Woher kommen eigentlich Verschwörungsideologien?

von
J.J.Wendehals

Bei
den “Querdenker”-Demos kommen aktuell so viele Leute auf die
Straße wie sogar die Rassist_Innen von Pegida selbst zu ihren
Hochzeiten nur hätten träumen können. Dabei handelt es sich zwar
keineswegs um eine einheitliche Masse aus knallharten Faschist_Innen,
aber es gibt doch ein ideologisches Dach, unter dem alle diese
verschiedenen Leute (auf eine infektionspolitisch nicht vertretbare
Nähe) zusammenkommen: Es handelt sich um (mal mehr und mal weniger)
wilde Theorien darüber wie mystische Kräfte oder Personen die
Geschicke der Welt lenken und sie gegen den “kleinen Mann”
lenken, der sein einfaches Leben unterhalten will. Wir nennen diese
Verschwörungsideologien.

Woran glaubt ein_e
Verschwörungsideolog_In?

Typischer
Weise richten sie sich gegen tatsächlich relativ einflussreiche
Personen wie Konzernchefs (Bill Gates) oder Regierungsangehörige
(Merkel, Obama) aber es gibt auch weitaus phantastischere Ziele
(Echsen, außer- oder überirdische Wesen) und offen rassistische
(Juden und Jüdinnen, Geflüchtete). In den einzelnen Theorien sind
dann diese verschiedenen Feindbilder oft miteinander kombiniert und
verflochten wie z.B. im Fall von antisemitischen Verleumdungen des
George Soros (ein Investor jüdischer Abstammung, der sein Vermögen
auch für Bildungs- und bürgerrechtliche Zwecke einsetzt) oder wenn
behauptet wird Bill Gates (eigentlich ein getarntes Echsenwesen)
stehe hinter der Coronapandemie, um damit Geld in die Taschen der
Pharmakonzerne zu lenken, an denen er beteiligt ist. So absurd und
lächerlich diese Theorien einstweilen wirken, so real sind aber
offenbar doch ihre Auswirkungen und Hintergründe, dafür sind die
Mobilisierungen in Berlin nur der aktuellste von vielen Belegen.
Schon der Hitlerfaschismus verband seinen Antikommunismus mit
antisemitischen Motiven, wenn er die Gefahr einer
“bolschewistisch-jüdischen Weltverschwörung” an die Wand malte
und hatte am Ende den unfassbaren Terror von Zweitem Weltkrieg und
Shoah zur Folge. Wir wollen also in diesem Text das Phänomen ein
wenig analysieren.

Was
ist die ideologische Struktur der Verschwörungstheorien?

Auch
wenn Bebel sagte, Antisemitismus sei der “Sozialismus der dummen
Kerls”, beschränken Verschwörungsideologien sich nicht darauf
Hirngespinste “dummer” Menschen zu sein. Als Ausgangspunkt haben
sie tatsächlich oft eine reale Ungerechtigkeit der kapitalistischen
Verhältnisse, so z.B. die sich öffnende Schere zwischen Arm und
Reich, die Profitmacherei in der Pharmaindustrie, Arbeitslosigkeit
oder das zu Grunde gehen von kleinen Unternehmen. Jedoch bleiben sie
unfähig die systematischen Ursachen dieser Missstände in der
Struktur des Kapitalismus’ zu erkennen. Stattdessen greifen sie zu
vereinfachten Modellen, die allerdings jene mystischen Elemente
benötigen, um eine lückenlose “Argumentation” bilden zu können.
Wenn beispielsweise nicht erkannt wird, dass die kapitalistische
Konkurrenz die Kapitalist_Innenklasse dazu zwingt, ihre Profite immer
weiter zu maximieren oder unterzugehen, dann muss das Verhalten der
Konzerne in dem bösartigen Charakter liegen, den gewisse Personen
haben sollen, die für diese Konzerne verantwortlich gemacht werden.
Oder eben darin, dass diese Personen von Echsen kontrolliert werden
usw. usf. Dies ist auch oft ein Punkt, an dem Antisemitismus Einzug
erhält in jene Ideologien, da das Bild vom “gierigen Juden”, der
für seine eigenen Ziele bereit ist “die ganze Gemeinschaft” zu
betrügen, schon seit vielen hundert Jahren genutzt wird, um die
verschiedenen Formen des Judenhass’ zu begründen, die über die
Geschichte aufgetreten sind. So auch die Nationalsozialist_Innen, die
unterschieden zwischen einem “schaffenden” Kapital und einem
(jüdischen) “raffenden” Kapital, das für die kapitalistischen
Missstände wie Arbeitslosigkeit und insbesondere die
Weltwirtschaftskrise Ende der 20er verantwortlich sei. Seitdem sind
Wirtschaftskrisen, die die kapitalistischen Widersprüche auf die
Spitze treiben, immer wieder ein fruchtbarer Nährboden für
Verschwörungsideologien gewesen, der seine Wirksamkeit besonders
dann entfalten kann, wenn durch Schwäche und Niederlagen der Linken
Raum dafür gemacht wird (Was hat eigentlich die Linkspartei zum
Coronamanagement der Bundesregierung zu sagen?).

Es
sei an sich durchaus möglich, so ist das Fazit dieser Theorien, ein
gutes Leben im Kapitalismus zu führen, wenn nicht gewisse böse
Elemente vorhanden wären, die dem immer wieder entgegen wirken,
entweder durch Zersetzung von innen oder Fernsteuerung von außen.
Demnach ist die logische Konsequenz auch nie der vollständige
Umsturz des kapitalistischen Systems, sondern immer nur die
Beseitigung dieses oder jenes spezifischen Phänomens, das für alles
Übel verantwortlich sei, wie einzelne Kapitalist_Innen, die Jüdinnen
und Juden oder Geflüchteten. Um das zu erreichen werden Appelle an
den Staat gerichtet (z.B. Merkel und Spahn sollen vor Gericht) und im
schlimmsten Fall wird zu „Selbstjustiz“ gegriffen wie bei
dem Anschlag in Halle.

Welches
Sein steht hinter diesem falschen Bewusstsein?

Als
Marxist_Innen spielen für uns jedoch nicht nur die ideologischen
Merkmale einer Bewegung eine Rolle, sondern vor allem auch die Frage,
wer vertritt diese Ideologie und in welchem Zusammenhang steht sie zu
den materiellen Verhältnissen, mit einem Wort was ist ihr
Klassencharakter? Zwar ist die Soziologie der “Hygienedemos” noch
wenig erforscht, allerdings zeichnet sich eine Tendenz ab, die auch
bei NSDAP und gewissen Teilen der AfD zu beobachten ist. Neben
besonders prekarisierten Teilen der Arbeiter_Innenklasse wird der
hauptsächliche Anteil durch das Kleinbürger_Innentum ausgemacht,
also z.B. Besitzer_Innen von kleinen Läden oder Betrieben aber auch
Selbstständige im Handwerk, in der Gastro- oder Kulturbranche. Das
Kleinbürger_Innentum steht im Kapitalismus zwischen den Fronten der
beiden Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat. Es kann daher auch
kein konsistentes Klasseninteresse entwickeln, sondern schwankt
vielmehr die ganze Zeit zwischen den beiden Polen von Bourgeoisie und
Proletariat. Wenn sich ihm auch immer wieder kleine Nischen öffnen,
in die das große Kapital (noch) nicht vorgedrungen ist (Beispiele
sind bei Start-Ups oder im Dienstleistungssektor zu finden), so ist
es doch der Konkurrenz eines großen Konzerns niemals gewachsen.
Insbesondere in Krisenzeiten ist es anfällig, es fehlen ihm
Verteidigungsmittel wie Rücklagen und viele werden zerrieben und in
das Proletariat hinabgedrückt.

Möglich
ist dann, dass Teile von ihm sich der Arbeiter_Innenbewegung
anschließen, die gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die
Bevölkerung ankämpft. Da das Kleinbürger_Innentum nämlich nicht
nicht nur Produktionsmittel besitzt, sondern sich gleichzeitig auch
selber ausbeuten muss, kann ihre Situation nur so positiv aufgelöst
werden. Aber diese Möglichkeit besteht natürlich auch nur, falls so
eine Bewegung überhaupt existiert und es schafft ein revolutionäres
Programm aufzuwerfen. Andernfalls können daraus große reaktionäre
Bewegungen werden, die gefährlich sind für die Arbeiter_Innenklasse
und alle anderen unterdrückten Gruppen.

Keinen
Boden, keine Straße den Rechten!

Als
Revolutionär_Innen ist es also unsere Aufgabe für die Entstehung
jener linken Bewegung einzutreten. Wir müssen die Gewerkschaften und
Arbeiter_Innenparteien unter Druck setzen, dass sie linke Antworten
auf die Angriffe der Herrschenden formulieren und für diese auf die
Straße gehen sollen, anstatt sich klein zu machen und die Interessen
der eigenen Basis zum Teilbedürfnis der Konzerne zu pervertieren,
wie es die IG Metall vormacht, wenn sie sich für die unsägliche
Abwrackprämie einsetzt.

Jenen
Verschwörungsideologien muss aber eine Bewegung der
Arbeiter_Innenklasse eine unmissverständliche Absage erteilen. Den
Rechten und Verwirrten sollten wir jetzt vor allem keinen Raum auf
der Straße lassen. Blockieren wir sie, wo sie mobilisieren und bauen
wir dabei eine Gegenbewegung auf, die die Fragen der Krise von links
beantwortet!




Zweite Welle der Corona-„SkeptikerInnen“?

Wilhelm Schulz, 3. August 2020
Zuerst veröffentlicht unter
https://arbeiterinnenmacht.de/2020/08/03/zweite-welle-der-corona-skeptikerinnen/

Es war ein unheimlicher Aufmarsch. 20.000 bis 30.000 Corona-„SkeptikerInnen“ oder direkte LeugnerInnen der Pandemie demonstrierten am 1. August in Berlin. Aus dem gesamten Bundesgebiet mobilisierten die OrganisatorInnen der sogenannten Hygienedemonstrationen.

Sie feierten gemeinsam das angebliche Ende der Corona-Pandemie. Dabei sind die Zahlen täglicher Neuinfektionen weltweit höher denn je – von der Dunkelziffer vor allem in der halbkolonialen Welt ganz zu schweigen, die u. a. auf fehlende Testsysteme und darauf zurückzuführen sind, dass als Todesursachen andere Krankheiten und Mangelerscheinungen ausgewiesen werden.

Auch in Deutschland steigen bekanntlich die Zahlen. Die Öffnung der Wirtschaft und die Arbeitsbedingungen in den Betrieben stellen auch hier ein Gesundheitsrisiko dar, das Kapital und auch Corona-SkeptikerInnen billigend in Kauf nehmen. Kostenlose Testverfahren werden selbst in Deutschland nur wenigen angeboten – oft nur im Zusammenhang mit einem Flugticket.

Wir werden an dieser Stelle nicht weiter auf die Ideologie und den Irrationalismus dieser kleinbürgerlichen „Bewegung“ eingehen. Wir haben uns damit schon an anderer Stelle, z. B. im Artikel „Das Querfront-Virus“ , auseinandergesetzt.

In den letzten Wochen schien es freilich so, dass die rechte Mobilisierung durch mehrere Faktoren an Zulauf verloren hatte. Erstens hatte die Regierung mit der vollständigen Öffnung der Betriebe, von Schulen, Geschäften, Gaststätten – also mit der Aufhebung aller realen Einschränkungen der Gewerbefreiheit – eine, wenn nicht die zentrale Forderung der Bewegung erfüllt. Zweitens schien sich der obskur faschistische Teil der Bewegung stärker zu isolieren. Drittens hatten sie Gegenmobilisierungen wie in Berlin, vor allem aber die Massendemonstrationen in Solidarität mit Black Lives Matter in den Hintergrund gerückt.

Die Demonstration vom 1. August verdeutlicht freilich, dass es sich dabei nur um eine Momentaufnahme handelte und die Gefahr der Bildung einer reaktionären kleinbürgerlichen Massenbewegung keineswegs verschwunden ist. Und sie wird auch nicht verschwinden, wenn die organisierte ArbeiterInnenbewegung, allen voran die Gewerkschaften und SPD, aber letztlich auch die Linkspartei den nationalen Schulterschluss mit „ihrer“ Regierung suchen, während Millionen in Kurzarbeit einen Vorgeschmack auf Entlassung und massive, dauerhafte Einkommenseinbußen erhalten. Das erleichtert, ja ermöglicht es erst radikalisierten, reaktionären UnternehmerInnen und KleinbürgerInnen wie auch den organisierten Nazis, RassistInnen und VerschwörungstheoretikerInnen, sich als aktive, pseudo-systemoppositionelle Kraft zu präsentieren.

Solcherart stellt die rechte Mobilisierung nicht nur ein Warnsignal an die Linke, an die ArbeiterInnenbewegung dar. Sie unterstreicht auch die Notwendigkeit einer Antikrisenbewegung, die klare klassenpolitische Forderungen aufstellt, sich nicht den Programmen der Großen Koalition und des Kapitals unterwirft und gleichzeitig die Gefahr der Pandemie nicht außer Acht lässt. Dies ist die Aufgabe der Stunde für alle anti-kapitalistischen, internationalistischen und proletarischen Kräfte.

Tag der Freiheit?

Der unheimliche Aufmarsch lief unter dem Motto „Ende der Pandemie – Tag der Freiheit“ durch die Straßen Berlins. Die Parole enthält nicht nur die absurde, allen Fakten widersprechende These vom Ende der Pandemie. Sie bringt nicht nur ein Synonym für den zur individuellen Rücksichtslosigkeit gewordenen bürgerlichen Freiheitsbegriff zum Ausdruck – die Freiheit, alle anstecken zu dürfen.

Der Titel enthält eine weitere Doppeldeutigkeit. Schon in den letzten Monaten waren antisemitische und rassistische Tendenz bei den Mobilisierungen immer deutlicher zu erkennen. Mit Attila Hildmann haben wir den Prototyp eines zum Faschismus tendierenden maroden Kleinbürgers, der, wie seine versuchten Hetzjagden auf „Hooligans gegen Satzbau“ und „Anonymus Deutschland“ zeigten, näher an organisierte FaschistInnen angebunden ist, als er es denkt oder darstellt.

Und ja, „Tag der Freiheit“ ist kein neuer Titel. 1935 wurde der Film Leni Riefenstahls „Tag der Freiheit! – Unsere Wehrmacht“ im Auftrag der NSDAP veröffentlicht. Es war der Abschluss ihres filmischen Dreiteilers an Propaganda für Parteitage der FaschistInnen. Doch selbst wenn die Wahl des Mottos purer Zufall wäre – was angesichts der einschlägig rechten OrganisatorInnen kaum glaubhaft ist –, so wäre die Demonstration weiterhin hoch problematisch und es würde an ihrem zutiefst reaktionären Charakter nichts ändern.

Wer nahm teil?

Doch woher kommen die Kräfte politisch? Veranstaltet wurde die Aktion von Initiative Querdenken 711, die den Protest in Stuttgart organisieren, und der Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand (KDW) rund um Anselm Lenz, die die Mobilisierungen am Berliner Rosa Luxemburg Platz initiierten. Daneben nahmen auch VertreterInnen von NPD, Drittem Weg, Identitärer Bewegung, des Compact-Magazins Jürgen Elsässers, AnhängerInnen des QAnon-Mythos, ReichsbürgerInnen, Teile der Pegida-Bewegung und weitere neurechte bis faschistische Kräfte teil.

Sie stellten mit Sicherheit nicht die alleinige Führung und auch nicht die Mehrheit der sich Versammelten dar, aber sie prägen die Bewegung unzweifelhaft. Darüber hinaus waren auch etliche VertreterInnen der AfD vor Ort erkennbar. Die Mehrheit der sich Versammelnden rekrutierte sich vermutlich aus einem breiten Spektrum, welches von esoterischen ImpfgegnerInnen über SkeptikerInnen, die die Maßnahmen für überzogen halten, bis zu vor dem wirtschaftlichen Ruin stehenden KleinunternehmerInnen und ihren Angestellten reicht.

Während die zweite Gruppe vermutlich mehr Menschen bei einem Großevent auf die Straße bringen kann, so haben wir es bei der ersten mit Neurechten und StrategInnen zu tun, die die bunte Bandbreite von wirren Restbeständen der Friedensbewegung bis zu AnhängerInnen des Deutschen Kaiserreiches ausnutzen, um Heterogenität und Pluralismus vorzugaukeln. Deren wahrer Charakter offenbart sich darin, dass sich FaschistInnen in ihrem Fahrwasser aufbauen können. Das reale „Spannungsfeld“ der Bewegung zeigt sich letztlich darin, dass der kleinbürgerlich-unternehmerische Flügel auf ein  Programm der wirtschaftlichen und „kulturellen“ Öffnung pocht, das jedwede Rücksicht auf die gesundheitlichen Risiken für die Bevölkerung ablehnt und damit ganz nebenbei die Lockerungsmaßnahmen der Regierung stützt. Andererseits erleben wir hier eine Bewegung, die die Gefahr des Aufstiegs reaktionärer Kräfte in dieser Krisensituation aufzeigt.

Dass auch vereinzelt „linke“ Kräfte präsent waren, die aus dem Spektrum der Friedensbewegung zu kommen scheinen, macht die Sache nicht harmloser, sondern nur umso bedenklicher. Sie bilden schließlich kein Gegengewicht zu den Rechten, sondern entpuppen sich als deren nützliche IdiotInnen. Waren Formate wie Rubikon und NachDenkSeiten inhaltlich bereits vor Corona an einigen Punkten problematisch, so beschleunigt sich ihr politischer Verfall massiv, während die „Rote Fahne“-Gruppe zunehmend als bewusste Querfrontlerin in Erscheinung tritt.

Dieser Zusammenschluss bildet eine gefährliche Mischung, die tatsächlich lieber im Giftschrank hätte bleiben sollen. Es zeigt uns, unter welchem politischen Vorzeichen wir in diese Krisenperiode gerutscht sind, unter dem eines gesellschaftlichen Rechtsrucks als Folge der Niederlagen des Arabischen Frühlings und der Bewegung in Griechenland, des Aufstiegs des Nationalismus und der Krise der EU sowie der zugespitzten imperialistischen Konkurrenz – bei gleichzeitigem politischen Bankrott der Linken.

Im August 2020 erleben wir das Zusammengehen von Pegida und der Anti-Hygienebewegung, einen Schulterschluss unter Zwillingen. Eine repräsentiert den Rechtsruck des letzten Jahrzehnts in Deutschland, die andere das Gefahrenpotential der aktuellen Periode des Klassenkampfes, wenn die ArbeiterInnenbewegung keine klassenkämpferische Antwort für die Massen zu geben vermag.

Wer und wie viele?

Das genau zu beantworten, ist fast unmöglich. Zwar gab es Ortsschilder, die auf der Versammlung in die Luft gehalten wurden. Aber um wirklich abschätzen zu können, wie viele der sich versammelnden aus dem rechten Spektrum kommen, wie viele durch die Anti-Hygienedemonstrationen politisiert wurden, dafür wäre eine ausführlichere Recherche nötig. Laut Junger Welt kam ein großer Teil der sich Versammelnden aus Baden-Württemberg und Sachsen.

Die Zahlen der TeilnehmerInnen gehen weit auseinander, von 17.500 bis zu reichlich phantastischen 1,5 Millionen. Hierzu muss einiges gesagt werden, aber es ist mit Sicherheit nicht die Hauptfrage, die die Linke beschäftigen sollte. Selbst wenn es „nur“ 17.500 Menschen waren, so ist das die größte Berliner Mobilisierung von rechts in diesem Jahr. Was die Hauptstadt betrifft, so ist sie vergleichbar mit der Black-Lives-Matter-Kundgebung im Juni am Berliner Alexanderplatz, bei der mindestens 20.000, wahrscheinlich sogar über 30.000 Menschen protestierten.

Ein Artikel vom Volksverpetzer vom 2. August kalkuliert eher mit 17.000 Menschen, ähnlich den Polizeiangaben. Dabei legt er die Grundfläche der Abschlusskundgebung den Berechnungen zugrunde und geht von einer durchschnittlichen Mensch-Flächen-Dichte von einer Person pro Quadratmeter aus, was 17.000 Menschen ergibt. Für seine Berechnungen zieht er außerdem Vergleiche mit den Bildern der Loveparade von 1999, bei der 1,4 Millionen Menschen auf der Straße des 17. Juni waren.

Hiermit zeigt er eindrucksvoll, wie viel größer die letztere Veranstaltung war. Persönlich war der Autor bei keiner der beiden vor Ort, hält jedoch das Verhältnis von einer Person pro Quadratmeter für etwas viel Platz über die gesamte Strecke, aber selbst bei 0,75 oder 0,5 Quadratmeter pro Menschen wären es lediglich knapp 23.000 beziehungsweise 34.000 TeilnehmerInnen.

Für die Teilnehmenden und ihre Chatgruppen wird die Zahlendebatte irrelevant, halten sie doch jedwede Berichterstattung gegen sie für gleichgeschaltet. Das zeigen auch die Einschüchterungsversuche gegenüber der Presse vor Ort. Mehrere Fernsehteams sahen sich gezwungen, ihre Berichterstattung abzubrechen. Die VeranstalterInnen forderten von jeder teilnehmenden ReporterIn eine Voranmeldung, in der diese unterzeichneten, dass sie stets „wahrheitsgemäß, unparteiisch und vollständig berichten“ – worunter sie ihre eigene „Wahrheit“ verstehen. Wie schon bei den rechten Demonstrationen in Stuttgart wollen diese selbsternannten VerteidigerInnen der Meinungsfreiheit missliebigen JournalistInnen einen Maulkorb verpassen, diese zensieren.

Rücksichtslosigkeit als Programm

Die Darstellung des Corona-Virus schwankt in der Bewegung zwischen der Beschreibung als regulärer Grippewelle und einer bloßen Fiktion einer „globalen, homogenen Elite“ von MultimilliardärInnen wie Bill Gates und der Pharmaindustrie, die die Politik und die Medien gleichgeschaltet hätten. Auch wenn die Einschätzungen auseinandergehen, so finden sie doch ihren gemeinsamen Punkt in der Ablehnung jedweder Einschränkung aufgrund von SARS-CoV-2, seien sie noch so geringfügig wie das Tragen von Mund-Nasen-Masken im öffentlichen (Eng-)Raum.

Die Freiheit, die sie meinen, entpuppt sich als Rücksichtslosigkeit, als blanker Egoismus. Diese Doppelbödigkeit ist der Freiheit im Kapitalismus selbst nicht fremd. Schließlich beinhaltet die Freiheit des Privateigentums, die diesem System zugrunde liegt, die Freiheit der einen, uneingeschränkt wirtschaften zu können, das Elend und die Eigentumslosigkeit anderer auszunutzen – ob im Ausbeutungsverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital oder in der Unterordnung von Gesundheit und Umwelt unter die privaten Profitinteressen. Wir sagen es offen: Diese falsche Freiheit brauchen wir nicht zu verteidigen. Wir tragen MN-Masken, damit die Einschränkung des Virus möglichst erfolgreich sein kann. Auch wenn es uns individuell um ein Quantum unseres üblichen Alltagsverhaltens einschränkt, so ist dies doch notwendige gegenseitige Rücksicht unter den gegebenen Bedingungen (fehlender Impfschutz, keine flächendeckenden Tests auf Infektion und Immunität).

Andererseits dürfen wir nicht dem Trugschluss auf den Leim gehen, dass sich die Existenz von Corona dadurch bestätigt oder falsifiziert, nur weil auf der einen oder anderen öffentlich stattfindenden Massenveranstaltung (k)eine Infizierung stattfindet. Auch auf Demonstrationen und Aktionen treten wir wie alle anderen Linken, die die Gesundheitsfrage – und damit die Lebensinteressen der Bevölkerung – ernst nehmen, dafür ein, Masken zu tragen. Zugleich lehnen wir aber jede politische Einschränkung des Demonstrationsrechts durch die Regierungen ab, weil wir für notwendigen Schutz gegen Gesundheitsgefährdung und die Abwälzung der Krisenkosten auf die ArbeiterInnenklasse alle Mittel des politischen und gewerkschaftlichen Kampfes brauchen werden – ansonsten drohen Massenentlassungen, Verelendung, Wohnungsräumungen etc.

Während sich die Corona-SkeptikerInnen als Opfer der Repression und der Unterdrückung wegen ihres Verstoßes gegen die Hygiene-Vorschriften hinstellen, offenbart das brutale Vorgehen der Berliner Polizei gegen eine Solidaritätsdemonstration mit der/dem von der Räumung bedrohten linken Kneipe/Treffpunkt Syndikat, wo der Staat den/die wirkliche/n GegnerIn ausmacht. Dutzenden TeilnehmerInnen dieser linken Demo gegen Räumung und Gentrifizierung wurden von der Straße geknüppelt, niedergerannt und zum Teil schwer verletzt – und das obwohl sie Masken trugen und auf die Gesundheitsvorschriften achteten. Wenn es um Repression von Protest für fortschrittliche soziale oder politische Anliegen geht, pfeift nicht nur die Berliner Polizei freilich auf Hygiene-Schutz und wird zum doppelten Gesundheitsrisiko.

Natürlich versuchen auch die Corona-SkeptikerInnen, für ihre Mobilisierung solche und andere reale Missstände mit auszunutzen – freilich nur, um sie in eine reaktionäre Gesamtkonzeption einzupassen. Wir werden diese demagogischen Tricks freilich nicht bloß durch Argumente abwehren können. Die ArbeiterInnenbewegung und die Linke müssen ihrerseits die Maßnahmen der Regierung einschließlich ihrer Widersprüche anprangern.

So will die GroKo für UrlauberInnen an Flughäfen verpflichtende Tests einführen. Zwar halten wir das prinzipiell für gerechtfertigt, jedoch stellen sich hier einige Fragen wie: Wer zahlt die Tests? Wer zahlt für mögliche Quarantäneschritte? Ist das dann unbezahlter Urlaub? Kommt das Unternehmen dafür auf? Wieso erhält die Reiseindustrie solche Hilfsmittel, aber der gesamte Pflegebereich nicht? Ein weiteres Beispiel ist der drohende Missbrauch mit notwendigen Einschränkungen des Alltags. So wurden von der Polizei in den letzten Wochen in bereits vier Bundesländern die Anwesenheitslisten von öffentlichen Gaststätten für „Ermittlungen“ missbraucht.

Das zeigt, dass wir niemals blindes Vertrauen in die Einschränkung demokratischer Rechte durch einen bürgerlichen Klassenstaates setzen dürfen. Wir müssen eine unabhängige Perspektive aufzeigen, die sich nicht der Ideologie des notwendigen Übels an allen Ecken und Enden anschließt. Deshalb lehnen wir die Zusammenarbeit der Gewerkschaftsführungen mit den Maßnahmenpaketen der GroKo im Schulterschluss mit den UnternehmerInnenverbänden kategorisch ab. Die selbstauferlegte Friedenspflicht der ArbeiterInnenbürokratie muss politisch bekämpft werden. Die Passivität von Oppositionsparteien wie der Linkspartei darf nicht unkommentiert bleiben. Es ist auch ihr Stillschweigen, das das Erstarken dieser neurechten Bewegung ermöglicht.

Was brauchen wir?

Wir brauchen also eine Bewegung, die Widerstand gegen die Maßnahmen von Staat und Kapital organisiert und gleichzeitig das gesundheitliche Wohl durch von der ArbeiterInnenklasse kontrollierte Hygienemaßnahmen durchsetzt. Eine solche Bewegung muss die falsche Opposition von Querdenken 711, Widerstand 2020 und KDW, die in braunen Gewässern fischen und gefischt werden, ablehnen. Wo nötig, muss sie sich ihnen entgegenstellen. Vor allem müssen wir eine breite Anti-Krisenbewegung aufbauen, die eine klassenpolitische Antwort auf die Krise gibt.

Wir brauchen eine Zusammenführung der verschiedenen sozialen Kämpfe der letzten Monate, z. B. der beeindruckenden Mobilisierungen von BLM und von Kampagnenorganisationen wie Migrantifa oder der Fridays-for-Future-Bewegung, die im September wieder einen internationalen Streik organisieren möchte. Wir müssen betriebliche Aktionen wie gegen die Entlassungen bei Galeria Karstadt Kaufhof miteinander ebenso verbinden wie mit dem Kampf für das Mietmoratorium, die Enteignung der Immobilienkonzerne oder die #LeaveNoOneBehind-Kampagne gegen das Sterben im Mittelmeer.

Die Aufgabe dieser Bewegungen und Kämpfe ist es, gemeinsame Antikrisenbündnisse aufzubauen und eine Großdemonstration im Herbst unter dem Motto „Wir zahlen weder für Krise noch Virus“ zu organisieren. Sie müssen den Druck auf die Gewerkschaften und bürgerlichen ArbeiterInnenparteien erhöhen, mit Koalitionspolitik und SozialpartnerInnenschaft zu brechen. In den vergangenen Monaten haben diese bewiesen, dass sie nicht willens sind, selbstständig solche Bewegungen aufzubauen – wir müssen sie dazu zwingen! Nur so kann der ArbeiterInnenklasse, aber auch auch Teilen des verängstigten KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten gezeigt werden, dass der Widerstand gegen die Rettungspakete fürs Kapital, während ein Großteil der Bevölkerung mit Brotkrumen abgefertigt wird, möglich ist und mit dem Kampf gegen die Gesundheitsgefahr verbunden werden kann und muss.

Wir werden versuchen, nach unseren Möglichkeiten, eine solche Bewegung aufzubauen und fordern alle Organisationen und Parteien, die diese Einschätzung teilen, auf, ihr beizutreten, das Notwendige zur Wirklichkeit werden zu lassen.




Das Querfront-Virus

Markus Lehner/Wilhelm Schulz: Gastbeitrag der Gruppe ArbeiterInnenmacht vom 12. Mai 2020

Als Mitte März in Deutschland die Lockdown-Maßnahmen gegen die
Ausbreitung des Corona-Virus begannen, schien zumindest die
Notwendigkeit von Kontakteinschränkungen als zentrales Mittel zur
Pandemiebekämpfung allgemein akzeptiert. Ebenso, dass so schnell wie
möglich ein Impfstoff gefunden werden muss, um zur „Normalität“
zurückzukehren. Die hohe Geschwindigkeit der Ausbreitung und die
Erfahrung mit dem zusammenbrechenden Gesundheitssystem in Ländern wie
Italien machten deutlich, dass es dringend Handlungsbedarf gab. Sie
enthüllte auch, wie lange die Regierungen praktisch aller Staaten die
Gefahr einer Pandemie verharmlost hatten.

Dennoch kam es schon wenige Tage nach den ersten Einschränkungen zu
Protestaktionen einer zunächst belächelten Gruppierung von
„GrundgesetzschützerInnen“. Inzwischen hat sich diese zu einer neuen
populistischen, rechten Welle ausgeweitet und präsentiert sich als
angeblich radikale Opposition zu den „Eliten“. Dabei greift sie zwar
reale Befürchtungen auf, zum Opfer einer globalen Wirtschaftskrise zu
werden, und artikuliert auch Kritik an den Einschränkungen
demokratischer Rechte – aber sie tut dies, indem sie dies mit einer
wilden Mischung aus Populismus, rechter Ideologie, Verschwörungstheorie
und irrationalistischer Leugnung der Gefahr des Corona-Virus verknüpft.

Auch wenn einige InitiatorInnen der Proteste ursprünglich aus Teilen
der politischen Linken kamen, so wurde diese bei den Aktionen innerhalb
kurzer Zeit marginalisiert. Wie die Demonstration am Berliner
Alexanderplatz am 8. Mai z. B. zeigte, wurden einstige InitiatorInnen,
die sich verspätet und mit einer gewissen Verzweiflung gegen
Nazi-Präsenz aussprachen, von ihren rechten AnhängerInnen mit Rufen wie
„Volksverräter“ und „Spalter“ angegangen. Diese „Linken“ wirken wie
politische Zauberlehrlinge, die nun die Geister nicht mehr loswerden,
die sie riefen –, und die zu allem Überdruss in der Regel weiter die
Rolle von Rechten, PopulistInnen und VerschwörungstheoretikerInnen
verharmlosen.

Die Zauberlehrlinge

Einer der ersten Initiatoren des Protestes vor der Berliner
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz war der ehemalige TAZ-Journalist
Anselm Lenz, der am 21. März in einer Kolumne der Online-Zeitschrift „Rubikon“
eben zum Widerstand gegen das „Notstandsregime“ aufrief. Wenig später
war er dann auch nicht mehr TAZ-Redakteur – und auch die „Junge Welt“,
für die er zuvor manchmal geschrieben hatte, distanzierte sich von ihm.
Zwischen 2016 und 2018 befasste er sich regelmäßig in den Feuilletons
mit der Lage an der Volksbühne, die in dem Zeitraum kurzzeitig besetzt
wurde, damals gegen die neue Intendanz von Chris Dercon. Neben der
Kritik an der Notwendigkeit einer hierarchischen Figur einer
Theaterintendanz wurde auch dem vorherigen Intendanten Frank Castorf
nachgetrauert. Auch letzterer wünscht sich einen „republikanischen
Widerstand“ (Berliner Zeitung, 29.4.). Inzwischen distanzieren sich die
ehemaligen VolksbühnebesetzerInnen vonbeiden.

Das Online-Magazin „Rubikon“, mit dem von den „Nachdenkseiten“
her bekannten Jens Wernicke an der Spitze, hat sich überhaupt zum
„linken“ Sprachrohr derjenigen gemacht, die eine angebliche
„Medieninszenierung“ entdeckt haben wollen, die eine Panik hervorrufe,
auf deren Grundlage unsere Grundrechte angegriffen würden. Wir vertreten
nicht die jetzt allgemein verbreitete Qualifizierung, dass dieses
Magazin an sich schon eine „Querfront“ sei. Immerhin finden sich in den
Artikeln klare Positionierungen gegen AfD, Nazis und
rassistische/ausländerInnenfeindliche Migrationspolitik. Andererseits
führt seine nebulöse Hauptlinie gegen „Neoliberalismus“ und die
allgemeine „Gleichschaltung der Medien“ zu einer Form der Kritik am
„tiefen Staat“ und an der „Lügenpresse“, die sich offenbar leicht mit
rechten Verschwörungstheorien in Verbindung bringen lässt – und damit
tatsächliche Querfronten befördert.

Auch die „Nachdenkseiten“, mit dem alten SPD-„Linken“ Albrecht
Müller, haben sich inzwischen in den Kanon des Kampfes gegen die
„Medieninszenierung“ eingereiht – eine Verkürzung, die in ihrem
Ursprungskampf gegen die Hartz-IV-Angriffe und die „Reformlüge“ noch
eine fortschrittliche Richtung aufwies. Ironischer Weise wurde auch von
Müller lange Zeit ausgerechnet Russland als Vorbild angeführt, wie eine
vernünftige Regierung sich nicht von der Interessen geleiteten
Panikmache beeinflussen lassen könne. Die Ausbreitung des Virus und die
Politik des russischen Regimes haben dieses Märchen schnell mit der
Realität konfrontiert. Umso schlimmer, dass an den lieb gewonnenen
Einbildungen festgehalten wird.

Zu letzterem passt, dass „Russia Today“ (RT) zu den eifrigsten
BerichterstatterInnen des „deutschen Widerstandes“ zählt und der für
dieses Medium arbeitende Journalist Ulrich Gellermann durch besonders
scharfe Kritik an der „Virus-Diktatur“ auffiel (siehe z. B. „In Zeiten
der Virus Diktatur“, NRHZ). Natürlich wird von Gellermann „bewiesen“,
dass RT zu den letzten VerteidigerInnen der Meinungsfreiheit in
Deutschland gehöre und im Zusammenhang mit Berichten über die RT-Hetze
die Russland-Feindschaft der deutschen Leitmedien deutlich würde. Die
reaktionäre Seite der RT-Berichterstattung, die z. B. in der
„Flüchtlingskrise“ deutlich wurde, als sie Rechten eine Plattform für
ihre Hetze bot, wird geflissentlich übergangen oder verharmlost.

Interessant auch, dass verschiedene Teile der „Friedensbewegung“ und
auch der „Freidenker“, für die Russland weiterhin ein Hort des Friedens
und Fortschritts zu sein scheint, in Gellermann auch in der Corona-Frage
wieder ihren Sprecher gefunden zu haben scheinen.

Dass diese VerteidigerInnen der „Demokratie“ ausgerechnet in einem
Sender des russischen, imperialistischen Staates einen veritablen
Verbündeten ausmachen, ist kein Zufall. Es verweist vielmehr auf eine
analytische und politische Fehleinschätzung, die sie und auch Teile der
Friedensbewegung offen für Querfronten macht. In ihren Augen
kennzeichnet die Weltlage eine fortgesetzte Blockkonfrontation zwischen
einem aggressiven westlichen Imperialismus unter US-Führung mit einem
„fortschrittlichen“ Lager um China und Russland. Der imperialistische
Charakter dieser beiden Staaten wird ebenso vehement bestritten wie die
Gegensätze zwischen den USA und den führenden EU-Mächten. Hinter dieser
angeblichen Hauptachse der Weltlage erscheinen alle, die sich gegen die
wirkliche oder auch vermeintliche Dominanz von US-Kapitalen und ihren
deutschen und anderen europäischen Vasallen wehren, als mögliche
Verbündete im „Freiheits- und Friedenskampf“.

Ken Jebsen

Von oben angeführter bunter Ansammlung aus LinksreformistInnen,
AltstalinistInnen oder kleinbürgerlichen SelbstdarstellerInnen sind
eindeutig rechts stehende Figuren wie der Blogger und
Ex-Rundfunkjournalist Ken Jebsen zu unterscheiden. Seinen Radio-Job
verlor er wegen allzu offensichtlicher Verbreitung von
Verschwörungstheorien. Auch wenn er sich anfangs als „demokratisch“ und
vermeintlich links gerierte, so hatte sich Ken Jebsen spätestens seit
der rassistischen Hetzjagd auf MigrantInnen in Chemnitz rechts
positioniert. In einem ersten Beitrag hatte er rassistische Mobs noch
verurteilt, doch nach einem Shitstorm seiner rechten HörerInnen
entschuldigte er sich für diesen. Schon davor bot er dem AfD-Politiker
Christian Blex, dem marktradikalen Hayek-Anhänger Markus Krall, der
schon mal forderte, den Armen das Wahlrecht zu entziehen, und
EIKE-KlimaleugnerInnen (Europäisches Institut für Klima & Energie)
auf seinem Kanal eine Bühne.

Nunmehr ist sein YouTube-Kanal KenFM so etwas wie das inoffizielle
Zentralorgan für deutsche VerschwörungstheoretikerInnen geworden: allein
im April schoss seine Abonnentenzahl um 75.000 auf an die 450.000 in
die Höhe. Dabei verbreitet er nicht nur, dass die „Corona-Hysterie“
fabriziert werde, um einen lang vorbereiteten Angriff auf unsere
Grundrechte durchzuführen (seine AnhängerInnen treten jetzt meist mit
Hochhalten des Grundgesetzes in Erscheinung). Besonders vehement legt er
inzwischen dar, dass die WHO praktisch von Bill und Melinda Gates und
ihren MitkapitalistInnen übernommen worden wäre, um mithilfe der
Medienpanik einen Impfzwang für ihre Pharmaprodukte zu erreichen. Ob
dies dann nur wegen der Profitinteressen oder aus anderen Gründen (hier
fällt auch das Schlagwort „Euthanasie“) geschieht, erschließt sich
wahrscheinlich nur den VerschwörungsexpertInnen.

Diese „Theorie“ hat inzwischen die noch idiotischere Erklärung von
der Verursachung von Corona durch 5G-Sendemasten abgelöst. Hier war doch
zu offensichtlich, dass das 5G-Mobilfunknetz auf einem Frequenzbereich
arbeitet, der früher beim antennengebundenen Fernsehen üblich war. Wie
viele Epidemien oder Gedankenwellenexperimente haben wir da wohl
verpasst?

Das Beispiel Jebsens und seine Rolle verdeutlichen freilich, dass wir
es mit dem Auftritt von Rechten bis zu AfD und NPD nicht mit einem
Zufallsprodukt zu tun haben, sondern sich ein solches „Netzwerk“ längst
vor den Protesten entwickelt hat. Die Übernahme und Dominanz der
Aktionen durch das rechte Spektrum war kein Zufall, sondern im Voraus
absehbar und entsprach der bestenfalls populistischen Stoßrichtung der
AkteurInnen, die nur zu bereitwillig den rechteren, radikaleren
Populismus eines Jebsen und anderer scheinbar „unabhängiger“ Rechter
aufgriffen.

Der zunächst kleine Protest dieser GrundgesetzschützerInnen und
VerschwörungstheoretikerInnen traf aber im Lauf des Aprils offenbar auf
ein tatsächliches Bedürfnis. Die Auswirkungen des Lockdowns waren für
viele Menschen schwerwiegend: ob sie um ihren Arbeitsplatz fürchten, ihr
kleines Geschäft schließen mussten oder ob sie ganz einfach mit der
Betreuung der Schul- oder Kita-Kinder allein gelassen sind. Nachdem die
Ausdehnung des Lockdowns immer unabsehbarer wurde, wuchsen natürlich
auch Zweifel. Trotz ausführlicher Berichterstattung in den Medien waren
plötzlich auch wieder die „Alternativquellen“ in den Tiefen des Netzes
begehrt (wie schon bei den diversen „Flüchtlings“/„Islamismus“-Krisen).
Da diesmal sowohl Linkspartei als auch AfD zunächst der Linie des
Lockdowns folgten, wurden genannte Plattformen zu einem Anziehungspunkt
für alle möglichen an der Situation Verzweifelten bzw. Zweifelnden. Dazu
fanden sich dann für die „alternativen Meinungen“ auch die notwendigen
„ExpertInnen“, die die Wissenschaftlichkeit der Erklärungen vom
Robert-Koch-Institut (RKI) oder anderen etablierten VirologInnen in
Frage stellten.

Wissenschaftsfeindlichkeit und Irrationalismus

Eine wichtige Rolle spielte dabei der Arzt und ehemalige
SPD-Abgeordnete Wolfgang Wodarg, dessen Äußerungen als zentraler Beleg
für „wissenschaftliche Zweifel“ an der „Panikmache“ fungieren. Seine
Interviews, z. B. mit KenFM, erzielen Rekordwerte an Reichweite.
Tatsächlich ist der inhaltliche Gehalt seiner „Kritik“ dürftig. Seine
Behauptung, dass „das Corona-Virus“ schon lange bekannt gewesen wäre und
nur durch die Testverfahren jetzt aufgefallen sei, ist sogar blanker
Unsinn. Einerseits sind natürlich Corona-Viren als „Erkältungsviren“
bzw. im Zusammenhang mit der ersten SARS-Epidemie lange bekannt. Dass
aber das in Wuhan aufgetretene neue Virus ohne die Tests nicht
aufgefallen wäre, ist schon erstaunlich angesichts der offensichtlichen
Übersterblichkeit (also der statistisch eindeutigen, mehrere
Größenordnungen überschreitenden Todeszahlen gegenüber „normalen“ im
selben Zeitraum) erst in China, dann in Italien und schließlich auf der
ganzen Welt. Die Vergleiche mit „normalen Grippewellen“ sind angesichts
der weltweiten Todeszahlen und der fehlenden Impfstoffe (gegenüber den
diesjährigen Grippeviren) auch inzwischen nur noch lächerlich.

Peinlich wurde es, als er den EntwicklerInnen des heute gängigen
Tests vorwarf, die notwendigen Verfahren nicht eingehalten zu haben, und
gar nicht klar sei, ob die als infiziert gemeldeten Personen
tatsächlich an dem zu Covid-19 führenden Virusstamm erkrankt seien. Dumm
nur, dass die Verfahren zur Testgewinnung vollkommen transparent ins
Netz gestellt wurden und von keinem/r der überprüfenden VirologInnen
ernsthafte Zweifel an der Gültigkeit geäußert wurden. So könnte man noch
lange fortfahren – und in den Erklär-Videos von Harald Lesch bis zu den
fast täglichen Daten, die Christian Drosten per Twitter liefert, können
detailliert die Widerlegungen dieser Falschdarstellungen nachgelesen
werden.

Ähnlich wie bei den LeugnerInnen des menschengemachten Klimawandels
wird dies jedoch keine/n der „Corona-SkeptikerInnen“ überzeugen – diese
WissenschaftlerInnen gehören ja zur „Medienverschwörung“. Wichtig ist
ihnen nur, „ihren Experten“ vorweisen zu können. In seinem Gefolge
tummeln sich dann etliche Hobby-ExpertInnen, die statistisch
„nachweisen“, dass die Sterblichkeit an Corona vom RKI völlig falsch
dargestellt wird oder die Voraussagen alle so nicht eingetroffen seien,
dass die Sterblichkeit in Italien wegen irgendwelcher Umwelteinflüsse
besonders hoch sei etc.

Vor allem die verharmlosende Darstellung als eine „etwas stärkere
Grippewelle“ verkennt das Wesen und die Gefahr einer weltweiten
Epidemie, deren Ausbruch nicht verhindert werden konnte, völlig. Die
historischen Beispiele, wie die spanische Grippe, zeigen, wie schnell
Gesundheitssysteme zusammenbrechen können und die Infektion in Wellen
mehrfach um den ganzen Globus schwappen kann. Wenn es nicht gelingt, die
Infektionsrate und die Erkennung von Infektionsketten in den Griff zu
bekommen, also die Reproduktionsrate der „aktiv Infizierten“ nachhaltig
zu begrenzen, droht ein unkontrollierbarer Ausbruch mit exponentiellen
Wachstumsraten. Lässt sich der dann nicht auf ein bestimmtes Gebiet
beschränken, hilft nur ein Lockdown. Die statistischen und medizinischen
Gründe für Schutz- und Hygienemaßnahmen, die Notwendigkeit von
permanenten massenhaften Tests und der möglichst raschen Entwicklung
eines Impfschutzes sind rational nicht anzuzweifeln.

Die Argumentationen der weltweiten ExpertInnen auf diesem Gebiet
widersprechen sich hier nicht und sind jedem/jeder wissenschaftlich
halbwegs Gebildeten auch klar verständlich nachprüfbar. Im Gegenteil:
Die auf den wissenschaftlichen Plattformen veröffentlichten Ergebnisse
lassen vermuten, dass die Bedrohung durch die Pandemie sehr viel größer
ist, als dies PolitikerInnen und Medien hierzulande darstellen! Die
ökonomischen Interessen, die zur Abschwächung der Pandemiemaßnahmen
drängen, sind offensichtlich. Schon beim Anlaufen der Maßnahmen wurden
viele nicht lebensnotwendige Arbeitsprozesse fortgesetzt, trotz
eindeutiger Infektionsgefahr. Die Zustände auf den Schlachthöfen stellen
hier nur die Spitze des Eisbergs dar. Schul- und Kita-Schließungen
erfolgten viel zu spät, genauso wie sie jetzt überhastet wiedereröffnet
werden. Die Warnungen der VirologInnen wurden tatsächlich in der
Öffentlichkeit immer mehr in den Hintergrund gedrängt, während von
Politik und Medien ein Wiedereröffnungs-Hype betrieben wird.

Dazu passt die Episode der sogenannten „Heinsberg-Studie“. Abgesehen
davon, dass das politische Versagen rund um die Eindämmung des Ausbruchs
in diesem Landkreis tatsächlich untersucht werden muss, handelt es sich
bei dieser Studie nur um virologische Auswertungen des
Infektionsverlaufs. Darauf aufbauend wurden einige statistische Aussagen
zur möglichen tatsächlichen Zahl der Infizierten und zur
gruppenspezifischen Sterblichkeit gemacht. Aussagen über die viel
größere Zahl, die Corona bereits durchlaufen hätten, und die damit auch
viel geringere Sterblichkeit machten daraufhin die Runde – sowohl in den
Verschwörungstheorieblogs als auch bei den interessierten
PolitikerInnen des „Establishments“. Legendär der Auftritt des
NRW-Ministerpräsidenten Laschet bei der ersten Präsentation der Studie,
die zur reinen Propaganda für mehr Öffnungen wurde. Inzwischen wurde an
ihr scharfe Kritik in Bezug auf die unzureichende statistische Basis,
die fehlende Angabe von Varianzen und offensichtliche rechnerische
Ungenauigkeiten geübt (Spiegel, 7.5.). Die VerfasserInnen der Studie
betonten in ihrer Reaktion, dass sie für die falsche Interpretation
ihrer Ergebnisse nicht verantwortlich seien. Doch das Kind war da schon
in den Brunnen gefallen. Die Verbreitung der Ergebnisse der Studie in
dieser „Interpretation“ war hoch professionell von der Medienagentur
Storymachine GmbH, deren Hauptfinanzier der Allianzkonzern ist, genau so
betrieben worden. Ohne hier eine Gegenverschwörungstheorie erzählen zu
wollen – offensichtlich gab und gibt es auch in Bezug auf die
Verharmlosung der Gefahren eine starke Medienpolitik, die sich auf jeden
Fall auf klar erkennbare wirtschaftliche Interessen stützt. Das zeigt
sich auch darin, dass die rechten, kleinbürgerlichen und
unternehmerischen Parolen der „Querdenker“-Demos in Stuttgart auch von
den UnternehmerInnenverbänden aufgegriffen wurden, die dem Volk nicht
länger ihre Dienste und Waren vorenthalten wollen. Wer am Stuttgarter
Wasen eng für die Öffnung der Gastronomie und Läden zusammensteht, rückt
auch leichter auf der Arbeit eng zusammen und mosert nicht wegen der
Nichteinhaltung „kleinlicher“ und kostspieliger Hygiene- und
Arbeitsschutzvorschriften.

Die verständliche Verzweiflung vieler Menschen über ihre Lage lässt
einige offenbar empfänglich werden für irrationale,
wissenschaftsfeindliche Verschwörungstheorien. Aus welchem Eck die
KritikerInnen der „Virus-Diktatur“ zunächst auch immer kamen – Ende
April nahm der Protest merklich an Fahrt auf und ging über die Blase im
Netz hinaus in höhere physische Beteiligung an Kundgebungen über.
Rechtzeitig bemerkte auch die organisierte Rechte, dass hier eine Chance
für den Protest gegen die „herrschenden Eliten“ zu ergreifen ist. Nicht
nur einzelne AfD-PolitikerInnen und Parteigliederungen schlossen sich
an. Auch organisierte Neo-Nazis, insbesondere die „Identitäre Bewegung“
riefen nun zur aktiven Beteiligung auf. Der Sprecher der Identitären,
Martin Sellner, ruft offen zur Unterstützung von „Widerstand 2020“ auf.
Auch wenn er nicht mit allem übereinstimmt, so hätte er interessante
Gespräche mit dem Sprecher von „Widerstand 2020“, dem Arzt,
Corona-Leugner und „Patrioten“ Bodo Schiffmann geführt. NPD- und
Pegida-Größen erscheinen auf den Kundgebungen der
„GrundgesetzschützerInnen“, die von alldem nichts bemerkt haben wollen.
Mehr und mehr wurden die Demos von rechten Vereinen wie z. B. „Zukunft
Heimat“ übernommen. Dass organisierte Rechte dann auch physisch zum
Angriff auf die „Lügenpresse“ übergehen, ist weiterer Ausdruck des
drohenden Eskalationspotentials.

Dass Martin Sellner, der Kopf der Identitären Bewegung, hier die
Möglichkeit sieht, eine breite Bewegung gegen die „herrschenden Eliten“
zu inszenieren und endlich ein massenhaftes Protestpotential zu
erreichen, ist nicht verwunderlich. Dass die erwähnten „Linken“ dies als
Nebenpunkt ihres an sich so berechtigten Protestes sehen und die
Hervorhebung der rechten Unterwanderung als weiteres Element der
„Medienmache“ abtun, diskreditiert sie allerdings nun vollständig. Die
Querfrontvorwürfe mögen für diese Milieus bisher überzogen gewesen sein –
davon kann jetzt keine Rede mehr sein.

Ein Blick in die Geschichte

Dazu auch noch einmal die Erinnerung an die verhängnisvolle
Geschichte der Querfront von Nazis und KommunistInnen in der Weimarer
Republik. Anders als es von interessierten Kreisen heute dargestellt
wird, handelte es sich hier nicht um ein zwangsläufiges Zusammengehen
von linken und rechten Demokratiefeinden. Es geht vor allem um zwei
Ereignisse: den Volksentscheid zum Sturz der preußischen Regierung 1931
und den Streik der Berliner Verkehrsbetriebe 1932. Ersterer wurde von
verschiedenen rechtsextremen Parteien als Angriff auf die letzte
SPD-Hochburg eingeleitet. Die KPD beschloss, für den Sturz der Regierung
zu stimmen, aber eine getrennte Kampagne für einen „roten
Volksentscheid“ zu führen. Beim Verkehrsbetriebe-Streik wiederum ließ
sie es zu, dass rechte Delegierte im Streikkomitee zusammen mit den
KPD-Delegierten die SPD-Mehrheit brachen, um den Streik zu ermöglichen.

In beiden Fällen handelte es sich nicht um eine organisatorische
Zusammenarbeit mit den Nazis (tatsächlich bekämpfte man sich auf der
Straße weiterhin blutig), sondern darum, „zufällig“ in derselben Aktion
auf derselben Seite zu stehen. Von der KPD-Führung wurde dies einerseits
als Element der „Einheitsfront von unten“ (die offenbar punktuell auch
ArbeiterInnen umfassen könne, die sich bei den Nazis verirrt hatten),
als auch damit begründet, dass die SPD als „sozialfaschistische“ Stütze
des Brüning-Regimes derzeit die Hauptfeindin sei.

Beides hat sich als verhängnisvolle Fehleinschätzung erwiesen.
Gestärkt wurden nur die Nazis, die sich so auch als KämpferInnen gegen
bürgerliches Establishment und die sozialdemokratischen VeräterInnen
präsentieren konnten. Noch viel folgenschwerer war, dass diese Politik
die sozialdemokratischen ArbeiterInnen in die Hände ihrer verräterischen
FührerInnen trieb und immer weniger von ihnen für eine Einheitsfront
gegen den Faschismus gewonnen werden konnten.

Charakter des Protests

Ob die ursprünglichen OrganisatorInnen des Corona-Protests es nun
wollten oder nicht: Dass sie in einer Reihe mit RechtsextremistInnen und
FaschistInnen stehen – die Tatsache, dass sie die Präsenz dieser
Elemente auf ihren Aktionen verharmlosen, selbst Scharnierfiguren wie
Ken Jebsen hofierten und nie für die Entfernung der Rechten eintraten,
verlieh ihrer Politik von Beginn an den Charakter einer Querfront. Doch
mit der Verschiebung des Kräfteverhältnisses auf den Demonstrationen,
mit dem immer stärkeren Einstieg der Rechten, kann eigentlich von einer
„Querfront“, von einem mehr oder minder organisierten Zusammenkommen
verschiedener Kräfte nicht mehr gesprochen werden. Diese „Linken“ sind
das geduldete Beiwerk, die nützlichen IdiotInnen rechter
Mobilisierungen, die von Rechtspopulismus bis zum Rechtsradikalismus
reichen.

Auch die Tatsache, dass jetzt viele „normale Menschen“, viele
„Betroffene“ da sind, die doch „nicht alles Nazis“ sein können, macht
die Sache nicht besser. Im Gegenteil – unter den gegebenen
Kräfteverhältnissen können solche Mobilisierungen nur in die Hände der
Rechten spielen. Es ist wichtig, das Potential für eine neue Stufe der
rechten Organisierung durch diese Bewegung zu verstehen. Gerade die
Verzweiflung über drohende ökonomische Folgen, speziell im
kleinbürgerlichen Bereich und unter den Mittelschichten, macht solche
Bewegungen um irrationale Verschwörungstheorien und kleinbürgerliche
Pseudo-Rebellion so gefährlich. Verkürzte Kapitalismuskritik (wen
wundert es, dass im Kapitalismus die großen Kapitale gestärkt aus Krisen
hervorgehen, während die kleinen untergehen), Verschwörungstheorien
über Mächte im Hintergrund, die einen an sich guten Staat und eine
Wirtschaft für die Fleißigen, in ein böses neo-liberales System mit
autoritärer Herrschaftsausübung umwandeln würden,etc. – dies führt
allerdings direkt auch in die ideologische Querfront und über diese nach
rechts. Von der Gates-Einmischung ist es strukturell nicht mehr weit
zur Entdeckung einer neuen jüdischen Weltverschwörung. Schon jetzt muss
man viele Elemente der Corona-SkeptikerInnen daher als strukturell
antisemitisch benennen. Das Aggressionspotential, das hier aufgebaut
wird, muss sich jedenfalls eine Feindgruppe suchen, von der die
Menschheit befreit wird, um die „Freiheit“ wiederherzustellen.

Es ist daher mehr als angebracht, sich entschieden gegen diese
rechten Mobilisierungen zu stellen. Aktionen wie „Reclaim
Rosa-Luxemburgplatz“, durch die die Hygienedemo ihres ursprünglichen
Protestplatzes beraubt wurde, sind daher ein erster richtiger Schritt.
Natürlich stehen Demonstrationen und Widerstandsaktionen heute immer
unter den besonderen Bedingungen der Corona-Gefahr und des
Gesundheitsschutzes. Auch die Konfrontation mit Nazis erscheint damit
als Widerspruch für diejenigen, die die Bedrohung durch die Pandemie
ernst nehmen. Es ist jedoch eine Frage der Abwägung, so wie politisches
Agieren immer mit Risiken verbunden ist. Wir müssen daher unsere
Antworten auf die Corona-Krise und den Kampf gegen die Einschränkung
demokratischer Rechte mit dem Aufstehen gegen rechts verbinden.

Die Anerkennung der realen Gesundheitsgefahr muss, ja darf keineswegs
mit einem „Schulterschluss“ mit Regierung und Unternehmen einhergehen.
Im Gegenteil: Die Kritik an der mit Corona betriebenen Politik ist mehr
als gerechtfertigt und dringend notwendig. Die überlasteten privaten
Gesundheitssysteme müssen unter ArbeiterInnenkontrolle verstaatlicht,
die medizinische Forschung zur Überwindung des Virus muss unter
gesellschaftliche Kontrolle gestellt, das Wiederanlaufen von
Arbeitsstätten, Kitas oder Schulen darf nicht der UnternehmerInnen- und
Regierungswillkür überlassen, der Kampf muss gegen alle Entlassungen,
für Fortzahlung der vollen Löhne und Transferleistungen für alle geführt
werden. Eine solche, wirksame und reale klassenkämpferische Politik
gegen Regierung und Kapital ist ohne Kapitalismuskritik und ohne
unzweideutige Abgrenzung gegen eine rechte Scheinopposition nicht
möglich.