69 Jahre Deir Yassin Massaker
VON CLARA SARRAZ
Heute vor 69 Jahren, am 9. April 1948, begingen zionistische Milizen im Dorf Deir Yassin ein Massaker an hunderten Palästinenser_innen. Das Massaker ist als einer der traurigsten und blutigsten Tage in die Geschichte Palästinas eingegangen. Aber wie kam es dazu?
In der Mitte des Jahres 1948, am 14. Mai, gründete sich offiziell der israelische Staat. Noch in der Gründungsnacht erklärten daraufhin sechs arabische Staaten Israel den Krieg. In der israelischen Rhetorik folgte darauf der „israelische Unabhängigkeitskrieg“, die „heldenhafte“ Verteidigung gegen den Überfall der arabischen Staaten – so lernt es zumindest jede_r, die oder die in Israel zur Schule geht, so argumentieren Antideutsche und pro-israelische Konservative. Im Palästinensischen Gedächtnis ist das Jahr 1948 das Jahr der Nakba, was auf Arabisch Katastrophe bedeutet. Innerhalb eines Jahres wurden etwa 750.000 Palästinenser_innen aus ihrer Heimat entwurzelt und in die Flucht getrieben. Sie flüchteten vor allem in die Nachbarländer Jordanien, Syrien und Libanon oder in andere Teile Palästinas.
Die Nakba bezeichnet dabei das ganze Jahr 1948, ebenso wie Teile der Jahre 1947 und 1949, eben die ursprüngliche Vertreibung der Palästinenser_innen aus ihrer Heimat. Darauf zu bestehen ist wichtig. In der zionistischen Argumentation wird die Nakba nämlich als Flucht in den Wirren des Krieges, der von den Araber_innen selbst angefangen wurde, beschrieben. Viele Palästinenser_innen hätten aus eigener Intention oder auf Befehl von ihren Anführer_innen ihre Dörfer verlassen. Auf Wikipedia heißt es: „Die Geburtsstunde Israels (der 14. Mai 1948) gilt für die Palästinenser als Katastrophe (Nakba)“ Tatsächlich war die Nakba aber eine geplante, systematische ethnische Säuberung Palästinas, die nach der UN Teilungsresolution im November 1947 begann und ihren Höhepunkt in den Monaten vor der Staatsgründung Israels hatte. (Ausführlichere Informationen zu der Nakba und den israelischen Diskurs findet man zum Beispiel bei den sogenannten „Neuen Historikern“ wie Benny Morris oder Ilan Pappé oder bei NGOs wie Zochrot.)
Die Motive für die ethnische Säuberung Palästinas sind dabei relativ offensichtlich. Vor der israelischen Staatsgründung waren Jüd_innen eine Minderheit. Trotz starker jüdischer Immigration nach dem Zweiten Weltkrieg lebten im historischen Palästina etwa doppelt so viele Palästinenser_innen wie Jüd_innen. Das erklärte Ziel des Zionismus ist es jedoch einen jüdischen Staat mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit zu errichten. Dafür mussten die demographischen Verhältnisse verändert werden. Zionist und Chef des Jewish National Fund, Joseph Weitz schrieb dazu schon 1940: „Die einzige Lösung ist das Land Israel… ohne Araber. Es gibt keinen Platz für Kompromisse… Es gibt keinen anderen Weg als die Araber von hier in die Nachbarländer zu bringen, sie alle weg zu bringen, außer vielleicht ein paar.“ Außerdem sprach der von den Vereinten Nationen vorgelegte Teilungsplan dem jüdischen Staat „nur“ 56% des Mandatsgebiets Palästinas zu – was angesichts der Tatsache, Jüd_innen auch zur Zeit des Teilungsplans eine Minderheit darstellten, ziemlich viel ist. Ziel des Zionismus war es jedoch das ganze Mandatsgebiet Palästina zu Israel zu machen. Die Periode zwischen dem Teilungsplan und der israelischen Staatsgründung diente also auch dazu, so viel Land wie möglich unter die Kontrolle der zionistischen paramilitärischen Gruppen zu bringen, und die Vereinten Nationen vor vollendete Tatsachen zu stellen. Schon ein halbes Jahr vor der israelischen Staatsgründung begann die ethnische Säuberung Palästinas. Dem Massaker von Deir Yassin kommt dabei eine besondere Rolle zu.
Verschiedene paramilitärische zionistische Gruppen, hatten sich unter der britischen Mandatsmacht in Palästina formiert, darunter die Lechi und Irgun Milizen, die am 9. April das Massaker von Deir Yassin verübten. Deir Yassin befand sich einige Kilometer westlich von Jerusalem. Früh morgens stürmten etwa 120 Mitglieder der beiden zionistischen Milizen Deir Yassin. Sie warfen Handgranaten und erschossen viele der Einwohner_innen. Die meisten der etwa 250 Opfer vom Massaker von Deir Yassin waren Kinder und über 60-Jährige. Die Gefangenen, die nicht in den ersten paar Stunden starben, mussten gefesselt durch die Altstadt von Jerusalem marschieren. Danach wurden viele der Überlebenden zu nahe gelegenen Gruben und Steinbrüchen gebracht und dort erschossen. Dennoch wurden in Deir Yassin nur ein Bruchteil der 13.000 während der Nakba getöteten Palästinenser_innen ermordet.
Deir Yassin war auch bei weitem nicht das einzige Massaker, das während der Nakba an den Palästinenser*innen verübt wurde, doch die Grausamkeit des Massakers war außergewöhnlich und wirkte weit über Deir Yassin hinaus. Die Nachrichten aus Deir Yassin verbreiteten sich schnell und verängstigten verbliebene Palästinenser_innen sehr, sodass es den zionistischen Milizen leichter viel, sie von ihrem Land zu vertreiben. Menachem Begin, später Ministerpräsident Israels und Friedensnobelpreisträger (!) sagte im Nachhinein: „Das Massaker von Deir Yassin hatte nicht nur seine Berechtigung – ohne den Sieg von Deir Yassin hätte es auch niemals einen Staat Israel gegeben.“ Die psychologischen Auswirkungen von dem Massaker waren also ausschlaggebender als die Auslöschung des kleinen Dorfes – ein Schicksal das noch 170 weiteren palästinensischen Dörfern vor der israelischen Staatsgründung widerfuhr. Deir Yassin wurde schnell zu einem traurigen Symbol, dem heute von vielen Palästinenser_innen gedacht wird. Eine israelische Organisation, Zochrot, wird außerdem eine Führung durch das ehemalige Deir Yassin veranstalten. Wo früher Deir Yassin war, ist heute Givat Shaul, ein Stadtteil von Westjerusalem, zu dem die meisten Palästinenser_innen keinen Zutritt haben. Fast alle Gebäude von Deir Yassin wurden zerstört, in der ehemaligen Schule des Dorfes befindet sich jetzt eine israelische Psychiatrie.
Deir Yassin wird in Palästina heute vor allem als ein Katalysator der Nakba verstanden, die sich bis heute fortsetzt. Etwa die Hälfte der Palästinenser_innen, circa sechs Millionen, lebt heute in der Diaspora – mehr als 50% der gesamten Palästinenser_innen sind Geflüchtete oder Binnenvertriebene.
Die Frage der palästinensischen Geflüchteten und ihrem Recht auf Rückkehr ist das Kernproblem des Nahostkonfliktes und wird von den meisten Palästinenser_innen als die wichtigste Forderung für eine Lösung formuliert – nicht Al Aqsa (Jerusalem als Hauptstadt eines palästinensischen Staates). Nicht nur die israelische Regierung und andere westliche Staaten sprechen den palästinensischen Geflüchteten ihr Recht auf Rückkehr und ihren Flüchtlingsstatus ab. Auch die Fatah-Regierung in der Westbank steht mit ihrer Politik faktisch im Widerspruch zu den Rechten der palästinensischen Geflüchteten. Statt für einen demokratischen Staat einzustehen, in dem Jede_r leben darf, inklusive der palästinensischen Geflüchteten, akzeptiert die palästinensische Führung die Grenzen Israels entlang der Waffenstillstandslinie nach dem 6-Tage-Krieg 1967. Im Territorium der vollkommen von israelischen Siedlungen durchlöcherten Westbank gibt die Palästinensische Autonomiebehörde vor, vor-staatliche Strukturen aufzubauen, die ein erster Schritt hin zu einem unabhängigen Palästinensischen Staat sein sollen.
Die Regierung aus Bürokrat_innen und Kapitalist_innen weiß dabei vermutlich ganz genau, dass ein solcher Ministaat niemals ökonomisch existenzfähig und in der Lage wäre, die palästinensischen Geflüchteten aufzunehmen. Sie vertreten dabei einzig und allein die Interessen des palästinensischen Kapitals, zu Gunsten ihrer Profite und den Einkommen aus EU- und US-Entwicklungshilfe, deren Zufluss an diese Politik gekoppelt ist. Auch die Hamas, die öffentlich für das Rückkehrrecht eintritt, könnte mit der Veröffentlichung ihrer neuen Charta eventuell diesen Kurs einschlagen und damit letztlich auch nur den Interessen der klerikal-bürokratischen Kaste gerecht werden, die die Führung dieser islamischen Bewegung darstellt. Es wird immer offensichtlicher wie die palästinensische Führung die palästinensischen Flüchtlinge benutzt, um von ihrer korrupten Politik abzulenken. Um so wichtiger ist es die wirklichen Rechte und Wünsche der palästinensischen Geflüchteten, die seit 1948 bis heute vertrieben werden, zu betonen.
Für ein Recht auf Rückkehr für alle palästinensischen Flüchtlinge! Für ein sozialistisches, demokratisches Palästina!