Q&A: Täterschutz in der radikalen Linken – Was tun, um das zu verhindern?

Von Leonie Schmidt

Ob in Berlin, Leipzig oder Karlsruhe, ob in der kommunistischen Parteijugend, der lokalen roten K-Gruppe oder im Anarcho Freundeskreis, ja selbst in der Linkspartei: Innerhalb der (radikalen) Linken kommt es immer wieder zu patriarchaler Gewalt (psychisch, physisch und sexualisierter Gewalt, zumeist ausgeübt durch cis Männer). Dabei flammen dann auch die Diskussionen über den Umgang damit auf und so wurden wir nun im Q&A gefragt, wie man mit solchen Taten umgehen sollte. Das soll dieser Text etwas konkreter beantworten, auch um einen Debattenbeitrag zu liefern. Denn in den meisten Fällen zeigt sich, dass linksradikale Strukturen keine allgemein festgelegte Vorgehensweise haben, um diese Fälle aufzuarbeiten, nicht transparent mit den eigenen Genoss_Innen darüber kommunizieren, oder die Anschuldigungen gar nicht erst ernst nehmen. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass der stabile Genosse wirklich zum Täter werden kann, vor allem wenn es (vermeintlich) keine Anzeichen dafür gab. Und so bleibt den Betroffenen (meist nach einem gescheiterten Aufarbeitungsversuch) nichts anderes übrig, als die Strukturen zu verlassen und Demos sowie Hotspots der Linken Szene zu meiden, während die Täter unbekümmert weiter Politik machen dürfen und bestenfalls sogar noch auf feministische Demos, wie z.B. den Tag gegen patriarchale Gewalt 2022 in Leipzig, geschleppt werden. Das darf aber nicht so sein, vor allem wenn wir uns als Kommunist_Innen sonst auf die Fahne schreiben, gegen Sexismus in all seinen Ausführungen zu sein. Wir als REVOLUTION haben daher eine Strategie ausgearbeitet, wie wir intern mit Tätervorwürfen umgehen. Diese wollen wir im Folgenden darstellen.

Disclaimer: Unsere jetzige Position haben wir über die letzten Jahre kontinuierlich erarbeitet. Sie ist das Ergebnis von Debatten über Definitionsmacht, sowie praktischen Erfahrungen im Umgang mit sexuellen Grenzüberschreitungen in unserer eigenen Organisation, bei denen sich auch betroffene Genossinnen mit Kritik beteiligt haben. Dabei wollen wir ehrlich sein: Wir haben bei diesen Prozessen auch Fehler gemacht und wir glauben nicht, dass unser Umgang perfekt ist. Unser Ziel ist es gewesen, einen demokratischen Umgang zu finden. Das bedeutet auch, dass wir nicht allen Bedürfnissen aller Betroffenen nachkommen können.

Warum gibt es überhaupt patriarchale Gewalt in linken Strukturen?

Wir sind alle ein Produkt unserer Umwelt. Somit hat das allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein, was patriarchal geprägt ist, Auswirkungen auf uns und unser Verhalten, auch wenn wir uns entscheiden, uns politisch zu organisieren. Die gesamtgesellschaftliche Frauenunterdrückung, basierend auf dem Idealbild der bürgerlichen Familie, unbezahlter Reproduktionsarbeit und sexistischer Stereotypen, sorgt dafür, dass Frauen als weniger Wert angesehen werden, während Männer die Starken sein sollen, die sich einfach nehmen, was sie wollen. Sprüche wie „Wenn Frauen nein sagen, meinen sie eigentlich ja“ verstärken das Bild der Frau, die alles über sich ergehen lässt, während der Mann für Grenzüberschreitung sogar noch gesellschaftlich belohnt wird. Dies wird in Filmen und Märchen ständig vermittelt, dass „richtige Männer“ immer ganz genau wissen, was sie wollen und was auch das Gegenüber vermeintlich will. Eine fehlende Auseinandersetzung mit Konsens-Konzepten in Erziehung oder während des Sexualkundeunterrichts tut ihr übriges, denn wenn man nicht lernt, über Konsens zu kommunizieren, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Übergriffigkeiten kommt, ziemlich hoch. Kurzum: Die bürgerliche Gesellschaft sozialisiert uns mit unterdrückerischem Verhalten und deswegen ist auch Niemand von uns „frei“ davon.

Prävention ist das A und O

Das führt uns dazu, dass es nicht reicht, erst zu handeln, wenn etwas passiert ist. Daher haben wir als Organisation verschiedenen Ansätze zur Prävention. Diese können zwar Übergriffigkeiten nicht komplett verhindern, aber zumindest dafür sorgen, dass wir uns kollektiv mit unseren Machtpositionen und Verhaltensweisen auseinandersetzen. Die SDAJ hat kürzlich in ihrem „Statement zum Vorwurf des Täterschutzes“ geschrieben, dass jede Person sich mit der eigenen geschlechtlichen Rolle auseinandersetzen muss. Das mag letzten Endes richtig sein, aber es scheint, als wäre es allen selber überlassen, als gäbe es keine Kontrolle oder gemeinsame Diskussion darüber. Wir haben den Ansatz, dass wir mehrmals jährlich für cis Männer verpflichtende Reflexionstreffen anbieten. Natürlich hat dieses Konzept auch seine Grenzen. Reflexion alleine kann keine lebenslang gelernten Verhaltensmuster beenden. Gleichzeitig ist es aber ein Mittel, sich die eigene Sozialisierung und die Auswirkungen dessen ins Bewusstsein zu rufen und mit Anderen in den offenen Austausch zu treten, sowie zu lernen, beispielsweise über das eigene Redeverhalten oder die eigene Sexualität zu reden. Außerdem ist es möglich, dass Frauen, LGBTIA-Personen und anderen gesellschaftlich unterdrückten Gruppen einen Caucus einberufen können, in welchem über Unterdrückungsmechanismen und Vorfälle innerhalb der Organisation diskutiert werden kann. Diese  Caucuse sind nur Personen der jeweiligen sozialen Unterdrückung betretbar. Wir wollen damit unterdrückten Gruppen einen Raum geben, um unter sich zu diskutieren und Missstände zu besprechen. Sie können sowohl organisatorische, politische als auch analytische Vorschläge an die Leitung machen und ihre Anliegen als Kollektiv in die Organisation tragen, während wir alle gemeinsam organisiert sind. Außerdem muss jede Person, die bei uns Mitglied werden möchte, ein Konsensgespräch führen, bei welchem wir unser Konsensprinzip „Nur ja heißt Ja!“ vorstellen und es auch eine Möglichkeit zur Reflexion gibt.

Wir wollen an dieser Stelle nicht so idealistisch sein und annehmen, dass es deswegen nie wieder Vorfälle geben wird oder wir als Organisation unterdrückungsfreie Räume schaffen können. Denn wie bereits erwähnt leben wir in einer Gesellschaft, die stetig unterdrückerisches Verhalten reproduziert. Deswegen ist es jedoch die Aufgabe einer jeden Organisation einen Umgang damit zu finden, Vorfälle aufzuarbeiten und wenn es geht, Personen gar nicht erst zu Tätern werden zu lassen. Das machen wir, während uns gleichzeitig bewusst ist, dass um sexistische und übergriffige Verhaltensweisen hinter uns zu lassen, es nicht nur reicht, an uns selbst zu arbeiten. Wir müssen das Problem bei der Wurzel packen, das gesamte Patriachat mitsamt der Klassengesellschaft zerschlagen.

Konkreter Vorwurf und jetzt?

Zuerst einmal müssen wir jeden Vorwurf und jedes Anzeichen ernst nehmen. Sollte also ein Vorwurf aufkommen, muss sofort gehandelt werden. Es wird eine Kommission gegründet, bestehend aus mehrheitlich gesellschaftlich Unterdrückten. Die Kommission hat dabei das Ziel, den Fall im Interesse der Organisation zu untersuchen und ist ihren Strukturen rechenschaftspflichtig, sowie wähl- und abwählbar. Ihre Aufgabe ist, den Fall zu untersuchen und eine Empfehlung bzgl. des Täters an die demokratisch legitimierte Leitung auszusprechen, welche dann darüber entscheidet. Im Gegensatz zu einer Einzelperson hat das Kollektiv die Möglichkeit, darüber zu diskutieren, wie zu verfahren ist und das Problem wird nicht bei einer Einzelperson abgelegt, wie es in Teilen der radikalen Linken üblich ist. Die Kommission untersucht nicht aufgrund von Misstrauen gegenüber der betroffenen Person den Fall, da wir ihre Aussage auch als Indiz werten. Da es aber manchmal widersprüchliche Aussagen gibt oder auch das Ziel ist, herauszufinden, ob von der beschuldigten Person weiter Gefahr ausgeht, braucht es eine überprüfende Instanz. Dabei hat die betroffene Person viele Rechte. Beispielsweise hat sie die Möglichkeit, eine Sprecherperson für sich zu wählen, damit sie nicht zwangsläufig mit fremden Genoss_Innen darüber sprechen muss oder kann auch wesentlich später eine Aussage machen, falls es ihr nicht gut geht. Ebenso kann sie auch Einspruch einlegen, wenn sie mit dem Ergebnis der Kommission nicht einverstanden ist.

Die beschuldigte Person auf der anderen Seite wird ihrer demokratischen Rechte enthoben, während gleichzeitig ihre Pflichten gegenüber der Organisation bestehen bleiben. Dies ist nicht mit der Schuldsprechung gleichzusetzen, sondern gilt zum Schutz der Organisation. Dieser Zeitraum kann auch unterschiedliche Auflagen mit sich bringen, beispielsweise Kontakteinschränkungen um Gossip und Falschdarstellungen durch den Täter zu unterbinden. Hier ist aber die Mitarbeit am Kommissionsprozess verpflichtend. Der Name von betroffenen Personen wird aus Schutzgründen nicht genannt, während der Täter aus Sicherheitsgründen intern genannt werden muss, um Transparenz vor der Mitgliedschaft zu gewährleisten. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal betonen, dass es wichtig ist, diese Prozesse nicht vor der Mitgliedschaft zu verheimlichen! Natürlich dürfen keine Details veröffentlicht werden, von denen Schlüsse gezogen werden können, wer die betroffene Person ist, oder unnötig intime Details der Tat, die niemanden was anzugehen haben. Aber nur die (interne) Transparenz kann helfen, Täterschutz zu unterbinden. Zeigt der Täter keine Einsicht, hält sich mehrmals nicht an die Auflagen oder ist nicht reflexionswillig, so wird er aus der Organisation ausgeschlossen. Hier behalten wir uns vor, die Person an andere linke Strukturen zu outen. Dabei ist es für uns zentral, dass wir klare Aufforderungen machen, wie die Tat aufgearbeitet werden soll, da es uns darum geht, Druck aufzubauen, um die Aufarbeitung in Gang zu setzen, aber auch einen Weg aufzeigen, über den ein Täter wieder zurück in die Organisation finden kann. 

Der Kommissionsprozess dient zur Klärung des Falles, bringt der Betroffenen an sich jedoch wenig, zumal so ein Prozess meist emotional belastend ist. Der Fokus sollte natürlich sein, die Betroffene zu unterstützen und ihr zu helfen, wieder ein selbstbestimmter Teil der Organisation zu sein und an politischen Treffen und Aktionen teilnehmen zu können. Als politische Organisation haben wir nur begrenzt Ressourcen und als in diesem Bereich unausgebildete Jugendliche können wir keine psychologische Aufarbeitung gewährleisten. Daher unterstützen wir Betroffene auch bei der Suche nach Hilfsangeboten. Auf eine andere Art und Weise verfahren wir mit dem Täter, sobald er die Tat glaubhaft eingestanden hat. Hier stellen wir keine Ressourcen für die Aufarbeitung bereit, sondern geben Auflagen vor und überprüfen dessen Stand. Eine Aufarbeitung passiert nicht in ein paar Wochen oder Monaten, je nach Intensität der Tat kann eine (aus unserer Sicht verpflichtende) Therapie nötig sein. Meist fordern wir auch eine politische Auseinandersetzung mit der Tat oder das Vorbereiten von Inputs oder Artikeln zum Thema. So kann die Auseinandersetzung mit der übergriffigen Verhaltensweise überprüft werden und ob dabei wirklich Fortschritte gemacht werden. Wir halten hier den Ansatz des Konzepts der transformative Justice für interessant. Der Täter muss neben dem glaubhaften Eingeständnis auch Anerkennen, welchen Schaden er durch sein bewusstes Handeln angerichtet hat. Er muss die Gründe für sein Handeln nachvollziehen und herausfinden, ob zusätzliche Abhängigkeitsstrukturen durch ihn geschafft wurden. Zentral ist es, Strategien aufzuzeigen, wie er diese Verhaltensweisen zukünftig verhindern sollte. Dahinter steht ein fortschrittliches Menschenbild: Wir glauben daran, dass Menschen sich ändern können! Ansonsten könnte man es mit dem Kommunismus auch insgesamt vergessen.

Reicht das?

Aber ein sehr wichtiger Aspekt dieses Ansatzes ist auch, dass die Community, Szene oder Gruppe in dessen Kontext die Tat geschehen ist, ebenso angesehen wird. Wurden Anzeichen übersehen? Gibt es konkrete Ansätze der Gruppe, die so etwas verstärken können wie zum Beispiel, dass individuelle Gewalt und besonders männlich-dominantes Auftreten als legitime politische Mittel angesehen werden, psychische Gewalt als nicht so schlimm abgetan wird oder es kein genügendes Verständnis davon gibt, was eigentlich schon alles patriarchale Gewalt ist? Gibt es überhaupt Mechanismen, wo man sich präventiv z.B. mit Konsens auseinandersetzen kann? Gibt es Möglichkeiten zur kollektiven Reflexion? Und noch einen sehr anderen wichtigen Punkt vor allem bzgl. Täterschutz, der von vielen vergessen wird: Gibt es sowohl für die Mitgliedschaft als auch für Außenstehende eine nachvollziehbare Ansprechperson, im besten Fall ein Teil der Leitung, um solche Fälle zu melden? Um Täterschutz zu vermeiden und einen Umgang mit Gewalt zu finden, sollten sich Organisationen diese Fragen stellen!

Insgesamt muss uns jedoch bewusst sein: Als politische Organisation haben wir begrenzte Ressourcen für Prävention, zur Unterstützung von Betroffenen oder zur Aufarbeitung mit Tätern. Das ist in jedem Fall – insbesondere für die Betroffenen- ein Problem. Verursacht wird das jedoch nicht durch falsche Schwerpunktsetzung einzelner Organisationen, sondern ist Ergebnis des gesellschaftlichen Missstandes im Umgang mit sexualisierter Gewalt. Das heißt: Der obig beschriebene Umgang mit sexueller Gewalt ist nicht genug. Deswegen muss es die Aufgabe von Kommunist_Innen sein, für gesamtgesellschaftliche Veränderungen einzustehen, auch wenn man den Umgang in der eigenen Organisation oder der Linken insgesamt ändern will. Konkret heißt das: Wir können das Elend der Gesellschaft nicht auffangen, deswegen müssen wir zeitgleich dafür kämpfen, dass eine Bewegung entsteht, die das Problem – den Kapitalismus an der Wurzel packt, während man auch für konkrete Verbesserungen im hier und jetzt kämpft:

  • Nein heißt Nein reicht nicht aus! Für die Pflicht aktiv sexuellen Konsens zu suchen! Verbot einer Befragung, bei der die Betroffene nach Kleidung gefragt wird oder ihr in irgendeiner anderen Weise die Schuld zu gesprochen wird.
  • Anzeigen dürfen keine Hürden sein! Flächendeckende Anlaufstellen zur Meldung von sexueller Gewalt! Sofortige, kostenlose psychologische Betreuung, wenn gewünscht; sowie der Ausbau von Frauen_FLINTA-Häusern! Statt Polizei Untersuchungskommissionen bestehend aus Gewerkschaften & Betroffenenvertretungen, die vollen Zugang zu den Mitteln der Polizei haben!
  • Kostenlose Rechtsberatung und Übernahme der Prozesskosten, sowie längerfristige Hilfeangebote für Betroffene von sexueller Gewalt, finanziert durch den Staat! Für das Recht auf mehr bezahlte Urlaubstage, sowie eine Mindestsicherung angepasst an die Inflation!
  • Weg mit den Berufsrichter_Innen, für rechenschaftspflichtige, demokratisch wähl- und abwählbare Tribunale, die sich aus der Arbeiter_Innenklasse und Menschen mit verschiedenen Unterdrückungserfahrungen zusammensetzen!
  • Für demokratisch gewählte und organisierte Selbstverteidigungskomitees von Frauen und LGBTIA+ in Zusammenschluss mit der Arbeiter_Innenklasse!
  • Für die Einrichtung und Ausbau von Rehabilitationsprogrammen für sexuelle Gewalttäter.

Hier noch 2 weiterführende Texte von uns:

Wohin mit all den Täter?

Kampf gegen sexuelle Gewalt an Frauen: abseits des Staats, gegen ihn oder mit ihm?




Kampf gegen sexuelle Gewalt an Frauen: abseits des Staats, gegen ihn oder mit ihm?

Lars Keller/Jaqueline Katharina Singh (REVOLUTION/Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland)

Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig, aber nicht unbedingt sichtbar. Auch wenn sich der Mythos, dass diese draußen auf dunklen Straßen stattfindet, hartnäckig hält, sieht die Realität anders aus. Denn meistens findet sie hinter der harmonisch-schönen Fassade von Arbeit, Familie und Freundeskreisen statt. So wird in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Etwa jede vierte wird mindestens Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner. Die letzten zwei Jahre haben zudem eine dramatische Verschärfung bedeutet. Eingesperrt im Lockdown oder Homeoffice waren Frauen wie Kinder männlich-väterlichen Gewalttätigkeiten – physischer und psychischer Art – noch mehr als sonst ausgeliefert.

Das führt uns zu der Frage: Was tun gegen sexuelle Gewalt?

Die Justiz als Freundin und Helferin?

Der bürgerliche Staat ist dabei überwiegend Teil des Problems. Aus Angst vor öffentlicher Stigmatisierung und Angriffen (victim blaming), Retraumatisierungen sowie zusätzlichen Gewalterfahrungen werden die wenigsten Täter vor Gericht gebracht – und dort häufig auch noch freigesprochen, da Beweise fehlen, der Staat Gewalt ganz anders definiert, als Betroffene sie erlebten, oder einfach, weil der Richterstuhl mit einem überzeugten weißen, männlichen Hintern besetzt ist. In Deutschland stellen laut Kriminologe Christian Pfeiffer rund 85 % der Frauen keine Anzeige „und von den 15 Prozent die übrig bleiben, werden letztendlich nur 7,5 Prozent der Täter verurteilt. Das ist indiskutabel.“ (https://www.tagesschau.de/investigativ/report-muenchen/verurteilungen-vergewaltigung-101.html)

Lösungsansätze?

Einen Lösungsansatz liefert die Idee, dass Bildung und Erziehung eine maßgebliche Rolle dabei spielen, sexuelle Gewalt zu verhindern, wie der recht bekannte Spruch „Warnt nicht eure Töchter, erzieht eure Söhne!“ aufzeigt. Obwohl dieser Slogan zwar richtigerweise den Blick auf die männlichen Täter richtet, so reduziert er das Problem auf eine Erziehungsfrage in einer ansonsten aufgeklärten Gesellschaft. Aber mit der „richtigen“ Erziehung ist es leider nicht getan. Diese Annahme ignoriert ebenso wie die strukturalistische Auffassung, dass Männer gemäß ihrer genetischen Veranlagung aggressiver und gewalttätiger und Frauen biologisch eher zurückhaltend und friedliebend seien, die entscheidende Rolle, die gesellschaftliche Verhältnisse bei der Entstehung und auch Veränderung von Geschlechterrollen spielen.

Deshalb kann auch eine gewaltfreiere Erziehung von Jungen das Problem nicht lösen. In einer Gesellschaft, die selbst auf Konkurrenz, Klassenherrschaft und damit verbundener Unterdrückung beruht, kann schließlich der Zweck von Erziehung nur darin bestehen, die Menschen dahingehend auszurichten. Für den Kapitalismus ist darüber hinaus die Trennung von bezahlter Lohnarbeit von der als wertlos betrachteten privaten Reproduktionsarbeit in der „Freizeit“ prägend. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bildet die Frauenunterdrückung und damit Abhängigkeit von Männern heraus, die wiederum auf dem Arbeitsmarkt selbst reproduziert und gefestigt wird. Auf dieser materiellen Basis der sexistischen Unterdrückung fußen reaktionäre Bewusstseinsformen, die uns im Alltag häufig als stereotype Geschlechterrollen begegnen.

So wichtig es ist, diese zu kritisieren und zu bekämpfen, so können sie letztlich nur zurückgedrängt und beseitigt werden durch den gemeinsamen Kampf gegen die materiellen Verhältnisse, die diesen Ideologien zugrunde liegen.

Einen weiteren, ähnlichen Lösungsansatz stellte die #MeToo-Bewegung, die 2017 für viel Aufsehen sorgte, dar. So griff die US-amerikanische Schauspielerin Alyssa Milano die bereits vorher existierende Kampagne der Aktivistin Tarana Burke mit folgendem Satz über Twitter auf: „Wenn alle Frauen, die sexuell belästigt oder angegriffen wurden, ‚Ich auch‘ als Status schrieben, könnten wir den Menschen ein Gefühl für das Ausmaß des Problems geben.“

Es folgten über 12 Millionen Beiträge in zahlreichen „sozialen“ Netzwerken, in denen sexuelle Gewalt gegen Frauen, oft mit sehr privaten Erlebnissen verbunden, thematisiert wurde. Dieses Beispiel zeigt klar, dass die Benennung von sexueller Gewalt wichtig ist, und brachte zumindest in Hollywood kurzfristige Konsequenzen mit sich. Doch was bleibt heute davon? Leider nicht viel. Denn die Lösung, dass die betroffenen Personen individuell aufstehen und ihre Erlebnisse äußern, mag zwar für diese empowernd sein. Das grundlegende Problem der sexuellen Gewalt sowie den rückschrittlichen Umgang mit dieser innerhalb des Staates hat dieser Ansatz nicht geändert. Dass dies alleine nicht reicht, zeigt das Beispiel von Nika Irani. Das Model veröffentlichte 2020 auf Instagram ihr Vergewaltigungsouting gegen den Rapper Samra und löste damit in der deutschen Hip-Hop-Szene eine längst überfällige Debatte über sexualisierte Gewalt aus. Der Rapper erwirkte eine einstweilige Verfügung gegen sie, die es ihr untersagt, über die Vorwürfe weiterhin öffentlich zu sprechen, da sie nicht die notwendigen Beweise erbringen konnte. Mehr muss also möglich sein. Aber wie?

Der bürgerliche Staat als Schutz?

Für uns als Marxist:innen ist klar, dass der bürgerliche Staat der der herrschenden Klasse ist und daher deren Interessen verteidigt. Er wurzelt also in der Gesellschaft selbst, stellt sich aber als über ihr und den verschiedenen Klassen stehende Macht dar. Er ist Ausdruck der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und daher umgekehrt ein Beweis, dass der Kapitalismus selber nicht fähig ist, die Klassengegensätze zu überwinden. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass seine Gewaltorgane wie die Polizei vorherrschende Diskriminierung weiter reproduzieren. Doch was heißt das im Umkehrschluss für den Kampf gegen sexuelle Gewalt?

Viele Linke lehnen es ab, Forderungen an den bürgerlichen Staat zu stellen. Stattdessen bedient man sich individueller Outings, Gewalt gegenüber den gewaltausübenden Personen oder der Definitionsmacht-Ansätze. Diese erscheinen sehr radikal, weil sie außerhalb der bestehenden Ordnung „Gerechtigkeit“ schaffen wollen. Doch wenn man sie auf die gesamte Gesellschaft anwendet, sind es entweder Nischenlösungen für eine kleine Minderheit oder sie fallen sogar hinter das aktuelle bürgerliche Recht zurück.

So stellen die Unschuldsvermutung und das Recht auf Verteidigung vor Gericht fortschrittliche Elemente der bürgerlichen Justiz dar, die in Kämpfen gegen den Feudalismus und reaktionäre Kräfte errungen wurden.

Die Unschuldsvermutung erfordert, dass der/die einer Straftat Verdächtigte oder Beschuldigte nicht seine/ihre Unschuld beweisen muss, sondern die Strafverfolgungsbehörde seine/ihre Schuld. Dies liegt daran, dass es aufgrund dieses Prinzip nicht so einfach möglich ist, ohne einen Prozess Menschen für Verbrechen abzuurteilen. Ebenso ermöglicht es den Beschuldigten, sich zu verteidigen. Dies macht grundsätzlich Sinn, denn ohne dieses Prinzip wäre es möglich, Menschen ohne Beweise für Verbrechen haftbar zu machen, ohne dass diese sich rechtfertigen könnten. Es würde staatlicher Willkür Tür und Tor öffnen und die Klassenherrschaft der Bourgeoisie stärken, ob das nun gewollt ist oder nicht.

Aber diese Überlegungen zum Staat bedeuten keinesfalls, dass Revolutionär:innen gesetzlichen Reformen neutral gegenüberstehen. So treten wir beispielsweise für staatlich garantierten Arbeitsschutz oder Mindestlöhne und viele andere Reformen im Interesse der Ausgebeuteten und Unterdrückten ein, ohne uns deshalb der Illusion hinzugeben, dass dies am grundlegenden Charakter des Staates etwas ändern würde. Im Gegenteil, wir begreifen dies als Teil des Klassenkampfes gegen die Bourgeoisie.

Das trifft auch auf Reformen im Bereich der Gerichte und Rechtsprechung zu. Als Revolutionär:innen müssen wir uns Gedanken machen, um die Lage von Frauen im Hier und Jetzt zu verbessern, und dies als Schritt zu grundlegend anderen Verhältnissen begreifen. Das heißt, unser Ziel ist es, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive zu entwickeln.

Um den Unterschied zu Formen der Selbstjustiz zu illustrieren, stellen wir uns vor, dass linke Kleinstgruppen oder generell irgendwer auf beispielsweise Outings reagieren, indem sie Gewalt anwenden, um die Gefahr seitens des Täters abzuwenden. Damit werden folgende Fragen aufgeworfen: Wenn wir uns das Recht herausnehmen zu richten, warum sollten es dann nicht andere Gruppen auch tun? Warum nur die radikale Linke? Und wer legt die Grundlage fest, auf der solche Entscheidungen gefällt werden?

Solange es keine Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse gibt, sondern nur Kleingruppen, führen solche Entscheidungen nur zu Willkür untereinander. Gerechtigkeit ist also nicht nur eine moralische Frage, sondern auch eine der gesellschaftlichen Verhältnisse.

In der aktuellen bürgerlichen Rechtsprechung profitieren bei sexueller Gewalt gegenüber Frauen von diesen Errungenschaften oft auch Täter. Doch das heißt nicht, dass die Prinzipien an sich falsch sind, sondern es stellt sich vielmehr die Frage, wie diese umgesetzt und kontrolliert werden.

Wie kann eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aussehen?

Die erste Hürde für viele Betroffene ist die Anzeige an sich. Wie oben bereits erwähnt, sind die Prozesse hierzulande oftmals retraumatisierend und viele Betroffene trauen sich erst gar nicht, die erfahrene Gewalt zu thematisieren. Deswegen ist es notwendig, unmittelbar für flächendeckende Anlaufstellen zur Meldung von sexueller Gewalt einzustehen, die ebenso, wenn gewünscht, kostenlose psychologische Beratung anbieten. Dies muss damit verbunden werden, dass es breite Aufklärungskampagnen bezüglich Gewalt an Frauen an Schulen, Universitäten und in Betrieben gibt – schlicht an den Orten, an denen sich die meisten von uns tagtäglich aufhalten müssen. In diesem Rahmen wäre es möglich, auf der einen Seite die oben erwähnte Bildung für männliche Personen einfließen zu lassen. Auf der anderen Seite kann man diese für Empowermenttraining nutzen sowie besagte Beratungsstellen bekanntmachen und klar kommunizieren, dass die Erfahrungen der Betroffenen ernst genommen werden.

Im Falle eines konkreten gerichtlichen Prozesses braucht es ebenso eine besondere Unterstützung für die mutmaßlichen Opfer. Dabei reden wir nicht nur von psychologischer, sondern von kostenloser Rechtsberatung und Übernahme der Prozesskosten, unabhängig von dessen Ausgang. Darüber hinaus bedarf es längerfristige Hilfeangebote für Betroffene von sexueller Gewalt, finanziert durch den Staat. Solche Verfahren sind keine Kleinigkeit. Deswegen bedarf es des Rechts auf mehr bezahlte Freistellung, zusätzliche Urlaubstage sowie eine Mindestsicherung, angepasst an die Inflation! Dies ist notwendig, um die ökonomische Grundsicherung für Betroffene zu gewährleisten, ihnen überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich so einem aufreibenden Prozess zu stellen.

Das sind Punkte, die im Hier und Jetzt – wenn gewollt – umgesetzt werden könnten. Die Frage, wer die Umsetzung der Gesetzgebung kontrolliert, ist damit jedoch noch nicht geklärt. Da wir die Polizei als verlängerten Arm des bürgerlichen Staates verstehen, der kein materielles Interesse verfolgt, sich gegen die existierenden Unterdrückungen wie Rassismus oder Sexismus zu stellen, haben wir oben die Meldestellen für sexuelle Gewalt erwähnt. Diese sollten im Idealfall zusammengesetzt werden aus sozial Unterdrückten – gewählt von Vertreter:innen der Arbeiter:innenklasse.

Diese sollten auch die Möglichkeit bekommen, Untersuchungskommissionen zu gründen, bestehend aus Gewerkschaften und Betroffenenvertretungen, die vollen Zugang zu den Akten der Polizei und Rechtsmedizin erhalten, um die Fälle zu klären. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass die Aussage über sexuelle Gewalt bereits als Indiz dieser gewertet werden sollte. Ebenso sollte es nicht nur Aufgabe der Betroffenen sein, die Schuld des Beschuldigten zu beweisen – auch der Beschuldigte sollte an der Stelle dazu verpflichtet werden, aktiv an der Aufklärung teilzunehmen.

Darüber hinaus bedarf es auch Veränderungen auf der gerichtlichen Ebene. Statt Berufsrichter:innen, von denen die Mehrheit aus alten, weißen Männern besteht, die es sich leisten konnten zu studieren, bedarf es rechenschaftspflichtiger, demokratisch wähl- und abwählbarer Tribunale, die sich aus der Arbeiter:innenklasse und Menschen mit verschiedenen Unterdrückungserfahrungen zusammensetzen. Diese sollten für den Umgang mit Betroffenen von Gewalt sensibilisiert und geschult worden sein. So kann man gewährleisten, dass Entscheidungen hinterfragt werden und nicht abhängig von der männlichen Sozialisierung der Richtenden sind. Des Weiteren macht es ebenfalls Sinn, dass die Gesetzgebung von einem solchen Gremium zusammen mit Betroffenenvertretungen überarbeitet wird. So stellt die Reform des Sexualstrafrechtes 2016 zwar eine beschränkte Verbesserung dar, die jedoch vor dem Hintergrund frauenfeindlicher Gesetze, Untersuchungsbehörden und Gerichte nur sehr wenig Wirkung zeigen kann. Weiter liegt die Beweispflicht immer noch nur bei der Betroffenen und geht ebenso von einem falschen Bild aus. Denn oftmals ist es auch nicht möglich „Nein“ zu sagen. Stattdessen wäre es sinnvoll, das Konsensprinzip „Nur Ja heißt Ja“ anzuwenden. Das verstärkt gleichzeitig den Druck auf den Beschuldigten, denn dieser muss dann auch versuchen, glaubhaft zu machen, dass die Betroffene einverstanden gewesen ist.

Und darüber hinaus?

Neben diesen Forderungen müssen wir für den flächendeckenden Ausbau von psychologischer Beratung sowie Frauenhäusern kämpfen, damit Betroffene sich unmittelbar vor weiterer Gewalteinwirkung schützen können. Es braucht jedoch auch eine Debatte über den Umgang mit Gewalt ausübenden Personen. Das Gerechtigkeitsverständnis des bürgerlichen Staates beruht vor allem auf dem Konzept von „Wiedergutmachung durch Strafe“. Doch durch Isolation im Knast wird wohl keine tiefgreifende Besserung im Bewusstsein des Täters einsetzen.

Immerhin hat der Staat noch einen kleinen Anspruch von Resozialisierung der Täter, seine Methoden dazu erweisen sich aber erstens als unwirksam und zweitens sollen die Täter ja überhaupt nur wieder zurück in dieselben Verhältnisse resozialisiert werden, in denen sie erst dazu geworden sind. Alternativen dazu wären Einrichtung und Ausbau von Rehabilitationsprogrammen für sexuelle Gewalttäter wie auch eine gesicherte Integration ins Arbeitsleben.

Zudem braucht es eine klare Präventionsstrategie: Einen kleinen Teil davon sollte die Integration von Konsens-Workshops im Sexualkundeunterricht ausmachen, denn sexuelle Aufklärung hört nicht bei Verhütungsmethoden auf! Des Weiteren braucht es die stetige Thematisierung sexueller und sexualisierter Gewalt an Schulen, in Erziehungswesen und Betrieben, um diese zurückzudrängen.

Wie kann das möglich werden?

Kritiker:innen werden nun einwenden, dass das zwar viele schöne Ideen sind, diese aber nicht umsetzbar wären. Diesen wollen wir an dieser Stelle antworten, dass es zum einen Forderungen gibt, die unmittelbar umsetzbar wären – wenn man genügend Druck auf die Straße bringt, damit diese finanziert werden. Ebenso sind auch tiefgehendere Veränderungen möglich. Schließlich müssen wir diesen Kampf um Verbesserungen und Kontrolle selbst im Rahmen einer Übergangslogik verstehen. In der Tat verändern selbst die besten Reformen die Grundstrukturen der Gesellschaft nicht. Daher begreifen wir diese Kämpfe um Verbesserungen auch als Teil einer umfassenderen Mobilisierung für eine andere Gesellschaft.

Nur weil das aktuelle gesellschaftliche Bewusstsein nicht „reif“ genug für diese Forderungen erscheint, heißt das nicht, dass diese nicht umsetzbar sind. Damit dies gelingt bedarf es einer breiten Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse. Aufgabe von Revolutionär:innen kann es an der Stelle nicht sein, rückschrittliche, scheinradikale Lösungen zu unterstützen. Vielmehr muss geschaut werden, wo Ansatzpunkte für diese Forderungen zu finden sind.

An dieser Stelle wollen wir die Kampagne „#NotYourPorn – Missbrauch auf Pornoplattformen muss verfolgt werden“ erwähnen. Sie spricht ein Thema an, das kaum bis gar nicht vom Staat verfolgt wird, nämlich die Verbreitung von Bildern und Videos von Frauen auf Plattformen wie xHamster ohne deren Zustimmung. Teilweise sind diese von Facebook kopiert, teilweise sogar heimlich aufgenommen worden. Auch das fällt unter sexuelle, weil psychische Gewalt. Einige Betroffene haben sich selbst zusammengetan und eine Petition gestartet, die das Strafrecht und den Umgang mit Plattformen wie xHamster verbessern soll.

So eine Vernetzung, wie es im Rahmen dieser Kampagne oder auch der von #DeutschrapMeToo gegeben hat, sind unterstützenswerte Initiativen und erste Ansatzpunkte. Sexuelle Gewalt wird in der Gesellschaft oftmals als „Einzelfall“ und individuelles Problem dargestellt, obwohl es ein gesamtgesellschaftliches ist. Statt also diese Individualisierung sexueller Gewalt auch auf deren Bekämpfung anzuwenden – die Geschehnisse als Einzelfälle zu betrachten – braucht es besagten kollektiven Lösungsweg. So wäre es beispielsweise möglich, mit vernetzten Betroffenen Forderungen aufzustellen und Organisationen der Arbeiter:innenbewegung zur Unterstützung dieser aufzufordern wie beispielsweise DIE LINKE oder Gewerkschaften. Als ersten Schritt könnte man sich auch hier an Frauen- und Queerstrukturen wenden.

Wenn Betroffene bereit sind, Prozesse im aktuellen bürgerlichen Staat zu führen, sollten diese mit einer Kampagne begleitet werden. Dabei ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass das Problem vor allem im Rahmen des Prozesses liegt, der dazu führt, dass sexuelle Gewalt oftmals nicht verurteilt wird. Dies kann Mobilisierungen beinhalten, die an Schulen, Unis und in Betrieben beworben werden können. So existiert die Chance, hier Aktionskomitees zu gründen, die vor Ort mobilisieren – und Debatten führen, welche Probleme es mit sexueller Gewalt dort gibt. Gleichzeitig würden diese Strukturen dann auch den Kern stellen, wenn es darum geht, Forderungen mit Streiks durchzusetzen.

Wir vertrauen also nicht auf den bürgerlichen Staat. Im Gegenteil. Wenn wir Forderungen an ihn stellen, uns für die demokratische Reform von Justiz, Strafrecht, finanzielle und materielle Unterstützung von Opfern einsetzen, dann nicht, weil wir den Rechtsstaat als letztes Wort der Geschichte betrachten. Es geht darum, ihn als Kampffeld für eine zukünftige, andere Gesellschaft zu nutzen, die ihn und den Kapitalismus als Grundlagen, auf denen sich sexuelle Gewalt und Sexismus reproduzieren, überwunden hat und klassenlos ist. Dies muss aber damit verbunden werden, im Hier und Jetzt für konkrete Verbesserungen für Betroffene von sexueller Gewalt gemeinsam zu einzutreten und diese Aufgabe nicht auf „nach der Revolution“ zu verschieben!




Was tun mit all den Tätern?

Sexualisierte Gewalt gegen Frauen[1] ist Alltag in unserer Gesellschaft. Selbst nach offiziellen Studien, die viel Raum für Dunkelziffern lassen, haben 40% aller Frauen seit ihrem 16. Lebensjahr physische oder sexuelle Gewalt und 42% haben psychische Gewalt erfahren. International ist die Tendenz steigend. Es ist außerdem anzunehmen, dass diese Studien eine sehr enge Definition dessen verwenden, was sie unter sexueller Gewalt verstehen, sodass viele Vorfälle und Taten nicht in solcherlei Statistiken einfließen. Naturgemäß sind diese Zahlen auch eher Schätzungen, da ein großer Teil der erfahrenen Gewalt nie öffentlich gemacht wird, denn häufig findet sie im engsten Umfeld der Betroffenen statt: im eigenen Zuhause oder in der Familie. Entgegen der allgemeinen Idealisierung des “trauten Heims” als Schutzraum, stellt es diesen häufig nicht für die Betroffenen dar, sondern vielmehr für die Täter, die ihre Verbrechen vor der Öffentlichkeit verbergen. Neben den körperlichen Folgen ist die Erfahrung von sexueller Gewalt für Betroffene nicht nur in der Gewaltsituation, sondern auch danach und oftmals ein Leben lang eine schwere emotionale Belastung. So führt der durch die Gewalterfahrung verursachte Kontrollverlust bei vielen Betroffenen zu Schuldgefühlen, Identitätsproblemen, Bindungsproblemen und Traumata. Es sollte also jeder_m klar sein, wie verbreitet und alltäglich Gewalt gegen Frauen ist in dieser Gesellschaft.

„Warnt nicht eure Töchter, erzieht eure
Söhne“, steht dazu an einer Elbbrücke in Dresden. Obwohl dieser Slogan das
Problem richtigerweise bei den männlichen Tätern lokalisiert, ist es mit der
“richtigen” Erziehung leider nicht getan. Die essentialistische Annahme Männer
seien gemäß ihrer genetischen Veranlagung aggressiver und gewalttätiger und
Frauen seien biologisch eher zurückhaltend und friedliebend irgnoriert die
entscheidende Rolle, die gesellschaftliche Verhältnisse bei der Entstehung und
auch bei der Veränderung von Geschlechterrollen spielen. Deshalb kann auch eine
gewaltfreiere Erziehung von Jungen das Problem nicht allein lösen. Seine
Wurzeln liegen im kapitalistischen Patriarchat, das die als gesellschaftlich
wertvoll betrachtete Produktionsarbeit von der als wertlos betrachteten
Reproduktionsarbeit (also Erziehung, Hausarbeit und Sorgearbeit) trennt. Frauen
werden dadurch in die Abhängigkeit von Männern gedrängt, haben schlechtere
Chancen auf dem Arbeitsmarkt und werden schlechter bezahlt. Daneben führt diese
materielle Basis der sexistischen Unterdrückung auch zu geschlechtsspezifischen
Bewusstseinsformen, die uns im Alltag häufig als Geschlechterstereotype
begegnen. Bei vielen Männern führt das beispielsweise zu dem Gedanken, dass es
Teil ihrer Männlichkeit sei, Dominanz auszuüben, sich “zu nehmen was einem
zusteht”, Frauen “erobern” zu wollen und infolgedessen auch zur Annahme ein
Recht zu besitzen, die eigenen Bedürfnisse im Zweifel auch durch den Einsatz
von Gewalt gegen Frauen durchsetzen zu dürfen.

Sexuelle Gewalt in der Linken: Keine
Einzelfälle!

Wie wir durch Outings von Tätern und einer
zunehmenden Öffentlichkeit um das Thema der sexuellen Gewalt beobachten können,
ist auch die Radikale Linke nicht frei davon. Weder von Sexismus allgemein,
noch von sexualisierter Gewalt. Immer wieder müssen wir von sexuellen
Übergriffen lesen und hören: egal ob auf Festivals, in Hausprojekten oder
linken Gruppen. Immer wieder kommt es zu Outings oder zum Ruf von Betroffenen.
Zahlen gibt’s zwar keine, aber klar sollte sein: Das sind keine Einzelfälle.

Aus gegebenem Anlass wollen wir mit diesem
Artikel eine grundlegende Debatte in der Linken anregen, wie wir als Linke,
Antisexist_innen und Kommunist_innen mit Taten und Tätern kollektiv und
emanzipatorisch umgehen können. Dabei ist uns zu erst einmal wichtig zu
betonen, dass es sich bei sexueller Gewalt nicht um individuelle unglückliche
Einzelfälle handelt, sondern um ein strukturelles Problem! Der Kapitalismus
selbst profitiert von der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung und der Unterdrückung
von Frauen und LGBTIAs. Dementsprechend werden oft grundlegende patriarchale
Strukturen nicht thematisiert und kommt es zu Fällen von sexueller Gewalt, wird
nicht über gesellschaftliche Strukturen, sondern über tragische Einzelfälle
gesprochen. Die Betroffenen als auch die Täter werden individualisiert. Dabei
reproduziert der Untersuchungs- und Rechtsprechungsprozess durch bürgerliche
Polizei und Justiz häufig die Ohnmachtserfahrung der Betroffenen. Statt
Selbstermächtigung und organisiertem Handeln aus dem Kollektiv heraus herrscht
Vereinzelung vor.

Wollen wir also der Machtblindheit und Vereinzelung der bürgerlichen Strukturen eine fortschrittliche Version entgegensetzen, müssen wir uns jedoch auch die Grenzen bewusst machen, welche die kapitalistisch-patriarchalen Strukturen unserem Vorhaben setzen. Denn wir sind alle innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft sozialisiert worden und erfahren das Patriarchat jeden Tag aufs Neue. Das bedeutet, dass wir geprägt sind und täglich neu geprägt werden von den klassischen Geschlechterrollen. Davon können wir uns nicht einfach frei machen, nur weil wir heute beschließen Antisexist_innen sein zu wollen. Auch die bürgerliche Sexualmoral ist, ob wir wollen oder nicht, tief in uns verankert. Nie haben wir gelernt, eine Sprache für unsere eigenen sexuellen Bedürfnisse und Grenzen zu finden. Doch der Zwang, der Druck und die Gewalt, die die gesellschaftlichen Verhältnisse auf uns ausüben, entlädt uns nicht von der Verantwortung die wir alle haben. Dennoch sollten wir uns klar machen, dass wir nie einen vollständigen und abschlossenen Safe Space schaffen können. Das klingt hart aber wer das nicht anerkennt schürt nur Illusionen in eine vermeintliche Sicherheit. Erschwerend kommt hinzu, dass wir keine abgekapselte linke Szenebubble sein wollen, sondern neue Leute von unseren Idealen begeistern und in unsere Strukturen integrieren wollen. Wenn wir uns die Statistiken vom Anfang des Artikels anschauen, bedeutet das jedoch auch, dass eine große Zahl von Männern in der Vergangenheit schon einmal Täter waren und wir als Organisation einen Umgang damit finden müssen. Da die Menschen im Kapitalismus nicht als Kommunist_innen geboren werden, sind wir ferner ständig damit konfrontiert, dass wir mit weniger antisexistischem Bewusstsein umgehen und daran arbeiten müssen. Wir müssen jedoch auch anerkennen, dass wir sexuelle Gewalt auch in unseren linken Strukturen nie vollständig zu 100 % verhindern werden können. Umso wichtiger ist es, sich mit Unterdrückung innerhalb der eigenen Organisationsstrukturen auseinanderzusetzen. Ob Rassismus, LGBTIA+-Diskriminierung oder auch sexuelle Gewalt. Darüber zu schweigen oder so tun als gäbe es das nicht, weil man ja schon so unfassbar befreit und fortschrittlich ist, hilft da Niemandem. Es braucht Präventionsarbeit zur Verhinderung von seuxeller Gewalt genauso wie einen adäquaten Umgang mit Vorfällen im Sinne der Betroffenen.

Was tun gegen sexuelle Gewalt in den eigenen
Strukturen?

Der absolute Schritt Nummer eins muss es sein,
die Schweigekultur die um das Thema sexuelle Gewalt herrscht zu durchbrechen.
Es gilt also ein Klima zu schaffen, in dem über sexuelle Grenzüberschreitungen
gesprochen wird. Ob von Betroffenen oder auch von gewaltausübenden Personen,
deren Verantwortung es ist, auch ohne Initiative der betroffenen Person die
Verantwortung für ihre Tat zu übernehmen. Es braucht Schutzstrukturen für
FLINT-Personen (sogenannte Caucusse), um in Abwesenheit von Männern über
Unterdrückungserfahrungen sprechen und auch spezifische Forderungen an die
Männer formulieren zu können. Gleichzeitig muss vermieden werden, dass wir
Frauen in der politischen Arbeit weniger präsent sind, da wir uns ja noch mit
unserer eigenen Unterdrückung beschäftigen müssen, während die Männer die
Revolution planen. Vielmehr ist es die Aufgabe von Männern als potentielle
Unterdrücker_innen sich mit der strukturellen Rolle, die ihnen der Kapitalismus
zuweist, auseinanderzusetzen und diese zu reflektieren. Paralellel zu
Caucus-Treffen müssen antisexistische Männertreffen stattfinden.

Gleichzeitig muss uns klar sein, dass man diese
Probleme nicht “weg-reflektieren” kann. Zwischen der Erkenntnis im Rahmen eines
Reflektionsprozesses und einer nachhaltigen Veränderung des Verhaltens liegt
häufig noch ein langer Weg. Reflektion ist dabei ein wichtiger Bestandteil
antisexistischer Praxis aber nicht die alleinige Lösung, um das Patriarchat zu
zerstören. Da wir in einer kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft leben,
bewegt sich unser Denken häufig auch in den Bahnen, die diese Gesellschaft
zulässt. Es ist auch für Antisexist_innen quasi unmöglich diese vollständig zu
verlassen, solange diese Gesellschaft uns tagtäglich etwas anderes vorlebt.
Deshalb heißt es genauso diese Gesellschaft anzugreifen und im Kampf dagegen eine
antisexistische Perspektive aufzuwerfen sowie Frauen gesondert zu fördern und
zu empowern.

Daneben ist es zentral, Präventionsarbeit zu
betreiben. Mit neuen Menschen, die an die Organisation herantreten, müssen
verpflichtende Diskussionen über sexuellen Konsens und das Ja-heißt-Ja-Prinzip
geführt werden. Dabei muss uns jedoch bewusst sein, dass bei den Leuten damit
erst einmal ein Prozess angestoßen wird, an dem aktiv weitergearbeitet werden
muss, den nur weil man drei mal über Konsens philosophiert hat bedeutet das
nicht automatisch, dass man offen über Grenzen und Bedürfnisse kommunizieren
kann.

Kommt es trotz aller Präventationsmaßnahmen zu
Fällen von sexuellen Übergriffen müssen wir jede Aussage und jedes Anzeichen
darüber sofort ernst nehmen. Die weit verbreitete Angst, dass Betroffene ja mit
Absicht eine Falschaussage machen könnten, um eigene Ziele zu erreichen, ist
nicht nur zutiefst chauvinistisch, sondern auch einfach unbegründet, da sich
wohl kaum eine Frau freiwillig der mit einem solchen Prozess verbundenen
emotionalen Belastung aussetzen würde.

In vielen Fällen ist die Sachlage sofort klar
und das Geschehene eindeutig. In anderen Fällen gibt es widersprüchliche
Aussagen und es braucht Strukturen, die bei der Aufarbeitung helfen. In jedem
Fall gilt es sofort eine Kommission zu gründen, die sich mit dem Fall
beschäftigt. Bei der personellen Zusammensetzung der Kommission gilt es zu
beachten, dass diese im Sinne der Betroffenen zusammengesetzt ist und
mehrheitlich aus sexuellen unterdrückten Menschen besteht. Ebenso ist diese (im
Gegensatz zu den bürgerlichen Justiz-Strukturen) auch wieder abwähl- und
ersetzbar. Die Aufgabe der Kommission ist es, den Fall aufzuarbeiten, der
Betroffenen (insofern sie dies möchte) emotionale Unterstützung und auch ein_e
Sprecher_in bereitzustellen, sowie konkrete Handlungsempfehlungen zu machen,
wie mit dem Täter umgegangen werden soll. Diese müssen von der Organisation
dann demokratisch abgestimmt werden.

Was macht man mit einem Täter?

Wichtig ist es erst einmal zu betonen, dass es
in dem Prozess vor allem um die Betroffene gehen und nicht um den Täter. Ziel
des Prozesses muss es also sein, der betroffenen Person Handlungsfähigkeit
zurückzugeben und einen Wiedereinstieg in die politische Arbeit zu ermöglichen,
sowie potentiell weitere Betroffene vor dem Täter zu schützen. Dennoch stellt
sich natürlich trotzdem die Frage: Was macht man den nun mit einem Täter?

Auf diese Frage gibt es leider keine allgemeingültige Antwort, denn das Ausüben von sexueller Gewalt kann unterschiedlich schwerwiegend sein. So spielt es eine Rolle, ob Zwang und Gewalt aktiv ausgeübt wurden, ob ein willentlicher Machtmissbrauch stattgefunden hat und auch wie lang die Person schon organisiert ist und es besser wissen müsste. Am leichtesten wäre es doch in jedem Fall, den Täter einfach auszuschließen, ihn aus allen Räumen und Kontexten rauszuschmeißen. Problem beseitigt – müssen wir uns nicht mehr mit beschäftigen. Aber was passiert dann mit ihm? Klopft er irgendwo anders an, um weitere Taten begehen zu können? Wie können wir kollektiv Verantwortung übernehmen und die Chance verringern, dass sich sexuelle Gewalt wiederholt? Die Antwort kann nicht darin liegen, sich dem Problem der Täter so einfach zu entledigen. Für linke Kleinsgruppen und Sekten ist das vielleicht eine Perspektive, nicht aber für Organisationen die den Anspruch haben eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufzuwerfen. Als Gesamtgesellschaft kann man den Täter nicht mehr einfach rausschmeißen. Wenn wir also lebenslange Isolationshaft, Todesstrafen oder Selbstjustiz ablehnen, müssen wir uns Gedanken darüber machen, was wir als Alternative dazu vorschlagen.

Der Staat regelt?

Wohl eher nicht. Der ist nämlich selbst eine
Struktur, die der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Klassenherrschaft und
damit auch des Patriarchats dient. Und als solche ist er Teil des Problems,
Stütze des Systems, das diese gewaltvollen Umstände hervorbringt und von ihnen
profitiert, niemals Teil der Lösung. Das sehen wir schon allein daran, was das
bürgerliche Gesetzgebuch überhaupt als sexuelle Gewalt definiert und was nicht.
Eine Vielzahl von Taten wird also von den bürgerlichen Gerichten einfach
abgeschmettert, die Betroffenen damit allein gelassen und vermutlich auch
retraumatisiert, da die von ihnen erfahrene Gewalt nicht anerkannt wird. Noch
dazu stehen sie vor dem bürgerlichen Gericht selber in der Beweislast, sich für
ihre “Anschuldigungen” gegenüber dem Täter rechtfertigen zu müssen.

Das Gerechtigkeitsverständnis des bürgerlichen
Staates beruht vor allem auf dem Konzept von „Wiedergutmachung durch
Strafe“. Doch durch Isolation im Knast wird wohl keine tiefgreifende
Besserung im Bewusstsein des Täters einsetzen. Immerhin hat der Staat noch
einen kleinen Anspruch von Resozialisierung der Täter, seine Methoden dazu
erweisen sich aber erstens als unwirksam und zweitens sollen die Täter ja
überhaupt nur wieder zurück in dieselbe Gesellschaft resozialisiert werden, in
der sie erst zu Tätern geworden sind.

Im Übrigen bedeutet unsere Ablehung des Staates
nicht, dass wir nicht Betroffene dabei unterstützen eine Anzeige zu stellen.
Dies hängt damit zusammen, dass wir uns prinzipiell bei der Abwägung zwischen
Bedürfnissen der Betroffenen und Entwicklung des Täters immer für die
Betroffene entscheiden sollten und auch damit, dass wir in frühen Aufbaustadien
wie jetzt manchmal nicht die notwendige Kraft haben, um ohne den Staat alle
Maßnahmen gegen jeden Täter durchzusetzen. Sollte es die Betroffene so wollen,
kann es auch ein sinnvolles Mittel sein, eine politische Kampagne darum
aufzubauen, um genau diese Defizite der bürgerlichen Justiz im Umgang mit
sexueller Gewalt öffentlich zu entlarven und Protest zu organisieren. Dabei
gilt es aufzuzeigen, was unsere gesamtgesellschaftliche Perspektive wäre:
Nämlich Reform des Sexualstrafrechts innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft,
sinnvolle Resozialisierungsmaßnahmen, Veränderung des Gerichtssystems (statt
Trennung Exekutive/Judikative abwählbare und demokratisch kontrollierte
Arbeiter_innentribunale).

Täter klatschen?

Ist emotional sicherlich eine sehr verständliche
Reaktion. Auch würden wir es einer Betroffenen nie verwehren, sich durch ein
paar Schellen ein wenig Handlungsfähigkeit zurückzuholen, falls sie das Gefühl
hat, dass es sie weiterbringt. Als politisches Programm fällt eine Logik von Blutrache
jedoch selbst hinter die bürgerliche Justiz zurück ins Mittelalter. Selbst im
Kapitalismus wird Straftätern ein Anspruch auf Resozialisierung zugestanden und
dass sie sich nach dem Verbüßen einer Strafe ändern können.

Es scheint nahezuliegen, dass gewaltvolle Rache
gegenüber dem Täter ein Versuch ist, Gerechtigkeit zu schaffen. Allerdings muss
auch hier wieder gesagt werden: Dies ist keine gesamtgesellschaftliche
Perspektive, die wir der Arbeiter_innenbewegung als Mittel im Kampf gegen
soziale Unterdrückung vorschlagen. Vielmehr täuscht es nur vor, super radikal
zu sein. Durch die unmittelbare Aktion aus diesen Taten, scheint es so, als ob
man dem gesamtgesellschaftlichen Problem eine greifbare Antwort bietet und sich
klar gegen sexuelle Gewalt positioniert. Allerdings verkennt es gleichzeitig
den strukturellen Charakter dieser Gewalt und drückt sich um die Verantwortung,
die Frage zu stellen, wie die Leute zu einem Wandel in ihrem Bewusstsein
kommen. Denn wenn wir nicht daran glauben, dass sich Leute verändern können,
warum sind wir überhaupt in linken Strukturen organisiert?

Die Gesellschaft, in der wir leben, kann nicht moralisch in gut und böse eingeteilt werden. Das Gute und das Böse sind ideologische Kategorien, die nicht für immer wahr und feststehend sind, sondern Produkte der historischen Entwicklung. Dementsprechend sind auch Menschen nicht genetisch-festgelegt böse und selbst das Ausüben von Gewalt muss nicht zwangsläufig zur unveränderlichen Identität eines Menschen gehören. Genauso wie wir Betroffene sexueller Gewalt nicht individualisieren dürfen, da das Problem strukturelle Ursachen hat, ist auch die sexuelle Gewalt von Männern kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem. Obwohl ein Täter in der konkreten Situation natürlich die Wahl hat, sich gegen seine Tat zu entscheiden, beruht sein ganzes Verhalten und Denken im Kern auf dem, was eine patriarchale Gesellschaft vorlebt, vordenkt und vormacht. Sexuelle Gewalt ist also kein Problem, das von bösen Einzeltätern ausgeht. Dementsprechend bietet es keine Perspektive, falsches Bewusstsein mit Schlägen zu korrigieren. So sollte ja auch keine Gesellschaft aussehen, die wir erkämpfen wollen. Aber was dann?

Transformative Justice als ein Ansatz, den es
weiterzuentwickelt gilt

Das erste Ziel ist auf jeden Fall einigermaßen sicherzustellen, dass keine unmittelbare Gefahr für unsere Genossinnen von dem Täter ausgeht. Der erste Gedanke sollte also stets den Betroffenen und ihrer unmittelbaren Sicherheit gelten. Der zweite Gedanke gilt der Ermöglichung des Wiedereinstieges in die politische Arbeit für die Betroffene. Erst dann, aber dann auch wirklich, sollten wir uns dem Umgang mit dem Täter widmen. Im Prozess muss dabei der Täter zunächst eingestehen und glaubhaft anerkennen, welchen Schaden er verursacht hat und was das für die Betroffene bedeutet. Im Weiteren muss er eine tiefgehende Auseinandersetzung führen mit Fragen wie: Was hat dazu geführt, dass ich Grenzen überschritten habe? Warum habe ich Signale der Betroffenen nicht gesehen oder ignoriert? Welche Abhängigkeiten bestanden zwischen der Betroffenen und mir? Inwiefern habe ich zur Schaffung dieser Abhängigkeiten beigetragen oder habe mich ihrem Abbau gegenüber passiv verhalten? Ich wusste doch was ich für Schaden und Verletzungen anrichten könnte, ich kannte doch Wege und Strategien gegen dieses schädliche und verletzende Verhalten, warum habe ich mich dennoch selbst zum Täter gemacht? Wie kann ich verhindern, dass ich dieses Verhalten in der Zukunft wiederhole? Wie kann ich mein Leben fortführen mit dem Wissen, dass ich eine Tat begangen habe, die nicht wieder gut zumachen ist, wie kann ich mich unter anderen Menschen bewegen ohne die Tat zu verleugnen?

Dabei ist wichtig anzuerkennen, dass zwar der
Täter die volle Verantwortung für seine Tat trägt, dass die Verantwortung aber
auch immer irgendwo von seinem direkten Umfeld
(„Community“/“Szene“/“Gruppe“) mitgetragen wird.
In welcher Umgebung konnten die subtilen Anzeichen von z.B. male supremacy, die
die Tat schon im Vorhinein angekündigt haben, nicht gesehen oder ignoriert
werden? In welcher Umgebung wurden selbst Signale gegeben, dass so gewaltvolles
Verhalten akzeptabel sein könnte,  oder
dass es „nicht schlimm genug“ sei, um zu intervenieren?

Aber wie ein einzelner Täter nicht isoliert von seinem direkten Umfeld betrachtet werden kann, so kann auch eine einzelne Community nicht isoliert von der gesamten kapitalistischen Gesellschaft betrachtet werden. Diesen Schritt geht der transformative-justice-Ansatz häufig leider nicht. Ohne die Überwindung dieses Systems werden wir jedoch niemals die Voraussetzungen und Bedingungen, in denen gewaltvolles Verhalten entsteht, beseitigen können. Gleichzeitig ist jeder Transformationsprozess mit einem Täter extrem energie- und ressourcenaufwendig für das Umfeld, daher im Rahmen einer kleinen Organisation in seiner Vollständigkeit unmöglich umsetzbar. Dennoch bleibt es unserer Meinung nach als einzige Möglichkeit für einen Ansatz zum Umgang mit Tätern, wie er in revolutionäre Politik eingebettet sein kann.


[1]Da für die folgenden Fragen vor sozialisierte gender roles wichtig
sind, wichtiger als z.B. gender identity oder biological sex, wollen wir im
Folgenden die Vokabeln “Frauen” und “Männer” im Sinne von “als weiblich” und
“männlich sozialisierte Personen” benutzen.