr beeindruckende Zahl: Die gesamten CO2-Emissionen seit der Industrialisierung. Im Zeitraum von 1751 bis 2018 haben die USA und die EU zusammen etwa die Hälfte der globalen CO2-Emissionen verursacht – China etwa 13 Prozent, Afrika und Südamerika je rund 3 Prozent.

Solche Statistiken zum CO2-Ausstoß sind zwar heftig, aber letztendlich auch nicht so unendlich aussagestark: Wir leben nämlich in einer international verbundenen Welt. Wo das CO2 emittiert wird, sagt nur indirekt, welche Konzerne letztendlich von diesem CO2 profitieren und wohin das Geld fließt. Hierfür könnte ein Begriff nützlich sein: Der Umweltimperialismus.

Was heißt Umweltimperialismus?

Im marxistischen Sinne spricht man beim Begriff „Imperialismus“ von einem kapitalistischen Stadium, in dem sich das Weltsystem befindet. Es geht dabei nicht um eine bestimmte ausbeuterische Politik, sondern muss wirklich als weltweites System begriffen werden. Dieses zeichnet vor allem aus, dass in wichtigen Sektoren keine wirklich freie Konkurrenz mehr herrscht, sondern die früher kleinen Betriebe immer weitergewachsen sind und immer mehr ihre Konkurrenz aufgefressen haben, sodass jetzt große multinationale Konzerne wie Google, Nestle oder Volkswagen ihre Märkte kontrollieren können. Diese sind beheimatet in den sogenannten „imperialistischen Zentren“, zu denen Deutschland gehört, aber auch die USA, China, Russland und so weiter. Die Welt ist mehr oder weniger unter diesen Ländern und Konzernen aufgeteilt und wird von diesen ausgebeutet. Es gibt heute kein Land mehr, was nicht in dieses System aus Ausbeutung und Ausgebeutetsein eingebunden ist. Wie diese Ausbeutung konkret aussieht?

Zum einen besteht die moderne Abhängigkeit zwischen Ländern vor allem in einer Schuldknechtschaft. Arme Länder sind wirtschaftlich so abhängig von Krediten, dass diese sich den Wünschen der Imperialist_Innen, oder vermittelt über den IWF, nicht entgegenstellen können. Außerdem werden sie auch durch die billigen Produkte und das patentierte Wissen aus der Industrie in den Zentren abhängig gemacht. Man bezeichnet diese Länder als Halbkolonien, weil sie wirtschaftlich abhängig, aber politisch-formal unabhängig sind.

Zum anderen findet die Ausbeutung im sogenannten „Ungleichen Tausch“ statt: Die Einführung von technologischen Fortschritten führt dazu, dass Arbeitskraft „effizienter“ eingesetzt wird, sodass Massenprodukte deutlich billiger werden müssten. Die abhängigen Länder werden jedoch auf einem technologischen Stand gehalten, in dem die Arbeitskraft nicht so effizient eingesetzt wird, wie es in den Zentren möglich ist. Deswegen kommt es zum ungleichen Tausch: Die abhängigen Länder zahlen höhere Preise und bekommen weniger Einkommen, müssen also viel mehr Arbeitskraft aufwenden. Dies manifestiert wiederum die technologische Rückschrittlichkeit.

Der ungleiche Tausch führt dazu, dass eine internationale Arbeitsteilung entsteht, nämlich dass die automatisierbaren und lukrativen Tätigkeiten in den imperialistischen Zentren bleiben, während die arbeitsintensiven und unlukrativen Tätigkeiten in die abhängigen Länder ausgelagert werden. Und diese Tätigkeiten sind meist auch jene, die besonders großen ökologischen Schaden anrichten. So braucht die Produktion von Rohstoffen, wie im Bergbau oder in der Agrarwirtschaft, viel Platz und vergiftet die Umwelt.

Außerdem kann in den imperialistischen Ländern das politische System durch die Extraprofite stabilisiert werden. So können negative ökologische Folgen in andere Länder verlagert werden, also auch besonders dreckige Industrie. Anstatt hier werden in den Halbkolonien werden dann Rohstoffe geplündert, Landstriche und Wasserressourcen zerstört, Bevölkerungen entwurzelt, Wälder gerodet. Dies dann als grüne Errungenschaften zu verkaufen, ist mittlerweile das grüne Hauptgeschäft der herrschenden Politik. Dass dann im Ausland im Interesse von deutschen Konzernen die Umwelt zerstört wird, sei dann weder Verantwortung noch Problem der deutschen Regierung.

Ein recht bekanntes Beispiel dafür ist die Herstellung von E-Fahrzeugen. In Südamerika wird Lithium abgebaut, indem die Vorkommen unter der Erde mit dem ohnehin knappen Wasser unterspült werden und danach in riesigen Salinen verdampfen. Hierfür wird haufenweise Wasser gestohlen und die dortigen Indigenen verjagt, wenn sie wegen des Wassermangels nicht ohnehin schon ihren Lebensunterhalt verloren haben. Mit diesem Lithium werden die Lithium-Ionen-Akkus für E-Autos und Co. hergestellt. Gleichzeitig werden in Deutschland die sauberen, angenehmen und lukrativen Tätigkeiten ausgeführt: Der Entwurf, der Zusammenbau aus den Einzelteilen und der Verkauf. Und der geringere CO2-Ausstoß wird dabei durch andere ökologische Zerstörung erkauft.

Und die Arbeitsteilung hat ein weiteres Problem: Rohstoffe und halbfertige Produkte werden ständig über die ganze Welt transportiert, um die vorteilhaften Arbeits- und Steuerverhältnisse der einzelnen Länder auszunutzen. Sinnvolle Produktionsketten sehen anders aus.

Der Kampf muss international sein!

Was man am besten versteht, wenn man es umdreht: Was würde also passieren, wenn wir unseren Kampf auf Deutschland oder zumindest die EU isolieren? Zum einen würden wir dabei den Kontakt zu den Betroffenen verlieren, die jetzt schon davon gebeutelt sind. Also die Armen in den Slums der großen Städte, die geknechteten Kleinbäuer_Innen, die geschundenen Arbeiter_Innen in den Rohstoffunternehmen, die Massen an Klimaflüchtlingen. In ihnen steckt ein sehr großes Potenzial, militanten Widerstand gegen den Umweltimperialismus zu leisten.

Diese brauchen wiederum auch uns, denn in den Zentren sitzen ja die großen Unternehmen, die diese Abhängigkeiten ausnutzen und aus den betroffenen Ländern viel schwerer zur Rechenschaft gezogen werden können. Zum anderen würden wir unserer herrschenden Klasse die Möglichkeit lassen, sich der Verantwortung zu entziehen. Wir hätten nichts gewonnen, wenn beispielsweise Deutschland klimaneutral wäre, weil alle CO2-Schleudern ins Ausland verlegt wurden. Dem Klimawandel und vielen anderen Umweltzerstörungen ist es ja gerade eigen, dass die ganze Welt davon betroffen ist.

Und deswegen müssen wir eben auch eine weltweite Antwort darauf finden und eine Alternative zum Kapitalismus eröffnen:

  • Entschädigungslose Enteignung unter Arbeiter_Innenkontrolle aller Unternehmen, die sich weigern auf umweltschonende Technologie umzusteigen, sowohl „daheim“ als auch in ihren Liefer- und Produktionsketten! Diese müssen offengelegt werden!
  • Internationale patent- und konkurrenzfreie Forschung! Zugang zu Erkenntnissen für alle!
  • Ende der Patente auf Saatgut und Technologien!
  • Schuldenschnitt für den globalen Süden!
  • Für eine klassenkämpferische und internationale Umweltbewegung!



Antiregierungsproteste in Israel: Gegenmacht oder Ohnmacht?

Von Jona Everdeen

Seit Wochen finden in Israel Massenproteste gegen die Politik der neuen rechten Regierung statt. Hunderttausende Menschen sind wöchentlich auf der Straße. Ihren Aufhänger fanden die Proteste in einer angestrebten Justizreform, die Befürchtungen hervorruft, sie könnte Israel in eine Diktatur verwandeln. Doch was beinhaltet die Justizreform und wer ist diese Regierung überhaupt, die allgemeinhin als rechteste in der Geschichte des Landes gilt? Welche reaktionäre Politik betreibt sie? Was sind die Folgen für die Menschen in Israel? Und wie wirkt sich die Regierungspolitik auf die eh schon massiv unterdrückten Palästinenser_Innen aus? Welchen Charakter haben die Proteste und was ist nötig, um Netanjahu, Ben-Gvir und Co. zu stürzen?

Rechtsradikale mit Ministerposten

Das Regierungsbündnis aus Netanjahus nationalreligiösem Likud, rechten Siedlerparteien und religiös-fundamentalistischen Kleinstparteien eröffnete einigen stramm rechten Hardliner_Innen den Weg zu wichtigen Regierungsposten. Viele von ihnen machten in der Vergangenheit mit extremem Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, religiösem Fundamentalismus und der Unterstützung zionistischer Terrorist_Innen von sich reden.

So zum Beispiel Itamar Ben-Gvir, der keinen Hehl aus seiner Verehrung für den Terroristen Baruch Goldstein macht, der bei einem Terroranschlag 29 Palästinenser_Innen ermordete. Außerdem wolle er „illoyale“ Palästinenser_Innen ausweisen und habe auch schon persönlich angesichts palästinensischer Proteste die Pistole gezückt. Er ist jetzt israelischer Polizeiminister.

Mit Bezalel Smotrich hat ein weiterer rechter Hardliner als Finanzminister einen zentralen Posten in der neuen Regierung. Das ideale Israel sieht er in Form einer fundamentalistischen Theokratie, in der das oberste Gesetz die Thora ist. Auch schockierte er erst kürzlich mit der Aussage, dass seiner Ansicht nach Jüdinnen und Araberinnen auf getrennten Geburtsstationen Kinder zur Welt bringen sollten. Ben-Gvir und Smotrich sind dabei nur die Spitze des Eisbergs einer Regierung voller extremer Rechter. Doch für den langjährigen rechtskonservativen Ministerpräsidenten Netanjahu schien das kein allzu großes Problem zu sein, immerhin brachten ihm diese Kräfte die nötige Mehrheit, um wieder an die Regierung zu gelangen.

Die Justizreform – Weg in die Diktatur?

Während die Übergabe wichtiger Ministerien an Rechtspopulist_Innen bereits teilweise für Unmut sorgte, brachte die von Netanjahu und seinen Verbündeten geplante Justizreform das Fass zum Überlaufen. Nachdem große Teile der israelischen Gesellschaft seit mehreren Jahren eine Anklage Netanjahus wegen eines Korruptionsskandals fordern, könnte der neue-alte Ministerpräsident durch seine Justizreform einer Anklage entgehen. Diese Dreistigkeit und Verhöhnung des bürgerlichen Rechtsstaates bildete die Grundlage für die folgenden Massenproteste.

Die geplante Reform sieht vor, dass Entscheidungen des obersten Gerichts in Zukunft mit einfacher Mehrheit des Parlaments revidiert werden können, ergo die Rechtsprechung quasi entmachtet wird. Zusätzlich dazu sieht die „Reform“ auch vor, dass die Regierung im Alleingang Richter_Innen ernennen kann, die dann (ähnlich wie die von Trump ernannten Richter_Innen des Supreme Courts) die reaktionäre Ideologie der aktuellen Regierung in ihre „Rechtsprechung“ fließen lassen. Die Justizreform ist also ein klarer Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz, die für eine bürgerliche Demokratie zentral ist.

Die besondere Stellung des Obersten Gerichtshof war schon häufiger Ziel von Angriffen rechter Regierungen. Er gilt unter linksliberalen und sozialdemokratischen Israelis als Hort der Menschenrechte und der Demokratie. Dementsprechend groß ist die Empörung über die geplante Reform nun in diesen Kreisen. Diese Empörung ist berechtigt und als Revolutionär_Innen verteidigen auch wir Angriffe gegen bürgerlich-demokratische Rechte, auch wenn sie Institutionen von kapitalistischen Nationalstaaten sind. Dennoch haben wir keine Illusionen in diesen Gerichtshof. Auch bevor die rechte Regierung ihre Reform angekündigt hat, hat der Gerichtshof die israelische Gesellschaft nicht davor bewahrt, den Charakter eines Besatzungsregimes und eines Apartheidstaates anzunehmen. Die aktuellen Angriffe verdeutlichen nur einmal mehr, wie schnell die Bourgeoisie bereit ist, ihre zuvor hoch gelobte Demokratie zu entmachten, sobald sie ihren Interessen im Wege steht. Ähnliche Beispiele haben wir zuletzt in Brasilien unter Bolsonaro, in Ungarn unter Orban, in Polen unter der PiS oder in den USA unter Trump gesehen.

Reaktionäre Innenpolitik

Während sich die religiösen Splitterparteien und die rechtsextremen Siedler_Innen vor allem an ihrem Rassismus gegenüber Palästinenser_Innen abarbeiten, vertritt der Likud zudem eine zutiefst neoliberale Wirtschaftspolitik. Der bis auf eine kleine Unterbrechung seit 14 Jahren regierende Netanjahu hat große Leistungen für das israelische Kapital vollbracht, indem er es schaffte, Arbeitsrechte und Sozialstaat und auf ein Minimum herunterzufahren. Ein Resultat dieser Politik ist, dass in vielen israelischen Städten die Immobilienpreise so hoch sind, dass dagegen München und Frankfurt am Main geradezu günstig wirken. Auch andere Lebenshaltungskosten stiegen im Laufe seiner Amtszeiten massiv an. Viele Israelis benötigen 2 bis 3 Jobs, um überhaupt über die Runden zu kommen. Öffentliche Schulen und Krankenhäuser sind in einem desaströsen Zustand, während es sich reiche Israelis leisten können, auf Privatschulen und private medizinische Einrichtungen auszuweichen. Jede_r Shekel, der in Checkpoints, Mauern, Drohnen und Panzer fließt, fehlt in den israelischen Schulen, Sozialkassen und Krankenhäusern. Ein Ende dieser Entwicklung ist sicher nicht in Sicht mit der neuen Koalition, eher ist davon auszugehen, dass auch weiterhin die Folgen der allgemeinen Krise, die auch Israel betrifft, auf dem Rücken der Arbeiter_Innen ausgetragen werden.

Noch dramatischer steht es um die Rechte von LGBTIQ-Personen und ethnischen oder religiösen Minderheiten. So ist die religiös-zionistische Partei offen queerfeindlich und macht daraus auch keinen Hehl. Ihr zufolge sollen medizinische Einrichtungen mit religiösem Träger sich weigern dürfen, queere Menschen zu behandeln.

Generell wird voraussichtlich der Rassismus gegen nicht-jüdische Israelis aber auch gegen nicht-weiße Juden:Jüdinnen, die zum Beispiel aus Äthiopien oder dem Jemen nach Israel geflohen und häufig massiven rassistischen Anfeindungen bis hin zu brutalen Angriffen ausgesetzt sind, noch weiter zunehmen.

Mit der sich verschärfenden Wirtschaftskrise geht auch eine verstärkte Verelendung der Arbeiter_Innenklasse in Israel und ihrer besonders marginalisierten, sexistisch oder rassistisch unterdrückten Teile einher. Die israelische Regierung versucht jetzt durch nationalistische Propaganda und der Erweiterung des israelischen Staatsgebiets dieser Krise durch kurzfristige Scheinlösungen zu begegnen und die israelische Arbeiter_Innenklasse mittels Nationalismus an die herrschende Klasse zu binden und damit ihre Schlagkraft zu verringern. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch das Wiederaufkommen einer entschiedenen Kriegsrhetorik gegenüber dem Iran.

Was bedeutet das für Palästinenser_Innen?

Dementsprechend hat sich die Lage der Palästinenser_Innen massiv verschlechtert und zu einer neuen Welle von Gewalt und Gegengewalt geführt. Bei Operationen des israelischen Militärs in Städten wie Jenin oder Nablus sind seit Anfang des Jahres mehrere Dutzend Palästinenser_Innen ermordet worden, im Schnitt mehr als ein Mensch pro Tag!

Dazu kam es im palästinensischen Dorf Hawara zu einem Pogrom durch rechtsradikale Siedler_Innen, die mehrere Dutzend Häuser und Geschäfte anzündeten, mindestens einen Menschen töteten und zahlreiche weitere Verletzten. Die israelische Armee hat ihnen dabei zugesehen und Rückendeckung gegeben.

Polizeiminister Ben-Gvir sorgte mit einem Besuch auf dem Tempelberg – Standort der Al-Aqsa Moschee- ebenfalls für eine krasse Provokation. Als Ariel Sharon im Jahre 2000 den Tempelberg betrat, war das der Auslöser für die 2. Intifada. Ben-Gvir kündigte darüber hinaus noch an, dass er es Muslima_en nicht den gesamten Ramadan über erlauben wolle, in der Al-Aqsa Moschee zu beten.

Zu allem Übel will die neue Regierung auch noch die Todesstrafe wiedereinführen. Diese soll gegen Palästinenser_Innen, die Israelis ermordet haben, angewendet werden können, nicht aber gegen Israelis, die Palästinenser_Innen ermordet haben. Zwar müssen Palästinenser_Innen ohnehin damit rechnen, vom israelischen Militär getötet zu werden, wenn sie sich der Besatzungspolitik widersetzen. Allerdings unterstreicht die Wiedereinführung der Todesstrafe – allein für Palästinenser_Innen – noch einmal bildlich die Geringschätzung palästinensischen Lebens.

Weniger offensichtlich aber doch extrem relevant ist auch die Übertragung der Kontrolle über die Westbank von einer militärischen zu einer zivilen Behörde. Während die Militäradministration den jahrzehntelangen Besatzungsstatus des Gebietes aufrecht erhielt, ist dies nun als endgültiges Zeichen zu verstehen, dass für die aktuelle israelische Regierung ein Verlassen dieser, und somit eine zwei Staaten Lösung, keine Option mehr ist und sie die gesamte Westbank als Teil israelischen Staatsgebiets betrachtet.

Welche Perspektive hat der Protest?

Der Protest, der sich in erstes Linie als Widerstand gegen die Justizreform aufstellt und an dem bis zu 250.000 Menschen im ganzen Land teilnahmen, wird getragen von einer sehr breiten israelischen „Zivilgesellschaft“ und ist geprägt von liberal-zionistischen Kräften. Am Meer aus israelischen Flaggen, das auf den Großdemonstrationen in Tel Aviv/Jaffa zu sehen war, wird deutlich, wie nationalistisch dieser eigentlich ist. Dennoch scheint die neue Regierung vor den Protesten zu zittern, wenn sie mit allen Mitteln versucht, die eigentlich sehr zahmen Proteste als „Gesetzesbrecher“ zu verunglimpfen und ihnen vorwerfen, sie würden „Anarchie“ verbreiten.

Der von der neuen Rechtsregierung abgelöste ehemalige Ministerpräsident Lapid versucht, sich dabei als liberaler Gegenspieler von Netanjahu und Hüter der israelischen Demokratie zu inszenieren. Dabei war er es, der zuvor auch keinerlei Probleme damit hatte, mit Naftali Bennets kaum weniger rechtsextremen Siedlerpartei gemeinsam zu regieren. Die Massenproteste werden weiterhin ohnmächtig gegenüber den rechten Angriffen auf demokratische Rechte sein, solange sie sich von liberal-zionistischen Kräften anführen lassen. Ihre Alternative gegenüber Netanjahu sieht vielleicht so aus, dass der Oberste Gerichtshof unangetastet bleibt und die Siedlungen weniger stark ausgebaut werden. An der Realität des Besatzungsregimes, des Abbaus des israelischen Sozialstaates, der massiven Inflation, der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der Krise des Wohnungs-, Bildungs- und Gesundheitssektors werden sie nichts verändern.

Dennoch können die Massenproteste einen Ausgangspunkt für den Aufbau von Gegenmacht bieten. Zentral dabei ist es, ob fortschrittliche Organisationen es verstehen, in diese Proteste eine unabhängige Position der israelischen und der palästinischen Arbeiter_Innenklasse zu tragen und die Führung zu übernehmen. Es muss dabei darum gehen, die soziale Frage mit der Beendigung der Besatzung zu verknüpfen. Sozialdemokratisch-stalinistische Gruppen wie „Hadash“ und autonome Antifa-Gruppen haben auf den Großdemonstrationen mit ihrem „radical bloc“ ein starkes Zeichen gesetzt. Darin fanden sich viele palästinensische Fahnen, „Palestinen Lives Matter“-Schilder als auch Banner mit der Aufschrift „There’s no democracy with apartheid,” oder “A nation that occupies another nation will never be free“. Dabei ist das Zeigen der palästinensischen Flagge seit Neustem eine durchaus heikle Angelegenheit. So hatte Ben-Gvir zuvor das Zeigen von Palästina-Flaggen auf öffentlichen Plätzen verboten, weil diese angeblich für „Terrorismus“ stünden.

Dieser Block wurde damals von anderen Demonstrant_Innen aktiv angegangen und versucht von der Demo zu drängen, jedoch konnte sich der pro-palästinensiche Block mit der Zeit etablieren und deutlich anwachsen.

Die Proteste setzen Netanjahus Regierung real unter Druck, gerade deshalb weil die Protestierenden sich überdurchschnittlich stark aus Beschäftigten zentraler Bereiche, zum Beispiel IT-Spezialist_Innen, zusammensetzen. Auch zahlreiche Kulturschaffende sowie Klein- und Mittelunternehmer_Innen unterstützen die Proteste und lehnen die Justizreform ab. Auch der israelische Gewerkschaftsbund Histadrut, der aufgrund seiner historisch stark ausgeprägten Staatstreue bisher nicht zu den Demonstrationen aufrief, droht nun damit, sich anzuschließen und seine 800.000 Mitglieder zum Protest, und eventuell zum Streik, aufzufordern.

Was braucht es um Netanjahu, Ben-Gvir und Co. Zu schlagen?

Für uns als Sozialist_Innen ist klar, dass eine Demokratie unter den Bedingungen kapitalistischer Profitmaximierung sowie ethnischer Segregation und rassistischer Ungleichbehandlung nur Heuchelei ist. Israel kann nur dann wirklich demokratisch sein, wenn es auch Palästinenser_Innen dieselben Rechte zugesteht wie jüdischen Israelis und die Produktionsmittel gemeinsam demokratisch kontrolliert werden.

Revolutionär_Innen müssen sich den Massenprotesten gegen Netanjahu anschließen und gemeinsam mit den antizionistischen Kräften vor Ort für eine unabhängige Position der Arbeiter_Innenklasse kämpfen. Ein zentraler Punkt dabei ist die Anerkennung des Rechts der Palästinenser_Innen auf nationale Unabhängigkeit. Ebenso steht ihnen auch das Recht zu, sich gegen Angriffe zu verteidigen und gegen die fortwährende Besatzung zu wehren. Wir verteidigen dieses Recht, auch wenn wir Angriffe auf Zivilpersonen, insbesondere den brutalen Anschlag auf die betenden Menschen in der Synagoge in Ost-Jerusalem, entschieden ablehnen. Die sinnlosen Angriffe von Palästinenser_Innen auf Zivilpersonen sind ein Ausdruck der Führungskrise im palästinensischen Widerstand, der den verschärften Angriffen kaum eine glaubhafte Perspektive entgegenzusetzen hat. Dies liegt an der Schwäche der palästinensischen Linken und dem historischen Verrat der Stalinist_Innen in ihren Reihen, aber auch an der verräterischen Politik der palästinensischen Autonomiebehörde, der Abwesenheit von legalen Protestmöglichkeiten und dem Siegeszug des politischen Islams in der gesamten Region. So konnten sich Hamas und Islamischer Jihad als die „entschlossenere Alternative“ präsentieren, obwohl sie beide reaktionäre Organisationen sind, die nicht im Interesse der palästinensischen Arbeiter_Innenklasse handeln.

Netanjahu, Ben-Gvir und ihre reaktionäre Bande können nur geschlagen werden, wenn sich die israelischen Arbeiter_Innen, Jugendlichen und Unterdrückten mit den palästinensischen Massen zusammenschließen. Wenn sie gemeinsam kämpfen gegen Justizreform, Besatzung und Neoliberalismus aber auch gegen die reaktionäre Politik palästinensischer Kräfte wie Hamas und Fatah. Dies würde bedeuten anzuerkennen, dass israelische und palästinensische Arbeiter_innen objektiv dieselben Interessen und Ziele haben und dass sie nur die subjektiven Ketten des Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus davon trennen. Die Geschichte hat schon oft gezeigt, dass nationale Gegensätze im gemeinsamen Kampf für gleiche Ziele verschwinden können. Unsere Perspektive ist die eines säkularen multi-ethnischen Arbeiter_Innenstaates zu kämpfen, in dem jeder Mensch unabhängig von seiner Religion und Hautfarbe in Frieden leben kann.




Skizze der Weltlage

Emilia Sommer, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Nach der Pandemie Luft holen? Kaum möglich. Das letzte Jahr bot ein breites Repertoire an kapitalistischen Krisensymptomen. Angefangen mit dem noch immer anhaltenden Krieg in der Ukraine über große Aufstände wie im Iran oder in Sri Lanka, die mit massiver und gewaltsamer Repression bekämpft wurden und immer noch werden, bis hin zur Inflation und damit einhergehenden massiven Preissteigerungen. Als ob das nicht genug wäre, so merken wir schon jetzt sehr deutlich die Auswirkungen des Klimawandels wie beispielsweise bei der Flut in Pakistan, die im Spätsommer 2022 ein Drittel der Landesfläche überflutete. Es scheint, als würde eine Krise die nächste jagen, und dazwischen gibt es keine Zeit zum Aufatmen. Doch warum ist das so? Woher kommt das und wie wirkt es sich auf die ohnehin prekäre Lage von Frauen aus?

Es herrscht Krise – aber warum?

Ökonomische betrachtet, besteht der zentrale Grund für die gegenwärtige Krisenperiode darin, dass die Ursachen der Finanzkrise 2007/08 nie gelöst wurden. Die Regierungen haben nur deren Auswirkungen im Zaum gehalten. Im Kapitalismus erfordern Krisen eigentlich die Vernichtung von überschüssigem Kapital, um einen neuen Wachstums- und Expansionszyklus einzuleiten. Doch das hätte auch die Vernichtung von industriellem und Finanzkapital aus den imperialistischen Metropolen in großem Stil erfordert.

Stattdessen wurden sie mit der Politik des „billigen Geldes“ und massiven Schulden gerettet. Die Krisenkosten wurden durch soziale Kürzungen, steigende Preise und die Ausdehnung prekärer Arbeit (wie zum Beispiel Leiharbeit, Zeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse) auf den Rücken der Arbeiter:innenklasse abgewälzt – und natürlich auch auf die bäuerlichen Massen im globalen Süden.

Die Niedrigzinspolitik, die zunehmende Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, eine massive globale Verschuldung und viele weitere „Maßnahmen gegen die Krise“ schafften es nicht, eine neue ökonomische Dynamik zu entfachen, und die Wirtschaft stagnierte. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass nun der Spielraum, die aktuelle Situation abzufedern, wesentlich geringer ist.

Durch die Coronapandemie wurde die sich vorher schon anbahnende erneute Wirtschaftskrise ausgelöst und massiv verschärft. Denn durch das Virus haben sich die Finanz- und die Gesundheitskrise synchronisiert. Im Zuge dessen stieg die Verschuldung auf das Dreifache des Welt-BIP (Bruttoinlandsprodukt aller Länder). Die Verwertung des Kapitals stagniert und es kommt zu einer zunehmenden Blasenbildung (Ausdehnung des spekulativen und fiktiven Kapitals).

Das Ergebnis: massiv steigende Konkurrenz zwischen imperialistischen Kräften im Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Denn niemand verfolgt das Interesse, als „Krisenopfer“ von anderen übertrumpft zu werden. In diesem Zusammenhang muss auch die reaktionäre russische Invasion in der Ukraine betrachtet werden. Die Karten der internationalen Beziehungen werden neu gemischt und zugleich haben sie erhebliche Auswirkungen auf die globale Wirtschaftsordnung.

Dabei konnte die NATO unter Führung der USA ihre eigenen Interessen stärken und beispielsweise den Block der EU dazu bringen, die Wirtschaftsbeziehungen gegenüber dem russischen Imperialismus auf Eis zu legen. Durch den Krieg sowie die Sanktionen der G7 sind die Folgen der Unterbrechung der Getreide-, Gas- und Ölversorgung weit über Europa spürbar. Insbesondere die Inflation befeuert die aktuelle Lage.

Derzeit befinden wir uns bereits in einer globalen Hochinflationsphase, die laut einer Studie von Economic Experts Survey (EES), internationalen Wirtschaftsexpert:innen, bis 2026 anhalten könnte. Allerdings gibt es hier sehr große Unterschiede. Die höchsten Inflationsraten weltweit mit deutlich über 20 % werden in diesem Jahr in Nord- und Ostafrika, Teilen Asiens und Südamerika erwartet. Europa und Nordamerika haben durchschnittlich mit rund 10 % Inflationsrate zu kämpfen. In 50 asiatischen und afrikanischen Ländern ist die Ernährungssicherheit gefährdet. Infolge der erneut gestiegenen Lebensmittelpreise sind Hungersnöte und Hungerkrisen neben Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse weltweit zu erwarten, was wiederum Regierungskrisen wie in Sri Lanka befeuert.

Konkrete Verschlechterung

Wie bereits geschrieben, hat die Coronapandemie  eine weltweite Krise ausgelöst, die die Situation der Frauen massiv verschlechterte. Dabei haben sie beispielsweise in  informellen Beschäftigungsverhältnissen schon während des ersten Monats der Pandemie 70 % ihres Einkommens verloren. Weltweit ging die Beschäftigung von Frauen zwischen 2019 und 2020 um 4,2 % zurück, während sie bei Männern um „nur“ 3 % sank, so ein Kurzbericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aus dem Jahr 2021. Darüber hinaus haben die Doppelbelastung durch Carearbeit und die Gewalt gegen Frauen massiv zugenommen.

Das Problem an der aktuellen Lage besteht darin, dass vielerorts der Stand vor der Pandemie nicht wieder erreicht worden ist. Der Krieg in der Ukraine, der die Preissteigerungen befeuert, verschärft also die Situation erneut. Der Zustand einzelner Bereiche wie die Belastung in der häuslichen Carearbeit hat sich zwar gebessert, dennoch gibt es viele, in denen es zu einer Überlappung der Krisenfolgen kommt oder die Auswirkungen sich erst später bemerkbar machen wie beispielsweise bei der Frage der Altersarmut.

Beschäftigung und Armut

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) gibt in ihren Trends für 2023 an, dass Frauen und junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt deutlich schlechter dastehen als der Durchschnitt der Lohnabhängigen. Weltweit lag die Erwerbsquote der Frauen im Jahr 2022 bei 47,4 Prozent, während sie bei den Männern 72,3 Prozent betrug. Dieser Unterschied von 24,9 Prozentpunkten bedeutet, dass auf einen nicht erwerbstätigen Mann zwei nicht erwerbstätige Frauen kommen. Konkret bedeutet das, dass mehr Frauen aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen wurden und nun einen schwereren Einstieg haben.

Längerfristig verstärkt dies die kaum verwunderliche Tendenz, dass weltweit Frauen  häufiger von Armut betroffen sind als Männer. Hinzu kommt eine generelle verstärkte Altersarmut bei Frauen, die dadurch begünstigt wird, dass sie weniger im gleichen Beruf verdienen, durch Schwangerschaften teilweise aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und danach meist für weniger Geld wieder integriert werden und generell häufiger in Teilzeitbeschäftigung gedrängt werden und somit weniger verdienen, um die Reproduktionsarbeit im Haushalt verrichten zu können.

Inflation und Energiepreise

Die aktuelle Lage mit der Teuerung von Lebensmitteln sowie Energiepreisen bedeutet, dass Frauen zum einen verstärkter in Armut leben. Im April 2022 publizierten die Vereinten Nationen den Bericht „Global Gendered Impacts of the Ukraine Crisis on Energy Access and Food Security and Nutrition“. Hieraus geht eindeutig hervor, dass der Ukrainekrieg global die Versorgung mit Lebensmitteln und Energie massiv verschlechtert hat. Dies liegt an der Schlüsselrolle Russlands und der Ukraine auf den globalen Märkten für Energie und Grundnahrungsmittel.

So sind die Lebensmittelpreise seit Januar 2022 um über 50 Prozent gestiegen, während Rohöl um über 33 Prozent teurer geworden ist. Über 90 Prozent des Weizens in Armenien, Aserbaidschan, Eritrea, Georgien, der Mongolei und Somalia wurden aus Russland und der Ukraine importiert. Dadurch sind diese Länder in hohem Maße von Ernährungsunsicherheit bedroht. Außerdem bildet die Ukraine eine wichtige Weizenquelle für das Welternährungsprogramm (WFP), das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern unterstützt. Dabei ist zu betonen, dass dieser Engpass langfristig auftreten wird. Schätzungen gehen davon aus, dass 30 Prozent der ukrainischen landwirtschaftlichen Flächen aufgrund des Krieges nicht mehr nutzbar sind. Hinzu kommen schlechtere Ernten durch fehlende Kapazitäten, Felder instand zu halten, was die Situation perspektivisch verschärfen könnte.

Carearbeit – bezahlt und unbezahlt

Bekanntlich stellt der Sozial- und Pflegesektor ein wichtiges Beschäftigungsfeld für Frauen dar. Das wird auch deutlich, wenn man sich die Studie der ILO „The gender pay gap in the health and care sector: A global analysis in the time of COVID-19” aus dem Jahr 2022 genauer ansieht. Ihr zufolge liegt der Anteil der Arbeitskräfte im Gesundheits- und Pflegesektor an der weltweiten Gesamtbeschäftigung bei 3,4 % und ca. 67 % aller Beschäftigten in diesem Bereich sind weiblich. Herauszustreichen ist dabei, dass der Durchschnittsverdienst in diesem Sektor niedriger ausfällt als in anderen Segmenten des Arbeitsmarktes. Hinzu kommt, dass das geschlechtsspezifische Lohngefälle mit 24 % im Durchschnitt höher ist als in anderen Sektoren, was darin begründet liegt, dass auch hier Frauen wesentlich stärker in den schlecht bezahlten Bereichen arbeiten sowie miesere Bedingungen für den Wiedereinstieg nach einer Schwangerschaft vorfinden. Betont sei, dass die Pandemie die Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert hat. Insbesondere die Situation in Krankenhäusern spitzt sich weiter zu.

Ebenso angespannt war sie bezüglich der unbezahlten Reproduktionsarbeit. Besonders betroffen waren hierbei Eltern sowie jene, die Angehörige zu Hause pflegen, durch den Wegfall von Schulen, Kitas und weiteren Unterstützungsangeboten. Dabei gaben  Mütter fast dreimal so häufig wie Väter an, dass sie den Großteil oder die gesamte zusätzliche unbezahlte Betreuungsarbeit aufgrund Schließung von Schulen oder Kinderbetreuungseinrichtungen übernommen haben: 61,5 % der Mütter von Kindern unter 12 Jahren geben an, dass sie den größten Teil oder die gesamte zusätzliche Betreuungsarbeit übernommen haben, während nur 22,4 % der Väter tun. So ist es kaum verwunderlich, dass besonders diese Mütter die Gruppe verkörpern, die zwischen dem vierten Quartal 2019 und dem dritten Quartal 2020 im Durchschnitt der OECD-Länder am ehesten von der Erwerbstätigkeit in die Nichterwerbstätigkeit wechselten. Zwar hat sich die Situation unmittelbar durch die Öffnung der Betreuungsangebote wieder erholt. Doch die Pandemie hat die bereits existierende Kluft in der unbezahlten Reproduktionsarbeit verstärkt und durch die schlechtere Position von Frauen auf dem Arbeitsmarkt nachhaltig verschlechtert.

Warum eigentlich?

Wie wir an diesen Beispielen sehen, trifft es Frauen in Krisensituation wesentlich stärker. Denn gerade in solchen Perioden wird die Reproduktionsarbeit im Kapitalismus systematisch ins Private gedrängt. Kosten für v. a. öffentliche Kindererziehung, Kranken- und Altenpflege erscheinen als unnütze, unproduktive Arbeit, da sie oft keinen Mehrwert für ein Kapital schaffen. Diese Arbeiten sind zwar gesellschaftlich notwendig und letztlich auch für die Reproduktion des Gesamtkapitals erforderlich, aber sie werfen meistens keinen Profit für Einzelkapitale ab. Daher drängen diese darauf, dass die staatlichen Kosten dafür als erste gekürzt oder Leistungen ausgelagert und privatisiert werden. Diese werden also „eingespart“ oder teurer und somit für die ärmeren Schichten unerschwinglich.

Statistisch trifft dies daher Frauen besonders, da sie häufiger prekäre Arbeitsplätze wie Leiharbeits- und Teilzeitstellen besetzen oder im informellen Sektor arbeiten und so Schwankungen des Arbeitsmarkts stärker ausgesetzt sind. Dies findet häufig unter dem Deckmantel von mehr Zeit für die Familie statt. In Wirklichkeit nehmen Frauen aber häufiger diese Angebote an, da sie weniger Geld als ihr Partner verdienen. und wenn es dann darum geht, wer zu Hause bleibt und Reproduktionsarbeit verrichten soll, ist das praktische Ergebnis, dass es den Part trifft, der weniger verdient. So wird die geschlechtliche Arbeitsteilung weiter reproduziert, bedeutet aber auch, dass Frauen stärker von Krisen getroffen werden.

Die Ursache des Problems liegt also in der unbezahlten Reproduktionsarbeit, die versucht wird, ins Private hineinzudrängen, sowie in der geschlechtlichen Arbeitsteilung an sich. Das Sinnbild der bürgerlichen Kleinfamilie mit ihren Stereotypen verkörpern der Mann, als Hauptverdiener und Versorger; die Frau, die sich um die Kinder kümmert.

Perspektiven

Die aktuelle Weltlage spitzt sich immer weiter zu, die Krise breitet sich aus, die Fronten der imperialistischen Mächteblöcke verhärten sich und das offene Aufrüsten derer lässt vermuten, dass sich auch in Zukunft kriegerische Auseinandersetzungen häufen könnten. Die Ausbeutung und Unterdrückung halbkolonialer Länder nimmt stetig zu und die Klimakrise scheint mit aktuellen Taktiken der Regierungen unabwendbar. Damit einhergehend verstärken sich die Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse und damit auch allen voran auf Frauen. Die Auswirkungen der Krise, die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückung der Frau, stehen also in einem engen Verhältnis zueinander und bedingen sich teils gegenseitig. Um gegen kommende Krisen kämpfen zu können, braucht es ein Antikrisenprogramm, mit welchem in aktuelle ökonomische und soziale Kämpfe interveniert werden muss. Doch der Kampf gegen Frauenunterdrückung, Krisen und für die Umwelt kann nur Hand in Hand mit dem gegen den Kapitalismus erfolgen.




Filmkritik „Im Westen nichts Neues“: Kontext verzerrendes Bildergewitter

Von Lars Keller, zuerst erschienen in der Infomail der Gruppe ArbeiterInnenmacht, März 2023

Da hat die deutsche Netflix-Neuverfilmung von „Im Westen Nichts Neues“ also vier Oscars gewonnen: ein bildgewaltiger Film, dessen Plot jedoch eine Welt versinnbildlicht, die wieder am Rand des Weltenbrandes steht und keinen Ausweg daraus findet. Warum ist das so?

Krieg als Kunst als Ware

Dass ein Antikriegsfilm – und als solcher darf sich die Arbeit von Regisseur Edward Berger auf jeden Fall bezeichnen – auch nichts anderes als eine Ware ist, die Geld auf dem Filmmarkt einspielen soll, ist ja kein Geheimnis. Genauso wenig, dass die Oscars selbst Teil dieser Industrie sind, die sich in der Verleihungschoreographie quasi selbst geil findet.

Zwangsläufig führt das jedoch zu einer besonderen Form der Dramaturgie, die schnell ins Ahistorische übergeht. Zum Beispiel, wenn der Film in einer der Anfangsszenen die mythisierte Kriegsbegeisterung ins Jahr 1917 verlegt, eine Zeit, die längst von Hunger, Kriegsmüdigkeit und Zynismus geprägt war.

Oder indem die Handlung des Romans auf 148 Minuten zusammengestaucht wird. Relevante Szenen des Romans – etwa der Streich Paul Bäumers und seiner Kameraden an ihrem erniedrigenden Ausbilder; der Fronturlaub; das Unverständnis und die Verlorenheit, die Bäumer zuhause fühlt; seine Begegnung mit russischen Kriegsgefangenen – haben da drin logischerweise keinen Platz. Es bleibt das Geschehen in den Gräben, wo der Film technisch groß aufgefahren hat und durchaus sehr überzeugende schauspielerische Leistungen zeigt.

Dennoch: Netflix produziert doch sonst aus jedem noch so abgedroschenen Thema eine von durchschnittlicher Mittelmäßigkeit durchsetzte Serie. Hier wäre mal die Chance gewesen, darüber hinauszuwachsen.

Aber letztlich ist das egal. Den durchschnittlichen Zuschauer:innen reicht das Gemetzel, um ihrer Angstlust nachzugehen und dann zu sagen: „Schrecklich!“ oder „Krass!“

Konzernproduktionen von Netflix, Warner oder Disney haben weder die Aufgabe noch den Anspruch, historische Ereignisse korrekt zu kontextualisieren. Ihre Macher:innen haben auch selbst gar kein Bewusstsein dafür. Das ist ja gerade die Crux mit der Ideologie. Am Set denken sie vielleicht wirklich, sie tragen hier dazu bei, zukünftige Kriege zu verhindern. Aber ob es diese Gedanken gestern auch beim Applaus gab?

Klar könnte man jetzt sagen, dass Erich Maria Remarques Roman diesen Kontext selbst nicht herstellt. Das stimmt. Die Kritik ist trotzdem gerechtfertigt, weil Bergers Film bei allen Weglassungen aus dem Roman selbst einen zweiten Handlungsstrang zusätzlich geschaffen hat, der direkt so, wie er dargestellt wird, auf Geschichtsklitterung im Dienste des Dramas hinausläuft.

Kriegsende ohne Revolution

Es geht um die Verhandlungen im Eisenbahnwagen im Wald von Compiègne, die zum Waffenstillstand führten.

Was der Film definitiv gut darstellt, ist die besondere Sinnlosigkeit der letzten Angriffsversuche selbstsüchtiger Befehlshaber, die noch Minuten vor dem Waffenstillstand Menschen ins Feuer trieben.

Das Problem liegt im Kontext der Verhandlungen selbst.

Während die Herrschenden auf allen Seiten vier Jahre lang kein Problem damit hatten, Massen auf die Schlachtbank zu führen, taucht nun der gute Matthias Erzberger von der konservativen Zentrumspartei auf und appelliert vor Humanismus triefend bei den französischen Unterhändlern um Frieden.

Noch 1916 stand derselbe Erzberger für einen Siegfrieden ein, ab 1918 für einen „Verständigungsfrieden“ – also einen Frieden, den die Imperialist:innen am Runden Tisch beschließen, um die Welt dort unter sich aufzuteilen.

Das größte Problem an der Erzählung im Film ist, dass diese Friedensbemühungen bei Erzberger (Daniel Brühl) als rein einsichtige Guter-Mensch-Tat erscheint, auch wenn immerhin anklingt, dass die Oberste Heeresleitung in ihm einen nützlichen Trottel gefunden hat, der das schmutzige Geschäft des Friedens – also der Niederlage – übernahm und das Militär somit die Dolchstoßlegende zur Wahrung des eigenen Gesichts bemühen konnte.

Aber ohne die aussichtslose Kriegssituation und vor allem ohne die heraufziehende Novemberrevolution lassen sich die Waffenstillstandsbemühungen auf deutscher Seite nicht verstehen. Letzteres lässt der Film sträflich einfach weg. Während im Roman der Protagonist „Entweder gibt es Frieden oder eine Revolution“ denkt, fällt dieses R-Wort nirgends im Film. Das wäre aber Pflicht gewesen im Sinne einer historischen Richtigkeit. Denn während das Buch im Oktober 1918 endet, treibt der Film die Handlung ja bis in den November.

Natürlich war auch Remarque kein Revolutionär. Aber er vermied es, sich die Finger am falschen Frieden zu verbrennen, indem er sich rein auf die Perspektive Paul Bäumers konzentrierte.

Berger und Netflix sind aber absichtlich über dieses Perspektive hinausgegangen und bei ihnen ist der ganze Frieden nicht mehr als eine gute Tat der Herrschenden. Er erscheint nicht als etwas, womit sie ihren eigenen Kopf vor der Revolution retteten. Denn selbstredend war Erzberger genauso wie Ebert, Noske und Co. ein entschiedener Gegner der sozialistischen Revolution.

Kontext heute

Und damit mal zurück in die Gegenwart, in die Zeit des Krieges in der Ukraine, wo der Kampf um die Neuaufteilung der Welt erneut eskaliert. Die NATO handelt hier in der Unterstützung der Ukraine genauso wenig selbstlos wie ein Erzberger in Compiègne. Sie verfolgt durch das ukrainische Militär eigene imperialistische Interessen gegenüber der russischen Konkurrenz.

Es gibt viele frappierende Parallelen, sei es, dass es wie ein Jahr nach dem Beginn des ersten Weltkrieges auch heute wieder einen Munitionsmangel gibt oder sei es, dass Bachmut mit Verdun verglichen wird.

Entsprechend kam der Film für die westlichen Verbündeten zur genau richtigen Zeit. Russland erscheint in den Köpfen der Meisten als der Aggressor – was es ja auch ist. Die Kriegsziele werden jedoch kaum hinterfragt, was die westliche Seite angeht. Jetzt taucht so ein Film auf, der die Schrecken des Krieges zeigt, und: Oha! Das wiederholt sich ja heute, und Russland hat Schuld daran. Über die Angst vor dem Krieg bindet „Im Westen Nichts Neues“ die Zuschauer:innen in die westlichen Kriegsbemühungen ein, der Pazifismus landet auf dem Bauch. Die vier Oscars sind kein Zufall. Mindestens unbewusst wirken die Bilder des Krieges von damals und heute zusammen.

Für die Macher:innen des Films gilt, dass sie sich, indem sie mit dem Finger mahnend auf die Vergangenheit weisen, heute moralisch auf der richtigen Seite wähnen. Aber: Psst! – auf dieser Seite wähnten sich viele Kulturschaffende auch vor 109 Jahren!

Russland hat den Krieg zwar begonnen, aber wenn dieser zum Dritten Weltkrieg ausartet tragen dafür alle daran beteiligten Herrschenden Schuld, und alle sind sie von ihrer Unschuld überzeugt. Manche Regisseur:innen von Antikriegsfilmen sind vielleicht, ohne es zu wissen, auf dem besten Weg, zur moralischen Unterstützung des Krieges zu werden.

Stellt sich noch die Frage nach der Verhinderung und dem Ende des Krieges.

Für Marxist:innen ist in Gedenken an Rosa Luxemburg (über deren Tod Matthias Erzberger bestimmt nicht traurig war) klar, dass die Weltlage auf Sozialismus oder Barbarei hinausläuft.

Der Sozialismus ist kaum als eine Alternative für unsere Gegenwart bekannt. Das ist auch den Produzent:innen nicht vorzuwerfen. Wohl aber, historisch inkorrekt und unvollständig gearbeitet zu haben. Und das wirkt nun mal auch ins barbarische Heute.

In den letzten Jahren gab es viele Filme, die die Geschichte zum Gegenstand nahmen. Babylon Berlin ist ein anderes Beispiel dafür, wobei die Serie offen zur eigenen Fiktion steht.

Trotzdem: Das Ergebnis dieser Produktionen ist, auch wenn das die Macher:innen vielleicht nicht wollen, dass die Vergangenheit noch rätselhafter, willkürlicher und naturgesetzlicher erscheint, als sie das sowieso schon im Schulunterricht ist. Aber Geschichte ist Pseudonatur. Sie wird von Menschen gemacht und Menschen können sie auch positiv bewusst auflösen.

Weit weg von solchen Ideen (Wofür auch, es ist ja eine kapitalistisch vergewaltigte Kunst, die Geld und Ruhm bringen soll!) ist die Vergangenheitsbewältigung der modernen Großfilmindustrie darauf reduziert, die Geschichte als mitreißendes Drama auf die Leinwand zu tragen – und damit selbst zum Teil des sehr realen Gegenwartsdramas zu werden.




Manifest für Frieden: bürgerlicher Pazifismus am Pranger

Wilhelm Schulz, zuerst erschienen in der Infomail 1214 der Gruppe Arbeiter:innenmacht, 22. Februar 2023

Die Petition „Manifest für Frieden“ wurde am 10. Februar von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer veröffentlicht. Sie stellt einen Aufruf für die sofortige Einstellung von Waffenlieferungen und Einleitung von Friedensverhandlungen dar. Der Text fordert die Bundesregierung und den Bundeskanzler auf, Verhandlungen einzuleiten, um „Schaden vom deutschen Volke [zu] wenden“. Der Entrüstungssturm über die Petition zeigt jedoch weniger deren politische Begrenztheit auf als den Beweis, welche Anfeindungen selbst linksliberaler oder sozialchauvinistischer Pazifismus aktuell erfährt.

Auch wenn wir die Petition nicht unterstützen, so halten wir sie doch für den momentan lautstärksten Vorstoß aus den Reihen der Friedensbewegung. Die Versammlung am 25. Februar wird rund um das bittere erste Jubiläum des russischen Angriffs auf die Ukraine vermutlich die größte jener sein, die sich gegen den Aufrüstungs- und Eskalationskurs der deutschen Regierung stellen wollen. Auch wenn wir Pazifismus als Form bürgerlicher Ideologie ablehnen, so ist der der Massen ein nachvollziehbarer Ansatz angesichts drohender Verschärfung der Barbarei und des Mangels an einer fortschrittlichen Perspektive zu ihrer Überwindung. Aus diesem Grund werden wir an der Versammlung teilnehmen, während wir von den Organisator:innen fordern, sich vor Ort deutlich von etwaigen rechten Akteur:innen abzugrenzen und diese, falls sie anwesend sollten, durch Ordner:innen aus der Versammlung zu werfen.

Die Petition verzeichnet mittlerweile fast 600.000 Unterstützer:innen (Stand: 22.02.23). Neben den beiden Initiatorinnen gibt es noch 69 Erstunterzeichner:innen – eine breite Palette, die mit dem Begriff linksliberal nur verzerrt zusammengefasst werden kann.

Auch wenn aufgrund des öffentlichen Drucks einige wie die ehemalige Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche (EKD), Margot Käßmann, ihre Unterschrift zurückgezogen haben, so bleiben die meisten Unterzeichner:innen Wissenschaftler:innen und Kulturschaffende, die dem Spektrum von SPD, Linkspartei und Grünen nahestehen.

Es ist aber bezeichnend für die politische Ausrichtung der Initiatorinnen Schwarzer und Wagenknecht, dass einige Prominente aus dem konservativen und rechten Spektrum, darunter Erich Vad, Brigadegeneral a. D. der Bundeswehr und von 2006 bis 2013 Militärpolitischer Berater von Angela Merkel im Kanzler:innenamt, dahinterstehen. Vad hat zudem in der Vergangenheit vor rechten Burschenschaftlern referiert und für die rechtspopulistische Junge Freiheit vor etwa 20 Jahren geschrieben.

Die Unterstützer:innenliste umfasst jedoch nicht nur Ex-Funktionsträger:innen und mehr oder weniger bekannten linke Persönlichkeiten, sondern auch Repräsentant:innen der reformistischen Arbeiter:innenbewegung wie Christof Ostheimer, der ver.di-Bezirksvorsitzende Südholsteins, oder Michael Müller, den Bundesvorsitzenden der sozialdemokratischen Naturfreunde. Daneben natürlich Wagenknecht, die Galionsfigur der Linken, die in den letzten Jahren der Klassenpolitik den Rücken kehrte und ein linkspopulistisches Programm für DIE LINKE zu etablieren versucht. Und Schwarzer, eine bürgerliche Feministin der zweiten Welle des Feminismus, die vor allem durch Transfeindlichkeit in den letzten Jahren bei neuen Generationen von Feminist:innen angeeckt ist.

Insgesamt handelt es sich um ein volksfrontartiges, klassenübergreifendes Personenbündnis. Der Aufruf stellt keine Aufforderung zum aktiven Handeln dar, sondern letztlich nur den kleinsten gemeinsamen Nenner der Initiator:innen. Aber er hat hunderttausende Unterschriften erhalten, weil nicht zuletzt Millionen Lohnabhängige über die Militarisierung und den Kriegskurs der Bundesregierung zu Recht beunruhigt sind.

Zum Inhalt

Das Manifest selbst spricht sich für die sofortige Einstellung von Kriegshandlungen aus. Es droht vor einer latenten Gefahr der Ausweitung über ihre bisherigen Grenzen bis hin zum Weltkrieg. Der Überfall Russlands auf die Ukraine und die Notwendigkeit von Solidarität mit ihrer Bevölkerung wird benannt. Dies bleibt allerdings letztlich ohne konkrete politische Folgen, weil nirgendwo das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine verteidigt oder als Ziel eines etwaigen Friedens benannt wird. Nirgendwo wird der Rückzug der russischen Invasionstruppen aus den seit Februar 2022 eroberten Gebieten gefordert.

Der Text spricht sich im Anschluss nur gegen den Kriegskurs der Bundesregierung und des ukrainischen Präsidenten Selenskyj aus. Militärstrategisch sieht sich der Petitionstext vor einer Pattsituation. So schreiben die Initiatorinnen: „Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen.“ Aus dieser Erkenntnis folgt der Aufruf an die Bundesregierung, zwischen den USA und Russland zu vermitteln oder auf die europäischen Nachbar:innen einzuwirken. Demnach soll Olaf Scholz die Waffenlieferungen einstellen und eine „Allianz für einen Waffenstillstand“ aufbauen.

Die hier aufgeworfene Perspektive verbleibt vollständig innerhalb des Horizonts bürgerlicher Diplomatie. Den Krieg können anscheinend nur Diplomat:innen stoppen. So heißt es: „Wir Bürgerinnen und Bürger Deutschlands können nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäischen Nachbarn einwirken.“ Daher müssten wir „unsere Regierung“ in die Pflicht nehmen und Olaf Scholz zum Anführer einer „Friedensallianz“ krönen.

Doch die „Friedensallianz“, die keine eigenen Klasseninteressen vertritt, gibt es nicht und kann es nicht geben. So wie die deutsche Regierung mit Sanktionen und Waffenlieferungen ihre eigenen imperialistischen Interessen verfolgt, die Ukrainer:innen im Krieg für ihre eigenen geostrategischen und wirtschaftlichen Zwecke unterstützt, wird sie das natürlich auch am Verhandlungstisch tun – und genauso werden das alle anderen Beteiligten auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung versuchen.

Letztlich soll der geforderte Frieden dem deutschen Interesse dienen. Demnach ist der Krieg einer zwischen den USA (im Aufruftext Amerika) und Russland. Eine Beteiligung oder genauer deren Fortsetzung entsprächen nicht den Interessen Deutschlands bzw. denen des deutschen Kapitals. In diesem Sinne appelliert der Aufruf an die deutsche Bourgeoisie und ihren Staat, um diese für die Linie der vergangenen Jahrzehnte zurückzugewinnen. Eben jene konnte den Kriegskurs aber nicht stoppen, weil sie keine oder nur wenige Anhänger:innen unter der herrschenden Klasse in Deutschland besitzt. Das kann sich natürlich ändern – und darauf hoffen letztlich Schwarzer und Wagenknecht.

Es ist auch kein Wunder, dass daher Forderungen, die das direkte Interesse des deutschen Imperialismus auch in der Konkurrenz zu Russland berühren, außen vor bleiben. So werden weder die Abschaffung der Sanktionen noch der Stopp der Aufrüstung der Bundeswehr und NATO auch nur erwähnt. Dabei befeuern die Sanktionen nicht nur die Inflation und Armut hierzulande, sondern vor allem auch den Hunger und Not in der Welt. Ihre Folgewirkungen bedrohen das Leben Hunderttausender.

Das 100-Milliarden-Programm, die europäische Rüstungsinitiative und die Aufstockung der schnellen NATO-Eingreiftruppe auf 300.000 Soldat:innen finden sich im Aufruf mit keinem Wort.

Zu diesen Fragen gibt es unter den Initiator:innen entweder keine Einigkeit oder man möchte konservative Gegner:innen des Ukrainekriegs nicht mit Abrüstungsforderungen an die deutsche Regierung „abschrecken“. So bleibt es beim allgemeinen Ruf nach Frieden – im deutschen Interesse. Der Sozialpazifismus wird als die beste Politik für „unseren“ Imperialismus präsentiert.

Und wie wird darüber gesprochen?

Die öffentliche Kritik am Aufruf lässt sich in zwei Stoßrichtungen einteilen, wobei die eine die andere erkennbar bestimmt. Einerseits jene, die jedweden Bruch mit der konfrontativen Politik gegenüber dem russischen Imperialismus als reaktionär abstempelt. Andererseits jene, die dem ausweicht und die Gefahr der Beteiligung reaktionärer Anhänger:innen über die Notwendigkeit stellt, für eine internationalistische und klassenkämpferische Ausrichtung der Opposition gegen die Kriegspolitik der Bundesregierung zu kämpfen. Als Produkt kommt bei beiden Kritiken ähnliches raus: Passivität gegenüber der neuen Orientierung des deutschen Imperialismus.

Die Petition ist in der Linken, aber vor allem in DIE LINKE, sehr umstritten. Der Parteivorstand der LINKEN hat am Donnerstag, dem 16.2, bekanntgegeben, den Protest zu unterstützen, der sich für Frieden und Waffenstillstand einsetzt und von rechts abgrenzt – nicht aber die größte Kundgebung gegen die Bundesregierung. Das Ausbleiben einer Erwähnung des „Manifest für Frieden“ spricht hier Bände, denn es ist aus den Reihen der Partei der aktuell bekannteste Ansatz. Die Stellungnahme stellt dementsprechend eine indirekte Distanzierung dar, die umgekehrt aber allen freistellt, doch hinzugehen oder den Aufruf zu unterzeichnen.

Das Manifest ist in seiner Perspektive weder neu noch innovativ. Es vertritt eine Form bürgerlicher Politik, die mittels eines Appells an den Staat in Form von Bundesregierung und -kanzler zum Richtungswechsel in Fragen der Waffenlieferungen und Friedensverhandlungen drängen möchte und die alles mit dem Verweis auf deutsche Interessen begründet. Der Richtungsstreit wird im Militärjargon als jener zwischen Falken, den sogenannten Hardliner:innen, und Tauben, der Orientierung auf Verhandlungen, beschrieben. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) formuliert den Standpunkt der Hardliner:innen, aber auch ihren Punktsieg in der politischen Stimmung in Deutschland deutlich, wenn sie die Unterzeichner:innen des Manifests „zu propagandistischen Helfern eines Kriegsverbrechers“ abstempelt.

Dabei greift sie zwar genüsslich wirkliche Schwächen des Aufrufs auf und dessen Verharmlosung des russischen Imperialismus, aber die FAZ unterschlägt dabei natürlich die imperialen Kriegsziele der NATO, der USA und auch Deutschlands.

Vorwurf der Querfront oder zumindest rechten Unterwanderung

Der AfD Co-Vorsitzende Tino Chrupalla hat öffentlich verkündet, das Manifest unterschrieben zu haben. Dies hat er nicht als einer der Erstunterzeichnenden getan, sondern einfach nur ein Kontaktformular auf einer Homepage unterschrieben. Chrupalla und das von Jürgen Elsässer geführte, neurechte Magazin Compact riefen darüber hinaus zur Beteiligung an der Kundgebung am 25. Februar in Berlin auf. Wagenknecht distanzierte sich im Interview mit dem SPIEGEL öffentlich davon und untersagte die Beteiligung von AfD und anderen Akteur:innen der Rechten. Oskar Lafontaine, der ehemalige Mitbegründer der LINKEN und Erstunterzeichner, riss diese Brandmauer kurz darauf erneut nieder, indem er die „Gesinnungsprüfung“ oder Parteibuchkontrolle bei Einlass zur Demonstration ausschloss. Eine politische Schmierenkomödie mit ungewissem Ausgang.

Im Aufruf selbst wird die Abgrenzung nach rechts jedoch nicht deutlich formuliert. Auch wenn wir diese bereits im Petitionstext für notwendig erachtet hätten, so fand die Distanzierung schlussendlich doch statt. Die konsequente Fortsetzung dessen müsste eine eindeutige Abgrenzung im Rahmen der Versammlung und ein Rauswurf öffentlich bekannter oder auftretender rechter Akteur:innen durch Ordner:innen bedeuten. Ob es dazu kommt, steht in den Sternen.

Die AfD versucht mittels ihrer Kriegsposition, ähnlich wie das Manifest für Frieden, eine alternative Ausrichtung für das deutsche Bürger:innentum anzubieten. In diesem Sinne ist ihr Aufruf zur Unterstützung nachvollziehbar, aber das hat noch einen zweiten positiven Punkt für die Rechten. Es ist ihren Akteur:innen vermutlich sehr deutlich klar, dass ein Mobilisierungsaufruf ihrerseits die Demobilisierung im Lager der Arbeiter:innenbewegung befeuern würde.

Sie würden damit sowohl die Verbitterung im Lager der Initiator:innen und ihrer Unterstützer:innen anspornen, während sie ihre eigenen Mobilisierungen weiterhin als die relativ stärksten verkaufen können. Notwendig wäre eine klassenkämpferische Position, die die Schwächung des eigenen Imperialismus, die Beendigung des Krieges durch Klassenkampf ins Zentrum stellt. Ein solcher Aufruf hätte sich jedoch an den DGB und seine Mitgliedschaft richten sollen, eine Verbindung zu den das Jahr 2023 durchziehenden Arbeitskämpfen gebraucht. Eine solche Perspektive gilt es, auch in die Tarifauseinandersetzungen zu tragen.

Begrenzter Pazifismus

Laut Unterstützer:innen der Petition in der LINKEN unterstütze weiterhin eine Mehrheit der Parteimitglieder den Vorstoß. Was jedoch deutlicher zu erkennen ist, ist die Kapitulation der Partei angesichts der aktuellen Herausforderungen. DIE LINKE versteht sich seit ihrer Entstehung als Antikriegspartei, eine Position auf dem Sand des Pazifismus gebaut. Beide Bewegungsrichtungen (Parteivorstand und Regierungssozialist:innen oder Wagenknechtlager), in die pazifistische Politik angesichts des Krieges taumelnd, zeigen deren Begrenztheit auf. Die Mehrheit des Parteivorstandes hält die Füße still, da sie schlussendlich den Frieden nur durch einen militärischen Sieg der Ukraine für möglich halten will und die Rolle der NATO herunterspielt. Der andere Teil sieht dies als unmöglich an und orientiert dementsprechend auf Verhandlungen zwischen jenen Akteur:innen, die spätestens seit 2014 regelmäßig Öl ins Feuer kippen.

Beide Ansätze verstehen den Krieg als externen Schock, den es zu beseitigen gilt, um die rechtmäßige (bürgerliche) Ordnung wiederherzustellen. Dabei ist der Krieg dem Kapitalismus innerlich. Er bietet eine Chance, dessen Überakkumulationskrisen durch massive Vernichtung von Kapital und Arbeit, aber auch Verdrängung imperialistischer Konkurrenz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zu lösen. Sowohl der Fokus der Hardliner:innen als auch jener der Verhandlungsbefürworter:innen überlässt die Handlungsfähigkeit den Herrschenden. Beide bieten Arbeiter:innen und Unterdrückten keine eigenständige Handlungsperspektive.

Insgesamt lehnen wir Verhandlungspredigten ab. Sie haben auf verschiedenen Ebenen einen passiven Charakter. Erstens erhoffen sie gerade von jenen imperialistischen Regierungen einen „gerechten Frieden“, die selbst maßgeblich den Krieg befeuert haben und befeuern. Zweitens unterstellen sie den Krieg als etwas Außerordentliches, in dem es nur um Töten oder getötet Werden geht. Das Zurückholen der jeweiligen Staaten an den Verhandlungstisch, die den vorherigen „friedlichen“ Zustand wiederherstellen sollen, bleibt die letzte waffenlose Form der Vaterlandsverteidigung.

Wer ist das Subjekt einer Antikriegsbewegung?

Der Aufruf für den 25. Februar macht dies ganz deutlich. Die deutsche Bevölkerung – also auch die Arbeiter:innenklasse – können ihm zufolge nichts bewirken. Daher muss Olaf Scholz als Friedensarchitekt ran.

Doch nicht nur die deutsche Bevölkerung taucht als Subjekt nicht auf. In der Ukraine und in Russland gibt es anscheinend auch nur Herrschende. Die ukrainischen Massen, die die Hauptlast des Kriegs tragen müssen, erscheinen nur als bedauernswerte Opfer. Ihre eigenen sozialen und demokratischen Rechte und Interessen gibt’s anscheinend nur als Restgröße der Verhandlungen zwischen Putin und Biden, unter Vermittlung von Scholz und Macron. Die russische Arbeiter:innenklasse und die dortige Antikriegsbewegung werden erst gar nicht erwähnt.

Als Revolutionär:innen stellen wir im Kampf gegen diesen Krieg und seine Folgen den Klassenkampf, die Frontstellung zur herrschenden Klasse und zum „eigenen“ Imperialismus in den Mittelpunkt. Zugleich solidarisieren wir uns mit den Arbeiter:innen in der Ukraine und Russland. So haben wir schon im Mai letzten Jahres folgende Vorschläge für den Aufbau einer Antikriegsbewegung in Deutschland erbracht, die in ihren Grundzügen bis heute (leider) noch immer Gültigkeit haben:

  • Nein zu Putins Angriffskrieg! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und Antikriegsbewegung in Russland!
  • Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!
  • Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter:innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Festgenommenen!
  • Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle – finanziert durch den Staat; Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!
  • Nein zu jeder NATO-Intervention! Gegen alle Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen und Waffenlieferungen! Gegen NATO-Ausweitung, sofortiger Austritt aus der NATO!
  • Keinen Cent für die imperialistische Politik, für die Bundeswehr! Nein zum 100-Milliarden-Programm der Ampelkoalition!
  • Die Kosten für die Preissteigerung müssen die Herrschenden zahlen! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Übernahme gestiegener Lebenshaltungskosten der Arbeiter:innenklasse, der Rentner:innen, von Erwerbslosen durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Politischer Massenstreik und Massendemonstrationen gegen jede direkte NATO-Intervention!

Doch um diese Perspektive zu verbreiten, müssen wir diese auch unter die Arbeiter:innen tragen – auch unter jene, die vom Pazifismus geprägt sind und aus diesem Grund den Aufruf unterzeichnet haben bzw. zur Kundgebung kommen. Für sie erscheint die Verhandlung, ein Mittel zur Beendigung der Barbarei darzustellen, ohne dabei jedoch die Frage nach deren Ursprung und Wiederholungspotential aufzuwerfen. In diesem Sinne rufen wir alle linken und klassenkämpferischen Organisationen dazu auf, sich an der Versammlung zu beteiligen und für eine Position des Klassenkampfes einzutreten.




Erneute Eskalation im Nahost-Konflikt? 6 Fragen – 6 Antworten!

Von Lia Malinovski, Februar 2023

Warum ist dieses Framing problematisch?

In den letzten Tagen hat sich die Gewaltspirale zwischen der israelischen Regierung und palästinensischen Gruppen wieder erneut heftig in Gang gesetzt. In den bürgerlichen Medien ist dabei von einer „Eskalation im Nahost-Konflikt“ die Rede. Dabei wird einerseits in guter alter kolonial-eurozentristischer Manier vom „Nahen Osten“ gesprochen (, denn ob das Ganze nah ist und im Osten liegt, hängt natürlich vom Standpunkt der Betrachterin ab). Auch die Rede von einer Eskalation trifft den Punkt nicht ganz, denn die jahrzehntelange Besatzung, Entrechtung und Unterdrückung der Palästinenser_innen stellen für sich genommen schon ein ziemlich eskalatives Level in einem Konflikt zwischen Bevölkerungsgruppen dar. Erst dann von Eskalation zu sprechen, wenn es zu Gewaltausbrüchen kommt, suggeriert als wäre vorher eigentlich alles tutti bzw. nicht ganz so schlimm gewesen. Doch die Palästinenser_innen spüren die Gewalt des Besatzungsregimes Tag für Tag.

Was genau ist in den letzten Tagen passiert?

Ausgangspunkt der Gewaltspirale war ein Angriff des israelischen Militärs auf ein palästinensisches Geflüchtetencamp in Jenin (Westbank). Die Soldat_innen richteten dabei ein Blutbad an, bei dem 9 Menschen getötet wurden. Weitere 20 Palästinenser_innen wurden bereits in diesem noch sehr jungen Jahr durch das israelische Militär getötet. Die im Gazastreifen regierende Hamas beantwortete das Massaker mit Raketenangriffen auf den Süden Israels, die jedoch keinen nennenswerten Schaden anrichteten. Das israelische Militär flog daraufhin Luftangriffe auf Stellungen der Hamas. Im Zuge dessen kam es auch zu Angriffen auf zivile Opfer in israelischen Siedlungen im palästinensischen Teil Jerusalems. Dabei wurden bei einem Anschlag auf eine Synagoge 7 Israelis brutal ermordet.

Was ist der Grund für die Angriffe?

Der Grund für das verschärfte Vorgehen des israelischen Militärs ist wohl die neue extrem-rechte Koalitionsregierung, die die rechteste ist, die es jemals in Israel gab. An ihrer Spitze steht der altbekannte Benjamin Netanjahu. Minister für Nationale „Sicherheit“ ist der rechtsradikale Siedler Itamar Ben-Gvir. Dieser sticht unter den vielen rassistischen Äußerungen von Mitgliedern der neuen Regierung zusätzlich dadurch negativ hervor, dass er die Massaker israelischer Siedlerterroristen wie Baruch Goldstein legitimiert, „illoyale“ Palästinenser_innen ausweisen will und auch schon persönlich angesichts palästinensischer Proteste die Pistole gezückt hat. Mit Blick auf das relativ knappe Wahlergebnis versucht sich die neue rechtsextreme Regierung nun durch ein besonders hartes Vorgehen und weitere Einschnitte in die Rechte der Palästinenser_innen zu profilieren. Dabei steht sie stark unter Druck. Mit der sich verschärfenden Wirtschaftskrise geht auch eine verstärkte Verelendung der Arbeiter_Innenklasse in Israel einher, die sich besonders in Reallohnverlusten, massiver Inflation, Entlassungen und schlechteren Arbeitsbedingungen äußert. Die israelische Regierung versucht jetzt durch nationalistische Propaganda und der Erweiterung des israelischen Staatsgebiets dieser Krise durch kurzfristige Scheinlösungen zu begegnen und die israelische Arbeiter_Innenklasse mittels Nationalismus an die herrschende Klasse zu binden und damit ihre Schlagkraft zu verringern.

Gibt es auch auf israelischer Seite Widerstand dagegen?

Dass die Palästinenser_innen das brutale Vorgehen der neuen Regierung nicht widerstandslos über sich ergehen lassen, ist nur allzu verständlich. Doch auch in Israel gibt es viele kritische Stimmen. So haben wir zahlreiche Massendemonstrationen in Israel gesehen, die gegen die neue Regierung auf die Straße gegangen sind. Zwar bieten diese Demonstrationen insgesamt keine sozialistische Perspektive und formulieren in ihrer Gesamtheit keine grundsätzliche Kritik am israelischen Staat oder dem Zionismus, sind jedoch Ausdruck der Unzufriedenheit mit dieser extrem rechten Regierung. Sie können einen Ausgangspunkt für Widerstand in der israelischen Bevölkerung bieten, wenn fortschrittliche Organisationen es verstehen, in diese Proteste die Position der israelischen und der palästinischen Arbeiter_innenklasse zu tragen und die Führung zu übernehmen. Es muss dabei darum gehen, die soziale Frage mit der Beendigung der Besatzung zu verknüpfen. Kommunistische Gruppen wie „Hadash“ und Antifa-Gruppen haben auf der über 100 000 Teilnehmende zählenden Großdemonstration in Tel Aviv in der vergangenen Woche mit ihrem „radical bloc“ ein starkes Zeichen gesetzt. Darin fanden sich viele palästinensische Fahnen, „Palestinen Lives Matter“-Schilder als auch Banner mit der Aufschrift „There’s no democracy with apartheid,” oder “A nation that occupies another nation will never be free“.

Wie ist die Reaktion der Palästinenser_innen zu bewerten?

Den Palästinenser_innen steht das Recht auf nationale Selbstbestimmung zu und auch, sich gegen Angriffe zu verteidigen und gegen die fortwährende Besatzung zu wehren. Wir verteidigen dieses Recht, auch wenn wir Angriffe auf Zivilpersonen, insbesondere den brutalen Anschlag auf die betenden Menschen in der Synagoge in Ost-Jerusalem, entschieden ablehnen. Dass es angesichts der israelischen Besatzungspolitik zu solchen Anschlägen kommt und eine auf die Arbeiter_innenklasse gestützte Taktik im palästinensischen Widerstand fehlt, ist auf die Schwäche der palästinensischen Linken, den Verrat der Stalinist_innen in ihren Reihen, die verräterische Politik der palästinensischen Autonomiebehörde, die Abwesenheit von legalen Protestmöglichkeiten und den Siegeszug des politischen Islams in der gesamten Region zurückzuführen. So konnten sich Hamas und Islamischer Jihad als die „entschlossenere Alternative“ präsentieren. Dabei sind beide reaktionäre Organisationen, die nicht im Interesse der palästinensischen Arbeiter_Innenklasse handeln. Sie sind reaktionär, da sie in ihren Taktiken gezielt Jüd_innen angreifen, anstatt die israelische Staatsmaschinerie zum Ziel zu erklären und für Verbesserungen zu kämpfen. In ihrer Ideologie stellen sie sich gegen Jüd_innen, aber auch gegen andere Ethnien (auch innerhalb der palästinensischen Bevölkerung) und vor allem gegen queere Menschen und Frauen, deren Unterdrückung sie aktiv befürworten. Ihre Taktik dient dazu, sich als Führungskraft des Befreiungskampfes zu inszenieren, indem sie hin und wieder mal Raketen nach Israel schicken. Sie tun dies, da sie davon profitieren, wenn sie sich als Führung ausgeben können, wenn sie Israel symbolisch angreifen und die Reaktion propagandistisch ausschlachten können. Damit machen sie es der israelischen Führung auch leicht, die Palästinenser_innen zum kollektiven Feind zu erklären. Mit ihren Aktionen verfolgen Hamas und Islamischer Jihad keine Strategie zur Befreiung Palästinas, sondern eine Strategie zur Erhaltung ihrer Macht, hinter der eine Klasse aus Klerikalen und Bürokraten steht.

Die palästinensische Bourgeoisie wird dagegen vor allem von der konservativen Fatah vertreten, welche die Regierungsgeschäfte der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in der Westbank lenkt. Diese ist eine Institution, die aufgrund der sehr schwachen palästinensischen Wirtschaft nur durch ausländische Entwicklungshilfe aus der EU und den USA am Leben erhalten werden kann. Da das Hauptinteresse der EU und der USA die Sicherheit ihres Verbündeten Israel ist, binden sie ihre Zahlungen daran, dass die PA für „Ruhe und Ordnung“ in den palästinensischen Gebieten sorgt. Ein großer Teil der Zahlungen fließt deshalb ausschließlich in den palästinensischen Militär- und Polizeiapparat. Die PA unter Führung der konservativen Partei Fatah wird also dafür bezahlt, die palästinensische Bevölkerung ruhig zu halten und Aufstände gewaltsam zu unterdrücken. Diese Funktion führt sie im Rahmen einer „Sicherheitskooperation“ mit dem israelischen Militär aus. Die PA übernimmt somit die Rolle einer Verwalterin der Besatzung und entwickelte sich in der Vergangenheit zu einem autoritären Polizeistaat, der die Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit unterdrückt und die israelische Besatzung zementiert. Diese „Sicherheitskooperation“ wurde nun als Reaktion auf das Blutbad in Jenin einseitig durch die PA aufgekündigt. Dies ist jedoch nicht als eine Linksentwicklung der Fatah zu verstehen, sondern vielmehr als den verzweifelten Versuch, noch irgendeine Form von Ansehen und Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung zu behalten.

Was setzen wir dem entgegen?

Was es braucht, ist eine unabhängige Position der palästinensischen Arbeiter_innenklasse, die keine Illusionen in die bürgerlichen Kräfte Hamas, Islamischen Jihad oder die Fatah hat. Diese würde bedeuten zu erkennen, dass israelische und palästinensische Arbeiter_innen dieselben Interessen und Ziele haben und dass sie nur die Ketten des Kapitalismus und Nationalismus davon trennen. Die Geschichte hat schon oft gezeigt, dass nationale Gegensätze im gemeinsamen Kampf für gleiche Ziele verschwinden können. Unsere Perspektive ist die eines säkularen multi-ethnischen Arbeiter_innenstaates zu kämpfen, in dem jeder Mensch unabhängig von seiner Religion und Hautfarbe in Frieden leben kann. Um jedoch die Palästinenser_innen für diese Position zu gewinnen, dürfen wir nicht als kommunistische Besserwisser_innen am Rande des Kampfes stehen und zuschauen. Wir müssen uns als Teil ihres Kampfes für nationale Selbstbestimmung verstehen, auch wenn uns die Führung dieses Kampfes aus reaktionären Kräften nicht passt, sein Ziel ist trotzdem legitim. Nur indem wir das legitime Recht dieses Befreiungskampfes bedingungslos verteidigen und die israelische antizionistische Opposition unterstützen, werden die Massen offen für unsere Positionen sein und den Kampf um die nationale Selbstbestimmung mit der Klassenfrage zu verbinden. Hier vor Ort muss das bedeuten, aktiv gegen Waffenlieferungen und militärische Unterstützung für Israel durch die BRD zu sein. Sich gegen Betätigungs- und Demonstrationsverbote für palästinensische Organisationen auszusprechen und den palästinensischen Befreiungskampf gegen verleumderische Antisemitismusvorwürfe zu verteidigen.

Als REVOLUTION bieten wir dem Kampf deshalb die folgende Perspektive:

  • Verbindung der Kämpfe der israelischen Arbeiter_Innenklasse mit dem Kampf um nationale Selbstbestimmung in Palästina! Für Massenstreiks und gemeinsame Aktionens von Palästinenser_innen und der israelischen Arbeiter_innenklasse gegen Inflation, Reallohnverluste, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und für die Kontrolle der Klasse über die Schlüsselindustrien!
  • Es gibt kein Existenzrecht für kapitalistische Nationalstaaten! Für den Aufbau eines freien, rätedemokratischen, sozialistischen Palästinas, das den bürgerlichen Staat Israel durch demokratische Strukturen und friedliches Zusammenleben im Rahmen einer Föderation sozialistischer Staaten ersetzt!
  • Für volle Staatsbürger_innenrechte für alle, da wo sie gerade Wohnen, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion!
  • Für volle Religionsfreiheit und gegen religiöse Staaten! Jede_r muss das Recht haben, die eigene Religion auszuüben, solange die Unversehrtheit anderer gewährleistet ist!
  • Für demokratische Milizen zur Verteidigung vor rassistischen, antisemitischen oder sonstigen reaktionären Angriffen, gewählt durch die Arbeiter_innenklasse Palästinas und Israels!