Massaker an Geflüchteten in Melilla: Ein weiterer blutiger Höhepunkt der Festung Europa

Auch wenn diese im Zuge der zahlreichen Krisen unterzugehen scheinen, häufen sich die Meldungen von Toten an den EU-Außengrenzen wieder einmal.

Zahlreiche Menschen sterben bei der Flucht übers Mittelmeer, im Jahr 2022 alleine 1982, zudem harren immer noch Tausende an der Belarussischen, Griechisch-Türkischen sowie anderen Grenzen aus, an denen sie vom örtlichen Grenzschutz massive Gewalt erfahren.

Doch gerade ein bisher eher unbekannterer Teil der „Festung Europa“ erlangte dieses Jahr traurige Bekanntheit: Melilla

Tödliche Grenzgewalt in Melilla

Hier starben mindestens 37 Flüchtende (70 weitere gelten bis heute als vermisst) an der Grenze zwischen dem marokkanischem Staatsgebiet und der spanischen Exklave in Nordafrika, welche als ein Relikt aus der kolonialen Besatzung Nord-Marokkos durch Spanien fortbesteht und, wie auch Ceute, als EU Territorium zählt.

Im Juni letzten Jahres versuchten etwa 2000 Menschen bei Melilla über den metallenen Grenzzaun zu kommen, um in ihrer Flucht nach Europa vor Krieg und Hunger nicht den tödlichen Weg über das Mittelmeer auf sich nehmen zu müssen. Ausgelöst wurde dieser Sturm wohl durch marokkanische Grenzbeamte selber, welche ein provisorisches Geflüchteten-Camp in einem nahegelegenen Wald auflösten und eine Massenpanik auslösten.

Diese wurde noch weiter befeuert, als am Grenzzaun sowohl spanische als auch marokkanische Beamte, welche immer wieder bei der Verteidigung der Grenzen der Festung Europa zusammenarbeiten, ähnlich wie z.B. in Libyen oder der Türkei, gewaltsam gegen die Migrant_Innen vorgingen. Sie schossen mit Tränengas und Gummigeschossen in die Menge. Aufgrund des Drucks der Menschenmasse, brach schließlich der Zaun zusammen, wobei bereits mehrere Menschen schwer verletzt wurden. Diverse Videos dokumentieren, wie daraufhin marokkanische Beamte wahllos auf am Boden Liegende einschlugen und offenkundig bewusstlose Menschen mehrere Meter über den Boden schleiften.

Reaktion

Bereits kurz nach dem Vorfall wurden Stimmen laut, sowohl von Seiten diverser Presseportale als auch von Augenzeug_Innen, welche betonten, dass die tödliche Gewalt nicht ausschließlich auf der marokkanischen Seite des Grenzzauns stattfand, sondern auch auf spanischem Staatsgebiet von spanischen Grenzbeamten durchgeführt wurde.

Unter dem Hashtag #melillamassacre wurde das Massaker an Flüchtenden auf Social Media breit verurteilt und zog eine Welle an Protesten in Spanien und Marokko nach sich.

Der Druck von Migrant_Innen und Menschenrechtsorganisationen führte dazu, dass die spanische Generalstaatsanwältin ankündigte, Ermittlungen bezüglich des Vorgehens der Grenzbeamten einzuleiten. Ein halbes Jahr später wurde das Verfahren jedoch öffentlich eingestellt.

Videos, mit den entscheidenden Minuten, welche beweisen sollen, dass es auch auf spanischem Gebiet Tote gab, bleiben weiterhin unter Verschluss. Spaniens Innenminister Fernando Grande-Marlaska beharrt weiterhin darauf, dass es keine Todesfälle auf spanischer Seite gegeben hätte und dass er die Reaktion und das Vorgehen der Polizist_Innen für angemessen empfindet, eine Aussage die wieder einmal die Menschenverachtung des Europäischen Grenzregimes unterstreicht.

Die Rolle der „Festung Europa“

Melilla ist dabei nur eine mörderische Mauer der Festung Europa unter vielen. So führt die Grenzschutzorganisation der EU, Frontex, illegale Pushbacks durch, was konkret bedeutet, dass sie hilfesuchende Menschen, zum Beispiel an den Küsten Griechenlands, zurück ins Meer prügelt und damit ihren Tod billigend in Kauf nimmt.

All das geschieht nicht ohne Grund, es ist kein Zufall, dass die ach so menschenrechtsfreundliche und demokratische EU in ihrer Politik Migrant_Innen gegenüber so brutal und repressiv vorgeht.

Der Grund hierfür heißt Imperialismus.

Denn der verhältnismäßig hohe Lebensstandard in der EU basiert auf der Überausbeutung von Halbkolonien, größtenteils im globalen Süden.

Überausbeutung heißt hier, dass die Arbeiter_Innen nicht nur von ihrer eigenen nationalen Bourgeoisie ausgebeutet werden, sondern zusätzlich noch von der eines oder mehrerer imperialistischer Länder. Diese erlangen durch große ökonomische Macht politischen Einfluss und halten die Ökonomie der Halbkolonie soweit künstlich klein, um weiter von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen, sowie dem Nutzen als Absatzmarkt und Niedriglohnstandort, zu profitieren.

Diese Überausbeutung ermöglicht es der herrschenden Klasse in den imperialistischen Zentren (z.B. EU, USA und China) auch, durch Zugeständnisse einen privilegierten Teil der Lohnabhängigen (Arbeiter_Innen-Aristokratie) ruhig zu halten und an sich zu binden.

Zu diesem Teil gehört auch die Gewerkschaftsbürokratie sowie meist die Führung sozialdemokratischer Parteien.

Die imperialistischen Staaten wie eben Deutschland und Frankreich haben also ein starkes Interesse daran, die Grenzen zu schließen und zu verteidigen, da ansonsten Menschen aus den Halbkolonien einfach in den reicheren globalen Norden kommen und sich der Überausbeutung entziehen könnten.

Rassismus als Legitimation

Legitimiert wird dieses Vorgehen durch den Rassismus als Werkzeug, der ein zentraler Teil des aktuell auch wieder erstarkenden Rechtspopulismus ist, dabei von allen bürgerlichen Parteien mehr oder weniger ausgeprägt mitgetragen wird und ursprünglich als Legitimation von Kolonialismus und Imperialismus entstanden ist.

Der Rassismus erfüllt aber noch eine weitere Funktion, nämlich die Schwächung der Arbeiter_Innenklasse, durch ihre Spaltung in Nationen und Kulturen.

Je kleinteiliger die Lohnabhängigen untereinander verfeindet sind, desto schwächer sind sie in der Erkämpfung ihrer Rechte gegen die Bourgeoisie.

Auch verschleiert Rassismus die eigentlichen Ausbeutungsverhältnisse. Statt des Klassenkonflikts zwischen „oben und unten“, also Proletariat und Bourgeoisie, wird ein Konflikt zwischen „innen und außen“, zwischen „Heimischen und Fremden“ in den Mittelpunkt gerückt, obwohl eigentlich überhaupt kein Interessengegensatz herrscht zwischen europäischen, arabischen und afrikanischen Arbeiter_Innen.

Mit einem sehr ähnlichen ideologischen Konstrukt, dem Nationalismus, sollen außerdem die Arbeiter_Innen an den eigenen imperialistischen Staat  gebunden werden.

Wie das funktioniert lässt sich gut am Beispiel des russischen Angriffskriegs in der Ukraine beobachten, wo bedingungslose Solidarität mit dem Westen gefordert wird und auch selbst proklamierte „antirassistische“ Grünen-Politiker_Innen antirussischen Rassismus verbreiten und Entschlossenheit im Kampf gegen den „nationalen Feind“ fordern, statt die internationale Arbeiter_Innenklasse zum Widerstand gegen den Krieg aufzurufen.

Um gegen das Europäische Grenzregime anzukämpfen, stellen wir folgende Forderungen auf:

  • Die Grenzen auf, Stacheldraht zu Altmetall – Nieder mit der Festung Europa!
  • Weg mit Frontex und anderen Grenzschutzbehörden! Schluss mit „Flüchtlingsdeals“ wie mit Marokko oder der Türkei!
  • Staatsbürger_Innen-Rechte für alle, überall!
  • Fluchtursachen statt Flüchtende bekämpfen – Streichung aller Schulden von Halbkolonien!
  • Schluss mit ethnischer und nationaler Spaltung! Für die Vereinigung von Arbeiter_Innen und Jugend aller Länder zu einer internationalen Bewegung gegen den Imperialismus und die Herrschaft der Bourgeoisie!



Gegen jeden Antisemitismus!

Statement von anti-imperialistischen Kräften in FridaysForFuture, erschienen im Januar 2023

Unsere Anmerkungen

Wir solidarisieren uns mit den anti-imperialistischen Kräften in FridaysForFuture, die Klimagerechtigkeit auch wirklich

Wir solidarisieren uns mit den anti-imperialistischen Kräften in FridaysForFuture (FFF), die Klimagerechtigkeit auch wirklich ernst meinen und nicht einzelne Bevölkerungsgruppen davon ausschließen. Der unten dargestellte Fall reiht sich ein in mehrere undemokratische und rassistische Äußerungen der Führung von FFF, sei es gegenüber „Palästina spricht“ in Bremen, gegenüber Ali Kocak in Berlin oder in zahlreichen Tweets und Posts im Internet. Um so wichtiger ist es, dass wir uns nicht mundtot machen lassen und die Politik der Führungsfiguren von FFF gemeinsam in Frage stellen und eine internationalistische Perspektive aufwerfen.
Deshlab spiegeln wir an dieser Stelle das folgende Statement von antirassistischen Aktivist_innen innherhalb von FFF. Dabei möchten wir jedoch darauf verweisen, dass wir einen anderen Antisemitismusbegriff haben und halten einige Darstellungen in dem Statement für verkürzt. Deshalb sei an dieser Stelle auf unseren Artikel „Was ist Antisemitismus?“ verwiesen. In unserem Programm findet ihr außerdem, was eigentlich unsere Position zum Nah-Ost-Konflikt ist. Wir stehen den Autor_innen des Statements jedoch solidarisch zur Seite und fordern alle Internationalist_innen in FFF auf, die rassistische und undemokratische Politik der Führung von FFF offen zu kritisieren. What do we want? Climate Justice!

https://onesolutionrevolution.de/smash-fascism/

https://onesolutionrevolution.de/was-ist-antisemitismus-und-wie-kann-er-bekaempft-werden/

Statement:

Seit Beginn des Jahres wurden min. 32 Palästinenser*innen von der IDF ermordet, dass sind mehr Menschen als das Jahr Tage hat. Trotzdessen hat sich FFF Deutschland (@FridayForFuture) erneut von einem Tweet von FFF International (@fridays4future) distanziert, welcher diese Fakten auf den Tisch gelegt und sich hinter widerständige Palästinenser*innen gestellt hat. Sie unterstellen FFF Int. Antisemitismus und verschieben den Diskurs, indem sie behaupten, dass verkürzte Darstellungen gemacht würden und der Konflikt „zu komplex“ sei.

Es handelt sich um einen Konflikt mit einer unterdrückenden und einer unterdrückten Partei. Die Toten werden schlichtweg ignoriert.

Da fragen wir uns, sind die Almans mit ihrem Lastenrad gegen eine Wand gefahren? Hat der Grünen-Sticker jetzt einen Kratzer? Das würde ihnen wahrscheinlich mehr bedeuten als 32 ermordete Menschen.

Kritik an Apartheid und Siedlungskolonialismus ist kein Antisemitismus, sondern „antikoloniale Pflicht“. So formulierten es unsere Genoss*innen von BiPoC for Future unter dem Tweet von FFF Deutschland, & dem können wir uns nur anschließen.

Israel ist, um es einmal ganz deutlich auszudrücken, ein neokolonialer Apartheidsstaat¹ mit einer rechtsextremen Regierung!

Die neue israelische Regierung hat kein Interesse an einer 2-Staaten-Lösung und macht diese zunichte. Gerade wird mehr über das Wort „Intifada“ geredet als über Apartheid. Um das eben abzuschließen: „Intifada²“ ist ein arabisches Wort und steht für „Aufstand“ bzw. „sich erheben“.

Die palästinensischen Intifadas waren Aufstände gegen ihre Unterdrückung und Ermordung. Sie machten Gebrauch von Massenprotesten, Generalstreiks, Frauenkomitees, selbstversorgenden Rätestrukturen von unten, Massenboykott bis hin zu militantem Widerstand. Angriffe auf Zivilist*innen unterstützen wir natürlich nicht. Intifada hat nichts mit „Vernichtungsantisemitismus“ oder gar „alle Jüd*innen ermorden“ zu tun. Hier wird Staat und Religion gleichgesetzt. Es möge argumentiert werden, dass Israel aber ein oder gar der einzige Safe-Space für Jüd*innen sei. Doch ein kapitalistischer Staat kann niemals ein Safe-Space sein. Es geht der israelischen Regierung nicht um die Menschen, sondern um Zahlen & Prozente. Auch sind einige Jüd*innen in Israel nicht sicher, jene, die arabisch-sprachig und oder Schwarz sind.

Und was ist eigentlich mit den Jüd*innen in Israel und auf der ganzen Welt, welche die Idee des Zionismus ablehnen? Auch diese sind dort keinesfalls sicher. Unser Ziel sollte sein, eine intersektionale Gesellschaft aufzubauen, in der alle Menschen sicher sind.

Erwähnenswert ist auch, dass selbst Shoa-Überlebende, wie Esther Bejarano, zu Lebzeiten von den gleichen Leuten als „Antisemitin“ diffamiert wurde, weil sie sich für palästinensische Menschenrechte eingesetzt hat.

Übrigens:

Die Distanzierung von dem Tweet wurde mit der FFF-Bewegung in Deutschland nicht einmal abgesprochen. Das, was die deutsche Fridays for Future-„Bundesebene“ gerade abzieht, ist schlichtweg undemokratisch. Das zeigt einmal wieder die extremen Machtstrukturen innerhalb von FFF Deutschland. Auch behauptet die Bundesebene, dass FFF Deutschland die IHRA-Definition von Antisemitismus übernommen hätte, was zu keinem Zeitpunkt besprochen oder beschlossen wurde. Sogar Jüd*innen die eine andere Meinung vertreten, werden nicht gehört. Zur IHRA-Definition hat auch die Rosa Luxemburg Stiftung eine empfehlenswerte Analyse gemacht³.

Es hat sich ein weiteres Mal gezeigt, wenn die deutsche FFF-Bundesebene int. Klimagerechtigkeit sagt, meint sie das nicht wörtlich, schon gar nicht, wenn es um antikoloniale Klimagerechtigkeit geht.

Vertraut den Drecksliberalen nicht!

Hoch die internationale Solidarität!

Yallah Intifada!

¹ 1. https://www.un.org/en/genocideprevention/documents/atrocity-crimes/Doc.10_International%20Convention%20on%20the%20Suppression%20and%20Punishment%20of%20the%20Crime%20of%20Apartheid.pdf

2. https://www.amnesty.org/en/latest/campaigns/2022/02/israels-system-of-apartheid/#:~:text=This%20is%20apartheid.,order%20to%20benefit%20Jewish%20Israelis

3. https://www.hrw.org/report/2021/04/27/threshold-crossed/israeli-authorities-and-crimes-apartheid-and-persecution

4. https://www.btselem.org/apartheid

²Arabisch – Sich erheben, loswerden, abschütteln

³https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/rls_papers/Papers_2-2019_Antisemitismus.pdf




Silvester 2022: Nach den Böllern kommt der Rassismus

145 Menschen hat die Polizei lt. Tagesschau bundesweit im Zusammenhang mit Silvesterkrawallen festgenommen, rund zwei Drittel entfielen auf Berlin. Diese sollen nicht nur Einsatzkräfte der Polizei, sondern auch der Feuerwehren, teilweise auch Passant:innen gezielt mit Böllern und Feuerwerkskörpern beschossen haben.

Silvesterkrawalle sind nun nichts total Neues in Deutschland – und erst recht nicht zahlreiche Verletzungen, Schlägereien, Unfälle bei den Neujahrsfeiern. Und ebenso wenig neu ist die fast schon alljährliche Debatte um das Verkaufsverbot von Böllern und Feuerwerkskörpern.

Es mag auch gut sein, dass die Zahl der Einsätze der Polizei und auch direkter bewusster Übergriffe und Angriffe auf Beamt:innen in diesem Jahr nach der Coronapandemie nach oben ging. Dass es sich dabei um eine neue Qualität handelt, muss aber in Zweifel gezogen werden. Bevor wir uns jedoch damit beschäftigen, müssen wir darauf eingehen, was wirklich neu ist: das Ausmaß an offen rassistischer Zuschreibung durch die bürgerliche Politik.

Rassismus und Law and Order

Nachdem sich der Rauch der Feuerwerke längst verzogen hat, legen Politiker:innen und sog. Expert:innen nach. CDU-Fraktionsvize Spahn, einst ein Shootingstar seiner Partei, bringt sich mit rassistischen Zuschreibungen und Law-and-Order-Parolen ins Gespräch – und macht auch gleich die Ursachen für eine angeblich neue Qualität von Rowdytum aus: „ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat“. Die Berliner CDU und FDP legen nach:

„Der CDU-Bezirksstadtrat für Soziales in Neukölln, Falko Liecke, wurde der Berliner Zeitung gegenüber deutlicher. In Neukölln sei eine ‚komplette Parallelgesellschaft herangewachsen, die mit unseren Staatsorganen, der Polizei und unserem Bildungssystem nichts zu tun hat’. Die FDP-Bundesabgeordnete Katja Adler sprach auf Twitter von ‚kultureller Überfremdung’. Der innenpolitische Sprecher der Jungen Union NRW, Manuel Ostermann, ging noch weiter. Das Problem seien ‚nicht die Böller, sondern der asoziale Mob, der damit nicht umgehen kann’, schrieb er. Im Gespräch mit der Bild-Zeitung bedauerte er den Mangel deutscher Grenzkontrollen. Der CDU-Abgeordnete Christoph de Vries scheint bisweilen die Rassentheorie für sich wiederentdeckt zu haben: Wollen wir Krawalle in Großstädten bekämpfen, schrieb er auf Twitter, ‚müssen wir auch über die Rolle von Personen, Phänotypus: westasiatisch, dunklerer Hauttyp sprechen’.“ (https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/silvesternacht-die-boeller-debatte-ist-rassistisch-li.303337)

Der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft DPolG im Deutschen Beamtenbund, Rainer Wendt, stößt ins selbe Horn und verweist auf das „Migrantenmilieu“ als Hort mangelnder Staatstreue. Zudem fordern Polizei- und Feuerwehrgewerkschaften stärkere Überwachung und Videocams.

Da fällt es der AfD und wohl auch so manchem Hardcorenazi schwer, sich nach rechts abzusetzen. AfD-Vorsitzende und -Bundessprecherin Alice Weidel versucht es dennoch und wendet sich gegen jede Erleichterung der Einbürgerung: „Ab diesem Jahr werden all die ‚Menschen‘ eingebürgert. Dann können die Medien ohne schlechtes Gewissen schreiben, dass ‚Deutsche‘ Einsatzkräfte attackierten.“ (https://www.belltower.news/rassistische-narrative-nach-silvester-neues-jahr-alte-hetze-144885/)

Laut Weidel und Co. kann es sich beim „Mob“ überhaupt um keine echten Deutschen, allenfalls nur um „Passdeutsche“ gehandelt haben. Selbst von Menschen mag sie nur unter Anführungszeichen sprechen – und setzt so den rassistischen Zuschreibungen von Liberalen und Konservativen noch eins drauf.

Bürgerliche Öffentlichkeit und Expert:innen

Während ein Teil der bürgerlichen Medien vor rassistischen Zuschreibungen warnt, fordern sog. Qualitätsmedien wie die FAZ, dass nicht weiter abgewiegelt werde, wenn es um Gewalt und Migration gehe. So lobt ihr Redakteur Jasper von Altenbockum den „Mut“ von Spahn und NRW-Innenminister Herbert Reul. die entgegen einer angeblichen Relativierungskultur die „Wahrheit“ ausgesprochen hätten. Schelte gibt es für den Berliner Senat, dem „in solchen Situationen die Worte ‚Linksextremisten’ oder ‚Migranten’“ nicht über die Lippen kommen könnten.

Doch nicht nur die bürgerliche Presse verkehrt die Lage so, also würden über Jahre Migrant:innen oder auch „Linksextreme“ diskursiv geschont, also würden jene, die die veröffentlichte Meinung privatkapitalistisch oder staatlich kontrollieren, vor lauter „Gutmenschen“ nicht mehr zu Wort kommen.

In solchen Situationen werden auch vorgebliche Expert:innen wie der Psychologe Ahmad Mansour gern in der Tageschau und anderen Medien zu Rate gezogen. Sie fabulieren dann von einer „puren Lust an Gewalt“, die auf den Straßen ausgelebt würde. Und weiter: „Es hat aber auch mit patriarchalischen Strukturen zu tun, die dazu führen, dass diese Menschen unseren Rechtsstaat, unsere Polizei, unsere Rettungskräfte als etwas Schwaches wahrnehmen, das man attackieren darf.“ (https://www.tagesschau.de/inland/silvester-gewalt-gegen-polizisten-101.html)

Lassen wir einmal beiseite, dass es an „patriarchalen Strukturen“ auch in „deutschen Milieus“ nicht mangelt, so erhebt sich doch die Frage, warum „unsere Polizei“ nur für wenige Stunden zu Silvester als „etwas Schwaches“ wahrgenommen wird, warum beim racial profiling in Neukölln und anderswo migrantische Jugendliche schikaniert, unterdrückt und Opfer von polizeilicher Gewalt werden?

Die These von der „Schwäche“ des Staates stellt die realen Verhältnisse einfach auf den Kopf. In Wirklichkeit leben die Menschen in keiner „Parallelgesellschaft“, sondern am Rand einer Gesellschaft, die sie nur als Marginalisierte, als billige, entrechtete Arbeitskräfte braucht, deren Wohnviertel gentrifiziert werden (auf Berlin-Kreuzberg folgt zur Zeit Neukölln). Nicht mangelnde „Integrationsbemühungen“, sondern systematische Diskriminierung und Verweigerung realer Integration prägen den Alltag. Die „Silvesterkrawalle“ sind kein Zeichen der Machtlosigkeit des Staates, sondern kurzfristige, emeutenhafte Äußerung der realen Machtlosigkeit Jugendlicher.

Verkehrung

Das polizeiliche, konservative, liberale und rassistische Narrativ stellt das faktisch auf den Kopf. Wer auf gesellschaftliche Ursachen auch nur im bürgerlich-demokratischen Sinn verweist, wird von der FAZ und anderen der Relativierung bezichtigt.

Zugleich werden einzelne, aus der Lebenssituation entrechteter und marginalisierter Jugendlicher entstehende gewaltsame Ausbrüche zu einem „kriminellen Migrantenmilieu“ konstruiert, das vorzugsweise vom Islam geprägt sein soll. Kriminalität, Angriffe auf die Polizei werden zur Tat von Migrant:innen.

Warum eigentlich sollen Menschen einen Staat und seine Repressionsorgane „respektieren“ und schätzen, der sie bei der streng reglementierten Einreise bürokratisch schikaniert und als Menschen 2. Klasse behandelt? Warum sollen Menschen einen Staat „respektieren“, der Geflüchteten über Jahre einen sicheren Aufenthaltsstatus, einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt und gleiche demokratische Rechte verwehrt? Warum sollten Menschen einen Staat „respektieren“, der Immobilienhaie schützt, wenn sie deren Wohnungen räumen? Warum sollen Menschen einen Staat „respektieren“, dessen Beamt:innen in der Regel als verlängerter Arm der Unterdrückung fungieren?

Es ist nichts „Überraschendes“ an solchen gelegentlichen Gewaltausbrüchen. Auch dass diese unter anderem in Berlin-Neukölln und Kreuzberg stattfanden, sollte niemanden verwundern – schließlich sind dies auch Zentren der Verdrängung der Armen. Im Grunde handelt es sich dabei um eine gewaltsame Äußerung von Wut und Frustration Marginalisierter, um einen, wenn auch blinden Ausbruch gesellschaftlicher Ohnmacht. Daher auch deren politisch unbestimmter Charakter, daher auch Angriffe nicht nur auf die Polizei, sondern auch auf Feuerwehren oder sogar einzelne Passant:innen. Sie sind Zeichen von Perspektivlosigkeit sowie einer systematischen rassistischen und damit verbundenen sozialen Marginalisierung eines Teils der Arbeiter:innenklasse und eines entstehenden Subproletariats. Der Hass auf „den Staat“, der selbst ihre Unterdrückung exekutiert und täglich befestigt, ist nicht verwunderlich, ja durchaus nachvollziehbar, auch wenn er politisch ohnmächtig in Erscheinung tritt.

Der Trick der rassistischen, konservativen und polizeilichen Zuschreibung besteht nun gerade darin, diese spezifischen, gewaltsamen Ausbrüche von Wut herzunehmen und als Ausdruck der Kriminalität und Asozialität „integrationsunwilligen“, „kulturfremden“, „islamisch“ und „patriarchal“ geprägten „Migrantenmilieus“ zuzuschreiben.

So wird eine direkte Linie zur Silvesternacht von Köln gezogen, so wird der Jahreswechsel herangezogen, um vorzugsweise jungen, männlichen Migranten Kriminalität zuzuschreiben.

Die Jahresstatistik spricht eine andere Sprache. Lt. einem Lagebericht des Innenministeriums wurden 2021 rund 88.600 Übergriffe auf Polizeibeamt:innen erfasst. „Von den bekannten Tätern seien 84 Prozent männlich und 70 Prozent deutsche Staatsbürger.“ (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-01/silvester-gewalt-jens-spahn) Von einem besonders hohen migrantischen Anteil an den Angriffen auf Polizist:innen kann also keine Rede sein.

Doch das kümmert nicht weiter. Schließlich geht es bei der aktuellen politischen Diskussion um die Silvesternacht nicht um Fakten, sondern um rassistische Stimmungsmache. Die Verschärfung bestehender Gesetze, die geradezu obligatorische Forderung nach rascherer und härterer Aburteilung der Täter:innen bildet dabei nur einen Teilaspekt.

Nicht minder wichtig ist es, den Verweis auf gesellschaftliche Ursachen der Ausschreitungen und auf den staatlichen Rassismus selbst zu diskreditieren. Beispielhaft dafür schlussfolgert ein Kommentar der FAZ:

„Der Gipfel der Relativierung ist erreicht, wenn nicht die Minderheit der Kriminellen, sondern ‚die Gesellschaft’ verantwortlich gemacht wird. Geht es um Migranten, soll das wohl heißen: Staat und Polizei sind selbst schuld, weil sie nicht genug Willkommenskultur gezeigt haben. Das eigentliche Übel beginnt aber in dem Augenblick, in dem politisch nicht wichtig genommen wird, was im Leben ganzer Stadtteile nicht wichtiger sein könnte. ( …  )

Kriminelle Jugendliche, die ‚ihren’ Kiez in Geiselhaft nehmen, rückt man weder mit Wattebäuschchen noch mit der Schweigespirale zu Leibe. Nichts feuert Respektlosigkeit in diesen Milieus mehr an als ein Opfer, das selbst keine Selbstachtung ausstrahlt. Selbstvertrauen, Durchsetzungsfähigkeit und Stärke zeigen Staat und Parteien aber viel zu wenig. Die Innen- ist in diesem Punkt ein Spiegel der Außenpolitik.“

Hier werden die Verhältnisse im Kiez noch einmal auf den Kopf gestellt, ganz so als würden Menschen, die sich als Billigjobber:innen oder Arbeitslose durchs Leben schlagen müssen, hierzulande mit „Wattebäuschchen“ angefasst. Dafür ereifert sich der FAZ-Autor schon über die Vorstellung, dass Staat und Polizei irgendwie für ihr Handeln, für eine rassistische Migrationspolitik und deren Umsetzung verantwortlich sein sollten. Die Schuldumkehr, die die FAZ beklagt, nimmt sie in Wirklichkeit selbst vor, indem in guter alter konservativer Manier gefordert wird, dass endlich Schluss sein müsse mit der Relativierung von Gewaltausbrüchen, die Migrant:innen und/oder Linksradikalen zugeschrieben werden.

Der Staat wird so zum „Opfer“, das endlich mehr „Selbstachtung“ an den Tag legen müsse, mehr Selbstvertrauen, Durchsetzungsvermögen, Stärke – mit anderen Worten mehr Willkür, und das nicht nur im Inland, sondern auch auf der ganzen Welt. Dort gibt es schließlich noch mehr „kriminelle Ausländer:innen“, die dem deutschen Imperialismus nicht den nötigen Respekt entgegenbringen.

Ohnmacht von Rot-Grün-Rot und das Böllerverbot

SPD und Grüne, aber im Grunde auch die Linkspartei stellen sich natürlich auch hinter „unsere Polizei“. Allzu offenen Rassismus der Marke CDU und Co. wollen sie aber auch nicht an den Tag legen. Daher folgen die üblichen Forderungen nach mehr Überwachung und verbesserter Ausrüstung der Polizei durch SPD und Grüne. Die Berliner Regierende Bürgermeisterin Giffey will außerdem auch einen „runden Tisch“ zur Kriminalitätsbekämpfung einberufen. Die Berliner Linkspartei hält sich mit total einseitiger Polizeilobhudelei etwas zurück.

Dafür setzen SPD, Grüne und Linkspartei umso euphorischer auf die Wunderwaffe „Böllerverbot“. Campact hat nach der „Nacht des Grauens“ auch einen Onlineappell für das Verbot gestartet.

Sicherlich lässt sich über Sinn und Unsinn von Feuerwerken und Böller streiten. Unbestreitbar gehören sie aber auch zu der Neujahrsfeier für breite Teile der Bevölkerung. Die Forderung nach einem Totalverbot trifft nicht nur diese Menschen und gängelt sie noch mehr. Sie zieht auch die Forderung nach Stärkung der polizeilichen Befugnisse und zur Vergrößerung des Personals zur Durchsetzung eines solchen Verbotes nach sich. Sie läuft also, ob gewollt oder nicht, auf eine Stärkung des Gewaltmonopols des bürgerlichen Staates hinaus.

Gegen unverantwortlichen und gefährlichen Umgang mit Feuerwerkskörpern und Böllern braucht es in Wirklichkeit keine Polizei – schließlich provoziert die Präsenz der sog. Sicherheitskräfte oft gerade jene Ausschreitungen, die sie angeblich verhindern soll. Statt der Polizei könnten von der Wohnbevölkerung selbst organisierte Selbstschutzgruppen, die von den verschiedenen Communities getragen werden, dafür sorgen, dass alle friedlich und ohne Polizei feiern können.

Der Ruf nach dem Böllerverbot stärkt hingegen die bürgerliche Polizei. Er erweist sich vor allem als völlig hilflos angesichts der rassistischen Hetze. Lahm fordern zwar Campact und Vertreter:innen von SPD, Grünen und Linkspartei ihre bürgerliche und offen rassistische Konkurrenz dazu auf, die Silvesterausschreitungen nicht zu rassistisch „aufzuladen“ oder zu „missbrauchen“. Doch dieser Appell erweist sich als wirkungslos, wenn die Ursache dieser ohnmächtigen Ausbrüche der Wut nicht thematisiert wird, wenn der Zusammenhang zwischen Zusammenstößen mit der Polizei, Rassismus, Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft und Perspektivlosigkeit der Jugend selbst nicht in den Blick genommen wird.

Dies ist jedoch für die reformistischen und linksbürgerlichen Parteien schlechthin unmöglich. Schließlich haben sie selbst jene Politik mitzuverantworten, die Millionen rassistisch diskriminiert, die die Zahl der von Armut bedrohten Menschen in Deutschland auf 13 Millionen steigen ließ. Wer über Jahre der Immobilienlobby zuarbeitet, deren Enteignung bekämpft, den Billiglohnsektor ausweitet, hat auch keine Antworten, die Lage von Millionen in Armutsvierteln zu verbessern. Der ruft allenfalls nach dem Placebo Böllerverbot. Im Kampf gegen Rassismus, Armut und kapitalistische Ausbeutung brauchen wir keine Placeboparteien, wir brauchen Kampforgane und eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, so dass anstelle der Wut, der Verzweiflung der Kampf der Unterdrückten treten kann.

Diesen Artikel vom 05.01.23 haben wir von Martin Suchanek von der Gruppe ArbeiterInnenmacht gespiegelt.




Antislawischer Rassismus: Geschichte und Perspektiven

Von Sani Meier

In aktuellen Debatten um Rassismus wird dieser häufig als Phänomen beschreiben, welches People of Color abwertet, unterdrückt und ausbeutet. Dass diese Definition in vielen Fällen zwar zutrifft, aber dennoch, vor allem in Europa, nicht ausreicht, soll dieser Artikel herleiten. Es geht im Folgenden um die Geschichte und die Merkmale des Antislawischen Rassismus in Deutschland, welcher bis heute nicht aufgearbeitet oder anerkannt wird und im Zuge des Krieges um die Ukraine erneuten Aufschwung erfährt.

Um wen geht es eigentlich?

In Europa bilden die sogenannten „slawischen Völker“ die zahlenmäßig größte Gruppe von Ethnien. Dazu zählen die ostslawischen Staaten Russland, die Ukraine und Belarus, die westslawischen Staaten Polen, Tschechien und die Slowakei und die südslawischen Staaten Bulgarien, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien und Montenegro. Zusätzlich leben bis heute große slawische Minderheiten in den ehemals zur Sowjetunion gehörigen Staaten Litauen, Lettland, Estland, Kasachstan und Moldau. In Deutschland machen Menschen aus Osteuropa die Hälfte aller Menschen mit Migrationshintergrund aus. Ihre rassistische Unterdrückung wird als antiosteuropäischer / antislawischer Rassismus oder Antislawismus bezeichnet und äußert sich durch abwertende Zuschreibungen zum geografischen Raum Osteuropas und seinen (ehemaligen) Bewohner_Innen. Damit einhergehend kommen unter anderem eine wirtschaftliche Benachteiligung, verstärkte Ausbeutung, Vertreibung, Ausgrenzung und andere Gewalterfahrungen.

Geschichte des antislawischen Rassismus:

Die Zeugnisse für die Existenz von antislawischem Rassismus in Deutschland reichen zurück bis ins Mittelalter. Da Slawen zu dieser Zeit in den Gebieten des heutigen deutschen Ostens lebten, wurden sie immer wieder Opfer germanischer Raubzüge und Kriege. Die Versklavung, Unterwerfung und Vertreibung der slawischen Stämme stellte eine Haupteinnahmequelle für die Ritter dar und ist auch heute noch in der Ähnlichkeit der Worte (Slawe/Sklave) sichtbar.

Im Deutschen Kaiserreich wird diese Tradition durch die kolonialen Interessen Deutschlands in Osteuropa wiederbelebt und der Erste Weltkrieg soll den uneingeschränkten Zugriff auf slawische Arbeitskräfte sichern. Da solch brutale und menschenverachtende Pläne immer nach einer vermeintlichen Legitimierung fordern, blühen die rassistischen, pseudo-wissenschaftlichen Diskurse im 19. Jahrhundert besonders auf und konstruieren die Slawen als eigene „Rasse“, die gegenüber den Deutschen abgewertet wird. Besonders eindrücklich wird dies durch die Etablierung des Begriffs des „slawischen Untermenschen“. Dass diese Form des Rassismus auch oft Hand in Hand mit anderen Unterdrückungsformen wie dem Antisemitismus und dem Antiziganismus (Diskriminierung von Sinti*ze und Rom*nja) geht, zeigt sich an stigmatisierenden Begriffen wie dem des „Ostjuden“.

Obwohl der Erste Weltkrieg für Deutschland scheitert, lebt der Traum vom „Deutschen Osten“ im Nationalsozialismus weiter und erreicht im Vernichtungskrieg seinen negativen Höhepunkt. Ideologisch wird der slawischen Bevölkerung durch das NS-Regime die Rolle minderwertiger Sklaven zugewiesen und deren Genozid zur Bedingung einer erfolgreichen Expansionspolitik erklärt. Die ohnehin als „Untermenschen“ betrachteten Menschen seien der nationalsozialistischen Ideologie gemäß durch den Bolschewismus zu „zurückgebliebenen Tieren“ mutiert. Der faschistische Vernichtungskrieg wurde in kolonialer Manier zur „Zivilisierungsmission“ verklärt. Die Blockade Leningrads, bei welcher über eine Millionen Menschen erfroren und verhungerten, weil die Deutschen sie für „unnötige Esser“ hielten, stellt nur eine von vielen Gräueltaten gegenüber der slawischen Bevölkerung dar. Auch in der Ukraine vernichteten die deutschen Besatzer ganze Dörfer. Nachdem die Rote Armee die Faschist_innen jedoch erfolgreich zurückschlug und zurück nach Westen drängte, wurde das Stereotyp der „feigen Halbtiere“ durch die „asiatischen wilden Horden“, die über das arme Deutschland herfallen, ausgetauscht.

Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs wird der Rassismus gegenüber Osteuropäer_Innen weder aufgearbeitet und entschädigt, noch bekämpft und bekommt in Zeiten des Kalten Krieges im Antikommunismus ein neues Gewand. Zuwander_Innen aus dem Osten Europas werden massiv abgewertet und das Stereotyp der „wilden und invasiven Horden“ bleibt bestehen: Immer noch begegnen uns die Vorurteile von angeblich „klauenden Polen“, „saufenden Russen“ oder „arbeitsscheuen Bulgaren“. Diese Formen der rassistischen Abwertung legitimierten Gesetze, die die Einreise nach Deutschland massiv erschwerten, sowie berufliche Dequalifizierungen, durch welche Osteuropäer_Innen in der deutschen Arbeitshierarchie weit nach unten gedrängt wurden. Bis heute sind sie am stärksten in Branchen wie der Lagerlogistik, der Fleischindustrie, der Landwirtschaft und als Reinigungs- oder Pflegekräfte tätig, welche am rücksichtslosesten von deutschen Kapitalist_Innen ausgebeutet werden. Hinzu kommen Diskriminierung und Ausgrenzung aufgrund von Sprache, Akzent oder kulturellen Traditionen, welche vor allem russischsprachige Menschen seit Beginn des Ukrainekrieges verstärkt zu spüren bekommen. Obwohl der russische Angriffskrieg klar zu verurteilen ist, werden nun alle Menschen, die man (oft fälschlicherweise) für Russ_Innen hält, für diesen verantwortlich gemacht. Russische Restaurants und Geschäfte werden mit Drohungen überhäuft und mitunter auch angegriffen. Menschen, die Russisch sprechen werden beleidigt. Schüler_Innen berichteten uns davon, in der Schule mit Fragen wie „Und wie sehen deine Eltern das eigentlich?“ konfrontiert zu sein und sind einem konstanten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Damit wird auch implizit die Erwartung ausgedrückt, alle Russ_Innen wären zwangsläufig Unterstützer_Innen Putins, was die Einbeziehung dieser Menschen in den Widerstand gegen den Krieg verhindert und Schüler_Innen in ihrem Alltag unnötig unter Druck setzt und zu sozialer Ausgrenzung führen kann.

Also doch Rassismus gegen Weiße?

Aber Moment mal: Das heißt also, es gibt doch Rassismus gegen weiße Menschen? Die Aussage, dass es diesen nicht geben könne, wird meistens dann getroffen, wenn Phänomene, die eindeutig keine strukturelle rassistische Unterdrückung darstellen, als solche betitelt werden. Zum Beispiel, wenn Linke sich gegen das Zelebrieren von Nationalstolz während der Fußball-WM aussprechen oder wenn in den USA im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung gefordert wird, dass weiße Menschen sich in dieser zurücknehmen sollen, um Betroffenen Raum für den Ausdruck ihrer Erfahrungen zu geben. In diesen Fällen liegt natürlich eindeutig kein Rassismus gegen Deutsche oder weiße US-Amerikaner_Innen vor- aber dennoch ist die Analyse von Rassismus, als einer Unterdrückungsform, die zwangsläufig und primär aufgrund einer dunkleren Hautfarbe oder anderen äußerlichen Merkmalen ausgeübt wird, ungenügend.

Rassismus ist ein soziales Phänomen, welches von der besitzenden Klasse eingesetzt wird, um bestimmte Arbeiter_Innen möglichst effizient ausbeuten zu können- dies kann über biologische Merkmale legitimiert werden, muss es aber nicht zwangsläufig. In Bezug auf Osteuropäer_Innen wird dies vor allem durch die Zuschreibung eines niedrigeren sozialen Status gemacht und nicht durch die Hautfarbe. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass der Kapitalismus auf dem Streben nach maximalem Profit und internationaler Konkurrenz beruht: Kapitalist_Innen sind also darauf angewiesen, möglichst kostengünstig zu produzieren, um ihre Gewinne zu steigern. Ein sehr effizienter Weg ist dabei die Einsparung von Lohnkosten, welche sich am besten rechtfertigen lässt, indem die Arbeitskraft bestimmter Menschen dequalifiziert wird. Dass diese Ungleichbehandlung als „natürlich“ angesehen werden kann, wird durch die Einteilung der Welt in Nationalstaaten und die Konkurrenz zwischen diesen erleichtert. Hierarchisierung und Ausbeutung erscheint in diesem Zuge als notwendig und legitim und verhindert zusätzlich eine effektive Solidarisierung innerhalb der weltweiten Arbeiter_Innenklasse gegen die Kapitalist_Innen. Letztendlich kann Rassismus prinzipiell jede Gruppe treffen, die im Kapitalismus zu einer anderen Gruppe in ökonomischer Konkurrenz steht. Wie flexibel und wandelbar die Darstellung bestimmter Nationen in den deutschen Medien ist, zeigt sich momentan am Beispiel der Ukraine: Während Ukrainer_Innen über Jahrzehnte hinweg den Stereotyp der billigen Reinigungskraft, Feldarbeiter_In, Bauarbeiter_In oder Sexarbeiter_In verkörpern mussten, sind sie nun innerhalb weniger Wochen zu heroischen Freiheitskämpfer_Innen der Demokratie im Osten Europas geworden. Dass dieser Wandel zeitgleich mit einem gesteigerten Interesse des deutschen Imperialismus an der ukrainischen Wirtschaft und deren geopolitischer Lage von statten geht, ist kein Zufall, sondern Taktik.

Als Revolutionär_Innen ist es unsere Aufgabe, die Rolle des Rassismus innerhalb des Kapitalismus aufzuzeigen und zu benennen: Er ist eines der Werkzeuge, welches die Kapitalist_Innen einsetzen, um möglichst effizient auszubeuten und eine gemeinsame Organisierung der Arbeiter_Innen und der Jugend zu verhindern. Doch davon dürfen wir uns nicht blenden lassen: Die Aufteilung der Welt in Nationalstaaten und die ihnen zugeschriebenen Attribute sind weder natürlich, noch notwendig und unsere Solidarität muss sich in all unseren Kämpfen über sie hinwegsetzen. Sei es im Widerstand gegen die rassistische und mörderische Politik an den europäischen Außengrenzen oder im Kampf gegen den Krieg in der Ukraine und überall sonst auf der Welt. Auch die russische Arbeiter_Innenklasse muss sich dazu gegen ihre nationalistische Führung erheben und in die weltweiten Kämpfe dagegen einbezogen werden!

  • Weder Putin, noch NATO! Für eine internationale Antikriegsbewegung der Arbeiter_Innen und Jugend!
  • Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!
  • Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter_innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Festgenommen!
  • Kein Mensch ist illegal! Staatsbürger_Innenrechte & Zugang zu Sozialleistungen für alle!
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Gegen die Überausbeutung migrantisierter Arbeiter_Innen und für die Integrierung dieser in Gewerkschaften und Streiks!
  • Für die lückenlose Aufklärung der Verbrechen des Nationalsozialismus an Osteuropäer_Innen, Sinti*ze und Rom*nja!



Soziale Proteste müssen internationalistisch sein!

Gemeinsame Stellungnahme von REVOLUTION, Gruppe ArbeiterInnenmacht, SDAJ, DKP, MLPD, Zora, Internationale Jugend und Handala zu dem Angriff auf palästinensische Genoss:innen in Leipzig

Was ist passiert?

Am 15.10.22 organisierte das Bündnis „Jetzt reicht’s!“ eine Demonstration gegen die Teuerungen. Gemeinsam als Internationale Jugend, Solidaritätsnetzwerk, ZORA, Revolution, GAM und der palästinensischen Gruppe Handala organisierten wir hierfür einen klassenkämpferischen Block. Dem Aufruf folgten einige Palästinenser:innen, die die Krisenpolitik in Deutschland mit Antikriegspositionen, internationaler Solidarität und dem eigenen Kampf gegen die Unterdrückung durch den Staat Israel verbanden. Auf einem Pappschild wurde das Ende der Besatzung palästinensischer Gebiete gefordert und die Landkarte in den Farben Palästinas gezeigt.

Daraufhin wurde der klassenkämpferische Block umzingelt, bedrängt und mit der Parole: „Kannibalismus gehört zu unsern Riten – esst mehr Antisemiten!“ beschallt, was mit palästinasolidarischen Parolen beantwortet wurde. Aufgrund der zunehmend aggressiver werdenden Stimmung, stellte sich der Block schützend um „Handala“ auf. Anschließend erschienen auch mehrere Polizist:innen, wohl von den Ordner:innen gerufen. Nach kurzer Zeit und einigen Diskussionen schnitt Handala die Landkarte aus der Pappe heraus und hielt das angepasste Schild nach oben, inzwischen konform mit dem „Demokonsens“. Juliane Nagel (Die Linke) reichte das allerdings nicht aus. „Verpisst euch!“, „Ich hol die Polizei!“, „Ihr nutzt meine Strukturen aus!“ waren nur einige der von ihr getroffenen Aussagen. Unsere Kommunikationspersonen verhielten sich jederzeit deeskalierend und gingen nicht weiter auf die Aussagen ein.
Dabei blieb es jedoch nicht. Juliane Nagel drang in den Block ein, schubste Genoss:innen zur Seite und entriss dem palästinensischen Genossen gewaltsam die Pappe, mit dem Ziel diese zu zerstören. Teilnehmer:innen des Blocks wurde außerdem aggressiv und aus nächster Nähe eine Handykamera vors Gesicht gehalten. Auf die Bitte, das zu unterlassen, argumentierte einer der filmenden Personen, Marco Dos Santos, lediglich mit der „Pressefreiheit“, die dieses Verhalten rechtfertigen würde. Letztlich konnten wir durchsetzen, alle gemeinsam, auch mit unseren palästinensischen Freund:innen, einen sichtbaren und lautstarken Block auf der Demo zu bilden und gemeinsam gegen Krieg und Krise zu kämpfen.

Das Argument mit dem Demokonsens

Auf der Demonstration gab es den Demokonsens, dass keine Nationalfahnen gezeigt werden dürfen. Palästina ist jedoch, genauso wie Rojava, kein Staat, was einen qualitativen Unterschied bedeutet. Es ist ein Unterschied, ob man die Fahne kapitalistischer Unterdrückerstaaten zeigt oder die Fahnen von nationalen Freiheitsbewegungen wie in Rojava oder Palästina. Außerdem ist es nicht verhältnismäßig, einen Demokonsens wegen einer kleinen Pappe mit solchen aggressiven Maßnahmen durchzusetzen. Trotzdem wurden die palästinensischen Farben von unseren Genoss:innen zur Deeskalation aus der Pappe herausgeschnitten. Und siehe da: es wurde weiter aggressiv und gewaltsam gegen uns vorgegangen. Der Demokonsens war also nur ein vorgeschobenes Argument. Es ging ganz offensichtlich um etwas anderes: Migrantische, israelkritische Stimmen sollten zum Schweigen gebracht und sozialer Protest von internationalen Kämpfen künstlich getrennt werden.

„Das Thema hat hier nichts zu suchen!“

Wer internationale Kämpfe, Antikriegskämpfe, antirassistische Kämpfe und antikoloniale Kämpfe von sozialen Protesten „im eigenen Land“ trennt, hat es offensichtlich nicht geschafft, die Wirtschaftskrise in einen globalen Kontext zu setzen. Krise und Krieg hängen unweigerlich miteinander zusammen und gehören zum kleinen Einmaleins einer linken Analyse, die über die eigenen Staatsgrenzen hinaus reicht. Das ist genau das, was uns von reaktionären Kräften unterscheidet, die mit ihrem Nationalismus die Arbeiter:innenbewegung spalten möchten. „Internationalismus“ bedeutet das Kontextualisieren und Verbinden von verschiedenen globalen Kämpfen der Ausgebeuteten und Unterdrückten!

Gerade linke Gruppen sind es doch, die Mantra mäßig fordern, die Kämpfe gegen den Kapitalismus zu verbinden und vor allem auch marginalisierte Gruppen miteinzubeziehen! Die Geschehnisse von Samstag beweisen allerdings: Manche Organisationen und Personen haben wohl keinerlei Interesse an bestimmten internationalistischen und migrantischen Perspektiven in ihrem Aktivismus. Der palästinensische Befreiungskampf wird kategorisch ausgeschlossen und zusätzlich als „Antisemitismus“ diffamiert. Dadurch werden zum einen migrantische Stimmen unterdrückt und zum anderen die Bewegung gespalten und geschwächt. Das nützt alleine der Rechten und dem Kapital!

Anstatt sich also darüber zu freuen, dass Palästinenser:innen Teil der Bewegung gegen die Krise in Deutschland sein möchten, wird unterstellt, dass das Thema „Palästina/Israel“ keinen Bezug zu dem Motto der Demonstration gehabt hätte. Dabei sind es gerade die Länder des globalen Südens, die durch die Ausbeutung und Unterdrückung durch imperialistische Staaten, wie z.B. Deutschland, von der aktuellen Krise in viel schlimmerem Ausmaß getroffen werden. Sie haben jedes Recht dagegen aufzubegehren, auch und gerade in Deutschland. Die Gruppe „Handala“ hat auf ihrer Instagramseite eine genauere Ausführung dazu, was ihr Kampf mit den sozialen Protesten auch in Deutschland zu tun hat.

Der Kampf der Palästinenser:innen und die fehlende Solidarität deutscher Linker

Dass deutsche Linke von palästinensischen Symboliken bis hin zur äussersten Aggressivität getriggert werden, ist ein bekanntes Muster und überrascht uns nicht. Dennoch müssen wir die Heuchelei offenlegen, die die Ereignisse von vergangenem Samstag zeigen. Die Heuchelei einer deutschen Linken, die am laufenden Band die internationale Solidarität mit Befreiungskämpfen verrät und diffamiert, wenn sie nicht in die eigenen Vorstellungen passen. Denn die internationalen Kämpfe im Iran, in Rojava und in Palästina hängen zusammen und lassen sich nicht von den sozialen Kämpfen in Deutschland isolieren. Während erstere Kämpfe von diesen Gruppen ohne Vorbehalt unterstützt werden, ignorieren sie bewusst die Besetzung und Unterdrückung Palästinas.

Wir stehen zum palästinensischen Befreiungskampf!

Für uns internationalistische und antikapitalistische Gruppen in Leipzig ist dieser Angriff auf unsere palästinensischen Freund:innen nicht akzeptabel! Wir werden auch in Zukunft solidarisch mit der palästinensischen Befreiungsbewegung bleiben und dafür sorgen, dass deren Kampf in Leipzig weiterhin präsent ist und mit dem Kampf gegen die Krise des Kapitalismus verbunden wird. Alle Kräfte, die den ernsthaften Anspruch haben internationalistische Politik zu praktizieren, rufen wir dazu auf, sich mit den angegriffenen Menschen zu solidarisieren und Stellung zu dem Vorfall zu beziehen!




Die Wohnungsfrage in Zeiten von Krieg und Rassismus

Aus: „Was hat der Krieg eigentlich mit mir zu tun?“

Gastbeitrag von Resa Ludvin

Du wohnst in Berlin, München oder Köln und hast massive Probleme, eine bezahlbare Bleibe zu finden? Da bist du nicht die*der Einzige und das ist nichts Neues. Der angespannte Wohnungsmarkt trifft in besonderen Maße Menschen mit geringem Einkommen, tatsächlichem oder vermeintlichen Migrationshintergrund (ja, Name und Hautfarbe bestimmen wesentlich über Zu- und Absage) und Alter. In all diesen Gruppen werden Flinta (das steht für Frauen*Lesben*Inter*Non-Binary*Trans*Agender) nochmal extra benachteiligt.

Jetzt ist Krieg und Tausende flüchten täglich aus der Ukraine nach Polen, Rumänien oder Deutschland. Sie alle brauchen ein Dach über dem Kopf. Sie brauchen eine menschenwürdige Unterbringung – sprich nicht nur ein Feldbett in einer Turnhalle oder Sammelunterkunft, sondern einen sicheren, bedarfsorientierten Rückzugsort, Internet, eine Ansprechperson für medizinische, aufenthaltsrechtliche Fragen und und und. Und je nachdem wie lange der Krieg geht, braucht es nicht nur kurzfristige Lösungen. Private Unterbringung, die es derzeit überall gibt, ist zwar eine ehrenwerte Geste der Solidarität, bedeutet aber auch Verantwortung. Nicht allen scheint klar, dass es keine „Wochenendgäste“ sind. Zumindest mehrere Wochen muss man damit planen, das jetzt zur Verfügung gestellte Bett oder Zimmer zu vergeben. Die Alternative für die Menschen heißt sonst Geflüchtetenunterkunft oder Schlimmeres. Je länger der Krieg dauert und je mehr Menschen aufgenommen werden, desto schlechter wird auch die Unterbringung sein. Bereits jetzt machen sich das die „Spanner“ und Menschenhändler_Innen zu Nutze, die an den großen Umsteigebahnhöfen warten und angeblich Wohnraum anbieten. Verzweifelte Frauen und Mütter gehen ihnen aufgrund nicht vorhandener Alternativen auf den Leim. Ihnen droht Gewalt und Ausbeutung. Wieder einmal zeigt sich hier die besondere Verbindung von Geschlecht und Krieg. Schon nach kurzer Zeit sind viele Wohngebiete unbewohnbar geworden, Familienangehörige gefallen. Ein längerer Aufenthalt der Menschen, ob gewollt oder ungewollt, wird daher immer wahrscheinlicher. Dafür braucht es Wohnraum. Nur ist der, gerade in Großstädten, angeblich knapp. Bezahlbar ist er auch nicht.

Teile und Herrsche

Rassismus auf dem Wohnungsmarkt ist allgegenwärtig. Der Nährboden ist auch ohne Krieg da, weil hier unterschiedliche diskriminierte Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Rassismus trifft Klassismus, am Ende freuen sich die profitorientierten Vermieter_Innen. Und Geflüchtete befinden sich sehr weit unten in der Nahrungskette. Nun besteht die Gefahr, dass selbst diese noch in „die Guten“ und „die Schlechten“ auseinanderdividiert werden. Weiße, europäische Geflüchtete stünden in dieser Hierarchie vor jenen, die auch aus der Ukraine geflüchtet sind, aber beispielsweise aus Afrika stammen und sich zum Studieren im Land aufhielten. Dann folgen erst die Geflüchteten aus anderen Ländern, die bereits hier in Unterkünften leben. In Berlin geht unter Helfer_Innenstrukturen das Gerücht herum, dass diese zu Gunsten der ukrainischen Geflüchteten die Unterkünfte verlassen müssten. Wenn das stimmt, hieße das für die Betroffenen eine dramatische Verschlechterung bis hin zur Obdachlosigkeit. Flucht ist allgegenwärtig. Während es in Europa eine Solidarität mit der Ukraine gibt- weiß und nah dran- gibt es überall auf der Welt andere Konflikte und unhaltbare Lebenssituationen, die Menschen zum Flüchten zwingen. Dabei geht das Sterben im Mittelmeer weiter. Diese Menschen stehen ganz unten.

Immer da, wo es von dem einen zu viel und von dem anderen zu wenig gibt, entstehen Konflikte. In diesem Fall Menschen, die Wohnraum suchen. Diese Menschen gegeneinander auszuspielen, beschleunigt die kapitalistische Wirtschaft und unterdrückt die Vereinigung dagegen. Die Ausgrenzungsmechanismen heißen Rassismus, Sexismus und Klassismus. Eine neue rassistische Welle, die sich gegen russischsprachige Menschen richtet, hat bereits begonnen. Menschen werden auf der Straße oder am Arbeitsplatz angefeindet. In Berlin gab es sogar einen Brandanschlag auf eine russisch-deutsche Schule. Je länger der Krieg dauert und je mehr Geflüchtete kommen, desto mehr wird sich dies ausbreiten. Erst wird es sich gegenüber Geflüchteten aus anderen Regionen der Welt richten, die dann unerwünscht sind. Letzten Endes besteht aber auch die Gefahr, dass er sich gegen Ukrainer*innen richten wird. Gegen „zu viele“ die kämen. Gegen andere politische, kulturelle oder religiöse Vorstellungen. Gegen Männer, die angeblich kämpfen müssten. Gerade das ist ein beliebtes Narrativ von Rechten und Reaktionären, die im gleichen Atemzug stolz auf militärische Wehrfähigkeit und Standhaftigkeit sowie auf ihre Vorväter (höchstwahrscheinlich dann auch Nazis) sind, die das zerstörte Land „alleine aufgebaut hätten“.

Die Krisen verstärken sich

Zurück zu Rassismus auf dem Wohnungsmarkt und die Auswirkungen des Krieges: In einer Stadt wie Berlin gibt es viel Leerstand, da mit Wohnraum spekuliert oder er zweckentfremdet wird. Der Kampf um ihn hat bereits begonnen. Der Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage wird zum angeblich „unausweichlichen“ Vorwand, um den Preis in die Höhe und den Rassismus weiter voranzutreiben. Auch jetzt gibt es Hausverwaltungen, die offen sagen „Hier nicht mit Kopftuch“ oder „schwarze Menschen wollen wir hier nicht“. Obwohl das verboten ist, helfen hier weder Anzeigen noch Gerichte. Menschen werden aus ihnen Wohnungen parallel dazu herausgeklagt, zwangsgeräumt. Das trifft nicht nur linke Hausprojekte, sondern auch viele Menschen, deren Häuser verkauft oder saniert wurden. Wiederum sorgt das dafür, dass es Menschen mit geringerem Einkommen noch schwieriger haben, etwas Neues in der Stadt zu finden. Sie werden an den Stadtrand oder darüber hinaus verdrängt. Zur Unterbringung der Menschen aus der Ukraine werden gerade vom Staat sowie der Privatwirtschaft ungewöhnliche Objekte wie Hotels in der Stadt aktiviert. Die vertriebenen Mieter_Innen fragen sich dann zu Recht: „Und warum habt ihr einen Scheiß für mich getan?“. Der Mechanismus des Rassismus‘ greift. Die gebeutelte Arbeiter_Innenklasse wird dann von „bürgerlichen Helfer_Innen“ als zu wenig solidarisch und allgemein als rassistisch dargestellt. Ein gefundenes Fressen für rechte Strukturen. Vergessen wird dabei, dass die deutsche Arbeiter_Innenklasse keine rein weiße Gruppe ist. In Berlin sind die Kiezkämpfe um Wohnraum geprägt von der migrantischen Linken, die Hand in Hand über rassistische Deutungsmuster hinausgehen. Wo Rassismus ist, muss man ihn benennen und bekämpfen. Wir als Revolutionär*innen greifen hier im Besonderen die materielle Grundlage an und versuchen die Kämpfe der Menschen zu verbinden.

Die Besetzung in der Habersaathstraße in Berlin Ende 2021 hat gezeigt, nur wer kämpft kann auch siegen, anstatt sich jetzt Seit‘ an Seit‘ mit der Regierung zu stellen. Die im Bund rüstet auf und liefert Waffen, die lokale Regierung -zumindest in Berlin- hat es die ersten zwei Wochen nicht mal geschafft, Essen für die Ankömmlinge am Hauptbahnhof zu organisieren. In dem Haus in Berlin Mitte konnten nun ehemalige Obdachlose einziehen. Das ist der Spirit der Stunde. Es braucht nicht nur langfristig mehr Wohnungsbau, sondern auch kurzfristig Enteignung und Besetzung, um die vielen Menschen ohne Bleibe in der Stadt unterzubringen- unabhängig vom Aufenthaltstitel, Hautfarbe, Name, Religion oder Geldbeutel. Wohnen ist ein Grundrecht! Das geht nur wenn wir unsere Kämpfe und Kräfte verbinden. Daher fordern wir:

  • Eine Einheitsfront der Linken gegen Krieg und Rassismus!
  • Enteignung und Nutzbarmachung sämtlichen leerstehenden Wohnraums!
  • Entschädigungslose Enteignung der Wohnungskonzerne!
  • Staatlich geregelte Wohnungsvergabe statt spekulierender Privatwirtschaft!
  • Bezahlbaren Wohnraum für alle!
  • Gegen Rassismus, immer und überall!
  • Lasst uns unsere Kämpfe verbinden und gemeinsam die soziale Frage angehen!



Wie kommt die Refugeebewegung aus der Defensive?

Dilara Lorin (REVOLUTION, Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland)

August 2021: Die Aktivistin Napuli Langa sitzt seit zwei Tagen auf einem Ahornbaum auf dem Kreuzberger Oranienplatz. Auf den Plakaten sind Slogans zu lesen wie „Rechte für Geflüchtete sind Menschenrechte“ und „Luftbrücke für afghanische Geflüchtete“. Sie protestiert für deren Rechte. Ebenso will sie mit ihrer Besetzung an die vergangenen Proteste erinnern. Schließlich ist sie sowas wie ein Urgestein der Bewegung. Doch die 30 Unterstützer_Innen, die sich am Fuße des Baumes versammeln, wirken gleichzeitig wie ein schwaches Echo der Vergangenheit und werfen ungewollt die Frage auf: Was ist passiert?

Keine Verbesserung der Lage

Ende 2020 waren laut „Global Trends Report“ des UNHCR (UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge) 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Zahl steigt jedoch kontinuierlich an und es ist keine Besserung in Sicht. So ist im November veröffentlichten „Mid-Year-Trends 2021“ von mehr als 84 Million die Rede. Von diesen sind rund 50 % Frauen und Mädchen. Sie verlassen die Heimat oft mit einer doppelten Bürde auf ihren Schultern. Denn es sind mehrheitlich Frauen, die mit Kindern und älteren Familienmitgliedern fliehen und auf den Fluchtrouten mehr Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind. Angekommen in Lagern oder Notunterkünften sieht es nicht besser aus.

All das sind keine Neuigkeiten. Dennoch scheint die Situation an den Außengrenzen der Europäischen Union fast vergessen und in den Medien nicht präsent zu sein. Ausgenommen, es finden größere Katastrophen statt wie der Brand in Moria 2020. Die traurige Realität ist, dass es nicht im Interesse der herrschenden Klasse liegt, diese Menschen vor den Gefahren auf den Fluchtrouten zu schützen. Dafür sprechen die Deals der EU mit der Türkei oder Libyen, die versuchen, die Flüchtenden an deren Außengrenzen aufzuhalten und sie in den Lagern der Länder verrecken zu lassen.

Die Linke in Europa hat es nicht geschafft, in den letzten 10 Jahren eine Perspektive für diese Menschen zu entwerfen und gemeinsam Verbesserungen zu erkämpfen. Das heißt nicht, dass es immer so bleiben muss. Doch bevor wir uns der Frage widmen, wie wir die Situation ändern können, müssen wir einen kurzen Blick auf die Vergangenheit werfen.

Kurzer Rückblick auf die antirassistische Bewegung in Deutschland

Der Suizid eines Flüchtenden 2012 in Würzburg brachte viel ins Rollen wie den Marsch der Geflüchteten nach Würzburg. Es folgten zahlreiche Hungerstreiks wie der von 95 Betroffenen in München 2013 und Besetzungen wie die des DGB-Hauses Berlin-Brandenburg 2014. Am bekanntesten ist wohl heute noch das Camp auf dem Berliner Oranienplatz, welches vom 6. Oktober 2012 bis 8. April 2014 existierte. Im Zuge dessen entwickelten sich viele Supporter_Innenstrukturen. Doch deren lokale Isolation erschwerte eine dauerhafte Arbeit. Es folgten zahlreiche Antifa-Vollversammlungen, Krisenmeetings und letzten Endes bildeten sich nach zwei Jahren bundesweit verschiedene Bündnisse: „Jugend gegen Rassismus“, „Aufstehen gegen Rassismus“, „Nationalismus ist keine Alternative“, „Welcome2Stay“ und „Fluchtursachen bekämpfen“. Dies erfolgte zwischen Ende 2014 und Anfang 2015 als Mittel gegen das Aufkommen der wöchentlichen Pegida-Proteste (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). Doch der verhinderbare Aufstieg der AfD ging weiter. Antirassistische Proteste wurden kleiner, kratzten nicht mal an der Zahl von 10.000 Teilnehmer_Innen. Besetzungen wurden geräumt und die Zahl der Angriffe auf Geflüchtete stieg weiter. Bei den Wahlen hatten SPD und DIE LINKE fast überall Stimmen verloren. Es wurden stetig verschärfte Asylgesetze verabschiedet.

An Aktionen mangelte es nicht. Doch die Strategie der Bewegung hat nicht dazu geführt, den Rechtsruck in Deutschland zu stoppen oder auf europäischer Ebene einen koordinierten Protest zusammen mit Geflüchteten zu initiieren. Vielmehr mündete die Bewegung in einer Niederlage. Es bleiben vereinzelte Seenotretter_Innen, die wagemutig und auf eigene Faust Menschenleben retten, und NGOs, die vor Ort an den Grenzen versuchen, das Leid ein bisschen zu lindern, ab und zu große Aktionen, wenn es brennt, wie in Moria. Sie zeigen, dass Potenzial für eine antirassistische Bewegung existiert und bleiben doch ein Zeichen der Schwäche, da sie so schnell wie sie spontan entflammen, auch wieder verschwinden.

Wie kann sich das ändern?

So muss es nicht bleiben – die wohl einzige, tröstliche Erkenntnis. Doch dazu muss man auch aus den Fehlern der Vergangenheit lernen:

1. Raus aus der Defensive!
Es reicht nicht, nur immer wieder Angriffe abzuwehren. Wenn ein Protest Erfolg haben und nachhaltig die Situation von Geflüchteten verbessern soll, dann müssen auch konkrete Verbesserungen erkämpft werden. Das heißt konkret, dass wir nicht nur dafür kämpfen müssen, dass Seenotrettung kein Verbrechen ist und wir gegen Abschiebungen eintreten, sondern auch für offene Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für alle, damit Geflüchtete nicht ewig in Lagern leiden müssen oder als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Dabei muss anerkannt werden, dass es keine gesellschaftliche Polarisierung bezüglich der Antirassismusfrage gibt, sondern einen deutlichen Rechtsruck.

2. Keine Zugeständnisse, Schluss mit dem Opportunismus!

Schluss mit dem Opportunismus der Gewerkschaften! Es ist eines der Schlüsselelemente von Solidarität, dass der DGB Geflüchtete als Mitglieder aufnimmt und nicht wie in der Vergangenheit vor Angst, dass eine klare antirassistische Positionierung Mitglieder kosten kann, davor kneift. Das führt dazu, dass Unterdrückte gegeneinander ausgespielt werden und hängt mit der Ideologie der „Standortsicherung“ zusammen. Dabei sorgt die Aufnahme von Geflüchteten in die Gewerkschaften dafür, dass diese in Kämpfe vor Ort eingebunden werden können – auch wenn sie nicht arbeiten dürfen. Der Angst, dass noch mehr Mitglieder abzuspringen, muss man entgegenhalten, dass die aktive Organisierung von Kämpfen um die soziale Frage dem Abhilfe schaffen kann. Dafür müssen der DGB und seine Einzelgewerkschaften Forderungen aufstellen wie nach bezahlbarem Wohnraum oder Mindestlohn für alle. Allerdings darf man auch nicht der Illusion verfallen, dass es nur ausreicht, die „sozialen Fragen“ zu betonen. Diese Forderungen müssen konsequent mit Antirassismus verbunden werden, denn nur in praktischen Kämpfen kann man den sich etablierenden Rassismus anfangen zu beseitigen. Sonst vergisst man, dass Rassismus spaltet, kann ihn also schlechter bekämpfen.

3. Schluss mit „Jeder kämpft für sich allein“!

Wenn wir effektiv antirassistischen Widerstand aufbauen wollen, dann dürfen wir uns nicht spalten lassen. Weder von zunehmendem Rassismus noch Sektierertum der Linken oder der fadenscheinigen Überzeugung, dass Geflüchtete, Jugendliche, Parteien und Autonome jeweils ihr eigenes kleines Bündnissüppchen kochen sollen. Wir brauchen zwischen allen von ihnen und den größeren Organisationen der Arbeiter_Innenklasse zusammen mit denen der Geflüchteten eine Einheit in der Aktion. Dabei reichen nicht nur einzelne, große Mobilisierungen aus. Diese Events gab es bereits in der Vergangenheit und haben wenig gebracht. Deswegen ist es zentral, im Zuge der Proteste Verankerung vor Ort an Schulen, Unis und in Betrieben aufzubauen. Dies kann durch Aktionskomitees entstehen, die mobilisieren, indem sie beispielsweise Rassismus thematisieren und über Forderungen der Bewegung mitentscheiden.

4. Aktuelle Kämpfe verbinden!

Die antirassistische Bewegung hierzulande ist also derzeit geschwächt, fast gar nicht mehr existent. Deswegen dürfen wir nicht einfach auf die nächste Katastrophe warten, sondern müssen in den vorhandenen Kämpfen wie der Umweltbewegung oder dem um Wohnraum (Deutsche Wohnen & Co. enteignen) für klare, antirassistische Positionen auftreten. So ist die Umweltzerstörung einer der häufigsten Fluchtursachen. Bei der Enteignung von Wohnraum ist es zentral, auch für die Abschaffung von Geflüchtetenunterkünften einzustehen und für die dezentrale Unterbringung in eigenen Wohnungen. Wichtig ist v. a. die Forderung nach offenen Grenzen. Dabei ist es wichtig, dass solche Forderungen, falls angenommen, nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben, sondern auch praktische Mobilisierungen darum erfolgen.

5. Der Kampf ist international!

Mit Deals zwischen unterschiedlichen Ländern oder gemeinsamen „Initiativen“ wie Frontex versuchen vor allem imperialistische Länder, sich die Probleme der Geflüchteten vom Leib zu halten. Um Festungen wie die Europas erfolgreich einzureißen, bedarf es mehr als einer Bewegung in einem Land. Deswegen müssen wir das Ziel verfolgen, gemeinsame Forderungen und Aktionen über die nationalen Grenzen hinaus aufzustellen. Nicht nur um mehr Druck aufzubauen, sondern auch aus dem Verständnis heraus, dass Flucht ein Problem ist, welches erst durch die Ausbeutung der halbkolonialen durch die imperialistischen Länder so virulent wird.




Leipzig: Rassistischer Angriff auf Moschee

Wenn vermeintliche Linke muslimische Gebetshäuser angreifen…

Dilara Lorin / Lukas Müller, 14. Dezember 2021

Am Abend des 13.12. gab es von Seiten der autonomen / antideutschen Szene in Leipzig eine unangemeldete Demonstration mit ca. 100 Personen auf der Eisenbahnstraße. Mit Parolen und Pyrotechnik zog die Menge durch die Straße und beschädigte dabei laut Bullen parkende Autos und zündete Müllcontainer an. Anlass war offenbar der „ACAB-Tag“. Soweit so normal für diese Strömung.

Grundsätzlich ist es gut und wichtig, auf die Straße zu gehen und auf den unterdrückerischen Charakter und die rassistischen Strukturen der Polizei aufmerksam zu machen – gerade auf der und um die Eisenbahnstraße, wo besonders viele Menschen mit Migrationshintergrund leben. Dass man dabei, statt Transparente zu zeigen und Flugblätter an AnwohnerInnen zu verteilen, lieber vor der Haustür der Menschen randaliert, ist selbst schon eine politisch fragwürdige Sache. Unerträglich und ekelhaft wird es aber, wenn dabei angebliche „Linke“ Gebetsräume von muslimischen Menschen zum Ziel erklären und mit Steinen angreifen.

Die Moschee selbst gehört zur Diyanet Isler Türk Islam Birligi (DITIB), eine Organisation, die kritisiert werden muss, da die DITIP im engen Kontakt zur Erdogan-Regierung steht und die Führungen der Moscheen selbst das Regime sowie dessen Losungen unterstützen und auch verbreiten. Nichtsdestotrotz ist es ein Raum für viele Muslime und Muslima aus der Umgebung, die sonst keine andere Möglichkeit haben, in ihrer Nähe beten zu gehen. Viele von ihnen sind Geflüchtete aus Syrien oder anderen Ländern. Solche Räumlichkeiten anzugreifen während antimuslimische Hetze in jede Ritze der Gesellschaft salonfähig geworden ist, ist nicht nur falsch, sondern bedeutet auch das Geschäft der RassistInnen und FaschistInnen zu betreiben: Angst und Verunsicherung unter migrantischen Menschen zu verbreiten und die Gesellschaft anhand kultureller bzw. religiöser Linien zu spalten.

Während der NSU-Komplex, die Morde von Hanau und Halle, an Oury Jalloh, Amad Ahmad oder Giorgos Zantiotis noch immer nicht vollständig aufgeklärt sind, Angehörige, aber vor allem auch migrantische Gruppen um Gerechtigkeit und überhaupt um Gehör kämpfen müssen, gehen Antideutsche in Leipzig während einer Demonstration los und bewerfen eine Moschee mit Steinen und zertrümmern Fensterscheiben. Noch mal zur Klarstellung: An einem Tag, wo man um die Aufklärung der unzähligen Morde und gegen die Verstrickungen des Staates darin kämpfen sollte – und zwar Seite an Seite mit migrantischen Menschen! –  gehen vermeintliche „Linke“ in einer migrantisch geprägten Straße randalieren und greifen das Gebetshaus derjenigen an, die in Leipzig aber auch in Deutschland am meisten von Polizeigewalt, Racial Profiling etc. betroffen sind!

Einmal mehr haben sie unterstrichen, dass Antideutsche, auch wenn sie sich teilweise innerhalb der Linken bewegen, auf der anderen Seite der Barrikade stehen. Bundesweit fallen sie durch immer schärfere Stimmungsmache gegen arabische und muslimische Menschen auf. Viele ihrer Positionen sind von denen der AfD und anderen rechten Organisationen kaum zu unterscheiden. In den Augen extremer antideutsche Gruppen (siehe z.B.: http://raccoons.blogsport.de/2016/06/16/das-problem-heisst-islam/) ist jeder Mensch muslimischen Glaubens ein potentieller islamistischer Terrorist oder Anhänger Erdogans gegen den es die „westliche Zivilisation“ zu verteidigen gilt. Diese Aktion muss daher als das verurteilt werden, was sie ist: Ein antimuslimischer und somit rassistischer Angriff.




Fluchtursache: Klimawandel

Von Emilia Sommer

Spätestens seit dem Beginn von
FridaysForFuture und einer dadurch ausgelösten riesigen
Umweltbewegung sind die Gefahren des Klimawandels in aller Munde.
Während der globale Westen mit Maßnahmen wie Mülltrennung,
Bioprodukten, Plastikvermeidung, der Umstellung des individuellen
Konsums und großen Greenwashing-Kampagnen reagiert, sind die Folgen
der massiven Umweltzerstörung durch Großkonzerne im globalen Süden
schon jetzt spürbar. Durch ausgetrocknete Felder,
(Trink)wasserknappheit und massive Umweltkatastrophen, welche ganze
Landstriche unbewohnbar machten, mussten 2020 schon 26 Millionen
Menschen aufgrund klimatischer Veränderungen flüchten. Bis 2050
sind 200 Millionen Geflüchtete des menschengemachten Klimawandels
prognostiziert. Doch was genau verbindet Flucht, Klima und Rassismus?

Der Kapitalismus ist der Ursprung
dieser Problematiken, denn ein kapitalistisches System handelt
prinzipiell im Interesse der Wirtschaft und des Profits, nicht im
Interesse der Natur oder gar des Menschen. Um den Kapitalismus zu
erhalten, müssen immer mehr Profite generiert werden, um Kapital zu
vermehren, zu investieren und im internationalen Konkurrenzkampf zu
bestehen. Dafür werden nicht nur Arbeiter_Innen, sondern auch die
Natur und deren Ressourcen massiv ausgebeutet. Spätestens seitdem
sich einige kapitalistische Staaten wie unter anderem Deutschland
oder die USA zu imperialistischen Systemen weiterentwickelt haben,
beuten sie nicht nur innerhalb ihrer territorialen Gebiete aus,
sondern weiten dies vor allem auf den globalen Süden aus. Zwar gilt
der Kolonialismus schon seit einiger Zeit offiziell als beendet und
Staaten, die in der Vergangenheit Kolonien waren, sind formal
unabhängig, doch auch heute noch sind sie vor allem wirtschaftlich
extrem abhängig von imperialistischen Staaten, weswegen wir diese
Halbkolonien nennen.

Viele Imperialist_Innen haben ihre
Warenproduktion in Halbkolonien ausgelagert. Dies führt zum einen
dazu, dass die natürlichen Ressourcen wie Wasser und andere
Naturalien ohne Blick auf mögliche Folgen ausgeschöpft werden,
während die dortige Bevölkerung keinerlei Nutzen davonträgt. Zum
anderen werden vor allem diese halbkolonialen Staaten daran
gehindert, eine eigene Produktion und damit einhergehend eine eigene
Wirtschaft zu stemmen, welche sie unabhängig von
„Entwicklungshilfen“ und Co handlungs- und bestandsfähig machen
würde. Ihnen fehlt es schon jetzt an finanziellen Mitteln, um sich
vor Naturkatastrophen zu schützen und die Folgen derer abzufangen.
Betrachtet man nun Konzerne wie Nestlé, welcher nur eines von vielen
Beispielen ist, der durch Privatisierung des Wassers in vielen
Ländern Afrikas zu massiver Trinkwasserknappheit geführt hat, so
wird schnell klar, dass die Ressourcen der Halbkolonien für die
Versorgung imperialistischer Länder drauf gehen, ohne dass diese
Staaten selbstständig in der Lage sind, ausreichend Lebensgrundlage
für die dort lebende Bevölkerung zu schaffen.

Imperialist_Innen ziehen Nutzen aus den
viel günstigeren Produktionsbedingungen, den nicht-vorhandenen oder
liberaleren Umweltschutzgesetzen und der prekären Situationen der
Menschen vor Ort. Diese sind meist auf extrem unterbezahlte Jobs in
miserablen Arbeitsbedingungen angewiesen, wodurch Kapitalist_Innen
günstiger produzieren können, somit günstiger verkaufen bei
weniger Ausgaben (Löhne der Arbeiter_Innen), mehr Gewinne generieren
und damit dem Konkurrenzkampf standhalten und diesen weiter anfeuern.
Nur 63 Unternehmen verursachen 50 Prozent der weltweiten Emissionen.
Wenige zerstören also mit der Ausbeutung von Mensch und Natur die
Lebensgrundlage vieler. Kleinbäuer_Innen können die
ausgetrockneten Felder nicht mehr ausreichend bestellen, das
Trinkwasser reicht nicht aus und Naturkatastrophen machen immer mehr
Gebiete unbewohnbar, sodass ihnen irgendwann nur noch die Flucht als
letzter Ausweg bleibt.

Nachdem die Imperialist_Innen also
zuerst die Lebensgrundlage vieler Menschen durch ihre rassistische
Ausbeutung zerstört haben, reagiert die EU mit einer immer stärkeren
Abschottungspolitik an ihren Außengrenzen und geht für ihren Profit
buchstäblich über Leichen. Bereits in den ersten vier Monaten
dieses Jahres sind schätzungsweise 600 Menschen im Mittelmeer durch
unterlassene Seenotrettung ertrunken. Der Klimawandel und die damit
verbundene Notwendigkeit der Flucht können nicht innerhalb des
kapitalistischen Systems beendet werden, denn der Kapitalismus fußt
auf dem Konzept des freien Marktes, der Profitmaximierung und dem
oben genannte Konkurrenzkampf. Ohne all dies könnte er sich nicht
erhalten. Er muss also überwunden werden, um die Klimakatastrophe
abzuwenden und Fluchtursachen effektiv zu bekämpfen. Deshalb ist es
wichtig, die globalen Kämpfe gegen Umweltzerstörung, Krieg,
Abschiebung, Rassismus und Kapitalismus zu verbinden, denn so
unterschiedlich sie auch scheinen, sie alle haben ihren Ursprung im
kapitalistischen System. Doch dieser wird sich nicht von allein
überwinden, es braucht eine starke antikapitalistische Bewegung der
Arbeiter_Innen und der Jugend mit folgenden Forderungen:

  • Staatliche Investition in
    umweltfreundliche Technologien, Recycling und CO2-Neutralität,
    kontrolliert durch Selbstorganisationen der Arbeiter_Innenklasse wie
    Räte oder Gewerkschaften! Die Ziele des Pariser Klimaabkommens sind
    nicht ausreichend, sollten aber mindestens eingehalten werden!

  • Bezahlung aller Kosten für diese
    Maßnahmen durch Besteuerung der Kapitalist_Innen und Reichen!
  • Internationale Organisierung des
    Widerstands gegen die Umwelt- und Geflüchtetenpolitik der
    kapitalistischen Regierungen!
  • Fluchtursachen bekämpfen! Schluss
    mit der Ausbeutung von Halbkolonien! Imperialistische Staaten sollen
    für die Schäden bezahlen, die sie verursachen!
  • Offene Grenzen,
    Staatsbürger_Innenrechte für alle und sichere Fluchtrouten
    überall. Flucht ist kein Verbrechen!



Das Corona-Virus und die Gesundheitskrise in den USA

Rebecca Anderson. Red Flag, Großbritannien, Fight!
Revolutionäre Frauenzeitung, März 2021

Das Corona-Virus hat sich unkontrolliert in allen fünfzig
Bundesstaaten ausgebreitet und Millionen von Infektionen und
Hunderttausende vermeidbarer Todesfälle verursacht. Von der
Untergrabung der öffentlichen Gesundheitsberatung über die
Verzögerung von Konjunkturpaketen bei gleichzeitiger Rettung des
Großkapitals bis hin zu verspäteten Lockdowns – die politische
Reaktion auf das Virus war katastrophal. Sogar die Einführung des
Impfstoffs in dem Land, das einen der wichtigsten herstellt, ist
schmerzlich langsam verlaufen. Die letzte Bastion gegen die Pandemie
– das Gesundheitssystem, das sich um die schlimmsten Fälle
kümmert, wo das Krankenhauspersonal unermüdlich daran arbeitet,
schwerkranke Patienten zu retten – hat ebenfalls den Test der
Pandemie nicht bestanden. Covid-19 hat die strukturelle Krise eines
lückenhaften Gesundheitssystems offengelegt, das eher auf Profit als
auf menschliche Bedürfnisse ausgerichtet ist.

Die Partei Democratic Socialists of America (Demokratische
Sozialist_Innen Amerikas; DSA) führt seit 2016 eine Kampagne namens
„Medicare for All“, ein Vorschlag, der von den Gewerkschaften
nicht aufgegriffen wurde. Dies liegt zum einen daran, dass ihre
bürokratischen Führungen kein Interesse an einer solchen Kampagne
haben. Zum anderen bietet Medicare vielen Arbeiter_Innen weniger
Gesundheitsschutz als ihre bestehende Versicherung. Als
Revolutionär_Innen in der DSA glauben wir, dass die DSA stattdessen
die Forderung nach einer universellen Gesundheitsversorgung für alle
aufstellen und die Gewerkschaftsbasis mobilisieren sollte, um
innerhalb der Gewerkschaften für diese Politik zu kämpfen.

Das Gesundheitssystem im reichsten Land der Welt

Das US-Gesundheitssystem ist versicherungsbasiert und selbst dort,
wo der Staat über Programme wie Medicare oder Medicaid die
Gesundheitsversorgung finanziert, wird der eigentliche Anbieter
(z. B. ein Krankenhaus) in der Regel von einem privaten
Unternehmen betrieben. Die Kosten für den Verzicht auf ein
geplantes, flächendeckendes System von Krankenhäusern und
Arztpraxen zugunsten der Finanzierung der Gewinne privater Anbieter
lassen sich beziffern: Pro Person kostet die medizinische Versorgung
in den USA 11.000 US-Dollar, mehr als doppelt so viel wie in anderen
Industrieländern.

Von diesen durchschnittlichen Ausgaben sind 4.993 US-Dollar
öffentliche Gelder. Das ist höher als in Frankreich (4.111
US-Dollar), aber niedriger als in Deutschland (5.056 US-Dollar). Das
Vereinigte Königreich, wo die Gesundheitsversorgung im
Behandlungsfall kostenlos ist, gibt pro Kopf 3.107 US-Dollar aus. In
den USA bedeuten die überdurchschnittlich hohen Ausgaben für die
Gesundheitsversorgung jedoch nicht eine bessere, sondern lediglich
eine teurere Versorgung. Einige Krankenhäuser und Kliniken sind
staatlich, aber die meisten befinden sich in privater Hand. Die
meiste Zeit werden die Ausgaben für die Gesundheit der Bürger_Innen
an private Unternehmen gezahlt.

Die staatlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen in den USA
decken den medizinischen Bedarf der meisten Menschen nicht ab,
weshalb private Krankenversicherungen einen riesigen Wirtschaftszweig
ausmachen. Eine solche private Krankenversicherung kostet
durchschnittlich 4.092 US-Dollar pro Person und Jahr. Für einige
Arbeit„nehmer“_Innen wird diese von den Arbeit„geber“_Innen
bezahlt – im Wesentlichen ein Abzug vom Lohn –, andere müssen
sie entweder selbst bezahlen oder darauf verzichten.

Selbst mit einer Krankenversicherung ist die Gesundheitsversorgung
bei weitem nicht kostenlos. Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen
bedeuten, dass diejenigen mit einer Versicherung es sich immer noch
zweimal überlegen müssen, ob sie eine/n Ärztin/Arzt aufsuchen.
Viele Menschen mit geringem Einkommen sind unterversichert, was
bedeutet, dass ihre Versicherung keine angemessene
Gesundheitsversorgung abdeckt.

Versicherungen schützen außerdem nicht vor den Kosten von
chronischen Langzeiterkrankungen. Die Prämien steigen oder
Versicherungen lassen teure, also kranke, Versicherungsnehmer_Innen
fallen. Eine Studie aus dem Jahr 2009 ergab, dass Schulden für
medizinische Kosten zu 46 Prozent aller Privatinsolvenzen beitragen.

Das U.S. Census Bureau (Volkszählungsbehörde) berichtete 2017,
dass fast neun Prozent der Amerikaner_Innen keine Versicherung haben.
Diese Zahl war in den Vorjahren höher, aber mit der Einführung des
„Affordable Care Act“ (ACA) 2010 begann die Zahl der
Unversicherten ab 2014 zu sinken. Diese 28 Millionen Menschen ohne
Krankenversicherung zahlen entweder aus eigener Tasche für die
Behandlung (die durchschnittlichen jährlichen Kosten pro Person
liegen bei 1.122 US-Dollar) oder müssen warten, bis ihre Notlage so
dramatisch ist, damit sie Zugang zu kostenloser Gesundheitsversorgung
von geringer Qualität erhalten. Das Fehlen einer Krankenversicherung
verursacht etwa 60.000 vermeidbare Todesfälle pro Jahr.

ACA, allgemein bekannt als „Obamacare“, sorgte im Wesentlichen
für eine gewisse Regulierung des Krankenversicherungsmarktes, indem
es Versicherungsgesellschaften zwang, Menschen mit Vorerkrankungen
aufzunehmen und grundlegende medizinische Bedürfnisse abzudecken. Es
halbierte die Zahl der nicht versicherten Menschen und verlangsamte
die steigenden Kosten der Gesundheitsversorgung. Trotz des enormen
politischen Widerstands gegen den ACA wurde jedoch nur an den Rändern
eines kaputten Systems herumgebastelt und viele Amerikaner_Innen sind
immer noch unterversichert, gar nicht versichert oder haben Schulden
wegen medizinischer Behandlungen.

Joe Biden plant, weiter zu basteln und 25 Millionen unversicherte
Amerikaner_Innen zu versichern, allerdings nicht die 6,5 Millionen
undokumentierten Migrant_Innen, die sich im Land aufhalten. Er würde
4 Millionen in Armut lebende Menschen, deren Bundesstaaten sich
geweigert haben, ihnen Medicaid anzubieten, automatisch anmelden. Für
andere würden mehr Versicherungsoptionen zur Verfügung gestellt
werden über das marktwirtschaftlich ausgerichtete Obamacare. Bidens
Pläne greifen jedoch nicht in die von den Unternehmer_Innen
gestellte Versicherung ein, so dass die 150 Millionen Menschen, die
ihre Versicherung darüber erhalten, nicht von der neuen Regelung
profitieren würden.

In Amerika sind die Preise für Arzneimittel eine weitere große
Belastung, da sie weit höher sind als in anderen Industrieländern.
Ein 10-ml-Fläschchen Insulin kostet in den USA 450 US-Dollar im
Vergleich zu nur 21 US-Dollar jenseits der Grenze in Kanada. Im Jahr
2015 riskierten fast 5 Millionen Amerikaner_Innen eine Strafanzeige,
um verschreibungspflichtige Medikamente aus anderen Ländern zu
kaufen.

Die Corona-Krise

Das Corona-Virus hat die US-Regierung gezwungen, direkt mit den
großen Pharmakonzernen zu verhandeln, um genügend Impfstoffe zu
einem ausreichend niedrigen Preis zu erhalten und damit ein
landesweites Impfprogramm zu starten. Der Impfstoff selbst ist
kostenlos, allerdings dürfen die Anbieter_Innen weiterhin Gebühren
für die Verabreichung erheben.

Bei dem Impfprogramm geht es um Prävention, um die
Wiedereröffnung von Schulen und die Rettung der Wirtschaft. Die
Regierung hat ein offensichtliches Interesse daran, die Impfung von
über 300 Millionen Menschen zu zentralisieren und sozialisieren.

In ähnlicher Weise hat das Corona-Virus die Regierung gezwungen,
einzugreifen und die Schulden der Krankenhauspatient_Innen zu
begrenzen und die Infizierten zu ermutigen, sich behandeln zu lassen,
anstatt das Risiko der Verbreitung des Virus einzugehen, indem sie
sich selbst zu Hause behandeln. Ende Januar befanden sich über
120.000 Corona-Virus-Patient_Innen in US-Krankenhäusern und die
durchschnittlichen Kosten für ihre Behandlung betrugen 30.000
US-Dollar bzw. 62.000 US-Dollar für Personen über sechzig Jahre.
Als das Ausmaß der Pandemie deutlich wurde, wurde eine Reihe von
Hilfspaketen auf Bundesebene verabschiedet, die die Kosten für die
Behandlung weitgehend abdeckten. Das Gesundheitssystem ist jedoch
immer noch ein Marktplatz und einige Krankenhäuser und andere
Gesundheitsdienstleister haben sich entschieden, nicht an den
Hilfsprogrammen teilzunehmen. Einige Patient_Innen fanden sich immer
noch mit hohen Rechnungen konfrontiert.

Mehr als 25 Millionen Fälle wurden registriert und die Zahl der
Todesfälle hat die 400.000-Marke überschritten, wobei kaum Zweifel
daran bestehen, dass mindestens eine halbe Million Amerikaner_Innen
an dieser Pandemie sterben werden. Es wird auch geschätzt, dass eine
von fünf Personen, die sich mit dem Virus infizieren, später an
„Long Covid“ leiden wird, einer chronischen Krankheit mit
unterschiedlichen Symptomen und Schweregraden. Viele, die an dieser
Krankheit leiden, können auf Grund der ständigen Müdigkeit nicht
mehr arbeiten. Einige haben bleibende Schäden an Herz, Lunge oder
Gehirn davongetragen. Die Frage, wer die Kosten für die fortlaufende
Behandlung von Patient_Innen mit „Long Covid“ übernimmt, ist
besorgniserregend für die Millionen von Amerikaner_Innen, die durch
die Krankheit ihren Arbeitsplatz und damit jede Versicherung
verlieren könnten.

Das Corona-Virus hat das Versagen des US-Gesundheitssystems
entlarvt. Die Anarchie des Marktes war nicht in der Lage, mit den
Herausforderungen der Pandemie fertigzuwerden, so dass sogar die
marktwirtschaftliche, für einen schlanken Staat stehende
republikanische Partei gezwungen war, einzugreifen und die
Verantwortung für das Impfprogramm zu übernehmen sowie Bundeshilfe
für die Krankenhauspatient_Innen bereitzustellen.

Die von Biden vorgeschlagene Erweiterung des ACA oder auch
Sanders‘ „Medicare for all“ gehen nicht weit genug. Das Geld,
das in den USA bereits für die Gesundheitsversorgung ausgegeben
wird, würde ausreichen, um einen nationalen Gesundheitsdienst zu
schaffen, der für alle, auch für Migrant_Innen ohne Papiere,
kostenlos ist. Im Gegensatz zum bestehenden Versicherungssystem
könnte die universelle Gesundheitsversorgung durch die Besteuerung
der Milliardär_Innen und Multimillionär_Innen finanziert werden,
die von der Pandemie profitiert haben.

Doch zwischen den Amerikaner_Innen und einer kostenlosen,
qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung stehen mächtige
Gesundheitsanbieter_Innen, die den Markt unter sich aufgeteilt haben
und sowohl bei den staatlichen als auch bei den privaten
Gesundheitsprogrammen einen massiven Gewinn abschöpfen. Auch die
Pharmaindustrie hat sich daran gewöhnt, den Gesundheitsmarkt in den
USA auszunutzen und weitaus mehr für ihre Produkte zu verlangen.

Der Kampf um kostenlose Gesundheitsversorgung

Die DSA setzt sich seit 2016 für „Medicare for All“ ein,
d. h. für ein Gesundheitssystem mit einer einzigen Kasse, in
das alle US-Bürger_Innen automatisch aufgenommen würden. Dies wäre
zwar ein großer Fortschritt für den Zugang zur
Gesundheitsversorgung und deren Kosten in den USA, würde aber die
Gesundheitsversorgung und das Eigentum an Arzneimitteln immer noch in
privaten Händen belassen. Es fehlt auch die Unterstützung durch die
Gewerkschaften, da viele von den Gewerkschaften ausgehandelte
unternehmensfinanzierte Versicherungen besser als „Medicare“
sind, wenn auch natürlich teurer. Die DSA muss über „Medicare for
All“ hinausgehen und ein System der universellen
Gesundheitsversorgung vorschlagen. Die Unterstützung der
Gewerkschaften kann gewonnen werden, indem zunächst die einfachen
Gewerkschaftsmitglieder davon überzeugt werden, die diese Argumente
in die Gewerkschaftsbewegung tragen können.

Während die Demokrat_Innen unter dem Druck ihrer Basis begrenzte
Reformen wie das ACA verabschiedet haben, haben sie bewiesen, dass
sie nicht gewillt sind, die Gesundheitsversorgung den privaten Händen
zu entreißen. Die Republikaner_Innen haben sich vehement gegen eine
Regulierung und Einmischung in den Gesundheitsmarkt gewehrt und
wettern trotz des Corona-Virus, das sie im Extremfall zum Eingreifen
zwingt, weiterhin ideologisch gegen eine sozialisierte
Gesundheitsversorgung. Auf keine der beiden Parteien kann man sich
verlassen, wenn es darum geht, ein Gesundheitssystem im Interesse der
Arbeiter_Innenklasse zu schaffen oder zu verwalten.

Bidens Vorschläge zur Ausweitung der Versicherung auf weitere 25
Millionen Amerikaner_Innen sind zwar eine sehr begrenzte Reform,
werden aber auf den Widerstand der Republikaner_Innen, der
Versicherungslobbys und großer Teile der Medien stoßen. Die
Horrorgeschichten, die in der Opposition zu „Obamacare“
kursierten, werden wieder auftauchen. Es wird enormen Druck auf die
Regierung geben, die Gesundheitsreform zu verwässern oder zu
verzögern. Daher müssen die Sozialist_Innen auch von links Druck
aufbauen, um sicherzustellen, dass die neuen Gesetze verabschiedet
werden, während sie gleichzeitig darauf hinweisen, dass sie nicht
weit genug gehen und weiter reichende Änderungen vorschlagen.

Jeder ernsthafte Plan zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens
würde die Enteignung der privaten medizinischen und pharmazeutischen
Unternehmen erfordern. Die Krankenhäuser wurden mit den hart
verdienten Dollars der amerikanischen Arbeiter_Innenklasse gebaut und
zwangen diejenigen, die nicht zahlen konnten, in den Bankrott. Die
Forschungs- und Entwicklungskosten von Medikamenten wurden durch die
erpresserischen Gebühren der großen Pharmakonzerne um ein
Vielfaches bezahlt. Dennoch sind sie bereit, Menschen an Diabetes und
HIV/AIDS sterben zu lassen, anstatt ihre Gewinne sinken zu sehen. Den
Unternehmen, die von Krankheit profitieren, steht keine Entschädigung
zu. Ihre Patente sollten widerrufen und Sachwerte wie Labore und
Krankenhäuser in einem öffentlichen Gesundheitsdienst verstaatlicht
werden.

Wenn ein solcher Dienst durch Kampf errungen würde, wäre er bei
den Demokrat_Innen und Republikaner_Innen nicht sicher, aber die
Ärzt_Innen, Pfleger_Innen und anderen Mitarbeiter_Innen des
Gesundheitswesens, die während der gesamten Pandemie ihr Leben
riskiert haben, um ihre Patient_Innen zu versorgen, wissen, was es
bedeutet, für menschliche Bedürfnisse und nicht für private
Eigeninteressen zu sorgen. Ein verstaatlichter Gesundheitsdienst,
kostenlos für alle, finanziert durch die Besteuerung der Reichen und
betrieben von den Patient_Innen und dem Gesundheitspersonal, lautet
die Antwort auf Amerikas Gesundheitskrise.