Ausnahmezustand in der Türkei – Nein zum „zivilen Putsch“!

VON SVENJA SPUNCK


Während des Putschversuches am Freitag, dem 15. Juli 2016, wurde das Militär erfolgreich zurückgeschlagen und die undemokratische, gewaltsame Übernahme der Staatsmacht verhindert. Seitdem ist jedoch eine Verschiebung der Machtverhältnisse deutlich zu beobachten, bei der der Staatspräsident Erdogan die Staatsmacht in seinen Händen konzentriert.


Noch als der Putsch selbst im Gang war, wurde der islamische Prediger Fethullah Gülen beschuldigt, diesen mit seiner angeblichen parallelen Staatsstruktur organisiert zu haben. Beweise oder sich öffentlich als Gülen-Anhänger äußernde Putschisten gibt es jedoch nicht. Dennoch laufen seit einer Woche sogenannte Säuberungen im Militär, im öffentlichen Dienst, an den Universitäten und unter Journalist_Innen. Weit über zehntausend Menschen wurden in den letzten Tagen festgenommen – und die Zahl steigt weiter an. Lt. Regierungsangaben wurden 45 Prozent aller höheren Offiziere verhaftet.


Über zehntausend Menschen wurden bisher suspendiert, darunter die Dekane aller Universitäten, von denen einige gleich ganz geschlossen wurden. Richter, die eher dem nationalistischen Spektrum angehören und hin und wieder nach geltendem Recht statt dem Wunsch der AKP urteilten, wurden entlassen. Darunter befindet sich auch eine große Zahl von jenen, die Menschen freigesprochen hatten, die wegen der Gezi-Park-Proteste festgenommen wurden. Auch die Gewerkschaften der Gülen-Bewegung, Ufuk Saglik Sendikasi, wurden aufgelöst, obwohl sie kaum Einfluss haben. Die linkeren Gewerkschaft wie DISK, die v. a. im Metallsektor verankert ist, oder KESK (öffentlicher Dienst) hingegen blieben bisher weitgehend verschont.


Ausnahmezustand


Außerdem wurde ein dreimonatiger Ausnahmezustand ausgerufen, der es Erdogan ermöglicht, so zu regieren, wie er es unter der bisherigen Verfassung, legal betrachtet, noch nicht durfte. Sämtliche Versammlungen können aufgelöst, landesweite Ausgangssperren angeordnet, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher können verboten werden, jede Person kann zu jedem Zeitpunkt durchsucht werden und die Dauer der Untersuchungshaft wird auf 30 Tage verlängert, eventuell um die Heilung von Folterspuren abzudecken. Für all dies braucht es keine richterlichen Beschlüsse mehr, die Gewaltenteilung wird also zunehmend ausgehebelt.


Der Putschversuch und die Reaktion des türkischen Staates fand jedoch nicht im luftleeren Raum und auch nicht spontan statt. Es ist viel mehr abzuleiten aus dem zunehmend autoritär-reaktionären Kurs der AKP. Die Ereignisse der letzten 12 Monate bieten viele Beispiele: So kam es zu einer Ausweitung des brutalen Krieges gegen die kurdische Bevölkerung, zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität von demokratisch-legitimierten Parlamentarier_Innen, erzwungenen Neuwahlen und das alles im Lichte der stetigen Versuche Erdogans ein Präsidialsystems einzuführen, in dem weite Teile der Staatsmacht sich in seinen Händen konzentrieren. Dass Teile der Bourgeoisie mit dem Putschversuch selber versuchen an die Macht zu kommen, zeigt uns, dass die herrschenden Klasse in der Türkei im Zuge einer schweren ökonomischen Krise in sich zutiefst uneinig ist.


Die tiefe Wirtschaftskrise zwingt den türkischen Staat ferner zu massiven ökonomischen Angriffen, diese sollen zunehmend verschleiert werden durch diese lodernde Welle von Nationalismus, die grade über das Land schwappt. Das diese der AKP in der eigenen Bevölkerung eine immer größere soziale Basis gibt, zeigt ihre Mobilisierungskraft über das Fernsehen gegen die Putschist_Innen, wo zehntausende gegen Teile des Militärs auf die Straße gingen. Auch in Österreich und Deutschland kam es zu einer Reihe von türkisch-nationalistischen Demonstrationen, die eine weitere Polarisierung nach rechts unter türkischen Nationalist_Innen und Boskurds bedeuten kann. So kam es in Wien bei einer Demonstration zu Angriffen auf kurdische Geschäfte und in Köln fand am 31. Juli eine Massenveranstaltung mit zwischen 20 und 30 tausend Teilnehmer_Innen statt.
Selbst wenn bisher im Rahmen des Ausnahmezustandes nicht in erster Linie linke und sozialistische Gruppen angegriffen werden sollten, so werden dennoch die Grundlagen dafür gelegt, sie nach dessen Beendigung durch den gesäuberten Staatsapparat mit jahrelangen Haftstrafen zu verurteilen oder schlimmer, die Todesstrafe, zum Beispiel für Vaterlandsverräter, wieder zu vollstrecken. Nicht nur der Ausnahmezustand schürt das Klima der permanenten Bedrohung für politische Aktivist_Innen, sondern vor allem die radikale AKP-Anhängerschaft, die auf die Straßen mobilisiert wurde und die fälschlicherweise in den AKP-kontrollierten Medien als „das Volk“ dargestellt wird, bietet das Potential für harte Auseinandersetzungen.


Schon jetzt greifen sie Stadtviertel an, in denen hauptsächlich Minderheiten wie Alevit_Innen oder Christ_Innen angesiedelt sind, die sich nun Tag und Nacht dagegen verteidigen müssen. Diese islamistischen Trupps arbeiten Hand in Hand mit der AKP-treuen Polizei und es besteht die Gefahr, dass diese Erfahrung in der Praxis demnächst auch gegen Mobilisierungen der Arbeiter_Innenklasse und der Sozialist_Innen genutzt wird. In diesem politischen Klima kam es in den vergangenen Wochen auch vermehrt zu LGBTIA-feindlicher Gewalt. So wurden die bekannte transgender Aktivistin Hande Kader und auch ein homosexueller Geflüchteter aus Syrien brutal ermordet.


In der Nacht des Putsches haben sich alle sozialistischen Organisationen und Parteien geschlossen gegen den Staatsstreich ausgesprochen, jedoch haben nicht alle die richtige Forderung aufgestellt, dass ein Kampf dagegen einhergehen muss mit dem gegen den Versuch Erdogans, diesen für seinen eigenen Putsch, der Errichtung eines halb-diktatorischen Regimes zu nutzen. Auch wenn sich die kemalistische CHP in der Vergangenheit gegen dieses Präsidialsystem positionierte, so hat sie dennoch der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten zugestimmt und somit den Weg für dieses System geebnet. Eine Opposition muss jedoch den Worten klare Taten folgen lassen und darf sich nicht vor der AKP selbst erniedrigen.


Die Politik der CHP zeigt einmal mehr, dass auf diese bürgerliche Oppositionspartei kein Verlass ist. Sie vertritt letztlich die Interessen eines Minderheitsflügels der herrschenden Klasse, der der türkische Kapitalismus und sein Staat jedoch allemal näherstehen als die Menschen, die in diesem System leben müssen.


Welche Politik?


Die HDP hat seit dem Krieg in Kurdistan leider auch einen Teil ihrer Basis und Unterstützer_Innen verloren und ist auch jetzt kaum in der Lage, außerhalb der kurdischen Gebiete erfolgreich die Massen zu mobilisieren. Am vergangenen Samstagabend hatte die HDP zu einer Kundgebung in Istanbul aufgerufen, zu der mehrere Tausend Anhänger_Innen erschienen, wo sowohl gegen den Putschversuch wie gegen die repressive Politik Erdogans protestiert wurde.


Das zeigt zwar, dass legale Mobilisierungen noch möglich sind. Es zeigt aber auch, dass gegen den Versuchs Erdogans, den Putsch für die Etablierung seines eigenen, diktatorischen Regimes zu nutzen, notwendig ist, ein Aktionsbündnis, eine Einheitsfront zu schaffen.


Diese sollte alle Organisationen der Arbeiter_Innenklasse, der national und sexuell Unterdrückten, der sozialistischen und demokratischen Organisationen umfassen, insbesondere natürlich die HDP, aber auch die Gewerkschaften DISK und KESK.


Eine solche Front müsste sich in erster Linie um grundlegende demokratische Forderungen gruppieren: Aufhebung des Ausnahmezustandes, Wiederherstellung aller demokratischen Rechte (Versammlungsrecht, Demonstrationsrechte), die Aufhebung aller Ein- und Ausreisebeschränkungen, Aufhebung aller Suspendierungen im öffentlichen Dienst, Freilassung der zahlreichen Festgenommen, sofortige Beendigung des Krieges gegen das kurdische Volk, Rückzug von Armee und Polizei aus den kurdischen Gebieten.
Die Aburteilung der Beteiligung am Putsch kann nicht dem Regime und der AKP überlassen werden. Ohne Pressefreiheit, ohne demokratische Rechte für die Opposition kann dies nur eine Farce sein, die Form von mehr oder minder „rechtsstaatlichen“ Schauprozessen annehmen. Die sozialistischen und demokratischen Oppositionskräfte müssen daher selbst die Veröffentlichung aller Kommunikation, alle angeblicher Verstrickung der Gülen-Bewegung in den Putsch fordern, um öffentlich die Verantwortlichkeit für den Putsch, aber auch den Gegenputsch von Erdogan zu untersuchen.


Eine Einheitsfront gegen den Ausnahmezustand und gegen den Krieg in Kurdistan müsste aber neben demokratischen Forderungen, Massenmobilisierungen und Streikaktionen bis hin zum Generalstreik auch unmittelbar dazu beitragen, die Selbstverteidigung der Arbeiter_Innenorganisationen und unterdrückten Minderheiten im Land zu organisieren – sowohl gegen Übergriffe des Staatsapparates wie auch gegen den reaktionären Mob.


Schließlich müssen Revolutionär_Innen aber auch für die Schaffung einer neuen Arbeiter_Innenpartei argumentieren, die eine politische Alternativen zur immer festeren AKP-Herrschaft bildet, die den Kampf für unmittelbare und grundlegende demokratische Forderungen (wie z. B. der Forderung nach einer Konstituierenden Versammlung) mit dem Kampf für die sozialistische Revolution verbindet.


Türkei Ausnahmezustand

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