INTERVIEW: Situation am Ernst-Abbe-Gymnasium

Vorgestern wurde die von uns angemeldete Demonstration unter dem Motto „Jugend gegen Rassismus“, welche zusammen mit Schüler_Innen des Ernst-Abbe-Gymnasiums organisiert wurde, durch die Berliner Polizei verboten. Neben der allgemeinen Zunahme von Rassismus in unserer Gesellschaft, an Schulen und in der Politik war der Protest ebenso eine Reaktion auf das gewalttätige Ausschreiten einer Lehrkraft gegenüber eines Schülers, der ei-ne palästinensische Flagge hochhielt. Ein ausführliches Statement zu dem Verbot wird von unserer Seite aus in den nächsten Tagen folgen. Wir haben jedoch schon ein Interview mit einem Schüler führen können, welcher in den Prozess des Organisierens eingebunden war. Wir hoffen euch damit einen Einblick in den derzeitigen Schulalltag auf der Ernst-Abbe und in die Gefühle der Schüler_Innen nach dieser Enttäuschung geben zu können.

„Wie ist die Situation gerade an der Schule?”

„Wenn man mit Kufiya rumläuft, wird man von den Lehrern komisch angeschaut. Wenn man nachfragt, ob man das tragen darf, wird erzählt, dass das Tragen von politischen Symbolen verboten wäre und in der Schule nichts zu suchen hat. Laut der Senatorin ist das Tragen von politischen Symbolen verboten.

Meiner Meinung nach sollten wir tragen, können was wir wollen. Wir sind fast den ganzen Tag in der Schule und dürfen keine politischen Symbole tragen. Wozu haben wir den Politik- und Geschichtsunterricht? Warum wird uns z.B erzählt, dass wir in Deutschland eine Demokratie haben und Meinungsfreiheit in Deutschland erlaubt ist. Die Lehrer sind zurückhaltend und wollen die ganze Sache einfach vergessen, als wäre nichts.”

„Was stört dich an der Diskussion gerade am meisten?”

„Am meisten stört mich, dass die Lehrer nichts davon erzählen was gerade los ist in der Welt. Einige Lehrer sind so sehr Pro-Israel, dass man es ihnen anerkennt. Und dann sagen die auch immer, dass sie neutral sind. Einige Lehrer sind aber nett und stehen hinter uns. Einige tun mir leid weil alle Lehrer in einen Sack geworfen werden. Am meisten nervt mich auch das wegen des Lehrers, der den Schüler geschlagen hat, nichts gemacht wird. Er hat eine Anzeige bekommen, aber das ist meiner Meinung nach viel zu wenig für so ein Verhalten!”

„Wie findest du es das die Demo verboten wurde?”

„Unsere Meinungsfreiheit wurde zerstört! Warum dürfen Schüler ihre Meinung nicht äußern? In welcher Welt leben wir? Wir sind doch eine Demokratie? In welcher Welt leben wir das und unser RECHT genommen wird und einfach in die Tonne geschmissen, als wäre nichts passiert. Was ich auch Scheiße finde, ist, dass alles direkt mit der Hamas in Verbindung gesetzt wird.”


Schreibt uns an wenn ihr ähnliche Erfahrungen an euren Schulen gemacht habt! Wir bieten euch an mit uns über die aktuellen Geschehnisse und eure Erfahrungen mit Gewalt, Rassismus und Repressionen zu reden. Lasst uns zusammen gegen den Rechtsruck und für ein Leben frei von Unterdrückung kämpfen!


Gegen die rassistische Repression!

Es zeigt sich dass die Stimmung auf der Schule durch die Repressionen des Berliner Senats bedrückt und durch die Verbote der Polizei aufgeheizt ist. Die Schüler_Innen sind wütend dass ihnen die Möglichkeit ihre Meinung auf die Straße zu tragen genommen wurde. Wir sehen wie die AfD in allen Bundesländern in Wahlen und Wahlprognosen an Stimmen gewinnt. Neben-bei rücken alle Parteien weiter nach Rechts, wir sehen diese Entwicklung an der Zunahme der rassistischen Hetzte der CDU und der von der gesamten Ampelregierung getragenen Asylrechtsverschärfung. Schüler_Innen können sich nicht offen gegen den Rassismus an ihren Schulen und in der Gesellschaft aussprechen, geschweige denn die massiven Angriffe auf Gaza durch israelischen Staat verurteilen. Lasst uns dafür kämpfen das zu ermöglichen!

Daher fordern wir:

  • unabhängige Antidiskriminierungsstellen an Schulen und Weg mit dem Verbot der Kufiya!

  • Keine Konsequenzen für den Schüler! Aufarbeitung des Vorfalls an der Schule und Suspendierung des Lehrers!

  • Nein zu allen Formen der Kriminalisierung von Palästina-Solidarität! Für das Recht von Unterdrückten, sich gegen ihre Unterdrücker zu organisieren!



Schüler schlagen für Israel: Antimuslimischer Rassismus am aufflammen

von Flo Rojo, Oktober 2023

Montag, 9.10., Berlin-Neukölln: Ein Schüler läuft über den Schulhof und hebt in einer Menge von Menschen eine palästinensische Flagge in die Luft. Gleich darauf rennt ein Lehrer ihm hasserfüllt hinterher und schlägt ihm ins Gesicht. Dieser ganze Vorfall wurde von Mitschüler_Innen aufgenommen und ging anschließend viral. Antimuslimischer Rassismus wächst in Berlin, in Deutschland und in der ganzen „westlichen“ Welt seit der Eskalation des Nahost-Konflikts erneut rapide an.

Angesichts des israelischen Angriffs und einer Situation in welcher der Widerstand und die gesamte palästinensische Nation dämonisiert wird, gilt es für Revolutionär_Innen sich klar auf der Seite der Unterdrückten zu stellen. So notwendig eine linke Kritik an der Hamas als reaktionärer, islamistischer, antisemitischer Kraft ist, so wichtig ist es auch, ihrer medialen Dämonisierung entgegenzutreten. Es ist zionistische und westliche Kriegspropaganda, die Hamas und deren Agieren in Gaza mit dem Islamischen Staat gleichzusetzen. Die Hamas ist weder eine faschistische Kraft noch hat sie in Gaza ein „faschistisches“ Regime errichtet.

Das ändert nichts an ihrem zutiefst reaktionären Charakter. Natürlich haben ihre Führungen und Funktionär_Innen die Verwaltung des Mangels unter ihrer Regie auch zur Bereicherung benutzt. Das unterscheidet sie aber nicht von anderen klerikalen und nationalistischen „Regimen“.

Die Hamas ging natürlich auch repressiv gegen die eigene Bevölkerung vor – aber sie gestattete auch andere Gruppierungen des Widerstandes auf ihrer rechten wie linken (PFLP, DFLP) Seite.

Mit der Dämonisierung der Hamas soll aber vor allem ein barbarischer Angriffskrieg – des Tötens bis zum letzten Mann! – und massive Repression in Ländern wie Deutschland legitimiert werden. Erstens werden dabei alle Kämpfenden, alle Palästinenser_Innen, die auch nur ihre Stimme erheben, pauschal zu „Hamas“ oder „Hamas-Unterstützer_Innen“ erklärt. Die Existenz der palästinensischen Linken wird somit in großen Teilen komplett geleugnet. Nachdem alle Kämpfer_Innen Hamas sind, werden alle auch gleich zu Dschihadist:innen und „Terrorist_Innen“ im Stile des Islamischen Staates verklärt. Der nationale Befreiungskampf wird so zu einem religiösen uminterpretiert.

Eine erste Aufgabe von Antiimperialist_Innen in Deutschland und allen westlichen Ländern besteht angesichts der konzertierten Hetze darin, sich dieser imperialistischen Ideologie und Verkehrung der Umstände entgegenzustellen.

Nein zur rassistischen Repression!

Der aktive Ausdruck der deutschen Unterstützung Israels zeigt sich neben den Waffenlieferungen prägnant z.B. auf der Sonnenallee und dem Hermannplatz in Berlin. Hier werden Palästinenser_Innen, Antizionistische Jüd_Innen, Araber_Innen welche eine Kufiya tragen oder einfach migrantisch gelesene Kinder von einem massiven Polizeiaufgebot schikaniert, brutal angegangen und willkürlich verhaftet. Das Polizeiaufgebot in migrantischen Vierteln gleicht in der letzten Woche einem Polizeistaat.

Auch in der Bildung, in Schulen, dem Ort, wo unsere zukünftige Gesellschaft geformt wird, setzt die Bildungssenatorin von Berlin mit dem Verbot der Kufiya einen zutiefst rassistischen Ausdruck der “Solidarität mit Israel” um. Es werden ebenso Palästina-Flaggen sowie jeglicher Ausdruck von Sympathie mit dem palästinensischen Befreiungskampf verboten. Diese Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung über Kleidung und des politischen Ausdrucks darf nicht hingenommen werden. Diese unter der Verklärung des gesamten palästinensischen Befreiungskampfes als “Islamismus” oder “Terrorismus” entstanden Repressionen gilt es scharf zu kritisieren und zu bekämpfen.

Die Kufiya stellt nämlich entgegen der populären Propaganda von Staat, Springer-Presse und Co. kein „Bluttuch der Judenvernichtung“ oder Ausdruck der Sympathie mit der Hamas dar. Sie signalisiert nicht einmal zwangsläufig eine Unterstützung des palästinensischen Befreiungskampf, obwohl sie mit diesem symbolisch natürlich tief verbunden ist. Dennoch ist sie aber ebenso ein Zeichen der kurdischen Befreiungsbewegung und schlichtweg im Allgemeinen mit der arabischen Kultur verbunden. Das herunterbrechen auf die Bedeutung der Kufiya für die palästinensische Nation bzw. spezifischer die automatische Assoziierung mit der Reaktionären Hamas entspringt einem grundlegend rassistischen Charakter und Verschärft das erneute aufflammen des antimuslimischen Rassismus in Deutschland. Die Kufiya ist aber dennoch eine Symbolik der Unterdrückten und sollte als diese von Revolutionär_Innen hochgehalten und verteidigt werden!

Ebenso hervorzuheben ist dass die Rufe nach Abschiebung der „Barbaren“, welche im Zuge der Palästina-solidarischen Proteste laut werden dem sich immer weiter nach Rechts bewegenden bürgerlichen Staat gut in die Karten spielen. Mit der Verschärfung der Asylpolitik im Zuge des GEAS zeigte nun auch zuletzt die Ampelregierung, wie ihre Ausrichtung der Migrationspolitik aussieht. Nancy Faeser und Lars Klingbeil äußerten diese Forderung nach Abschiebung von „Israelfeindlichen Hetzern“ ja selbst in den letzten Tagen.

Die Repressionen die der deutsche Staat nun hochfährt dienen also dem Zweck der Einschüchterung, damit sich nicht gegen die Staatsräson gewährt wird, aber auch vor allem der Herabsetzung von Muslim_Innen um ihr Abschiebe-Regime ideologisch zu rechtfertigen und künftig aggressiver durchzusetzen zu können.

Die Repression gegen die Unterstützung des palästinensischen Befreiungskampfes ist nichts Neues. Schon seit Jahren finden sich palästinensische Organisationen auf den „Terrorlisten“ der EU und Deutschlands, sehen sie sich konfrontiert damit das ihre Organisationen verboten und ihre demokratischen Rechte – wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Versammlungs- und Organisationsfreiheit – massiv eingeschränkt sind. Das äußert sich nun verstärkt, z.B. indem die Berliner Polizei jegliche Versammlung mit Palästina-Bezug bis zum 20.10. ersatzlos verboten hat. Darüber hinaus werden jegliche Parolen des Befreiungskampfs als antisemitisch gebrandmarkt und kriminalisiert, genauso so perfide wie dass die palästinensische Flagge als Grundlage gilt Versammlungen aufzulösen.

In der Ausweitung der Repression soll nun auch gegen das Gefangenennetzwerk Samidoun ein Vereinsverbot durch das Innenministerium verhängt werden. So ist es möglich, dass jede weitere organisatorisch-politische Tätigkeit unter Strafe gestellt wird.

Und die deutsche Linke und Arbeiter_Innenbewegung?

Bis auf recht wenige internationalistische und antiimperialistische Gruppierungen ergreift die deutsche Linke und bürokratisch geführte Arbeiter_Innenbewegung, wenn auch wenig verwunderlich, die Seite des Unterdrückers. Wie SPD und Linkspartei stimmen auch die Gewerkschaftsspitzen in den Chor der Israelsolidarität ein und unterstützen das laufende und kommende Massaker an den Palästinenser_Innen. Der Aushebelung demokratischer Rechte, Demonstrationsverboten und der Bespitzelung durch die Geheimdienste stimmen sie entweder zu oder hüllen sich in vornehmes Schweigen oder Relativierungen von Unterdrückten und Unterdrückenden.

Doch auch ihnen und den Herrschenden ist bewusst, dass die proisraelische Stimmung nicht ewig anhalten wird. Denn in den kommenden Wochen werden trotz medialer Entstellung auch immer mehr Horrorbilder über die Auswirkung der israelischen Bombardements in Gaza auftauchen.

Wir müssen uns schon heute für einen Stimmungsumschwung der Arbeiter_Innenklasse einsetzten, um für eine breite, auch von der Arbeiter_Innenbewegung unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina zu kämpfen!

Dafür gilt es, gegen den Strom von Hetze und Diffamierung anzukämpfen! Wir unterstützen alle Aktionen und Kampagnen der linken und antiimperialistischen Kräfte, gemeinsam und koordiniert dagegen Protest und Widerstand zu organisieren.

  • Nein zu allen Formen der Kriminalisierung von Palästina-Solidarität! Für das Recht von Unterdrückten, sich gegen ihre Unterdrücker zu organisieren!
  • Für unabhängige Antidiskriminierungsstellen an Schulen und Weg mit dem Verbot der  Kufiya!
  • Kampf dem Rechtsruck – für eine antirassistische Einheitsfront!
  • Für ein freies, multiethnisches und säkulares Palästina! Für eine demokratische Föderation sozialistischer Staaten im Nahen Osten!



Gegen Antisemitismus und die deutsche Doppelmoral! Für ein freies Palästina!

Von Alexander Breitkopf, Oktober 2023

Nachdem es zu einem Angriff in Berlin auf eine Synagoge mit Molotowcocktails in der Nacht vom 17.10. auf den 18.10. kam, welcher mutmaßlich in Verbindung mit dem Krieg in Israel/Palästina steht, nimmt die Angst vor antisemitischen Übergriffen zu. Wir verurteilen diese Anschlagsversuche und stellen uns gegen Antisemitismus. Jüd_Innen weltweit dürfen nicht unter dem Hass und Reaktionen auf die rechtsgerichteten Regierung Israels und ihre Kriegsverbrechen, die sie aktuell in Gaza begehen, leiden. Des Weiteren diskreditieren solche Angriffe den gerechtfertigten Kampf für ein säkulares, binationales, sozialistisches Palästina und haben nichts mit diesem Kampf gemeinsam. Gleichzeitig aber prangern wir die deutsche Doppelmoral an, mit welcher jegliche Palästina-Solidarität als antisemitisch abgeschrieben wird.

Die deutsche Doppelmoral

Am 12.10. drückt Markus Söder auf Twitter seine „uneingeschränkte Solidarität mit Israel“ aus, zusammen mit seinem „persönliche[n] Schutzversprechen für das jüdische Leben in Bayern“ – „Wer Flaggen verbrennt oder zum Hass gegen Juden aufstachelt, […] hat in unserem Land nichts zu suchen.“ Brisante Neuigkeiten für die Koalitionsverhandlungen mit den Freien Wählern, die am selben Tag(!) starteten. Man fragt sich, wie deren Vorsitzender Hubert Aiwanger darauf reagieren wird, dass Söder so öffentlich die Abschiebung seines Bruders (oder gleich beiden) in den Raum stellt. Nicht anzufangen von Teilen ihrer Wähler_Innenschaft: Der Flugblatt-Skandal hat ihnen immerhin knappe 600.000 Stimmen eingebracht.

Wir brauchen uns nicht dumm zu stellen: Es ist klar, welche Erzählung Söder (und nicht nur er) mit seinen Aussagen bedient. Dem westlich-liberalen, weltoffenen, progressivem Deutschland stehen „kulturell rückständige“ Migrant_Innen gegenüber, und durch die Aufnahme von Asylsuchenden laufen wir Gefahr, reaktionäre Weltbilder zu „importierten“, die hierzulande „längst Geschichte sind“ (Man kann gar nicht genug Anführungszeichen setzen). Der Entnazifizierungs-Mythos wird hier auf die Spitze getrieben: Nicht nur wurde die Ideologie des Nationalsozialismus in Deutschland getilgt, nein, der ganze Antisemitismus ist gleich mit ihr verschwunden. Allein anhand der Tatsache, dass schon Ersteres Fiktion ist, wird deutlich, dass es mit letzterem auch nicht weit her sein kann. Die völlige Gleichgültigkeit der Wähler_Innenschaft gegenüber dem Skandal um Aiwanger, die stärksten Umfragewerte der AfD seit Jahren, und, und, und… liefern weitere Belege.

Selbst diese AfD, in deren Reden „globalistische Eliten“ Dauergast sind, weint bitterlich Krokodilstränen, dass der importierte Islamismus und Antisemitismus verstärkte Schutzmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen nötig mache (Zur Einordnung: von den Straftaten mit antisemitischem Hintergrund werden relativ konstant etwa 80% polizeilich dem rechten Spektrum zugeordnet). Zum einen macht diese Tatsache die rassistische Motivation dieser Rhetorik deutlich, zum anderen wirft sie aber auch die Frage auf: Wie wird dieser Spagat möglich? Zentraler Faktor ist die Vermengung von Anti-Zionismus mit Antisemitismus, der es ermöglicht, durch lautstarke Unterstützung Israels seine Hände reinzuwaschen und gleichzeitig verbal gegen politische Gegner_Innen zu schießen.

Ins selbe Horn blasen Nancy Faeser und Lars Klingbeil, die konsequente Abschiebungen von denjenigen fordern, die „die Hamas feier[n]“, unter anderem indem sie „israelfeindliche Hetze“ verbreiten. Dieser Tage wird man schnell als Hamas-Unterstützer_In denunziert, wenn man sich nicht bedingungslos auf die Seite Israels stellt – solange undefinierte Israelfeindlichkeit als Abschiebungsgrund gelten soll, handelt es sich primär um eine politische Einschüchterungstaktik und einen Zeigefinger in Richtung von Migrant_Innen. Abschiebungen sind unter allen Umständen unmenschlich, und sie auf diese Weise als Druckmittel gegen Unterdrückte zu nutzen, besonders perfide.

Ideologische Irrwege

Diese Vermengung wird ermöglicht durch Übernahme der Behauptung Israels, Repräsentant für Jüd_Innen weltweit zu sein. Wer sich also gegen Israel ausspricht, spricht sich gegen Jüd_Innen an sich aus, gleichzeitig profiliert sich Israel als „jüdischer Schutzraum“. Diese Gleichsetzung scheitert jedoch völlig an der Realität. Wie alle Staaten repräsentiert Israel in erster Linie sich selbst, selbst viele Israelis würden es als Vorwurf begreifen, sie seien durch den israelischen Staat und seine Politik repräsentiert. 2015 gaben rund 40% der israelischen Auswander_Innen in Berlin die politische Lage als Ausreisegrund an, dazu kommt die linke Minderheit im Land selbst. Das überrascht nicht: Die andauernde brutale Besatzung palästinensischer Gebiete und eine seit Jahren nach rechts rückende Regierung, die diese noch verschärft, machen es schwer, die israelische Politik reinen Gewissens zu unterstützen.

Genau in dieser Besatzung liegt auch der Kern anti-zionistischer Positionen: Eine Zweistaatenlösung ist unrealistische Augenwischerei (das ist mehr oder weniger in allen politischen Lagern Konsens), dementsprechend bedeutet ein Ende der Unterdrückung der Palästinenser_innen auch ein Ende des zionistischen Projekts. In dieser Schlussfolgerung Antisemitismus sehen zu wollen, ist nicht nur absurd, es impliziert eben auch, dass das Leid der Palästinenser_innen Notwendigkeit für jüdisches Leben sei. Das ist nicht nur Wortklauberei: Es ist die logische Konsequenz davon, dass ein religiös geprägter ethnonationalistischer Staat seinen zutiefst reaktionären Charakter nicht dadurch verliert, dass er sich auf das Judentum bezieht.

Das erklärt eben auch, weshalb so große Teile der europäischen Rechten sich mit Israel solidarisieren: Angesichts der nationalistischen Apartheidspolitik kann man ob der mehrheitlich jüdischen Bevölkerung „mal ein Auge zudrücken“. Gleichzeitig entlarvt diese Besatzung auch die Idee des „jüdischen Schutzraumes“ als bloße Propagandaerzählung. Die Besatzung Palästinas hat von Beginn an gewaltige Sprengkraft in der Region. Der jüngste Angriff der Hamas ist nur die neueste Äußerung dieser Tatsache, in der Vergangenheit kam es mehrfach zum Krieg. Israel konnte bis dato auch durch militärische wie finanzielle Unterstützung westlicher Staaten die Oberhand behalten, sollte sich der Wind drehen, ist es mit der prekären „Sicherheit“ schnell vorbei. In diesem Sinne ist es eben nicht nur im Interesse der palästinensischen, sondern auch der israelischen Arbeiter_Innenklasse, den Zionismus für gescheitert zu erklären und gemeinsam für einen säkulären Staat zu kämpfen.

Antisemitismus entgegentreten!

Die Gleichsetzung von Anti-Zionismus und Antisemitismus ist also abzulehnen – trotz dessen heißt das nicht, dass kein Zusammenhang zwischen Antisemitismus und dem Konflikt in Nahost besteht. Beispielhaft lässt sich dafür das Markieren mehrerer Haustüren in Berlin von Häusern, in denen Jüd_Innen leben anführen. Dabei muss man zwei Phänomene unterscheiden. Zum einen gibt es den heuchlerischen „Anti-Zionismus“ rechter Gruppen, wie zuletzt in Dortmund gesehen. „Der Staat Israel ist unser Unglück“ prangte dort auf einem Banner an einem Nazitreff, zusammen mit einer Palästina-Flagge. Das stellt einen direkten Bezug auf die Parole des „Stürmers“, „Die Juden sind unser Unglück“, dar. Ihnen ist die Unterdrückung der Palästinenser_Innen völlig egal, vielmehr sehen sie in Israel eine Art „Hauptquartier des Weltjudentums“, dessen Zerstörung Priorität sein muss. Es muss nicht extra betont werden, dass ihre Antwort auf den Zionismus dabei keineswegs einen säkulären, gleichberechtigten Staat darstellt, sondern die Vertreibung und den Mord an israelischen Jüd_Innen herbeiwünscht. Dass sich auf Israel als Substitut für eben gleich das Judentum als solches bezogen wird, geschieht aus Gründen der Legitimation der eigenen Positionen.

Zugleich gibt es aber auch einen antisemitischen Anteil seitens Menschen, die sich tatsächlich als Teil einer anti-Zionistischen Bewegung begreifen, der sich beispielsweise in vereinzelten Proklamationen von Jüd_Innen als Mörder_Innen auf pro-palästinensischen Demos der letzten Jahre ausdrückt. Ironischerweise gehen diese Menschen ihrerseits Israels Doktrin des „jüdischen Staates“ auf den Leim, was eine weitere Problematik dieser Behauptung offenlegt. Antisemitische Grundtendenzen, wie sie in der ganzen Gesellschaft auftreten, werden durch die Verbrechen Israels, das als Repräsentant der Jüd_Innen fehlinterpretiert wird, scheinbar bestätigt. Repressionen der deutschen Polizei gegen pro-palästinensische Demonstrationen wirken irrational, wenn man nicht in der Lage ist, das Interesse auch des deutschen Imperialismus am zionistischen Staat Israel zu analysieren, und wirken wie eine Bestätigung des Narrativs der Weltverschwörung. Das ist letztendlich eine reaktionäre Interpretation der Unterdrückung.

Diesen Tendenzen gilt es also entschieden entgegenzutreten. Sie sind nicht nur reaktionär und daher als solche abzulehnen, sie stehen darüber hinaus auch einem progressiven Ende der Besatzung direkt entgegen. Der Gegenentwurf zum jüdisch-nationalistischen Ethnostaat kann kein arabisch-nationalistischer Ethnostaat sein, und die Errichtung eines säkulären, sozialistischen Staates erfordert die Zusammenarbeit der palästinensischen mit der israelischen Arbeiter_Innenklasse ebenso wie umgekehrt. Antisemitismus hingegen treibt einen Keil zwischen sie und kann somit der Bewegung nur schaden.

Wir fordern:

  • Offene Grenzen & volle Staatsbürger_Innenrechte für alle! Für ein Ende der Abschiebepraxis und uneingeschränktes Asylrecht!
  • Konsequente Bekämpfung von Antisemitismus in Tat und Rhetorik! Gegen jeden antisemitischen Ausfall und gegen eine Verwässerung des Begriffs, vor allem als Waffe gegen Linke!
  • Freiheit für Palästina und ein Ende der Besatzung! Für einen sozialistischen, säkulären Staat in dem Jüd_Innen und Palästinenser_Innen gleichberechtigt leben können!

Quellen:

https://www.tagesschau.de/inland/hamas-unterstuetzer-ausweisen-spd-100.html

Dani Kranz: Israelis in Berlin – Wie viele sind es und was zieht sie nach Berlin? (https://archive.jpr.org.uk/object-ger221)

https://www.berliner-kurier.de/kriminalitaet/mitten-in-berlin-judenhasser-markieren-haeuser-mit-davidsternen-li.2149247

https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/nazi-flagge-israel-dorstfeld-100.html

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172320.propalaestinensische-demonstration-al-aqsa-protest-antisemitische-parole-womoeglich-falsch-uebersetzt.html




Der deutsche Staat auf Kriegskurs

auf Basis eines Artikels von Martin Suchanek, Oktober 2023, zuerst veröffentlicht in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Einstimmig beschloss der deutsche Bundestag am 12. Oktober den von SPD, Grünen, FPD und CDU/CSU vorgelegten Antrag zur Lage in Israel. Davor erklärte Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung: „Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“

Auch die Fraktionen von AfD und DIE LINKE applaudierten und stimmten dem Antrag zu. Wenn es um die Staatsräson des deutschen Imperialismus geht, will im Bundestag offenkundig niemand beiseitestehen.

Bedingungslose Solidarität mit Israel …

Dabei läuft der Beschluss auf nichts weniger hinaus als eine Unterstützung der Bombardierung Gazas und der bevorstehenden Bodeninvasion durch die israelische Armee. Die Absicht der israelischen Regierung und des neu ernannten Notstandskabinetts, Gaza faktisch dem Erdboden gleichzumachen und keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, ficht den deutschen Bundestag nicht an. Für die Toten der Bombardements durch die israelische Luftwaffe und durch Bodentruppen wird einfach die Hamas als verantwortlich erklärt.

Und diesmal sollen, so Regierung und Opposition in seltener Einmütigkeit, den Worten auch Taten folgen. Zivile Tote in Gaza seien, so erklärt Außenministerin Baerbock, leider unvermeidlich – und zwar aufgrund der „perfiden“ Taktik der Hamas, ihre Kämpfer_Innen nicht auf offenem Feld zum Abschuss aufzustellen, sondern sich zu verschanzen. Geflissentlich ignoriert sie dabei das Offenkundige, dass in jedem Krieg besonders die verteidigende oder die militärisch unterlegende Seite im Schutz der eigenen Bevölkerung agiert.

Das hat auch seinen Grund. Der Bundestag, die Regierung, die gesamte Opposition und sämtliche „etablierten“ Medien missbrauchen die Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Ausbruchs der von Hamas geführten palästinensischen Kräfte aus Gaza zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines brutalen Krieges gegen die dortige Bevölkerung. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen.

… bedingungslose Unterstützung des Krieges gegen Palästina

Parallel zur Debatte im Bundestag untermauert das Verteidigungsministerium die deutsche Solidarität mit Israel. So will Deutschland Munition für Kriegsschiffe liefern, Drohnen zur Verfügung stellen und Schutzausrüstung für die IDF schicken. Israel, so heißt es in der Entschließung, sei im Krieg „jedwede Unterstützung zu gewähren.“ Dass die Regierung, die Unionsparteien, die AfD zustimmen, verwundert niemanden. Doch auch sämtliche anwesenden Abgeordneten, alle Flügel der „Friedenspartei“ DIE LINKE wollen sich an diesem Tag der Staatsräson nicht entziehen und stimmen für einen Krieg im Nahen Osten, der „Frieden“ durch die Vernichtung jedweden Widerstandspotentials der Palästinenser_Innen bringen soll.

„Jedes Hamas-Mitglied ist ein toter Mann“, verkündet Netanjahu. Die neu geformte israelische Notstandsregierung verwendet dabei Hamas als Codewort für alle Palästinenser_Innen, die Widerstand gegen die Besatzung und Vertreibung leisten und weiter leisten wollen.

Daher zielt die israelische Strategie auf die Säuberung und Vertreibung der gesamten Bevölkerung von Gaza-Stadt. Innerhalb von 24 Stunden sollen diese den Norden Gazas verlassen oder es drohen „verheerende humanitäre Konsequenzen“ – eine unverhohlene Drohung mit dem Mord an Tausenden und Abertausenden.

Mit den Stimmen der Linkspartei verdreht der Bundestag einmal mehr die Ursachen des sog. „Nahostkonflikts“, indem die führende Rolle der reaktionären islamistischen Hamas in Gaza zur Ursache des „Konflikts“ uminterpretiert, so getan wird, als bestünde das zentrale Hindernis für „Frieden“ im „Terrorismus“ der Hamas, des Islamischen Dschihad, von PFLP und DFLP oder anderen palästinensischen Gruppierungen. Würden diese vernichtet, wäre alles wieder gut und die israelische „Demokratie“ müsste nur auf die Palästinenser_Innen ausgedehnt werden, die dann – jedenfalls in der Traumwelt des Bundestages – sogar einen eigenen Staat kriegen könnten, auf dem Gebiet, das noch nicht von Israel übernommen und annektiert ist.

In Wirklichkeit bildet die Ideologie der Hamas eben nicht den Kern des Problems. Als Revolutionär_Innen haben wir diese immer abgelehnt und treten wir für ein Programm der permanenten Revolution ein, für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina, der Palästinenser_Innen wie Jüd_Innen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser_Innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zur regeln.

Der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser_Innen basiert, ist mit einer solchen Lösung jedoch unvereinbar. Solange dieser Palästina kontrolliert, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden geben. Letztlich wird das Gebiet auch nicht von der Hamas beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist_Innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas und ihres Regimes in Gaza. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von Zivilist_Innen ab. Diese erleichtert es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza als „Selbstverteidigung“ hinzustellen. Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist_Innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker_Innen und aller, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehören leider auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter_Innenklasse. Der Ausbruch der Palästinenser_Innen am 7. Oktober war ein verzweifelter Aufstandsversuch Gazas nach Jahrzehnten der Isolierung, Aushungerung, Entrechtung, von Bombardements und Vertreibung und damit Teil des palästinensischen Widerstands.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands wie auch der Kampf gegen politisch falsche und kontraproduktive Aktionsformen darf daher keineswegs zu einer Abwendung von dem gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker_Innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter_Innenklasse den Kampf um nationale Befreiung auch gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.




Stoppt Belagerung und Invasion! IDF raus aus Gaza!

von Felix Ruga, Oktober 2023

Nach dem Angriff der Hamas vergangenen Samstag war Netanjahus Regierung in Israel schwer angeschlagen. Dass eine schlecht ausgestattete Miliz aus dem ausgehungerten und verarmten Gaza dazu in der Lage war, die Zäune und Mauern zu durchbrechen und unmittelbar auf israelisches Gebiet anzugreifen, ist für eins der modernsten und höchstgerüsteten Militärs der Welt eine große Demütigung. Das rüttelt an der Überzeugung, dass Israel tatsächlich dazu in der Lage ist, seine Bevölkerung mittels militärischer Stärke und Entrechtung der Palästinenser_Innen zu schützen.

Das bringt auch die israelische Bevölkerung in Panik. Aber die Frage, wie es dazu kommen konnte, wird erstmal auf später verschoben. Denn die Agenda hat Netanjahu nun unmittelbar klar gemacht: „Ich leite eine umfangreiche Mobilisierung der Reservist_Innen ein, um mit einem Ausmaß und einer Intensität zurückzuschlagen, die der Feind bisher noch nicht erlebt hat. Der Feind wird einen beispiellosen Preis zahlen.“

Und dies nimmt mittlerweile Formen an: Die IDF bereitet gerade eine Bodenoffensive auf Gaza vor. Neben den massiven Bombardements, die aber in Gaza ohnehin mittlerweile zum tragischen Alltag gehören und längst nicht nur die Stellungen der Hamas treffen, werden jetzt 360.000 Reservist_Innen mobilisiert. Eine nie dagewesene Zahl. Viele junge Israelis müssen ihr Zuhause verlassen. Die Ortschaften in unmittelbarer Nähe von Gaza sind bereits evakuiert. In den sozialen Medien sieht man endlose Kolonnen von Panzern und Militärjeeps.

Und dazu kommt nun auch die Belagerung Gazas. Das heißt: Kein Essen, kein Wasser, kein Strom für die 2 Millionen Bewohner_Innen. Hierbei ist eine humanitäre Katastrophe praktisch unausweichlich, wenn man einer ganzen Gesellschaft die lebensnotwendigen Güter verwehrt, die auch schon sonst am Rande des Kollaps‘ steht. Gleichzeitig wird aber den Menschen auch nicht die Möglichkeit der Flucht gegeben: Alle Grenzübergänge sind dicht.

Besonders zynisch ist dann der Aufruf Netanjahus, dass im Angesicht des geplanten Angriffs die Zivilist_Innen Gaza verlassen sollten. Wohin denn? Wie denn? Gaza wird nicht ohne Grund als Freiluftgefängnis bezeichnet. Ein großer Teil der Bevölkerung hat in ihrem Leben noch nie etwas anderes gesehen als dieses kleine Fleckchen Land.

Und auch sonst wird die drohende Invasion mit abscheulichen Aussagen begleitet. Der Verteidigungsminister Israels Gallat wird dabei besonders klar, nachdem er die Belagerung Gazas verordnet: „Es sind menschliche Tiere, gegen die wir kämpfen – und genauso behandeln wir sie.“ Eine Wortwahl, die sprachlos macht und tief blicken lässt. Ebenso wie bei der Belagerung selbst wird auch in dieser Aussage nicht nur die Hamas und ihre Anhänger_Innen sondern die gesamte Bevölkerung Gazas getroffen. Wasserknappheit und geschlossene Krankenhäuser bei unaufhörlichen Luftangriffen werden jetzt schon viele zivile Opfer fordern.

Was droht gerade?

Die kommende Bodenoffensive auf Gaza ist noch nicht offiziell bestätigt, aber eigentlich ist allen klar, dass sie kommen wird und sie wird offensichtlich auch fieberhaft vorbereitet. Aber was steht konkret bevor? Es gibt konkrete Aussagen von Netanjahu und Gallat, dass die Vorbereitungen auf eine „monatelange“ Offensive ausgelegt seien. Als Ziel hat Netanjahu durchscheinen lassen, die Hamas in Gänze zu vernichten. Das scheint jedoch eher unrealistisch, weil das bedeuten würde, dass dann eigentlich die IDF Gaza als Ganzes besetzen muss. Es würde dann unweigerlich die Frage aufkommen, wer für die öffentliche Ordnung vor Ort sorgen wird. Das ist ein Stein, den sich kein Regierungschef gerne ans Bein binden will. Aber ausgeschlossen ist dies nicht. Vielleicht ist eine weitgehende Entwaffnung der Hamas wahrscheinlicher, aber das sind bisher nur Mutmaßungen. Sowieso ist eine Befriedung des Nahostkonflikts auf diese Weise unmöglich.

Klar ist jedoch: Es wird nicht nur die Hamas treffen. Wie schon die ganze Zeit werden viele palästinensische Zivilist_Innen sterben. Aber nach Jahrzehnten der Unterdrückung und Vertreibung, nach Jahren der Bomben und Morden und nach einer heftigen Eskalation in den letzten Monaten und Tagen wird es einen großen und entschlossenen Widerstandswillen in der palästinensischen Bevölkerung gegen die israelische Besatzung geben, der sich in militanten Widerstand äußern wird. Und diesen sehen wir als absolut gerechtfertigt und unterstützenswert an. Dass dieser aber über die Strukturen der Hamas hinausgehen wird, läuft darauf hinaus, dass die IDF dann nicht nur Funktionäre der Hamas ermorden oder festnehmen wird, sondern eigentlich den palästinensischen Widerstandswillen als Ganzes auslöschen muss. Auf einen drohenden Massenmord stimmt sich mittlerweile auch die internationale Rechte ein. Forderungen danach, Gaza dem Erdboden gleichzumachen, häufen sich, oftmals damit vertuscht, dass man nicht klar macht, ob man nun die Hamas oder alle Palästinenser_Innen zum Ziel nimmt.

Was heißt das jetzt für uns?

Trotz der einseitigen und teils verlogenen Berichterstattung in Deutschland, trotz der Morde an Zivilist_Innen durch Hamas-Kämpfer und trotz wachsender Repressionen gegen Palästinasolidarität müssen wir klar bleiben, dass wir an der Seite Palästinas für ihre Freiheit stehen. Das bedeutet auch, dass wir damit solidarisch sind, wenn sie sich gegen die Besatzung Gazas wehren. Es bleibt ein Kampf gegen koloniale Unterdrückung und diese Unterdrückung geht von Israel aus. Diese Position dürfen wir gegen all den medialen Druck nicht aufgeben.

Wir müssen aber auch unsere eigenen Regierungen unter Druck setzen. Deutschland, USA, GB, Frankreich und Italien haben gemeinsam eine Erklärung abgegeben und darin Israel die volle Unterstützung zugesichert. In den anderen Ländern gibt es größere Demonstrationen und Aktion, die ihre Solidarität mit Palästina ausdrücken. In Deutschland bleibt es schwach, aber dennoch müssen wir mobilisieren, wo es geht.

In besagter Erklärung steht außerdem, dass Israel in der Lage versetzt werden solle, sich selbst zu verteidigen und die Voraussetzungen für eine friedliche Nahostregion zu schaffen. Das ist eine Illusion! Solange der israelische Staat dort existiert, wird die Region von kolonialer Gewalt bestimmt und dementsprechend nie zum Frieden kommen. Wir kennen nur eine Lösung für den Nahostkonflikt, die nicht die Auslöschung der einen oder der anderen Volksgruppe beinhaltet: Ein gemeinsamer, säkularer und sozialistischer Staat, in dem Israelis und Araber_Innen Seite an Seite leben können. Hierfür muss eben das geschafft werden, was momentan so fern scheint, nämlich der gemeinsame Kampf der israelischen Arbeiter_Innenklasse und der Palästinenser_Innen gegen die herrschende Klasse und damit Revolution. Grundlage hierfür ist die Anerkennung der Legitimität des palästinensischen Widerstands und Stärkung der israelischen Linken, die gerade heute mit dem Rücken zur Wand steht.

Deshalb fordern wir:

  • Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf!
  • Verhindert die Bodenoffensive und Besetzung von Gaza!
  • Für ein Ende der Belagerung und Luftangriffe! Lasst die Bevölkerung nicht ausbluten!
  • Öffnung der Grenzen nach Gaza! Recht auf Rückkehr und Freizügigkeit!
  • Für ein gemeinsames, multiethnisches, säkulares und sozialistisches Palästina!



Niederlage für die israelische Unterdrückung – Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand

von Dave Stockton, Oktober 2023, ursprünglich erschienen in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innemacht

Am 7. Oktober um 6.30 Uhr Ortszeit feuerte die im Gazastreifen ansässige palästinensische Hamas ein Sperrfeuer von Raketen auf Israel ab, von denen einige das 80 Kilometer entfernte Tel Aviv erreichten. Zur gleichen Zeit überraschten Hamas-Kämpfer_Innen die israelischen Verteidigungskräfte (IDF), durchbrachen die befestigten Linien und griffen die Siedlungen Sderot und Aschkelon an. Israelischen Medien zufolge eröffneten die Hamas-Kräfte das Feuer auf Zivilist_Innen. Die Times of Israel berichtete von Schießereien rund um den Militärstützpunkt Re’im. Bilder in den sozialen Medien zeigen palästinensische Jugendliche, die um einen zerstörten israelischen Panzer herum feiern.

Ungefähr 700 Israelis wurden getötet und mehr als 2.000 verletzt. Die Hamas behauptet außerdem, Dutzende von Israelis, darunter Soldat_Innen, gefangengenommen zu haben, die sie als Geiseln für die Freilassung palästinensischer Gefangener halten will. Innerhalb weniger Stunden flogen jedoch Dutzende von israelischen Kampfjets Angriffe auf militärische und zivile Ziele im Gazastreifen. Mindestens 410 Palästinenser_Innen sind bisher bei israelischen Vergeltungsangriffen getötet worden.

Unmittelbare Auswirkungen

Die unmittelbaren Auswirkungen des „Ausbruchs“ der Hamas-Kräfte und das Ausmaß des Raketenbeschusses sind angesichts der strengen Belagerung des Gazastreifens und der bisherigen Wirksamkeit des israelischen Überwachungssystems bemerkenswert. Es scheint, dass der Angriff die IDF und den Sicherheitsdienst Schin Bet völlig überrumpelt hat. Zweifellos wird es zu einem massiven Angriff auf Gaza kommen, und Siedler_Innen und Regierungstruppen werden wahrscheinlich in verschiedenen Teilen des Westjordanlandes brutale Vergeltungsmaßnahmen ergreifen.

Innerhalb von fünf Stunden nach dem Ausbruch des Angriffs verkündete Premierminister Benjamin Netanjahu in einer Rundfunkansprache: „Bürger_Innen Israels, wir befinden uns im Krieg und wir werden gewinnen.“ Und weiter: „Wir werden alle Orte, an denen die Hamas organisiert ist und sich versteckt, in Trümmerinseln verwandeln.“ Das Verteidigungsministerium mobilisierte am 9. Oktober 300.000 Reservist_Innen, die größte Zahl in der Geschichte Israels. Weite Gebiete vom Gazastreifen bis nach Tel Aviv wurden in den Ausnahmezustand versetzt. Alle Treffen und Versammlungen wurden verboten.

Diese Maßnahmen könnten Netanjahu auch aus einer schwierigen innenpolitischen Lage heraushelfen. Das ganze Jahr über und bis weit in den September hinein protestierten wöchentlich Hunderttausende Israelis gegen seinen Versuch, die Befugnis des Obersten Gerichtshofs, ein Veto gegen Regierungsgesetze einzulegen, zu untergraben. Abgesehen von kleinen Kontingenten von Linken blieben diese Demonstrationen jedoch dem zionistischen Staat gegenüber entschlossen loyal, und die Reservist_Innen machten deutlich, dass sie im Falle eines Krieges dienen würden.

Netanjahu war auch von der US-Regierung wegen seiner drohenden Verstöße gegen die Demokratie kritisiert worden. Jetzt beeilte sich Joe Biden, den „Terrorismus“ der Hamas anzuprangern und Israel zu versichern, dass es alle Hilfe bekommen wird, die es braucht. Und „natürlich“ stimmen die westlichen Verbündeten, darunter auch der deutsche Imperialismus, in den Chor der „bedingungslosen Solidarität“ mit Israel ein. Von der AfD über die CDU/CSU bis zur Ampel-Koalition rufen alle nach Unterstützung für den hochgerüsteten zionistischen Staat.

Freiluftgefängnis Gaza

Tatsächlich ist Israel bereits ein hochgerüsteter Staat, der keine zusätzlichen Waffen aus den USA benötigt. Die „westlichen Demokratien“ sind vorsätzlich blind gegenüber der Tatsache, dass Israels Demokratie nicht einmal seinen eigenen palästinensischen Bürger_Innen gleiche Rechte einräumt, geschweige denn den rechtlosen Bewohner_Innen des Westjordanlandes und des Freiluft-Gefängnis‘ Gaza. Gaza ist gerade 40 Kilometer lang und zwischen sechs und 14 Kilometer breit. Auf engstem Raum beherbergt es eine Bevölkerung von über 2 Millionen Menschen. Seine Hoch- und Krankenhäuser wurden schon mehrfach in Schutt und Asche gelegt. Die Bedingungen dort sind wirklich unerträglich.

Eine Reihe brutaler Aktionen der rechtsgerichteten Regierung Netanjahu kommt einer Provokation gleich, die die Behauptung, die Israelis seien Opfer des Terrorismus – eine Behauptung, die nicht nur von der Regierung Netanjahu, sondern auch von Washington, Paris, London und Berlin aufgestellt wird –, als verachtenswerte Unwahrheit erscheinen lässt.

Die Hamas hat in den letzten Tagen auf die Übergriffe israelischer Siedler_Innen auf die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem hingewiesen, die mit staatlicher Unterstützung auch an der ethnischen Säuberung Ostjerusalems von seinen palästinensischen Bewohner_Innen beteiligt sind. Daher haben sie ihre Gaza-Offensive „Operation al-Aqsa-Flut“ genannt. In diesem Jahr kam es auch zu Angriffen der IDF auf das riesige Flüchtlingslager in Dschenin, bei denen Palästinenser_Innen getötet, verletzt und ihre Häuser mit Bulldozern zerstört wurden.

Die intensivsten Angriffe fanden im Januar/Februar und erneut im Juni statt, bei denen Hunderte getötet wurden. Auch in anderen Städten des Westjordanlands wurden Zivilist_Innen und ihre jungen Verteidiger_Innen getötet. Gleichzeitig haben rechtsgerichtete Siedler_Innen mit Unterstützung von Regierungsstellen Dorfbewohner_Innen von ihrem Land vertrieben. All dies wird von den westlichen Medien zweifellos vergessen, die den zionistischen Staat stets als „einzige Demokratie“ im Nahen Osten darstellen und Israel praktisch wie einen europäischen oder nordamerikanischen Staat behandeln.

Das ist kaum verwunderlich, da es sich um einen Staat handelt, der nur im Rahmen des britischen Mandats entstehen konnte, das die zionistische Besiedlung förderte und der einheimischen palästinensischen Bevölkerung das Selbstbestimmungsrecht verweigerte. Im Jahr 1948 unternahmen die britischen Truppen nichts, um Israels Eroberung von 78 % des Mandatsgebiets zu stoppen, indem sie mehr als die Hälfte der damaligen palästinensischen Bevölkerung vertrieben: ein Prozess, der sich nun unter Schirmherrschaft der USA durch die Eroberung des Westjordanlands und des Gazastreifens wiederholt.

Widerstandswille

Doch trotz 75 Jahren Besatzung, ethnischer Säuberung und wiederholtem Verrat durch die umliegenden arabischen Staaten haben die Palästinenser_Innen den zionistischen Staat nie anerkannt oder den Kampf für die Wiederherstellung ihres Staates und die Rückkehr ihrer Flüchtlinge aufgegeben. Wie ineffektiv auch immer die von den Führungen des Widerstands verfolgten Strategien sein mögen, revolutionäre Sozialist_Innen in aller Welt haben den Kampf gegen die nationale Unterdrückung stets verteidigt.

Als revolutionäre Marxist:innen haben wir immer den politischen Charakter der Hamas angeprangert, das System, mit dem sie den Gazastreifen beherrscht, ihre Unterstützung der Mullah-Diktatur im Iran oder des Erdogan-Regimes in der Türkei. Ebenso lehnen wir den willkürlichen Angriff auf Zivilist:innen ab und kritisieren die Strategie der Hamas. Aber eine Sache ist der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands gegen den Zionismus, eine andere ist die Unterstützung des zionistischen Staates gegen das palästinensische Volk und sein Recht auf Widerstand. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden.

Die vor 30 Jahren in Oslo propagierte „Zweistaatenlösung“ erweist sich immer mehr als bankrott, nicht weil die palästinensische Führung nie kompromissbereit gewesen wäre, sondern weil die zionistische Bewegung niemals ihr Ziel aufgeben würde und wird, ganz Palästina zu erobern. Wir weisen den Vorwurf, der Widerstand gegen einen Siedler- und Kolonialstaat sei eine Form des Antisemitismus, mit Verachtung zurück.

Die Förderung des Gedankens, dass es einen „neuen Antisemitismus“ der radikalen Linken gibt, lenkt von dem tatsächlichen Antisemitismus ab, der heute in der extremen Rechten in Europa und den USA zu beobachten ist, von denen viele Israel bedingungslos unterstützen.

Ein einziger palästinensischer Staat kann sowohl Menschen palästinensischer als auch israelischer Nationalität nur ohne Privilegien umfassen. Wenn Palästina zudem ein sozialistischer Staat wird, in dem das Land, die Ressourcen und Produktionsmittel gemeinsam genutzt werden, kann dieses historische Unrecht überwunden werden. Es ist die Aufgabe der Arbeiter_Innenklasse beider Nationen, ja der gesamten Region, dies zu erreichen. Dazu gehört ein Kampf gegen die imperialistischen Mächte, die die Region so lange geteilt und ausgebeutet haben, und für eine sozialistische Föderation in der gesamten Region. Bis dahin haben die gesamte Arbeiter_Innenklasse und die fortschrittliche Bewegung der Welt die Pflicht, den Kampf der Palästinenser_Innen zu unterstützen und sich mit ihnen zu solidarisieren.




Free Lina! Warum der Bullenstaat gerade wieder zuschlägt und was wir dagegen tun können

Jona Everdeen, Juni 2023

Am 31.5. wurden die Antifaschistin Lina und ihre 3 Genossen nach über 2 Jahren politischem Prozess wegen Mitgliedschaft in einer sogenannten „kriminellen Vereinigung“ verurteilt. Vorgeworfen wird ihnen, mehrere Faschos schwer verletzt zu haben. Doch trotzdem die Anklage keinerlei Beweise vorlegen konnte, dass die 4 Angeklagten die ihnen vorgeworfenen Taten tatsächlich selbst begangen haben, wurde Lina zu über 5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Obwohl lediglich Indizien gegen sie vorliegen, wurden Lina und ihre Genossen härter bestraft, als NSU-Mittäter, die nachweislich den Mord an migrantisierten Personen organisiert haben. Während rechte rassistische Terrorakte fast immer als Taten verwirrter Einzeltäter betrachtet werden, ermittelt der Staat bei militanten linken Aktionen in fast 100 Prozent der Fälle immer als „Organisationsdelikt“ nach §129. Dieses Urteil reiht sich also ein in einer Kette der Akte der Klassenjustiz gegen linke Aktivist:innen. Es richtet sich nicht nur gegen Lina, sondern gegen uns alle – gegen jede_n, der_die etwas gegen die herrschenden Verhältnisse unternimmt.

Das sehen wir nicht nur in Sachsen. Selbst gegen die im Grunde harmlose, stets auf dem Boden der bürgerlichen Ordnung stehende Klimagruppe „Letzte Generation“ kam es zu Razzien, Hausdurchsuchungen und Gerichtsprozessen. Es wird darüber hinaus auch gegen sie nach §129 wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Trotz der Banalität ihrer Delikte wurden bereits Hafturteile ohne Bewährung gegen Aktivist:innen der Gruppe verhängt. Die Richter:innen urteilten hier sicher nicht neutral, sondern getrieben durch die massive Hetze aus bürgerlicher Politik und Presse gegen die „Klimakleber“.

In Berlin wurden die Demonstrationen zum 75.Jahrestag der Nakba verboten, Palästinenser:innen aufgrund antisemitischen Handlungen einzelner unter Generalverdacht gestellt und die von jüdischen Linken organisierte Gedenkkundgebung auf dem Oranienplatz, bei der Juden, Jüdinnen und Palästinenser:innen gemeinsam für einen gerechten Frieden demonstrierten, brutal angegriffen. Nachdem bereits seit Jahrzehnten die kurdische Community in Deutschland restlos überwacht wird, scheint sich die Kriminalisierung nationaler Befreiungsbewegungen nun mehr und mehr auch auf die Palästinenser:innen auszuweiten.

Doch gab es doch schon immer Antifaschist:innen und Klimaaktivist:innen. Warum wird die Repression gegen uns gerade jetzt so scharf?

Allzweckwaffe = §129

Ob „Antifa-Ost“, Letzte Generation, PKK oder PFLP – in allen Fällen zückt der bürgerliche Staat seine Allzweckwaffe, wenn es um die Bekämpfung linker Bewegungen geht: §129. So hat die Verfolgung linker Staatsgegner_Innen mit §129 in Deutschland eine lange Tradition. Bereits 1871 wurde der Paragraph ins Reichsgesetz aufgenommen und diente seit jeher der Verfolgung einer sich organisierenden Arbeiter_Innenbewegung, aus der die SPD und die Gewerkschaftsbewegung hervorgingen. Über verschiedenste Systeme hinweg, vom preußischen Polizeistaat, über die Weimarer Republik, dem Faschismus, bis hin zur imperialistischen BRD von heute wurde der Paragraph 129 zur Verfolgung von linken Aktivist_Innen genutzt. Die Repressionsparagraphen 129, 129a und 129b stellen eine mächtige Waffe des bürgerlichen Staates zum Schutz der deutschen Kapitalinteressen dar. Die Definition, wer oder was eine „terroristische“ oder „kriminelle Vereinigung“ ist, kann willkürlich hinter den undurchsichtigen Türen des Innenministeriums festgelegt werden und erlaubt den Ermittlungsbehörden fast alles, um gegen die Betroffenen vorzugehen.

Verschärfte Krise = verschärfte Repression

Repressionen, seien es juristische in Form von Anklagen, Gerichtsverfahren und Strafen, oder physische in Form von Gewalteinsatz durch Polizei und/oder Armee dienen im bürgerlich- Staat genau einem Interesse: Der Durchsetzung der bourgeoisen Klasseninteressen gegen alle Widerstände von Arbeiter:innen, Jugendlichen oder anderen Unterdrückten. In Zeiten der relativen Stabilität kann es sich eine bürgerliche Demokratie wie die Bundesrepublik Deutschland erlauben, nur relativ milde Repressionen anzuwenden, da sich die große Masse des Proletariats ruhig verhält und durch zahme Gewerkschaften und reformistische Parteien befrieden lässt. Doch mit der verschärften Krise, die inzwischen in Form von Krieg, Inflation und massiv steigenden Lebenskosten sehr deutlich auftritt, bröckelt dieser Klassenfrieden und die Widersprüche zwischen Produktionsmittelbesitzer:innen und Lohnabhängigen spitzen sich zu. Auch wenn in Deutschland Massenaufstände wie in Frankreich bislang ausblieben, kam es doch zu einer deutlichen Steigerung in der Rhetorik und auch Entschlossenheit von Streiks und anderen Kämpfen.

Im Kontext dieser Krise, die einerseits die Bedingungen der Lohnabhängigen und Jugendlichen massiv verschlechtert, und anderseits die Möglichkeiten zu Zugeständnissen seitens der Kapitalist:innen verringert, müssen auch die steigenden Repressionen in Deutschland gesehen werden. Man kann sich nicht leisten Klimaschutz zu betreiben, weil das die Profitmöglichkeiten von RWE, VW und Co. einschränken würde? Dann muss man eben radikalisierte Klimagruppen mit massiven Repressionen überziehen und junge Klimaaktivist:innen mit dem Polizeiknüppel aus Lützerath heraustreiben! Wohin diese Entwicklung von verschärften Repressionen als Folge verschärfter Klassenkämpfe führt, sehen wir gerade in Frankreich ganz gut, dort kam es aufgrund der Krise und Macrons verhasster Rentenreform zu Massenprotesten und -streiks. Die Polizei reagierte mit extremer Gewalt und feuerte Tränengas, Gummigeschosse und leichtkalibrige Granaten, durch die bereits mehrere Menschen zu Tode kamen und dutzende schwer verletzt wurden, auf die protestierenden Arbeiter:innen und Jugendlichen.

Militarisierung nach außen = Militarisierung nach innen

Bundeskanzler Scholz hat die „Zeitenwende“ verkündet und mit dem 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr hat er uns auch prompt gezeigt, dass er es ernst meint. Dies geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern ist eine Reaktion auf eine Zuspitzung der Konflikte und Rivalitäten zwischen in den imperialistischen Mächten, ob auf dem Boden der Ukraine oder in Taiwan. Gegen die imperialistischen Rivalen Russland und China hat sich ein geschlossener westlicher Block gebildet, der nur vereint und stark nach außen agieren kann, wenn er innerlich geschlossen ist. So wie in Russland militant gegen Kriegsgegner:innen vorgegangen wird, wird auch in Deutschland kriminalisiert, was sich den außenpolitischen Interessen des westlichen Militärblocks und seiner Bündnispartner:innen entgegenstellt: Ob Kriegsgegner:innen, Palästinenser:innen oder Kurd:innen.

Rechtsruck = Linke im Visier

Die verschärften Repressionen müssen auch in den Kontext des Rechtsrucks gesehen werden, der seit der Finanzkrise 2008-09 durch das gesamte bürgerliche Lage zieht. Wenn sich das Kapital in der internationalen Konkurrenz stärker auf den Nationalstaat stützt und dabei Rechte und Freiheiten einschränkt, um die Krise unter Kontrolle zu halten, geraten die Gegner:innen dieser Politik automatisch stärker ins Visier der Repressionsorgane. Hetze gegen Geflüchtete, Klimaaktivist:innen, Feminist:innen und „woke Ideologie“ kommt schon lange nicht mehr nur aus der AfD, sondern habt auch ihren festen Platz in der CDU gefunden. Mit „Law und Order“ und brutaler Repression wollen sie die ins Wanken geratenen Verhältnisse wieder in Ordnung bringen, ohne jedoch die tatsächlichen Krisenursachen – die kapitalistische Akkumulationskrise – anzutasten. Dass es dabei zu absurd hohen Haftstrafen wie gegen Lina kommt, während rechte Gewalttäter straffrei aus Prozessen spazieren, liegt daran, dass- im Gegenteil zu Linken – Faschist:innen keine Bedrohung für die bürgerliche Ordnung darstellen. Es ist sogar so, dass der Faschismus stets das letzte Mittel der Bourgeoisie ist, ihre Macht auch in der schärfsten Krise zu erhalten. Zwar ist es für den bürgerlichen Staat teilweise nötig, Faschist:innen in ihre Schranken zu verweisen, wenn diese zu aggressiv werden. Daran den Faschismus an seiner Wurzel zu bekämpfen, hat die bürgerliche Politik jedoch kein Interesse, schließlich haben beide im Kapitalismus dieselbe Wurzel. Antifaschist:innen die (wie es Lina und der Antifa-Ost vorgeworfen wird) militant gegen Nazis vorgehen, stellen somit für den bürgerlichen Staat ein Problem dar, weil sie den Kampf gegen den Faschismus selber in die Hand nehmen, anstatt darauf zu vertrauen, dass der Staat schon aufpasst, dass die Nazis nicht zu mächtig werden.

Repression = Widerstand!

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Anstieg von Repressionen gegen Linke, ob aus der Antifa-, der Klima- oder migrantischen Bewegung, ein Symptom der anhaltenden Krise, der verschärften Militarisierung und des Rechtsrucks im bürgerlichen Lager sind. Um also die Repression zu bekämpfen, reicht es nicht, nur an „Demokratie und Rechtsstaat“ zu appellieren, die doch bitte nicht mit übermäßiger Härte gegen Genoss:innen vorgehen sollen. Viel mehr müssen wir ihre Ursache, den bürgerlichen Rechtsruck und die kapitalistische Krise, bekämpfen.

Damit dies gelingen kann, dürfen wir uns von den Repressionen nicht einschüchtern lassen. Vielmehr müssen wir uns dieser aktiv entgegensetzen! Wenn eine Demo verboten wird, heißt die Antwort demonstrieren – wenn ein Streik verboten wird streiken! Natürlich müssen wir dabei stets das Kräfteverhältnis abwägen und diskutieren, wo wir tatsächlich Teilsiege erringen können und wo wir uns und unsere Genoss:innen unnötig in Gefahr bringen. Sollte die Gefahr für den_die Einzelne_n zu groß sein, müssen wir die größeren linken Organisationen, wie Gewerkschaften, Linkspartei und SPD unter Druck setzen, sich zu solidarisieren und nicht passiv am Rand zu stehen und zu quatschen. In einer geschlossenen Einheitsfront können wir uns vereint verteidigen und vereint schlagen. Dabei müssen wir auch die Genoss:innen, die der Repression ausgesetzt sind, unterstützen, so gut es nur geht. Sei es durch Solipartys für Anwaltskosten, Besuche im Knast und politische Proteste. Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, dass der Kampf, den wir zu führen haben, härter und unser Feind aggressiver wird. Jedoch dürfen wir uns nicht fürchten, sondern müssen im Gegenteil hoffnungsvoll sein: Je wütender die Kapitalist:innenklasse nach dem Polizeiknüppel schreit und je härter dieser auf uns niedersaust, desto mehr fürchtet sich die Bourgeoisie! Fürchtet sich davor, was passiert, wenn ihre Repression uns nicht brechen kann – sondern wenn wir ihre Macht brechen!

Darum kommt am Samstag, den 3.Juni alle nach Leipzig und zeigt, dass wir uns von ihrer Repression nicht einschüchtern lassen, dass wir es nicht einfach so hinnehmen, wenn Genoss:innen für ihren Kampf gegen den Faschismus, für das Klima, für das Ende des Kapitalismus in den Knast gesteckt werden!

Wir fordern:

  • Freiheit für Lina, die Antifa-Ost und alle politischen Gefangenen!
  • Die sofortige Einstellung aller Ermittlungsverfahren gegen Antifa-, Klima- und Migrant:innengruppen! Nieder mit den Repressionsparagraphen §129a und b!
  • Die Aufhebung der Verbote angeblicher linker Terrororganisationen wie der PKK oder der PFLP!
  • Gegen jede Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit durch staatliche Repressionsorgane!
  • Sofortige Entwaffnung der Polizei, vor allem, was Teaser, Maschinenpistolen, Knarren und Handgranaten angeht!
  • Organisiert militanten Selbstschutz! Vor den Angriffen von Sexist_Innen, Faschos und den Bullen müssen wir uns selbst verteidigen! Für demokratisch wähl- und abwählbare Arbeiter:innenmilizen statt Polizeitrupps!



Gegen die Angriffe auf die Versammlungsfreiheit – Solidarität mit der palästinensischen Befreiungsbewegung

Von Clay Ikarus, Mai 2023

Bereits im letzten Jahr wurden sämtliche Aktionen rund um den Mord an Shireen Abu Akleh und dem Nakba-Tag von der RGR-Regierung in Berlin verboten. Dies stellte einen massiven Angriff auf die Versammlungsfreiheit dar. Getroffen wird die palästinensische Community, die so auch hierzulande in ihrem Kampf gegen ihre Unterdrückung kriminalisiert, verfolgt und zum Schweigen gebracht wird. Dagegen müssen wir geschlossen vorgehen, nicht nur weil der Befreiungskampf der Palästinenser_Innen die internationale Solidarität der Ausgebeuteten und Unterdrückten bedarf, sondern auch, weil diese Eingriffe in unsere Versammlungsfreiheit alle treffen können. Wir hatten bereits im letzten Jahr über die Verbote berichtet und gemeinsam mit anderen Organisationen versucht dagegen vorzugehen. Auch in diesem Jahr gehen die Angriffe des Berliner Senates aus SPD und CDU weiter. Einige Veranstaltungen wurden bereits verboten, sowie alle Ersatzveranstaltungen zwischen dem 13. und 15. Mai. Zudem sind weitere bereits angemeldete Pro-Palästinensische Veranstaltungen in der Versammlungsbehörde nicht aufgelistet, weshalb wir Sorge haben, dass auch diese verboten werden.

Wieso ist der Nakba-Tag so wichtig?

Nakba bedeutet Katastrophe auf Arabisch. Der Tag ist ein internationaler Gedenk- und Kampftag und beschreibt die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem historischen Gebiet Palästina mit der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948. So wurde die zionistische Idee von Theodor Herzl, einen mehrheitlich jüdischen Nationalstaat zu errichten, mit Gewalt umgesetzt. Palästina befand sich vorab unter kolonialistischer Verwaltung Großbritanniens (1929-1948), welches den Zionismus unterstützte. Die Lage hat sich im historischen Gebiet Palästina seitdem natürlich verändert. Die verbreitete Idee der Zweistaatenlösung, also dass ein palästinensischer und ein israelischer Staat koexistieren sollen, scheitert zunehmend. Heute gibt es isolierte und mehr oder weniger „autonome“ palästinensische Gebiete, also der Gazastreifen, das Westjordanland und Ostjerusalem. Doch auch die werden immer weiter verdrängt durch die Siedlungspolitik und militärischen Angriffe Israels. Gegen die Vertreibung von bis jetzt ca. 5 Millionen Palästinenser_Innen und die Kolonialpolitik Israels gab es zwei große Volksaufstände (Intifadas).

Aktuelle Lage

Allein im letzten Jahr sind 167 Palästinenser_Innen ermordet worden und in den ersten 4 Monaten dieses Jahres sind es bereits 83 Tote. Amnesty International attestiert Israel die Klassifizierung als Apartheidsstaat nach UN-Recht, weil es de facto zwei Klassen an Staatsbürger_Innen gibt und die palästinensische Bevölkerung rassistisch weitgehend entrechtet ist. Ihr Leben wird oft mit einem Leben in einem Freiluftgefängnis verglichen, sie sind ständiger Gefahr von Schikane, Vertreibung, Gefangenschaft und Ermordung ausgesetzt. Während in Palästina der Widerstand gegen die israelische Apartheid hochkocht und sich auch von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) nicht mehr kontrollieren lässt, demonstrieren gleichzeitig über 100.000 Menschen allein in Tel Aviv gegen die demokratiefeindlichen Reformen der Regierung Netanjahus. Eine Verbindung der Kämpfe bleibt jedoch aus – nicht zuletzt, weil die Bewegung gegen die reaktionäre Regierung selbst den Kampf für die demokratischen Rechte der Palästinenser_Innen letztlich ablehnt. Doch genau dies wäre nötig, um das zionistische Regime zu überwinden und zu einer friedlichen Lösung im Nahen Osten zu kommen: Ein gemeinsamer Kampf gegen den rassistischen und kapitalistischen Apartheidsstaat, für einen säkularen sozialistischen Staat unter Kontrolle der Menschen, die heute im Gebiet des historischen Palästinas leben!

Wieso das Verbot? Wieso dagegen kämpfen?

Hier im ach so demokratischen Deutschland wäre so ein gemeinsamer Kampf zwischen palästinensischen und israelischen Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen den zionistischen Staat leicht umzusetzen und findet in Ansätzen bereits statt. So wurden in der Vergangenheit Pro-Palästinensische Veranstaltungen auch von jüdischen Aktivist_Innen und Organisationen unterstützt. Immer wieder stellen Veranstalter_Innen klar, dass sie nicht gegen die Jüd_Innen kämpfen, sondern gegen den Zionismus und sprechen sich deutlich gegen jeden Antisemitismus aus. Doch es gibt auch Gegenwind seitens zionistischer Pro-Israelischer Kräfte sowie der Bundesregierung Deutschlands, die jede Kritik an Israel gerne mit Antisemitismus gleichsetzen, während sie die eigentliche Gefahr durch Verschwörungstheoretiker_Innen und rechte bis faschistische Netzwerke bis in Polizei und Bundeswehr ignorieren. Auch selbsternannte Linke, die den israelischen Staat trotz der reaktionären Politik verteidigen, stellen sich gegen palästinensische Organisationen, hetzen mit pauschalen Antisemitismusvorwürfen gegen sie und versuchen, sie aus den wenigen linken Räumen zu verdrängen. Tragischerweise bewegen sich innerhalb des palästinensischen Widerstands teilweise auch antisemitische Kräfte, die den Kampf gegen Israel zu einem Kampf gegen Jüd_Innen erklären wollen. Diese müssen zum einen isoliert werden, zum anderen dürfen sie keinen Vorwand für eine Pauschalisierung von Palästinasolidarität darstellen! Der größte Teil der palästinensischen Befreiungsbewegung bekämpft Israel aus der puren Not und nicht aus Antisemitismus. Für uns ist klar: Antisemitismus können wir nur für immer beenden, wenn wir das kapitalistische krisenhafte System überwinden und bis dahin müssen wir immer und überall sowohl gegen Antisemitismus als auch Zionismus kämpfen.

So gibt es in der Bewegung nicht erwünschte Personengruppen, die antisemitische Äußerungen von sich geben, so auch in Berlin, wo auf einer Pro-Palästinensischen Aktion eine Person „Tod Israel! Tod den Juden!“ gerufen hat. Während von Lautsprecherwagen und Ordner_Innen klar gegen diese Personen vorgegangen wird und die Menschen aus den Aktionen dauerhaft ausgeschlossen werden, nutzt die Berliner Regierung dies, um die komplette palästinensische Bewegung zu kriminalisieren und in ihrer Versammlungsfreiheit einzuschränken. Das Argument ist, dass es zu möglichen volksverhetzenden Straftaten kommen kann. Wir erinnern uns, dass 40.000 Coronaleugner_Innen mit gelben Sternen, Reichskriegsflaggen und Hitlergrüßen, sich mit den schrecklichen Schicksalen von Jüd_Innen in Konzentrationslagern vergleichend von der Polizei begleitet durch die Straßen geleitet wurden und das ohne eine genehmigte Anmeldung der Demonstration. Dies zeigt erneut auf, auf wessen Seite der deutsche Imperialismus steht. Es geht um die außenpolitischen Interessen und nicht um die Bekämpfung von Antisemitismus.

Es ist nun das 2. Jahr in Folge, dass die Verbote durchgesetzt werden. Ohne einen entschlossenen Kampf in den Schulen, Unis und Betrieben sowie auf der Straße gegen die Einschränkungen unserer Versammlungsfreiheit werden weitere dieser Angriffe stattfinden. Daher lasst uns gemeinsam dagegen organisieren und uns nicht nur verteidigen, sondern auch in die Offensive übergehen!

Wir fordern:

  • Sofortige Rücknahme der Versammlungsverbote für Palästinenser_Innen jetzt und auch in Zukunft!
  • Solidarität mit der palästinensischen Befreiungsbewegung, hier und international! Für ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina!
  • Freiheit für alle politischen Gefangenen! Schluss mit der Kriminalisierung palästinensischer und kurdischer Organisationen!
  • Offene Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für Alle!



Antiregierungsproteste in Israel: Gegenmacht oder Ohnmacht?

Von Jona Everdeen

Seit Wochen finden in Israel Massenproteste gegen die Politik der neuen rechten Regierung statt. Hunderttausende Menschen sind wöchentlich auf der Straße. Ihren Aufhänger fanden die Proteste in einer angestrebten Justizreform, die Befürchtungen hervorruft, sie könnte Israel in eine Diktatur verwandeln. Doch was beinhaltet die Justizreform und wer ist diese Regierung überhaupt, die allgemeinhin als rechteste in der Geschichte des Landes gilt? Welche reaktionäre Politik betreibt sie? Was sind die Folgen für die Menschen in Israel? Und wie wirkt sich die Regierungspolitik auf die eh schon massiv unterdrückten Palästinenser_Innen aus? Welchen Charakter haben die Proteste und was ist nötig, um Netanjahu, Ben-Gvir und Co. zu stürzen?

Rechtsradikale mit Ministerposten

Das Regierungsbündnis aus Netanjahus nationalreligiösem Likud, rechten Siedlerparteien und religiös-fundamentalistischen Kleinstparteien eröffnete einigen stramm rechten Hardliner_Innen den Weg zu wichtigen Regierungsposten. Viele von ihnen machten in der Vergangenheit mit extremem Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, religiösem Fundamentalismus und der Unterstützung zionistischer Terrorist_Innen von sich reden.

So zum Beispiel Itamar Ben-Gvir, der keinen Hehl aus seiner Verehrung für den Terroristen Baruch Goldstein macht, der bei einem Terroranschlag 29 Palästinenser_Innen ermordete. Außerdem wolle er „illoyale“ Palästinenser_Innen ausweisen und habe auch schon persönlich angesichts palästinensischer Proteste die Pistole gezückt. Er ist jetzt israelischer Polizeiminister.

Mit Bezalel Smotrich hat ein weiterer rechter Hardliner als Finanzminister einen zentralen Posten in der neuen Regierung. Das ideale Israel sieht er in Form einer fundamentalistischen Theokratie, in der das oberste Gesetz die Thora ist. Auch schockierte er erst kürzlich mit der Aussage, dass seiner Ansicht nach Jüdinnen und Araberinnen auf getrennten Geburtsstationen Kinder zur Welt bringen sollten. Ben-Gvir und Smotrich sind dabei nur die Spitze des Eisbergs einer Regierung voller extremer Rechter. Doch für den langjährigen rechtskonservativen Ministerpräsidenten Netanjahu schien das kein allzu großes Problem zu sein, immerhin brachten ihm diese Kräfte die nötige Mehrheit, um wieder an die Regierung zu gelangen.

Die Justizreform – Weg in die Diktatur?

Während die Übergabe wichtiger Ministerien an Rechtspopulist_Innen bereits teilweise für Unmut sorgte, brachte die von Netanjahu und seinen Verbündeten geplante Justizreform das Fass zum Überlaufen. Nachdem große Teile der israelischen Gesellschaft seit mehreren Jahren eine Anklage Netanjahus wegen eines Korruptionsskandals fordern, könnte der neue-alte Ministerpräsident durch seine Justizreform einer Anklage entgehen. Diese Dreistigkeit und Verhöhnung des bürgerlichen Rechtsstaates bildete die Grundlage für die folgenden Massenproteste.

Die geplante Reform sieht vor, dass Entscheidungen des obersten Gerichts in Zukunft mit einfacher Mehrheit des Parlaments revidiert werden können, ergo die Rechtsprechung quasi entmachtet wird. Zusätzlich dazu sieht die „Reform“ auch vor, dass die Regierung im Alleingang Richter_Innen ernennen kann, die dann (ähnlich wie die von Trump ernannten Richter_Innen des Supreme Courts) die reaktionäre Ideologie der aktuellen Regierung in ihre „Rechtsprechung“ fließen lassen. Die Justizreform ist also ein klarer Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz, die für eine bürgerliche Demokratie zentral ist.

Die besondere Stellung des Obersten Gerichtshof war schon häufiger Ziel von Angriffen rechter Regierungen. Er gilt unter linksliberalen und sozialdemokratischen Israelis als Hort der Menschenrechte und der Demokratie. Dementsprechend groß ist die Empörung über die geplante Reform nun in diesen Kreisen. Diese Empörung ist berechtigt und als Revolutionär_Innen verteidigen auch wir Angriffe gegen bürgerlich-demokratische Rechte, auch wenn sie Institutionen von kapitalistischen Nationalstaaten sind. Dennoch haben wir keine Illusionen in diesen Gerichtshof. Auch bevor die rechte Regierung ihre Reform angekündigt hat, hat der Gerichtshof die israelische Gesellschaft nicht davor bewahrt, den Charakter eines Besatzungsregimes und eines Apartheidstaates anzunehmen. Die aktuellen Angriffe verdeutlichen nur einmal mehr, wie schnell die Bourgeoisie bereit ist, ihre zuvor hoch gelobte Demokratie zu entmachten, sobald sie ihren Interessen im Wege steht. Ähnliche Beispiele haben wir zuletzt in Brasilien unter Bolsonaro, in Ungarn unter Orban, in Polen unter der PiS oder in den USA unter Trump gesehen.

Reaktionäre Innenpolitik

Während sich die religiösen Splitterparteien und die rechtsextremen Siedler_Innen vor allem an ihrem Rassismus gegenüber Palästinenser_Innen abarbeiten, vertritt der Likud zudem eine zutiefst neoliberale Wirtschaftspolitik. Der bis auf eine kleine Unterbrechung seit 14 Jahren regierende Netanjahu hat große Leistungen für das israelische Kapital vollbracht, indem er es schaffte, Arbeitsrechte und Sozialstaat und auf ein Minimum herunterzufahren. Ein Resultat dieser Politik ist, dass in vielen israelischen Städten die Immobilienpreise so hoch sind, dass dagegen München und Frankfurt am Main geradezu günstig wirken. Auch andere Lebenshaltungskosten stiegen im Laufe seiner Amtszeiten massiv an. Viele Israelis benötigen 2 bis 3 Jobs, um überhaupt über die Runden zu kommen. Öffentliche Schulen und Krankenhäuser sind in einem desaströsen Zustand, während es sich reiche Israelis leisten können, auf Privatschulen und private medizinische Einrichtungen auszuweichen. Jede_r Shekel, der in Checkpoints, Mauern, Drohnen und Panzer fließt, fehlt in den israelischen Schulen, Sozialkassen und Krankenhäusern. Ein Ende dieser Entwicklung ist sicher nicht in Sicht mit der neuen Koalition, eher ist davon auszugehen, dass auch weiterhin die Folgen der allgemeinen Krise, die auch Israel betrifft, auf dem Rücken der Arbeiter_Innen ausgetragen werden.

Noch dramatischer steht es um die Rechte von LGBTIQ-Personen und ethnischen oder religiösen Minderheiten. So ist die religiös-zionistische Partei offen queerfeindlich und macht daraus auch keinen Hehl. Ihr zufolge sollen medizinische Einrichtungen mit religiösem Träger sich weigern dürfen, queere Menschen zu behandeln.

Generell wird voraussichtlich der Rassismus gegen nicht-jüdische Israelis aber auch gegen nicht-weiße Juden:Jüdinnen, die zum Beispiel aus Äthiopien oder dem Jemen nach Israel geflohen und häufig massiven rassistischen Anfeindungen bis hin zu brutalen Angriffen ausgesetzt sind, noch weiter zunehmen.

Mit der sich verschärfenden Wirtschaftskrise geht auch eine verstärkte Verelendung der Arbeiter_Innenklasse in Israel und ihrer besonders marginalisierten, sexistisch oder rassistisch unterdrückten Teile einher. Die israelische Regierung versucht jetzt durch nationalistische Propaganda und der Erweiterung des israelischen Staatsgebiets dieser Krise durch kurzfristige Scheinlösungen zu begegnen und die israelische Arbeiter_Innenklasse mittels Nationalismus an die herrschende Klasse zu binden und damit ihre Schlagkraft zu verringern. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch das Wiederaufkommen einer entschiedenen Kriegsrhetorik gegenüber dem Iran.

Was bedeutet das für Palästinenser_Innen?

Dementsprechend hat sich die Lage der Palästinenser_Innen massiv verschlechtert und zu einer neuen Welle von Gewalt und Gegengewalt geführt. Bei Operationen des israelischen Militärs in Städten wie Jenin oder Nablus sind seit Anfang des Jahres mehrere Dutzend Palästinenser_Innen ermordet worden, im Schnitt mehr als ein Mensch pro Tag!

Dazu kam es im palästinensischen Dorf Hawara zu einem Pogrom durch rechtsradikale Siedler_Innen, die mehrere Dutzend Häuser und Geschäfte anzündeten, mindestens einen Menschen töteten und zahlreiche weitere Verletzten. Die israelische Armee hat ihnen dabei zugesehen und Rückendeckung gegeben.

Polizeiminister Ben-Gvir sorgte mit einem Besuch auf dem Tempelberg – Standort der Al-Aqsa Moschee- ebenfalls für eine krasse Provokation. Als Ariel Sharon im Jahre 2000 den Tempelberg betrat, war das der Auslöser für die 2. Intifada. Ben-Gvir kündigte darüber hinaus noch an, dass er es Muslima_en nicht den gesamten Ramadan über erlauben wolle, in der Al-Aqsa Moschee zu beten.

Zu allem Übel will die neue Regierung auch noch die Todesstrafe wiedereinführen. Diese soll gegen Palästinenser_Innen, die Israelis ermordet haben, angewendet werden können, nicht aber gegen Israelis, die Palästinenser_Innen ermordet haben. Zwar müssen Palästinenser_Innen ohnehin damit rechnen, vom israelischen Militär getötet zu werden, wenn sie sich der Besatzungspolitik widersetzen. Allerdings unterstreicht die Wiedereinführung der Todesstrafe – allein für Palästinenser_Innen – noch einmal bildlich die Geringschätzung palästinensischen Lebens.

Weniger offensichtlich aber doch extrem relevant ist auch die Übertragung der Kontrolle über die Westbank von einer militärischen zu einer zivilen Behörde. Während die Militäradministration den jahrzehntelangen Besatzungsstatus des Gebietes aufrecht erhielt, ist dies nun als endgültiges Zeichen zu verstehen, dass für die aktuelle israelische Regierung ein Verlassen dieser, und somit eine zwei Staaten Lösung, keine Option mehr ist und sie die gesamte Westbank als Teil israelischen Staatsgebiets betrachtet.

Welche Perspektive hat der Protest?

Der Protest, der sich in erstes Linie als Widerstand gegen die Justizreform aufstellt und an dem bis zu 250.000 Menschen im ganzen Land teilnahmen, wird getragen von einer sehr breiten israelischen „Zivilgesellschaft“ und ist geprägt von liberal-zionistischen Kräften. Am Meer aus israelischen Flaggen, das auf den Großdemonstrationen in Tel Aviv/Jaffa zu sehen war, wird deutlich, wie nationalistisch dieser eigentlich ist. Dennoch scheint die neue Regierung vor den Protesten zu zittern, wenn sie mit allen Mitteln versucht, die eigentlich sehr zahmen Proteste als „Gesetzesbrecher“ zu verunglimpfen und ihnen vorwerfen, sie würden „Anarchie“ verbreiten.

Der von der neuen Rechtsregierung abgelöste ehemalige Ministerpräsident Lapid versucht, sich dabei als liberaler Gegenspieler von Netanjahu und Hüter der israelischen Demokratie zu inszenieren. Dabei war er es, der zuvor auch keinerlei Probleme damit hatte, mit Naftali Bennets kaum weniger rechtsextremen Siedlerpartei gemeinsam zu regieren. Die Massenproteste werden weiterhin ohnmächtig gegenüber den rechten Angriffen auf demokratische Rechte sein, solange sie sich von liberal-zionistischen Kräften anführen lassen. Ihre Alternative gegenüber Netanjahu sieht vielleicht so aus, dass der Oberste Gerichtshof unangetastet bleibt und die Siedlungen weniger stark ausgebaut werden. An der Realität des Besatzungsregimes, des Abbaus des israelischen Sozialstaates, der massiven Inflation, der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der Krise des Wohnungs-, Bildungs- und Gesundheitssektors werden sie nichts verändern.

Dennoch können die Massenproteste einen Ausgangspunkt für den Aufbau von Gegenmacht bieten. Zentral dabei ist es, ob fortschrittliche Organisationen es verstehen, in diese Proteste eine unabhängige Position der israelischen und der palästinischen Arbeiter_Innenklasse zu tragen und die Führung zu übernehmen. Es muss dabei darum gehen, die soziale Frage mit der Beendigung der Besatzung zu verknüpfen. Sozialdemokratisch-stalinistische Gruppen wie „Hadash“ und autonome Antifa-Gruppen haben auf den Großdemonstrationen mit ihrem „radical bloc“ ein starkes Zeichen gesetzt. Darin fanden sich viele palästinensische Fahnen, „Palestinen Lives Matter“-Schilder als auch Banner mit der Aufschrift „There’s no democracy with apartheid,” oder “A nation that occupies another nation will never be free“. Dabei ist das Zeigen der palästinensischen Flagge seit Neustem eine durchaus heikle Angelegenheit. So hatte Ben-Gvir zuvor das Zeigen von Palästina-Flaggen auf öffentlichen Plätzen verboten, weil diese angeblich für „Terrorismus“ stünden.

Dieser Block wurde damals von anderen Demonstrant_Innen aktiv angegangen und versucht von der Demo zu drängen, jedoch konnte sich der pro-palästinensiche Block mit der Zeit etablieren und deutlich anwachsen.

Die Proteste setzen Netanjahus Regierung real unter Druck, gerade deshalb weil die Protestierenden sich überdurchschnittlich stark aus Beschäftigten zentraler Bereiche, zum Beispiel IT-Spezialist_Innen, zusammensetzen. Auch zahlreiche Kulturschaffende sowie Klein- und Mittelunternehmer_Innen unterstützen die Proteste und lehnen die Justizreform ab. Auch der israelische Gewerkschaftsbund Histadrut, der aufgrund seiner historisch stark ausgeprägten Staatstreue bisher nicht zu den Demonstrationen aufrief, droht nun damit, sich anzuschließen und seine 800.000 Mitglieder zum Protest, und eventuell zum Streik, aufzufordern.

Was braucht es um Netanjahu, Ben-Gvir und Co. Zu schlagen?

Für uns als Sozialist_Innen ist klar, dass eine Demokratie unter den Bedingungen kapitalistischer Profitmaximierung sowie ethnischer Segregation und rassistischer Ungleichbehandlung nur Heuchelei ist. Israel kann nur dann wirklich demokratisch sein, wenn es auch Palästinenser_Innen dieselben Rechte zugesteht wie jüdischen Israelis und die Produktionsmittel gemeinsam demokratisch kontrolliert werden.

Revolutionär_Innen müssen sich den Massenprotesten gegen Netanjahu anschließen und gemeinsam mit den antizionistischen Kräften vor Ort für eine unabhängige Position der Arbeiter_Innenklasse kämpfen. Ein zentraler Punkt dabei ist die Anerkennung des Rechts der Palästinenser_Innen auf nationale Unabhängigkeit. Ebenso steht ihnen auch das Recht zu, sich gegen Angriffe zu verteidigen und gegen die fortwährende Besatzung zu wehren. Wir verteidigen dieses Recht, auch wenn wir Angriffe auf Zivilpersonen, insbesondere den brutalen Anschlag auf die betenden Menschen in der Synagoge in Ost-Jerusalem, entschieden ablehnen. Die sinnlosen Angriffe von Palästinenser_Innen auf Zivilpersonen sind ein Ausdruck der Führungskrise im palästinensischen Widerstand, der den verschärften Angriffen kaum eine glaubhafte Perspektive entgegenzusetzen hat. Dies liegt an der Schwäche der palästinensischen Linken und dem historischen Verrat der Stalinist_Innen in ihren Reihen, aber auch an der verräterischen Politik der palästinensischen Autonomiebehörde, der Abwesenheit von legalen Protestmöglichkeiten und dem Siegeszug des politischen Islams in der gesamten Region. So konnten sich Hamas und Islamischer Jihad als die „entschlossenere Alternative“ präsentieren, obwohl sie beide reaktionäre Organisationen sind, die nicht im Interesse der palästinensischen Arbeiter_Innenklasse handeln.

Netanjahu, Ben-Gvir und ihre reaktionäre Bande können nur geschlagen werden, wenn sich die israelischen Arbeiter_Innen, Jugendlichen und Unterdrückten mit den palästinensischen Massen zusammenschließen. Wenn sie gemeinsam kämpfen gegen Justizreform, Besatzung und Neoliberalismus aber auch gegen die reaktionäre Politik palästinensischer Kräfte wie Hamas und Fatah. Dies würde bedeuten anzuerkennen, dass israelische und palästinensische Arbeiter_innen objektiv dieselben Interessen und Ziele haben und dass sie nur die subjektiven Ketten des Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus davon trennen. Die Geschichte hat schon oft gezeigt, dass nationale Gegensätze im gemeinsamen Kampf für gleiche Ziele verschwinden können. Unsere Perspektive ist die eines säkularen multi-ethnischen Arbeiter_Innenstaates zu kämpfen, in dem jeder Mensch unabhängig von seiner Religion und Hautfarbe in Frieden leben kann.




Erneute Eskalation im Nahost-Konflikt? 6 Fragen – 6 Antworten!

Von Lia Malinovski, Februar 2023

Warum ist dieses Framing problematisch?

In den letzten Tagen hat sich die Gewaltspirale zwischen der israelischen Regierung und palästinensischen Gruppen wieder erneut heftig in Gang gesetzt. In den bürgerlichen Medien ist dabei von einer „Eskalation im Nahost-Konflikt“ die Rede. Dabei wird einerseits in guter alter kolonial-eurozentristischer Manier vom „Nahen Osten“ gesprochen (, denn ob das Ganze nah ist und im Osten liegt, hängt natürlich vom Standpunkt der Betrachterin ab). Auch die Rede von einer Eskalation trifft den Punkt nicht ganz, denn die jahrzehntelange Besatzung, Entrechtung und Unterdrückung der Palästinenser_innen stellen für sich genommen schon ein ziemlich eskalatives Level in einem Konflikt zwischen Bevölkerungsgruppen dar. Erst dann von Eskalation zu sprechen, wenn es zu Gewaltausbrüchen kommt, suggeriert als wäre vorher eigentlich alles tutti bzw. nicht ganz so schlimm gewesen. Doch die Palästinenser_innen spüren die Gewalt des Besatzungsregimes Tag für Tag.

Was genau ist in den letzten Tagen passiert?

Ausgangspunkt der Gewaltspirale war ein Angriff des israelischen Militärs auf ein palästinensisches Geflüchtetencamp in Jenin (Westbank). Die Soldat_innen richteten dabei ein Blutbad an, bei dem 9 Menschen getötet wurden. Weitere 20 Palästinenser_innen wurden bereits in diesem noch sehr jungen Jahr durch das israelische Militär getötet. Die im Gazastreifen regierende Hamas beantwortete das Massaker mit Raketenangriffen auf den Süden Israels, die jedoch keinen nennenswerten Schaden anrichteten. Das israelische Militär flog daraufhin Luftangriffe auf Stellungen der Hamas. Im Zuge dessen kam es auch zu Angriffen auf zivile Opfer in israelischen Siedlungen im palästinensischen Teil Jerusalems. Dabei wurden bei einem Anschlag auf eine Synagoge 7 Israelis brutal ermordet.

Was ist der Grund für die Angriffe?

Der Grund für das verschärfte Vorgehen des israelischen Militärs ist wohl die neue extrem-rechte Koalitionsregierung, die die rechteste ist, die es jemals in Israel gab. An ihrer Spitze steht der altbekannte Benjamin Netanjahu. Minister für Nationale „Sicherheit“ ist der rechtsradikale Siedler Itamar Ben-Gvir. Dieser sticht unter den vielen rassistischen Äußerungen von Mitgliedern der neuen Regierung zusätzlich dadurch negativ hervor, dass er die Massaker israelischer Siedlerterroristen wie Baruch Goldstein legitimiert, „illoyale“ Palästinenser_innen ausweisen will und auch schon persönlich angesichts palästinensischer Proteste die Pistole gezückt hat. Mit Blick auf das relativ knappe Wahlergebnis versucht sich die neue rechtsextreme Regierung nun durch ein besonders hartes Vorgehen und weitere Einschnitte in die Rechte der Palästinenser_innen zu profilieren. Dabei steht sie stark unter Druck. Mit der sich verschärfenden Wirtschaftskrise geht auch eine verstärkte Verelendung der Arbeiter_Innenklasse in Israel einher, die sich besonders in Reallohnverlusten, massiver Inflation, Entlassungen und schlechteren Arbeitsbedingungen äußert. Die israelische Regierung versucht jetzt durch nationalistische Propaganda und der Erweiterung des israelischen Staatsgebiets dieser Krise durch kurzfristige Scheinlösungen zu begegnen und die israelische Arbeiter_Innenklasse mittels Nationalismus an die herrschende Klasse zu binden und damit ihre Schlagkraft zu verringern.

Gibt es auch auf israelischer Seite Widerstand dagegen?

Dass die Palästinenser_innen das brutale Vorgehen der neuen Regierung nicht widerstandslos über sich ergehen lassen, ist nur allzu verständlich. Doch auch in Israel gibt es viele kritische Stimmen. So haben wir zahlreiche Massendemonstrationen in Israel gesehen, die gegen die neue Regierung auf die Straße gegangen sind. Zwar bieten diese Demonstrationen insgesamt keine sozialistische Perspektive und formulieren in ihrer Gesamtheit keine grundsätzliche Kritik am israelischen Staat oder dem Zionismus, sind jedoch Ausdruck der Unzufriedenheit mit dieser extrem rechten Regierung. Sie können einen Ausgangspunkt für Widerstand in der israelischen Bevölkerung bieten, wenn fortschrittliche Organisationen es verstehen, in diese Proteste die Position der israelischen und der palästinischen Arbeiter_innenklasse zu tragen und die Führung zu übernehmen. Es muss dabei darum gehen, die soziale Frage mit der Beendigung der Besatzung zu verknüpfen. Kommunistische Gruppen wie „Hadash“ und Antifa-Gruppen haben auf der über 100 000 Teilnehmende zählenden Großdemonstration in Tel Aviv in der vergangenen Woche mit ihrem „radical bloc“ ein starkes Zeichen gesetzt. Darin fanden sich viele palästinensische Fahnen, „Palestinen Lives Matter“-Schilder als auch Banner mit der Aufschrift „There’s no democracy with apartheid,” oder “A nation that occupies another nation will never be free“.

Wie ist die Reaktion der Palästinenser_innen zu bewerten?

Den Palästinenser_innen steht das Recht auf nationale Selbstbestimmung zu und auch, sich gegen Angriffe zu verteidigen und gegen die fortwährende Besatzung zu wehren. Wir verteidigen dieses Recht, auch wenn wir Angriffe auf Zivilpersonen, insbesondere den brutalen Anschlag auf die betenden Menschen in der Synagoge in Ost-Jerusalem, entschieden ablehnen. Dass es angesichts der israelischen Besatzungspolitik zu solchen Anschlägen kommt und eine auf die Arbeiter_innenklasse gestützte Taktik im palästinensischen Widerstand fehlt, ist auf die Schwäche der palästinensischen Linken, den Verrat der Stalinist_innen in ihren Reihen, die verräterische Politik der palästinensischen Autonomiebehörde, die Abwesenheit von legalen Protestmöglichkeiten und den Siegeszug des politischen Islams in der gesamten Region zurückzuführen. So konnten sich Hamas und Islamischer Jihad als die „entschlossenere Alternative“ präsentieren. Dabei sind beide reaktionäre Organisationen, die nicht im Interesse der palästinensischen Arbeiter_Innenklasse handeln. Sie sind reaktionär, da sie in ihren Taktiken gezielt Jüd_innen angreifen, anstatt die israelische Staatsmaschinerie zum Ziel zu erklären und für Verbesserungen zu kämpfen. In ihrer Ideologie stellen sie sich gegen Jüd_innen, aber auch gegen andere Ethnien (auch innerhalb der palästinensischen Bevölkerung) und vor allem gegen queere Menschen und Frauen, deren Unterdrückung sie aktiv befürworten. Ihre Taktik dient dazu, sich als Führungskraft des Befreiungskampfes zu inszenieren, indem sie hin und wieder mal Raketen nach Israel schicken. Sie tun dies, da sie davon profitieren, wenn sie sich als Führung ausgeben können, wenn sie Israel symbolisch angreifen und die Reaktion propagandistisch ausschlachten können. Damit machen sie es der israelischen Führung auch leicht, die Palästinenser_innen zum kollektiven Feind zu erklären. Mit ihren Aktionen verfolgen Hamas und Islamischer Jihad keine Strategie zur Befreiung Palästinas, sondern eine Strategie zur Erhaltung ihrer Macht, hinter der eine Klasse aus Klerikalen und Bürokraten steht.

Die palästinensische Bourgeoisie wird dagegen vor allem von der konservativen Fatah vertreten, welche die Regierungsgeschäfte der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in der Westbank lenkt. Diese ist eine Institution, die aufgrund der sehr schwachen palästinensischen Wirtschaft nur durch ausländische Entwicklungshilfe aus der EU und den USA am Leben erhalten werden kann. Da das Hauptinteresse der EU und der USA die Sicherheit ihres Verbündeten Israel ist, binden sie ihre Zahlungen daran, dass die PA für „Ruhe und Ordnung“ in den palästinensischen Gebieten sorgt. Ein großer Teil der Zahlungen fließt deshalb ausschließlich in den palästinensischen Militär- und Polizeiapparat. Die PA unter Führung der konservativen Partei Fatah wird also dafür bezahlt, die palästinensische Bevölkerung ruhig zu halten und Aufstände gewaltsam zu unterdrücken. Diese Funktion führt sie im Rahmen einer „Sicherheitskooperation“ mit dem israelischen Militär aus. Die PA übernimmt somit die Rolle einer Verwalterin der Besatzung und entwickelte sich in der Vergangenheit zu einem autoritären Polizeistaat, der die Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit unterdrückt und die israelische Besatzung zementiert. Diese „Sicherheitskooperation“ wurde nun als Reaktion auf das Blutbad in Jenin einseitig durch die PA aufgekündigt. Dies ist jedoch nicht als eine Linksentwicklung der Fatah zu verstehen, sondern vielmehr als den verzweifelten Versuch, noch irgendeine Form von Ansehen und Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung zu behalten.

Was setzen wir dem entgegen?

Was es braucht, ist eine unabhängige Position der palästinensischen Arbeiter_innenklasse, die keine Illusionen in die bürgerlichen Kräfte Hamas, Islamischen Jihad oder die Fatah hat. Diese würde bedeuten zu erkennen, dass israelische und palästinensische Arbeiter_innen dieselben Interessen und Ziele haben und dass sie nur die Ketten des Kapitalismus und Nationalismus davon trennen. Die Geschichte hat schon oft gezeigt, dass nationale Gegensätze im gemeinsamen Kampf für gleiche Ziele verschwinden können. Unsere Perspektive ist die eines säkularen multi-ethnischen Arbeiter_innenstaates zu kämpfen, in dem jeder Mensch unabhängig von seiner Religion und Hautfarbe in Frieden leben kann. Um jedoch die Palästinenser_innen für diese Position zu gewinnen, dürfen wir nicht als kommunistische Besserwisser_innen am Rande des Kampfes stehen und zuschauen. Wir müssen uns als Teil ihres Kampfes für nationale Selbstbestimmung verstehen, auch wenn uns die Führung dieses Kampfes aus reaktionären Kräften nicht passt, sein Ziel ist trotzdem legitim. Nur indem wir das legitime Recht dieses Befreiungskampfes bedingungslos verteidigen und die israelische antizionistische Opposition unterstützen, werden die Massen offen für unsere Positionen sein und den Kampf um die nationale Selbstbestimmung mit der Klassenfrage zu verbinden. Hier vor Ort muss das bedeuten, aktiv gegen Waffenlieferungen und militärische Unterstützung für Israel durch die BRD zu sein. Sich gegen Betätigungs- und Demonstrationsverbote für palästinensische Organisationen auszusprechen und den palästinensischen Befreiungskampf gegen verleumderische Antisemitismusvorwürfe zu verteidigen.

Als REVOLUTION bieten wir dem Kampf deshalb die folgende Perspektive:

  • Verbindung der Kämpfe der israelischen Arbeiter_Innenklasse mit dem Kampf um nationale Selbstbestimmung in Palästina! Für Massenstreiks und gemeinsame Aktionens von Palästinenser_innen und der israelischen Arbeiter_innenklasse gegen Inflation, Reallohnverluste, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und für die Kontrolle der Klasse über die Schlüsselindustrien!
  • Es gibt kein Existenzrecht für kapitalistische Nationalstaaten! Für den Aufbau eines freien, rätedemokratischen, sozialistischen Palästinas, das den bürgerlichen Staat Israel durch demokratische Strukturen und friedliches Zusammenleben im Rahmen einer Föderation sozialistischer Staaten ersetzt!
  • Für volle Staatsbürger_innenrechte für alle, da wo sie gerade Wohnen, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion!
  • Für volle Religionsfreiheit und gegen religiöse Staaten! Jede_r muss das Recht haben, die eigene Religion auszuüben, solange die Unversehrtheit anderer gewährleistet ist!
  • Für demokratische Milizen zur Verteidigung vor rassistischen, antisemitischen oder sonstigen reaktionären Angriffen, gewählt durch die Arbeiter_innenklasse Palästinas und Israels!