Nein zu den reaktionären Angriffen der Türkei – Solidarität mit Rojava!

Von Leonie Schmidt, Oktober 2023

Die Welt schaut gerade nach Israel und betrauert dabei fast ausschließlich die getöteten israelischen Zivilist_Innen, während das Töten palästinensischer Zivilist_Innen als Kampf gegen Terrorismus geframet und damit unsichtbar wird. Doch ebenso unsichtbar bleibt eine weitere humanitäre Katastrophe: In Nordsyrien, in den Gebieten der kurdischen Selbstverwaltung Rojava, fliegt die Türkei nun seit über einer Woche Bombenangriffe, die die Infrastruktur zerstören, Menschen töten und die Schwersten dieser Art seit langem sind. Seit dem 5.10.23 wurden 47 Menschen ermordet, darunter auch neun Zivilist_Innen und zwei Kinder (Stand 11.10.23). So wurden bereits mehrere Krankenhäuser durch die Angriffe zerstört, sowie ein Kraftwerk getroffen, außerdem die Wasser- und Energieversorgung, Schulen, Ölfelder, Fabriken, Warenlager, sowie Geflüchtetenlager und Dörfer. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Infrastruktur massiv angegriffen wird, was nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen darstellt. So ist in großen Teilen Rojavas nach den Angriffen die Stromversorgung eingebrochen. In vielen Fällen sollen die Luftschläge auch Menschen in Fahrzeugen und auf Motorrädern gegolten haben. Erdogan möchte den Menschen die Lebensgrundlage rauben und er legitimiert es wie Netanjahu mit dem Kampf gegen den Terrorismus. Am 2. Oktober kam es zu einem Anschlag der PKK in Ankara und nun wird behauptet, einer der Attentäter würde aus Nordsyrien stammen, wenngleich es dafür keine Beweise gibt. Aber Beweise braucht es für Erdogan schließlich auch nicht, da die Behauptung seiner Ideologie und seinem rassistischen Kampf gegen die Kurd_Innen entsprechen. Bereits im November 2022 wurde ein Anschlag in Istanbul als Vorwand genutzt einen zweiwöchigen Luftangriff auf die Region zu fliegen, wo ebenso Infrastruktur getroffen wurde und unter dessen Auswirkungen die Bevölkerung heute noch zu leiden hat. Seit den Angriffen gibt es nur einige Stunden am Tag Strom, Diesel ist rar und teuer geworden und auf eine neue Gasflasche zum Kochen muss man in der Regel eine Woche warten. Hinzu kommt die enorme psychische Belastung für die Bevölkerung, Drohnenangriffe sind allgegenwärtig. Und damit nicht genug: Innerhalb der Türkei wird das gerade damit begleitet, dass Dutzende prokurdische Aktivist_Innen inhaftiert und insgesamt ein harter Kampf gegen die fortschrittlichen Bewegungen geführt wird.

Doppelmoral so weit das Auge reicht

Erdogan sagte in einer gestrigen Ansprache an die Staatengemeinschaft, man solle sich hinsichtlich der Luftschläge gegen Gaza doch zurückhalten, denn es würde nicht den Menschenrechten entsprechen, Infrastruktur zu zerstören. Er prangerte des Weiteren das Schweigen der internationalen Staatengemeinschaft hinsichtlich dieser humanitären Katastrophe in Gaza an. Wenngleich seine Aussagen bezüglich Gazas einen wahren Kern haben, so ist das doch am Ende des Tages nichts weiter als dreckige Heuchelei. Scheinbar sind ihm Menschenrechte ziemlich egal, wenn es um den eigenen Dorn im Auge geht: den kurdischen Befreiungskampf.

Auch die USA und Russland nehmen die Angriffe ohne ein Augenzucken hin, denn sie sind es, die den Luftraum in Nordsyrien kontrollieren. Ohne die Zustimmung der beiden Militärs wären die türkischen Angriffe nicht möglich. Jedoch gibt es aktuell das unbestätigte Gerücht, die USA hätten eine Drohne des Nato-Bündnispartners Türkei über dem Ort Tal Baydar abgeschossen. Sollten diese Meldungen zutreffen, wäre es das erste Mal, dass US-Militär ein Flugobjekt der Türkei abgeschossen hat.

Ziele der Türkei

Die Türkei verfolgt mit dem Angriff ihr eigenes Ziel als Regionalmacht an der Neuordnung des Nahen Osten mitzuwirken, aber auch innenpolitische Ziele werden vom Regime in Ankara verfolgt.

Die Türkei steckt seit Jahren in einer Wirtschaftskrise, besonders die Inflation ist nach wie vor in einem sehr hohen Ausmaß und türkische Währung Lira ist weiterhin schwach. Im August lag die Teuerungsrate bei 58,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, was extrem hoch ist. Diese wird auf Arbeiter_Innen und Jugendliche abgewälzt. Der Krieg in Syrien schafft eine äußere Ablenkung von den sozialen Angriffen, aber bedient auch ganz unmittelbar ökonomische Interessen:

Die „Toki“ Häuser, die von staatlichen Bauunternehmen gebaut werden, sollen da, wo zerstört wird, aufgebaut werden und die Baubranche ankurbeln. Außerdem will Erdogan in diesem Gebiet bis zu 2 Millionen Geflüchtete zwangsansiedeln und das passt wiederum super in den Kram der EU, siehe die aktuelle GEAS-Gesetzgebung, bei der Menschen aus vermeintlich „sicheren Herkunftsstaaten“ (z. B. Türkei, Indien oder Tunesien) so schnell wie möglich dorthin abgeschoben werden sollen. Auch für Menschen aus Staaten, auf die diese Kategorie nicht zutrifft, finden die EU-Innenminister_Innen einen Weg, der an einem Asyl für diese vorbeiführt. Die Reform besagt, dass nun auch eine Abschiebung in ein „sicheres Drittland“, welches auf dem Fluchtweg passiert worden ist oder auf andere Weise mit der geflüchteten Person assoziiert wird (z.B. über entfernte Verwandtschaft), möglich sei.

Der Kampf um Befreiung ist international

Rojava muss gegen die Angriffe des türkischen Staates verteidigt werden. Der Kampf gegen die Militärmaschinerie in der Türkei, gegen das PKK-Verbot in Europa, für uneingeschränkte legale Betätigung aller Befreiungsbewegungen und, wann immer möglich, das Leisten materieller Hilfe für die Verteidigung von Rojava ist aktuell notwendig und könnte den entscheidenden Unterschied ausmachen.

Gleichzeitig müssen wir auf die Doppelmoral und auf die Ähnlichkeiten der Kämpfe in Gaza und in Nordsyrien hinweisen: one struggle, one fight! Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung!

  • Schluss mit den Angriffen auf Rojava! Solidarität mit dem kurdischen Volk!
  • Nein zu allen Abschiebungen in die Türkei! Niederschlagung aller Verfahren gegen kurdische Aktivist_Innen!
  • Aufhebung der sog. Antiterrorliste der EU! Weg mit dem Verbot der PKK und anderer kurdischer Vereine!



Stoppt Belagerung und Invasion! IDF raus aus Gaza!

von Felix Ruga, Oktober 2023

Nach dem Angriff der Hamas vergangenen Samstag war Netanjahus Regierung in Israel schwer angeschlagen. Dass eine schlecht ausgestattete Miliz aus dem ausgehungerten und verarmten Gaza dazu in der Lage war, die Zäune und Mauern zu durchbrechen und unmittelbar auf israelisches Gebiet anzugreifen, ist für eins der modernsten und höchstgerüsteten Militärs der Welt eine große Demütigung. Das rüttelt an der Überzeugung, dass Israel tatsächlich dazu in der Lage ist, seine Bevölkerung mittels militärischer Stärke und Entrechtung der Palästinenser_Innen zu schützen.

Das bringt auch die israelische Bevölkerung in Panik. Aber die Frage, wie es dazu kommen konnte, wird erstmal auf später verschoben. Denn die Agenda hat Netanjahu nun unmittelbar klar gemacht: „Ich leite eine umfangreiche Mobilisierung der Reservist_Innen ein, um mit einem Ausmaß und einer Intensität zurückzuschlagen, die der Feind bisher noch nicht erlebt hat. Der Feind wird einen beispiellosen Preis zahlen.“

Und dies nimmt mittlerweile Formen an: Die IDF bereitet gerade eine Bodenoffensive auf Gaza vor. Neben den massiven Bombardements, die aber in Gaza ohnehin mittlerweile zum tragischen Alltag gehören und längst nicht nur die Stellungen der Hamas treffen, werden jetzt 360.000 Reservist_Innen mobilisiert. Eine nie dagewesene Zahl. Viele junge Israelis müssen ihr Zuhause verlassen. Die Ortschaften in unmittelbarer Nähe von Gaza sind bereits evakuiert. In den sozialen Medien sieht man endlose Kolonnen von Panzern und Militärjeeps.

Und dazu kommt nun auch die Belagerung Gazas. Das heißt: Kein Essen, kein Wasser, kein Strom für die 2 Millionen Bewohner_Innen. Hierbei ist eine humanitäre Katastrophe praktisch unausweichlich, wenn man einer ganzen Gesellschaft die lebensnotwendigen Güter verwehrt, die auch schon sonst am Rande des Kollaps‘ steht. Gleichzeitig wird aber den Menschen auch nicht die Möglichkeit der Flucht gegeben: Alle Grenzübergänge sind dicht.

Besonders zynisch ist dann der Aufruf Netanjahus, dass im Angesicht des geplanten Angriffs die Zivilist_Innen Gaza verlassen sollten. Wohin denn? Wie denn? Gaza wird nicht ohne Grund als Freiluftgefängnis bezeichnet. Ein großer Teil der Bevölkerung hat in ihrem Leben noch nie etwas anderes gesehen als dieses kleine Fleckchen Land.

Und auch sonst wird die drohende Invasion mit abscheulichen Aussagen begleitet. Der Verteidigungsminister Israels Gallat wird dabei besonders klar, nachdem er die Belagerung Gazas verordnet: „Es sind menschliche Tiere, gegen die wir kämpfen – und genauso behandeln wir sie.“ Eine Wortwahl, die sprachlos macht und tief blicken lässt. Ebenso wie bei der Belagerung selbst wird auch in dieser Aussage nicht nur die Hamas und ihre Anhänger_Innen sondern die gesamte Bevölkerung Gazas getroffen. Wasserknappheit und geschlossene Krankenhäuser bei unaufhörlichen Luftangriffen werden jetzt schon viele zivile Opfer fordern.

Was droht gerade?

Die kommende Bodenoffensive auf Gaza ist noch nicht offiziell bestätigt, aber eigentlich ist allen klar, dass sie kommen wird und sie wird offensichtlich auch fieberhaft vorbereitet. Aber was steht konkret bevor? Es gibt konkrete Aussagen von Netanjahu und Gallat, dass die Vorbereitungen auf eine „monatelange“ Offensive ausgelegt seien. Als Ziel hat Netanjahu durchscheinen lassen, die Hamas in Gänze zu vernichten. Das scheint jedoch eher unrealistisch, weil das bedeuten würde, dass dann eigentlich die IDF Gaza als Ganzes besetzen muss. Es würde dann unweigerlich die Frage aufkommen, wer für die öffentliche Ordnung vor Ort sorgen wird. Das ist ein Stein, den sich kein Regierungschef gerne ans Bein binden will. Aber ausgeschlossen ist dies nicht. Vielleicht ist eine weitgehende Entwaffnung der Hamas wahrscheinlicher, aber das sind bisher nur Mutmaßungen. Sowieso ist eine Befriedung des Nahostkonflikts auf diese Weise unmöglich.

Klar ist jedoch: Es wird nicht nur die Hamas treffen. Wie schon die ganze Zeit werden viele palästinensische Zivilist_Innen sterben. Aber nach Jahrzehnten der Unterdrückung und Vertreibung, nach Jahren der Bomben und Morden und nach einer heftigen Eskalation in den letzten Monaten und Tagen wird es einen großen und entschlossenen Widerstandswillen in der palästinensischen Bevölkerung gegen die israelische Besatzung geben, der sich in militanten Widerstand äußern wird. Und diesen sehen wir als absolut gerechtfertigt und unterstützenswert an. Dass dieser aber über die Strukturen der Hamas hinausgehen wird, läuft darauf hinaus, dass die IDF dann nicht nur Funktionäre der Hamas ermorden oder festnehmen wird, sondern eigentlich den palästinensischen Widerstandswillen als Ganzes auslöschen muss. Auf einen drohenden Massenmord stimmt sich mittlerweile auch die internationale Rechte ein. Forderungen danach, Gaza dem Erdboden gleichzumachen, häufen sich, oftmals damit vertuscht, dass man nicht klar macht, ob man nun die Hamas oder alle Palästinenser_Innen zum Ziel nimmt.

Was heißt das jetzt für uns?

Trotz der einseitigen und teils verlogenen Berichterstattung in Deutschland, trotz der Morde an Zivilist_Innen durch Hamas-Kämpfer und trotz wachsender Repressionen gegen Palästinasolidarität müssen wir klar bleiben, dass wir an der Seite Palästinas für ihre Freiheit stehen. Das bedeutet auch, dass wir damit solidarisch sind, wenn sie sich gegen die Besatzung Gazas wehren. Es bleibt ein Kampf gegen koloniale Unterdrückung und diese Unterdrückung geht von Israel aus. Diese Position dürfen wir gegen all den medialen Druck nicht aufgeben.

Wir müssen aber auch unsere eigenen Regierungen unter Druck setzen. Deutschland, USA, GB, Frankreich und Italien haben gemeinsam eine Erklärung abgegeben und darin Israel die volle Unterstützung zugesichert. In den anderen Ländern gibt es größere Demonstrationen und Aktion, die ihre Solidarität mit Palästina ausdrücken. In Deutschland bleibt es schwach, aber dennoch müssen wir mobilisieren, wo es geht.

In besagter Erklärung steht außerdem, dass Israel in der Lage versetzt werden solle, sich selbst zu verteidigen und die Voraussetzungen für eine friedliche Nahostregion zu schaffen. Das ist eine Illusion! Solange der israelische Staat dort existiert, wird die Region von kolonialer Gewalt bestimmt und dementsprechend nie zum Frieden kommen. Wir kennen nur eine Lösung für den Nahostkonflikt, die nicht die Auslöschung der einen oder der anderen Volksgruppe beinhaltet: Ein gemeinsamer, säkularer und sozialistischer Staat, in dem Israelis und Araber_Innen Seite an Seite leben können. Hierfür muss eben das geschafft werden, was momentan so fern scheint, nämlich der gemeinsame Kampf der israelischen Arbeiter_Innenklasse und der Palästinenser_Innen gegen die herrschende Klasse und damit Revolution. Grundlage hierfür ist die Anerkennung der Legitimität des palästinensischen Widerstands und Stärkung der israelischen Linken, die gerade heute mit dem Rücken zur Wand steht.

Deshalb fordern wir:

  • Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf!
  • Verhindert die Bodenoffensive und Besetzung von Gaza!
  • Für ein Ende der Belagerung und Luftangriffe! Lasst die Bevölkerung nicht ausbluten!
  • Öffnung der Grenzen nach Gaza! Recht auf Rückkehr und Freizügigkeit!
  • Für ein gemeinsames, multiethnisches, säkulares und sozialistisches Palästina!



Von der Förderschule in die Behindertenwerkstatt: Schluss mit Unterdrückung und Ausbeutung!

Von Erik Likedeeler, Oktober 2023

Dass sich die AfD für das Weiterführen von Förderschulen ausspricht, ist kein Geheimnis: Erst diesen Sommer behauptete Björn Höcke, die schulische Inklusion sei ein Ideologieprojekt, von dem das Bildungssystem befreit werden müsse. Damit verfolgt seine Partei natürlich Kapitalinteressen, denn der Weg von der Förderschule in die Behindertenwerkstatt ist eine profitbringende Einbahnstraße.

In Zeiten der Krise und Sparmaßnahmen gehören behinderte Menschen zu den ersten, die die Kürzungen des Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereichs zu spüren bekommen. Gegen die Unterdrückung und Entrechtung Behinderter vorzugehen ist daher grundlegender Bestandteil des Klassenkampfes!

Teilhabe ohne Mindestlohn?

In Deutschland gibt es aktuell fast 800 Werkstätten für Behinderte, in denen ca. 320.000 Menschen arbeiten. Die Tätigkeiten, die diese Betriebe ausführen, reichen von der Landwirtschaft über das Zusammenschrauben von Autoteilen bis hin zur Wäscherei. Welche Aufgaben sie übernehmen, dürfen sich die Arbeiter_Innen in den meisten Fällen nicht selbst aussuchen.

Behindertenwerkstätten verfolgen zwei offizielle Ziele. Ihr verpflichtender gesetzlicher Auftrag ist es, dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten den Übergang vom zweiten Arbeitsmarkt auf den ersten Arbeitsmarkt schaffen – also von der Werkstatt in einen regulären Betrieb.

Doch diesen Sprung schaffen im Laufe ihres Lebens nur ca. 1% aller Mitarbeitenden. An dieser geringen Zahl zeigt sich, dass die Werkstätten ihrem Auftrag nicht nachkommen und eine echte Förderung nicht stattfindet.

Das liegt vorrangig an dem zweiten Ziel der Werkstätten: Sie arbeiten gewinnorientiert; jährlich erzielen sie einen Umsatz von ca. 8 Milliarden Euro. Das tun sie natürlich nicht, um den Mitarbeitenden einen anständigen Lohn zu ermöglichen, oder um ihnen „das Gefühl zu geben, dass sie sinnvolle Arbeit machen“, wie es so oft behauptet wird.

Wie in jedem Unternehmen schöpfen die Werkstattbetreiber_Innen den Profit ab – und die haben kein Interesse daran, ihre nützlichsten Arbeiter_Innen zu verlieren. Das ist auch der Grund, warum die Betreiber_Innen so gern behaupten, dass der Lohn für die Arbeit nicht vorrangig Geld sei, sondern „Teilhabe“.

Arbeitskampf ohne Arbeitsvertrag

Die angemessene Belohnung für 35-40 Stunden Arbeit pro Woche soll es also sein, überhaupt arbeiten zu dürfen und für Kapitalist_Innen Gewinne zu erzielen. Aber was hat es mit Teilhabe zu tun, vom Großteil der Gesellschaft abgespalten zu arbeiten und von einem Hungerlohn zu leben? Mit einem Stundenlohn von 1-2€ kommt bis zum Ende des Monats nur ein sogenanntes „Taschengeld“ von ca. 180-200€ zusammen.

In Behindertenwerkstätten Arbeitskämpfe auszufechten, gestaltet sich schwierig. Denn als richtige Arbeitnehmende gelten die Arbeiter_Innen nicht – sie befinden sich lediglich in einem „Beschäftigungsverhältnis“. Statt Arbeitsverträgen gibt es nur „Werkstattverträge“.

Weder gibt es das Recht auf die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder das Durchführen von Streiks, noch bestehen Möglichkeiten für Tariflöhne oder das Gründen von Betriebsräten. Durch die gezielte Abgrenzung vom Rest der Arbeitswelt wird jede politische Organisierung erschwert.

Keine Ausbildung für Jugendliche

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, betrifft die behindertenfeindliche Ausrichtung des Arbeitsmarktes bereits Jugendliche. Ca. 330.000 Schüler_Innen in Deutschland besuchen eine Förderschule. Dass der Weg in die Werkstatt schon von Beginn an als Einbahnstraße gedacht ist, zeigt sich daran, dass Förderschulklassen oft keine Berufsmessen besuchen, sondern Werkstattmessen. Häufig absolvieren Förderschulen ihre Betriebspraktika nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt, sondern in einer Werkstatt.

Wenn Schüler_Innen durch Förderschulen oder andere Umstände in das Werkstattsystem hineingedrückt werden, durchlaufen sie als Einsteiger_Innen zunächst ein dreimonatiges Eingangsverfahren. Im Anschluss wechseln sie in den Berufsbildungsbereich, wo sie bis zu zwei Jahre bleiben, bevor sie in den normalen Arbeitsbereich gelangen. Das klingt zwar erst einmal nach einer Art Ausbildung, allerdings hat diese keinen anerkannten Abschluss zur Folge.

Es gibt keinerlei Unterstützung oder Maßnahmen, die das Ziel hätten, die Einsteiger_Innen in eine reguläre Berufsausbildung hineinzuhelfen, und vom Berufsschulunterricht sind sie ebenfalls ausgeschlossen. In den ersten zwei Jahren gibt es mit ca. 120€ noch weniger „Taschengeld“ als im regulären Arbeitsbereich.

Ausgleichsleistung statt Inklusion

Man muss kein Genie sein, um sich zusammenzureimen, dass Konzerne kein Interesse daran haben können, behinderte Menschen einzustellen. Denn dann müssten sie diesen womöglich ein richtiges Gehalt zahlen, ihre Gebäude barrierefrei ausbauen lassen, oder Zeit in die Förderung eines inklusiven Arbeitsumfelds investieren. Zwar gibt es die Möglichkeit, für solche Anpassungen Geld vom Staat zu beantragen, doch das Verfahren ist zu kompliziert und bürokratisch, um ein überzeugender Anreiz zu sein. Nicht einmal 1000 Inklusionsbetriebe gibt es aktuell in Deutschland.

Des Weiteren gibt es ein Gesetz, welches Unternehmen dazu verpflichtet, schwerbehinderte Menschen einzustellen. Allerdings muss ein Unternehmen nur 140€ Ausgleichsleistung zahlen, um sich dort herauszuwinden. Und selbst diese Ausgleichszahlung kann noch umgangen werden, indem Unternehmen Behindertenwerkstätten als Dienstleister beauftragen. So können sie von der Überausbeutung behinderter Menschen profitieren, ohne ihnen den Mindestlohn bezahlen zu müssen oder sich auch nur für eine Sekunde mit dem Thema Inklusion auseinanderzusetzen.

Kein „Safe Space“ vom Kapitalismus

Die Existenz von Behindertenwerkstätten wird oft damit gerechtfertigt, dass sie „sichere Räume“ für Behinderte bieten. Auch gegen die Einführung des Mindestlohns wird zum Teil damit argumentiert, dass dieser dazu führen könnte, dass damit der besondere „Schutz“ der behinderten Menschen wegfallen könnte – so als könnte nur Überausbeutung den Schutz vor Diskriminierung rechtfertigen.

Tatsächlich ist es so, dass manche Arbeiter_Innen in den Werkstätten Angst davor haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht bestehen zu können. In den Werkstätten gibt es tendenziell weniger Leistungsdruck und es kann offener kommuniziert werden, wenn man mal eine Pause braucht.

Dass manche behinderte Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance haben, liegt aber nicht an persönlichen Defiziten. Die Angst vor Ausgrenzung und Mobbing ist berechtigt. Die Unterdrückung von Behinderten, auch Ableismus genannt, erzeugt eine weitere Spaltungslinie innerhalb der Arbeiter_Innenklasse, welche deren Organisierung entgegenwirkt.

Außerdem gehört es in der kapitalistischen Arbeitswelt dazu, sich bis an den Rand des Zusammenbruchs kaputt zu schuften. Löhne sind gerade einmal so hoch, dass sie dazu reichen, die eigene Arbeitskraft wiederherzustellen und am nächsten Tag wieder auf der Matte zu stehen. Auch der Urlaub ist so knapp bemessen, dass er für die meisten Menschen gerade ausreicht, um nicht zusammenzubrechen. Den Mehrwert, der bei dieser Arbeit produziert wird, schöpfen Kapitalist_Innen ab.

Diversere Ausbeutung? Nein danke!

Natürlich gibt es immer Menschen, die dabei unter die Räder geraten. Behinderung ist keine individuelle Angelegenheit, denn viele Behinderungen entstehen direkt aus der kapitalistischen Ausbeutung heraus, welche gefährliche Arbeitsplätze, ein unzureichendes Gesundheitssystem und Hunger mit sich bringt. Nicht nur körperlich und geistig Behinderte arbeiten in den Werkstätten, sondern auch Menschen, mit psychischen Krankheiten, oder solche, denen der erste Arbeitsmarkt die Diagnose „Burn-out“ verschafft hat.

Der erste Arbeitsmarkt ist also ein zuverlässiger Lieferant für den zweiten Arbeitsmarkt. Es ist der massive Leistungsdruck, der dafür sorgt, dass Menschen bei der Lohnarbeit bis an die Grenzen der Belastbarkeit gehen müssen. Daraus die Notwendigkeit der Behindertenwerkstätten als „Safe Space“ abzuleiten, spielt den Kapitalist_Innen in die Hände und kann keine fortschrittliche Lösung für das Problem sein.

Doch die gesellschaftliche Spaltung kann auch nicht aufgehoben werden, indem wir uns lediglich bei ein paar Konzernen für Rollstuhlrampen ein paar mehr Pausen einsetzen. Statt für eine inklusivere und diversere Ausbeutung müssen wir für eine Welt kämpfen, in der jegliche Ausbeutung der Vergangenheit angehört. Erst dann kann die Kategorie der Behinderung überhaupt aufhören, so relevant zu sein, wie sie es momentan ist.

Um dieses Ziel zu erreichen, fordern wir:

  • Für die Gründung von Gewerkschaften für Behindertenwerkstätten, um einen Lohn zu erkämpfen, von dem man auch leben kann! Überwachung der Löhne und Arbeitsbedingungen in Betrieben und der Pflege durch Komitees der Betroffenen und Organisationen der Arbeiter_Innenklasse!
  • Für den Ausbau von Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen, bezahlt durch die Besteuerung der Reichen. Bessere Arbeitsbedingungen für pflegende Angehörige, um die Überarbeitung und das damit verbundene Leid der zu Betreuenden und deren Familien zu verhindern.
  • Eine Schule für alle! Schluss mit dem mehrgliedrigen Schulsystem und der daraus entstehenden Abschottung behinderter Kinder und Jugendlicher. Für den Zugang zu Ausbildungsplätzen und Praktika in allen Betrieben!
  • Schluss mit Ausgrenzung und Mobbing! Umfassende Information, Aufklärung und Sensibilisierung zum Thema Behinderung an Schulen und in Betrieben. Für das Recht von Behinderten, Caucusse in jeder Organisation der Arbeiter_Innenklasse zu gründen.



Niederlage für die israelische Unterdrückung – Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand

von Dave Stockton, Oktober 2023, ursprünglich erschienen in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innemacht

Am 7. Oktober um 6.30 Uhr Ortszeit feuerte die im Gazastreifen ansässige palästinensische Hamas ein Sperrfeuer von Raketen auf Israel ab, von denen einige das 80 Kilometer entfernte Tel Aviv erreichten. Zur gleichen Zeit überraschten Hamas-Kämpfer_Innen die israelischen Verteidigungskräfte (IDF), durchbrachen die befestigten Linien und griffen die Siedlungen Sderot und Aschkelon an. Israelischen Medien zufolge eröffneten die Hamas-Kräfte das Feuer auf Zivilist_Innen. Die Times of Israel berichtete von Schießereien rund um den Militärstützpunkt Re’im. Bilder in den sozialen Medien zeigen palästinensische Jugendliche, die um einen zerstörten israelischen Panzer herum feiern.

Ungefähr 700 Israelis wurden getötet und mehr als 2.000 verletzt. Die Hamas behauptet außerdem, Dutzende von Israelis, darunter Soldat_Innen, gefangengenommen zu haben, die sie als Geiseln für die Freilassung palästinensischer Gefangener halten will. Innerhalb weniger Stunden flogen jedoch Dutzende von israelischen Kampfjets Angriffe auf militärische und zivile Ziele im Gazastreifen. Mindestens 410 Palästinenser_Innen sind bisher bei israelischen Vergeltungsangriffen getötet worden.

Unmittelbare Auswirkungen

Die unmittelbaren Auswirkungen des „Ausbruchs“ der Hamas-Kräfte und das Ausmaß des Raketenbeschusses sind angesichts der strengen Belagerung des Gazastreifens und der bisherigen Wirksamkeit des israelischen Überwachungssystems bemerkenswert. Es scheint, dass der Angriff die IDF und den Sicherheitsdienst Schin Bet völlig überrumpelt hat. Zweifellos wird es zu einem massiven Angriff auf Gaza kommen, und Siedler_Innen und Regierungstruppen werden wahrscheinlich in verschiedenen Teilen des Westjordanlandes brutale Vergeltungsmaßnahmen ergreifen.

Innerhalb von fünf Stunden nach dem Ausbruch des Angriffs verkündete Premierminister Benjamin Netanjahu in einer Rundfunkansprache: „Bürger_Innen Israels, wir befinden uns im Krieg und wir werden gewinnen.“ Und weiter: „Wir werden alle Orte, an denen die Hamas organisiert ist und sich versteckt, in Trümmerinseln verwandeln.“ Das Verteidigungsministerium mobilisierte am 9. Oktober 300.000 Reservist_Innen, die größte Zahl in der Geschichte Israels. Weite Gebiete vom Gazastreifen bis nach Tel Aviv wurden in den Ausnahmezustand versetzt. Alle Treffen und Versammlungen wurden verboten.

Diese Maßnahmen könnten Netanjahu auch aus einer schwierigen innenpolitischen Lage heraushelfen. Das ganze Jahr über und bis weit in den September hinein protestierten wöchentlich Hunderttausende Israelis gegen seinen Versuch, die Befugnis des Obersten Gerichtshofs, ein Veto gegen Regierungsgesetze einzulegen, zu untergraben. Abgesehen von kleinen Kontingenten von Linken blieben diese Demonstrationen jedoch dem zionistischen Staat gegenüber entschlossen loyal, und die Reservist_Innen machten deutlich, dass sie im Falle eines Krieges dienen würden.

Netanjahu war auch von der US-Regierung wegen seiner drohenden Verstöße gegen die Demokratie kritisiert worden. Jetzt beeilte sich Joe Biden, den „Terrorismus“ der Hamas anzuprangern und Israel zu versichern, dass es alle Hilfe bekommen wird, die es braucht. Und „natürlich“ stimmen die westlichen Verbündeten, darunter auch der deutsche Imperialismus, in den Chor der „bedingungslosen Solidarität“ mit Israel ein. Von der AfD über die CDU/CSU bis zur Ampel-Koalition rufen alle nach Unterstützung für den hochgerüsteten zionistischen Staat.

Freiluftgefängnis Gaza

Tatsächlich ist Israel bereits ein hochgerüsteter Staat, der keine zusätzlichen Waffen aus den USA benötigt. Die „westlichen Demokratien“ sind vorsätzlich blind gegenüber der Tatsache, dass Israels Demokratie nicht einmal seinen eigenen palästinensischen Bürger_Innen gleiche Rechte einräumt, geschweige denn den rechtlosen Bewohner_Innen des Westjordanlandes und des Freiluft-Gefängnis‘ Gaza. Gaza ist gerade 40 Kilometer lang und zwischen sechs und 14 Kilometer breit. Auf engstem Raum beherbergt es eine Bevölkerung von über 2 Millionen Menschen. Seine Hoch- und Krankenhäuser wurden schon mehrfach in Schutt und Asche gelegt. Die Bedingungen dort sind wirklich unerträglich.

Eine Reihe brutaler Aktionen der rechtsgerichteten Regierung Netanjahu kommt einer Provokation gleich, die die Behauptung, die Israelis seien Opfer des Terrorismus – eine Behauptung, die nicht nur von der Regierung Netanjahu, sondern auch von Washington, Paris, London und Berlin aufgestellt wird –, als verachtenswerte Unwahrheit erscheinen lässt.

Die Hamas hat in den letzten Tagen auf die Übergriffe israelischer Siedler_Innen auf die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem hingewiesen, die mit staatlicher Unterstützung auch an der ethnischen Säuberung Ostjerusalems von seinen palästinensischen Bewohner_Innen beteiligt sind. Daher haben sie ihre Gaza-Offensive „Operation al-Aqsa-Flut“ genannt. In diesem Jahr kam es auch zu Angriffen der IDF auf das riesige Flüchtlingslager in Dschenin, bei denen Palästinenser_Innen getötet, verletzt und ihre Häuser mit Bulldozern zerstört wurden.

Die intensivsten Angriffe fanden im Januar/Februar und erneut im Juni statt, bei denen Hunderte getötet wurden. Auch in anderen Städten des Westjordanlands wurden Zivilist_Innen und ihre jungen Verteidiger_Innen getötet. Gleichzeitig haben rechtsgerichtete Siedler_Innen mit Unterstützung von Regierungsstellen Dorfbewohner_Innen von ihrem Land vertrieben. All dies wird von den westlichen Medien zweifellos vergessen, die den zionistischen Staat stets als „einzige Demokratie“ im Nahen Osten darstellen und Israel praktisch wie einen europäischen oder nordamerikanischen Staat behandeln.

Das ist kaum verwunderlich, da es sich um einen Staat handelt, der nur im Rahmen des britischen Mandats entstehen konnte, das die zionistische Besiedlung förderte und der einheimischen palästinensischen Bevölkerung das Selbstbestimmungsrecht verweigerte. Im Jahr 1948 unternahmen die britischen Truppen nichts, um Israels Eroberung von 78 % des Mandatsgebiets zu stoppen, indem sie mehr als die Hälfte der damaligen palästinensischen Bevölkerung vertrieben: ein Prozess, der sich nun unter Schirmherrschaft der USA durch die Eroberung des Westjordanlands und des Gazastreifens wiederholt.

Widerstandswille

Doch trotz 75 Jahren Besatzung, ethnischer Säuberung und wiederholtem Verrat durch die umliegenden arabischen Staaten haben die Palästinenser_Innen den zionistischen Staat nie anerkannt oder den Kampf für die Wiederherstellung ihres Staates und die Rückkehr ihrer Flüchtlinge aufgegeben. Wie ineffektiv auch immer die von den Führungen des Widerstands verfolgten Strategien sein mögen, revolutionäre Sozialist_Innen in aller Welt haben den Kampf gegen die nationale Unterdrückung stets verteidigt.

Als revolutionäre Marxist:innen haben wir immer den politischen Charakter der Hamas angeprangert, das System, mit dem sie den Gazastreifen beherrscht, ihre Unterstützung der Mullah-Diktatur im Iran oder des Erdogan-Regimes in der Türkei. Ebenso lehnen wir den willkürlichen Angriff auf Zivilist:innen ab und kritisieren die Strategie der Hamas. Aber eine Sache ist der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands gegen den Zionismus, eine andere ist die Unterstützung des zionistischen Staates gegen das palästinensische Volk und sein Recht auf Widerstand. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden.

Die vor 30 Jahren in Oslo propagierte „Zweistaatenlösung“ erweist sich immer mehr als bankrott, nicht weil die palästinensische Führung nie kompromissbereit gewesen wäre, sondern weil die zionistische Bewegung niemals ihr Ziel aufgeben würde und wird, ganz Palästina zu erobern. Wir weisen den Vorwurf, der Widerstand gegen einen Siedler- und Kolonialstaat sei eine Form des Antisemitismus, mit Verachtung zurück.

Die Förderung des Gedankens, dass es einen „neuen Antisemitismus“ der radikalen Linken gibt, lenkt von dem tatsächlichen Antisemitismus ab, der heute in der extremen Rechten in Europa und den USA zu beobachten ist, von denen viele Israel bedingungslos unterstützen.

Ein einziger palästinensischer Staat kann sowohl Menschen palästinensischer als auch israelischer Nationalität nur ohne Privilegien umfassen. Wenn Palästina zudem ein sozialistischer Staat wird, in dem das Land, die Ressourcen und Produktionsmittel gemeinsam genutzt werden, kann dieses historische Unrecht überwunden werden. Es ist die Aufgabe der Arbeiter_Innenklasse beider Nationen, ja der gesamten Region, dies zu erreichen. Dazu gehört ein Kampf gegen die imperialistischen Mächte, die die Region so lange geteilt und ausgebeutet haben, und für eine sozialistische Föderation in der gesamten Region. Bis dahin haben die gesamte Arbeiter_Innenklasse und die fortschrittliche Bewegung der Welt die Pflicht, den Kampf der Palästinenser_Innen zu unterstützen und sich mit ihnen zu solidarisieren.




Halle: 4. Jahrestag des faschistischen und antisemitischen Terrorangriffs – Kein Vergeben, kein Vergessen!

von Leonie Schmidt, Oktober 2023

TW Antisemitismus, Mord, Rassismus

Am 9.10.2019 griff der bewaffnete Nazi B. erst eine Synagoge an, in welcher sich ca. 50 Personen befanden, wofür er sich den höchsten jüdischen Feiertag Yom Kippur aussuchte. Da aber die Türen der Synagoge glücklicherweise gegen sein Eindringen standhielten, zog er weiter, um letztendlich zwei scheinbar wahllos ausgesuchte Personen auf offener Straße und in einem Dönerladen zu erschießen. Neben einigen Schusswaffen und scharfer Munition hatte der Nazi auch vier Kilo Sprengstoff in seinem Auto geladen und zudem eine Kampfmontur aus einem Stahlhelm, einer schusssicheren Weste sowie einer Art „Uniform“. Letztendlich wurde er nach einer stundenlangen Verfolgungsjagd von der Polizei gestellt und verhaftet.

Motiv & Hintergründe

Ursprünglich wollte der Täter wohl ein linkes Zentrum angreifen, hatte sich jedoch anders entschieden und sich laut seinem eigenen wirren Manifest vom Attentäter in Christchurch inspirieren lassen, wenngleich dieser Moscheen angriff. Auch der Attentäter von Halle überlegte wohl zuerst eine Moschee anzugreifen, da laut seinem faschistischen Weltbild Muslim_Innen schlimmer als Linke seien. Entsprechend seiner Ideologie wählte er dann aber aus einem antisemitischen Motiv heraus eine Synagoge , da er den Islam nur als Symptom und nicht als Ursache seines eigenen Elends ansehen würde. Da die Person, die er auf offener Straße erschoss, eine Frau war, kann auch vermutet werden, dass ein Motiv hier Frauenhass und Antifeminismus gewesen sein könnte, da er in seinem Manifest auch den Feminismus zu seinem Feind erklärte. Das wurde jedoch nicht im Abschlussbericht der Bundesregierung zur Tat vermerkt, wenngleich Frauenhass ein gängiger Bestandteil rechtsradikaler Ideologien ist. Im Gerichtverfahren erklärte der Täter, Jana L. habe ihn beleidigt und da er seine Tat auf Twitch livestreamte, rechtfertigte er den Mord damit, dass er nicht von seinen Zuschauern ausgelacht werden wollte. Das Mordopfer Kevin S., welches er im Dönerladen erschoss, habe er aufgrund seiner Haarfarbe für einen Muslim gehalten, wie er vor Gericht darlegte. Des Weiteren sagte er im Gerichtsprozess aus, dass er nicht wollte, dass weiße Menschen sterben, er es insofern bedauere und breitete seine rechtsextreme Gesinnung für alle hörbar aus. Das alles untermauert nur das perfide Weltbild des Täters, welches die ideologische Basis für sein Verbrechen bildete. Es darf nicht unbeachtet gelassen werden, dass er definitiv versuchte mehr Personen zu ermorden, es ihm aber glücklicherweise nicht gelang.

Radikalisierung bei der Bundeswehr und im Internet

Der Täter wurde im Grundwehrdienst 2010-2011 an der Waffe ausgebildet. Aussagen im Prozess zufolge habe er bereits da das Wort „Jude“ als Schimpfwort verwendet, was in der Truppe so üblich gewesen sei. Immer wieder verschwinden Waffen bei der Bundeswehr, immer wieder werden rechte Netzwerke aufgedeckt. Dass es sich hier um keinen Einzelfall, sondern mindestens um staatlich geduldeten Rechtsextremismus handelt, muss uns klar sein.

Darüber hinaus radikalisierte sich B. in diversen Internetforen, wo er Hitlers „Mein Kampf“, antisemitische Propaganda und gewaltvolle Mordvideos des IS downloadete. Dort chattete er mit anderen Männern, die ähnlich wie er sozial isoliert waren und sein rechtsradikales Weltbild teilten. So konnten sie sich gegenseitig in ihrer menschenverachtenden Ideologie bestärken und bekamen Anerkennung von Gleichgesinnten, was sie immer weiter radikalisieren konnte. Auch hier ähnelt sich B. dem Attentäter von Christchurch, auch dieser hatte sich in einschlägigen Internetforen herumgetrieben und mit anderen Rechtsradikalen connectet.

Das Versagen der Polizei

Wie immer hat sich die Polizei nicht mit Ruhm bekleckert. Dass es, wenn es um Rechtsradikalismus geht, immer wieder passiert, dass den staatlichen Behörden sehr grobe Fehler unterlaufen, kann wahrlich kein Zufall sein, wie wir schon seit dem NSU-Komplex und dem Attentat in Hanau ahnen können. In Halle war das erste Problem, dass die Polizei nicht die Sorge der jüdischen Community vor Angriffen ernst nahm. Diese hatte seit Jahren die Polizei um Schutz an jüdischen Feiertagen für die Synagogen gebeten, war jedoch in ihrer Sorge ignoriert wurden. Wie spätestens am 9.10.19 zu sehen war: Eine mehr als berechtigte Sorge. Auch vor dem Gerichtsprozess gegen B. kam es wieder vermehrt zu Angriffen und Einschüchterungsversuchen gegen die hallesche jüdische Gemeinde. Am Tag der Tat musste sich der Rabbiner, der die Polizei nach den Schüssen auf die Synagoge anrief, erst unnötigen, zeitverzögernden Fragen stellen, bevor er überhaupt zur Notrufzentrale durchgestellt wurde. Zusätzlich kritisiert wurde das Verhalten der Polizei gegenüber den Jüd_Innen, die sich zum Tatzeitpunkt in der Synagoge aufgehalten hatten. Bei der Vernehmung waren die Beamt_Innen empathie- und insbesondre ahnungslos hinsichtlich der jüdischen Religion, erklärten den Betroffenen nicht, was überhaupt passiert war und hefteten den evakuierten Jüd_Innen Zettel mit Nummern an, was einige von ihnen an die NS-Zeit erinnerte. Das ist natürlich ein Schlag ins Gesicht für die Betroffenen, welche gerade so um Haaresbreite dem antisemitischen Mordanschlag des Täters entkommen konnten.

Des Weiteren unterliefen Fehler beim Sichern von Beweismitteln: So konnte die Polizei nicht alle Online-Aktivitäten in einem Bilderforum von B. vor der Löschung am 11.10.19 sichern, welche von einem Moderator beseitigt wurden. Das inkludiert auch die Interaktion mit anderen Teilnehmern des Forums, sowie Verweise auf sein Manifest und Waffenbauanleitungen. Die Löschung wirft außerdem die Frage auf, welche Verbindungen durch den Moderator vertuscht werden sollten. Immerhin ging die Polizei anfangs nicht von einem Einzeltäter aus. So durchsuchte die Polizei am 14.10.19 eine Wohnung in Mönchengladbach, von welcher IP-Adresse aus B.s Manifest zeitnah zum Anschlag hochgeladen wurden war, die Bewohner bestritten jedoch, B. gekannt und etwas vom Anschlag gewusst zu haben. Auch das Überprüfen der Gaming-Kontakte als Bestandteil von B.s Ideologie und seiner Radikalisierung wurde von der Polizei unzureichend durchgeführt. B. hatte mehrere Steam-Accounts und spielte Egoshooter, der Verfassungsschutz teilte mit, in seiner Kontaktliste wären weitere Ermittlungsansätze vorhanden, welche aber nicht weiterverfolgt wurden. Des Weiteren wurde für die Auswertung des Steam-Accounts eine Beamtin eingesetzt, die angab, wenig Ahnung von den Mechanismen der Plattform gehabt zu haben.

Die Gefahr ist nicht gebannt

Nach dem langwierigen Gerichtsprozess wurde B. im Dezember 2020 zu einer lebenslangen Haftstrafe mit Sicherheitsverwahrung verurteilt. Doch gelöst hat er sich von seiner Ideologie und seiner Gewaltbereitschaft natürlich nicht. Das zeigen auch die Geschehnisse in seiner Haftzeit. So versuchte er mehrmals zu flüchten, einmal 2020, indem er einen Hofbesuch zum Überqueren einer Mauer nutzte, nachdem die JVA eigenmächtig seine Sicherheitsmaßnahme heruntergefahren hatte, und einmal indem er im Dezember 2022 zwei JVA-Beamte mit einer selbstgebauten Waffe über Stunden als Geisel nahm. Danach wurde er in ein Gefängnis in Bayern verlegt, welches auf besonders schwerwiegende Straftäter spezialisiert ist.

Des Weiteren wurden in seiner Zelle Briefe von polizeibekannten Nazis sowie von einer 20-jährigen Kriminalkommissarin aus Dessau-Roßlau gefunden. Diese war aufgefallen, nachdem sie sich gegenüber einem Kollegen positiv auf B.s Taten und Weltanschauung bezog.

Wir können also sehen: Nur weil der Täter im Gefängnis ist, ist die Gefahr nicht gebannt. Er konnte weiterhin seine Kontakte zu anderen Rechtsradikalen aufrechterhalten und so in seiner Ideologie und in seiner Tat weiterhin bestärkt werden. Auch sind in Sachsen-Anhalt weiterhin Nazi-Terrornetzwerke aktiv, so zum Beispiel das aus Großbritannien stammende Netzwerk „Blood and Honour“. Auch die Identitäre Bewegung, deren österreichischer Anführer Martin Sellner mit dem Attentäter von Christchurch in Kontakt stand, hatte bis vor einigen Jahren noch ihr Hausprojekt in der Nähe des Steintor Campus in Halle, wo sie mit Propaganda gegenüber Studierenden, Einschüchterungen in der Mensa und einem Angriff auf Zivil-Polizisten auffielen. Hier hatte auch der AfD-Politiker Hans-Thomas Tillschneider sein Abgeordnetenbüro, obwohl die AfD offiziell eine Unvereinbarkeitserklärung mit der IB hat.

Hier kommen wir auch zu des Pudels Kern: Die Tat von Halle darf nicht als Einzeltat gewertet werden, sie muss im Kontext von erneuter Zunahme von Nazi-Terror in Deutschland verstanden werden, auch wenn nach wie vor nicht bekannt ist, welche Netzwerke den Täter bei seinem Vorhaben eventuell unterstützt haben könnten. Ob Halle, Hanau oder München: Diese Taten nehmen zu. Auch 4 Jahre später finden wir uns in einer Gesellschaft, welche noch weiter nach rechts gerückt ist, wie wir an den hohen Prozenten für die AfD sehen, aber auch an der Teilhabe der Grünen an rassistischer Geflüchtetenpolitik. Dementsprechend können wir auch kein Vertrauen in den bürgerlichen Staat haben, in welchem rechtsextreme Strukturen zum Alltag gehören. Denn dieser bürgerliche Staat als ideeller Gesamtvertreter der Kapitalist_Innenklasse gehört zum Produzenten des Rechtsrucks. Rechte Ideologien und Faschismus sind Produkte der kapitalistischen Produktionsweise und gewinnen häufig nach und während Krisen kräftig an Zulauf. Der Rechtsruck entstand im Zuge der Nachwehen der Weltwirtschaftskrise von 2007/08 und wurde ursprünglich vom Mittelstand, also dem Kleinbürger_Innentum, getragen, welche sich davor fürchten, in die Arbeiter_Innenklasse abzusteigen, da sie in der Krise nicht mehr mit den Großkonzernen mithalten können. Aber auch die desillusionierte und ebenfalls von der Krise geschüttelte Arbeiter_Innenklasse war empfänglich für rechte Propaganda. So war es den rechten Akteuren möglich, ein Feindbild zu schaffen, welches zu begründen versuchte, warum es der Arbeiter_Innenklasse so schlecht geht, obwohl der reale Grund in der Krise selbst und dem Umgang damit lag: Beispielsweise Kürzungen im Sozialbereich, Entlassungen, der Agenda 2010 inkl. Leih- und Zeitarbeit, Privatisierungen, die Schuldenbremse usw. Heute nimmt die kapitalistische Krise erneut an Fahrt auf und ist alles andere als gebannt. Daher ist klar: Wenn wir den Faschismus schlagen wollen, wenn faschistischer Terror der Vergangenheit angehören soll, dann müssen wir auch den Kapitalismus zerschlagen! Dafür müssen wir linke Antworten auf die Krisen unserer Zeit finden und populär machen.

Widerstand und Selbstschutz

Was wir gegen den Rechtsruck im Allgemeinen und gegen faschistischen Terror im Besonderen brauchen, ist eine bundesweit gut vernetzte und lokal verankerte Bündnisstruktur aus allen linken Organisationen und Organisationen der Arbeiter_Innenklasse. Unabhängig von inhaltlichen Differenzen muss eine solche Einheitsfront gemeinsam und massenhaft Widerstand auf allen Ebenen organisieren, auch durch militante Selbstverteidigungsstrukturen. Auf den Staat und seine Behörden, wie Polizei oder Verfassungsschutz, ist dabei kein Verlass. Im Gegenteil, diese sind selbst von faschistischen Netzwerken durchzogen.

  • Kampf dem Rassismus und Antisemitismus auf allen Ebenen!
  • Für massenhafte gemeinsame Aktionen der gesamten Linken und der Arbeiter_Innenbewegung!
  • Kein Vertrauen in staatliche Behörden! Zerschlagt die faschistischen Netzwerke selbst und organisiert militante Selbstschutzstrukturen!



Was ist los in Bergkarabach? Eine kurze Geschichte des Konflikts

Oktober 2023

Am 19. September eskalierte der Konflikt um Bergkarabach, einer Region zwischen Armenien und Aserbaidschan die sich 1991 als unabhängig erklärt hatte aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, erneut. Aserbaidschanische Truppen griffen die Republik Arzach an und zwangen sie innerhalb kürzester Zeit zur Kapitulation. Was jetzt folgt ist ungewiss, doch eines ist klar, der sehr alte Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die diese Region ist noch nicht vorbei.

Was ist der Ursprung des Konflikts?

Um zu verstehen wie es dazu kommen konnte, muss man einen Blick zurück in die Geschichte werfen. Der Konflikt um Bergkarabach entstand bereits im 19. Jahrhundert als das Russische Zarenreich schrittweise den Kaukasus eroberte und versuchte die multiethnische Region in sein Imperium einzugliedern. Vor der Eroberung des Kaukasus durch das Zarenreich hat es lange Zeit keine ethnischen Konflikte in der Region gegeben. Um seine Herrschaft zu stabilisieren privilegierte das Zarenreich die regionale christliche Bevölkerung gegenüber der muslimischen Bevölkerung, da man sich von dieser mehr Symphatie für die Kollaboration mit dem ebenfalls christlichen Zarenreich erhoffte. Langsam versuchte das Zarenreich den christlichen Bevölkerungsanteil in der Region zu erhöhen, indem es die christlichen Minderheiten des Osmanischen und des Persischen Reiches ermunterte in die neu gewonnenen russischen Kaukasusprovinzen einzuwandern. Schätzungsweise 125.000 Armenier_innen aus den muslimisch dominierten Reichen kamen über die russische Grenze und siedelten sich im russischen Kaukasus, nicht zuletzt auch in Karabach und dort besonders im zentral gelegen Teil, in Bergkarabach, an, wo es zuvor schon eine armenische Bevölkerungsmehrheit, aber auch eine große aserische Minderheit gab, die nun zunehmend verdrängt wurde. Unter den Aseris Karabachs wuchs wegen der voranschreitenden Ausbreitung armenischer Siedlungsgebiete und der zunehmenden Vertreibung die Wut gegenüber den Armenier_innen. Die Spannungen zwischen Aseris und Armenier_innen fanden ihren Höhepunkt während des Ersten Weltkriegs, als nebenan im Osmanischen Reich türkische Truppen einen Genozid mit hunderttausenden Toten an der armenischen Minderheit im Osten des Reiches verübten. Viele Armenier_nnen setzten Türk_innen und Aseris aufgrund der sich ähnelnden Kultur gleich und so staute sich auch bei den Armenier_innen in Karabach eine tiefe nationalistische Abneigung gegen ihre aserischen Nachbar_innen auf. Zur Entladung dieser Spannungen kam es 1917/18 als der Zar gestürzt wurde und dadurch für kurze Zeit ein Machtvakuum entstand.

In dem durch Niederlage Russlands gegen das imperialistische Deutschland sowie beginnenden Bürgerkrieg verursachten Chaos spalteten sich zahlreiche nicht russische Randprovinzen ab und erklärten sich zu unabhängigen Staaten. So kam es auch zur Ausrufung eines souveränen armenischen und eines souveränen aserbaidschanischen Nationalstaats, die beide in der Atmosphäre des aufgestauten nationalistischen Hasses ihr jeweiliges Territorium ethnisch säuberten. In beiden Gebieten wurden tausende Menschen getötet und weitere zehntausende Menschen vertrieben. Schon damals spielte der Konflikt um Bergkarabach eine große Rolle. Armenien und Aserbaidschan beanspruchten beide dieses Gebiet. Erst der Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg  setzte diesen aggressiv-nationalistischen Staaten und den Massenvertreibungen und – ermordungen ein Ende. Armenien und Aserbaidschan wurden zu Sowjetrepubliken und die Region um Karabach wurde entgegen dem Willen der Mehrheit der armenischen Bevölkerung Aserbaidschan zugeteilt, wobei Bergkarabach eine Autonomie innerhalb Aserbaidschans und eine teilweise Selbstverwaltung und den Schutz der armenischen Kultur zugesichert bekam. Der Nationalismus nahm aufgrund der guten ökonomischem Entwicklung innerhalb der Sowjetunion und somit dem stetig steigenden Lebensstandard von sowohl Armenier_innen als auch Aseris im Kaukasus immer mehr ab.

Ab den späten 1970er Jahren geriet die Sowjetunion jedoch immer mehr in eine ökonomische Krise, die ab 1980 schließlich zu einem Absinken des Lebensstandards führte. Durch diese ökonomische Krise erstarkten in einigen Sowjetrepubliken wieder seperatistische Bewegungen, die die Errichtung von Russland unabhängiger Nationalstaaten forderten.

In dieser Endphase der Sowjetunion entflammte der alte Konflikt erneut, zwischen den beiden Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan brachen bürgerkriegsähnliche Zustände aus. Armenien warf Aserbaidschan die Missachtung der Autonomie Bergkarabachs vor und deportierte in Folge dessen tausende Aseris, in Aserbaidschan begingen nationalistische Mobs mehrere Pogrome gegen Armenier_innen und tötete dabei hunderte. Die Sowjetarmee intervenierte und stellte Bergkarabach unter Militärverwaltung. Kurz danach brach die Sowjetunion zusammen. Als sich die bisherigen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan wieder als souveräne Nationalstaaten konstituierten und die kapitalistische Restauration ihren Lauf nahm, bestand Bergkarabach auf das Recht sich unabhängig von Aserbaidschan zu erklären und eine eigene Republik zu gründen. Dadurch das die neu entstandenen Staaten Aserbaidschan und Armenien ihre Territorien erneut ethnisch säuberten und wieder tausende Menschen vertrieben, kam es schließlich zum offenen Krieg. In diesem Krieg standen sich zwei noch sehr frisch zusammengefügte Armeen gegenüber die mit extremer Brutalität vorgingen, weshalb es zu vielen tausenden zivilen Toten und noch mehr Vertreibungen kam. Erst durch russische Vermittlungen wurde 1994 ein Waffenstillstand und damit ein vorübergehendes Ende des Krieges beschlossen und Russland konnte als Schutzmacht seine Interessen durchsetzen.

Armenien ging als Sieger aus dem Gemetzel und konnte Bergkarabach sowie die umliegenden Gebiete erobern. Hunderttausende Aseris wurden nach Aserbaidschan vertrieben oder wanderten aus Furcht vor möglichen Massakern aus. Ganz Karabach sollte durch armenische Siedler_innen „armenisiert“ werden. Doch kein Staat der Welt erkannte die Unabhängigkeit der nun vergrößerten Republik Arzach an. Zwischen 1994 und 2020 kam es zu mehreren militärischen Auseinandersetzungen, die allerdings nur wenige Tage anhielten. Seit 2000 gab es auch den Versuch der Annäherung und 2007 sogar Verhandlungen mit der Minsker Gruppe bestehend aus den imperialistischen Großmächten Russland, USA, Frankreich und Deutschland als Vermittler, die einen Lösungsvorschlag vorlegten um den Konflikt zu beenden. Dieser Lösungsvorschlag beinhaltete den Rückzug aller armenischen Truppen aus den von Armenien besetzten Gebieten außerhalb Bergkarabachs und damit auch die Möglichkeit zur Rückkehr der vetriebenen Azeris. Außerdem sollten Friedenstruppen stationiert und ein Referendum über den Status Bergkarabachs durchgeführt werden. Bei den Verhandlungen wurden jedoch keine Vertreter der Republik Arzach eingeladen, um die es hauptsächlich bei den Verhandlungen ging und letztendlich führten diese zu keinem befriedigenden Ergebnis.

2021 brach der Krieg dann wieder aus, Aserbaidschan griff die Republik Arzach an und konnte rund ein Drittel des Gebietes unter militärische Kontrolle bringen. 9000 Menschen wurden getötet, darunter vorrangig Soldaten beider Konfliktparteien. Der Krieg war ein komplettes Desaster für Armenien, dass im Gegensatz zu 1994 Aserbaidschan militärisch weit unterlegen war. Im November 2021 entstand unter Vermittlung Russlands ein Waffenstillstandsabkommen. Im Zuge dessen erfolgte ein Rückzug armenischer Truppen aus einem weiteren Drittel des arzachischen Gebiets, dass dann von russischen Friedenstruppen besetzt wurde, um laut Russland die Kontaktlinie beider Staaten und den versorgungstechnisch so wichtigen Latschin-Korridor, die einzige Straße die Armenien mit Bergkarabach verbindet, zu kontrollieren. Faktisch wurde dieses Gebiet aber in den aserbaidschanischen Staat integriert. Etwa 90.000 Armenier_innen flohen aus Angst vor Vergeltungsmassakern der aserbaidschanischen Armee nach Armenien oder in die verbliebenen Teile Bergkarabachs.

Gründe für diesen vernichtenden Sieg Aserbaidschan sind vor allem dessen Öl- und Gasvorkommen die  diesem einen massive Gewinn an ökonomischer, und somit auch geopolitischer, Macht bescherten. Dadurch war es Aserbaidschan möglich massiv aufzurüsten. 2022 war das aserbaidschanische Militärbudget 5 mal so hoch wie das armenische. Waffen bekommt Aserbaidschan vor allem aus Israel und der Türkei. Die Türkei liefert Aserbaidschan Waffen gegen aserbaidschanisches Öl und Gas und sucht den „großtürkisch“-nationalistischen Schulterschluss mit diesem. Israel liefert Waffen vor allem wegen der Erzfeindschaft zum Iran. Zwischen Aserbaidschan und dem Iran besteht aufgrund der sehr großen aserischen Minderheit im Nordwesten des Irans, die größer ist als die aserische Mehrheitsbevölkerung in Aserbaidschan, ebenfalls eine nationalistische Feindschaft. Aserbaidschan spielt sich als Beschützer dieser aserischen Minderheit im Iran auf. Das löst Unruhe bei der iranischen Regierung aus, weil man denkt, dass Aserbaidschan  langfristig vorhaben könnte, den Iran politisch zu destabilisieren um eine Sezession der mehrheitlich aserischen Landesteile zu ermöglichen, ein Konflikt der ebenfalls irgendwann einmal zur Eskalation führen könnte. Israel unterstützt darum Aserbaidschan, vor allem um einen Verbündeten gegen den Iran zu haben und der Iran Armenien, ebenfalls weniger aus Sympathie sondern eher aus Zweckmäßigkeit, so drohte das iranische Mullahregime Aserbaidschan, dass es, sollte dieses völkerrechtlich zu Armenien gehörendes Territorium angriffen, der Iran auf Seiten Armeniens in der Krieg intervenieren würde. Die EU und die USA stehen in diesem Konflikt tendenziell auch eher auf Aserbaidschans Seite, da die EU erst kürzlich ein Gas-Abkommen mit der Aliyev-Regierung abgeschlossen hat, um russisches Gas zu ersetzen. Auch hoft man, den Einfluss Russlands im Kaukasus zu bekämpfen, welches sich lange als Schutzmacht Armeniens darstellte, den aktuellen Konflikten jedoch zunehmend hilflos gegenübersteht. Hier zeigt sich wieder einmal, dass das Gerede vom Kampf für Demokratie und Menschenrechte lediglich Heuchelei ist um die eigenen geopolitischen Interessen durchzusetzen. Wenn es diesen hingegen mehr nützt mit einem aggressiven Diktator Geschäfte zu machen, als ein Land zu unterstützen, das einem aggressiven Angriffskrieg ausgesetzt ist, redet man eben nicht mehr darüber sondern schaut schweigend zu.

 Warum brach der Konflikt nun erneut aus?

Der Konflikt war natürlich auch nach dem letzten Waffenstillstand nicht beigelegt. Die armenischen Militärverbände waren stark geschwächt während die aserbaidschanische Armee triumphierte und ihre Aufrüstung weiter fortsetzte. Das Gas-Abkommen mit der EU, spült dem aserbaidschanischen Regime noch zusätzliche Milliarden in die Kasse mit dem es weitere Waffen kaufen kann um sie später gegen Armenien einzusetzen.

Im Dezember 2022 begann Aserbaidschan dann mit der Blockade des Latschin-Korridors und verhinderte somit den Güterverkehr zwischen Armenien und den Resten der Republik Arzach, dem historischen Bergkarabach. Diese Blockade wurde von Aserbaidschan immer mehr verschärft, sodass seit diesem Sommer nicht einmal mehr Hilfsgüter und medizinische Notfalltransporte vom aserbaidschanischen Militär durchgelassen wurden.

Durch den Ukraine Krieg hatte sich das militärische Kräfteverhältnis in der Region noch weiter zugunsten Aserbaidschans verschoben, da 95% der russischen einsatzfähigen Kampftruppen an der Front im Krieg gegen die Ukraine gebunden sind und die russischen Friedenstruppen somit nicht die Kräfte hatten die Einhaltung des Waffenstillstands durchzusetzen. Außerdem sind durch den Ukraine Krieg stabile Beziehungen zu Aserbaidschan und dessen Verbündeten Türkei für Russland immer wichtiger geworden, denn Russland bekommt wichtige Kampfdrohnen aus dem Iran geliefert und Aserbaidschan und die Türkei hätten militärisch wohl die Möglichkeit diese für den russischen Angriffskrieg essentiellen Lieferungen zu blockieren. Dadurch das also Russland die Hände gebunden waren, deutete alles darauf hin dass Aserbaidschan das angeschlagene und militärisch inzwischen weit unterlegene Armenien dieses Mal in einem Handstreich besiegen könnte. Auch eine Reaktion des „Wertewestens“ musste der aserbaidschanische Diktator Alijew nicht wirklich fürchten, schließlich brauchte dieser ja sein Gas und die Schmach Russlands, im Kaukasus quasi machtlos zu sein, käme Washington und Brüssel sicherlich ebenfalls gelegen. Also marschierte die aserbaidschanische Armee am 19.September in Bergkarabach ein.

Wie ist die derzeitige Lage in Bergkarabach?

Am Tag des Angriffs hatte die armenische Regierung angekündigt, nicht militärisch in den Krieg einzugreifen, denn Bergkarabach sei aserbaidschanisches Territorium, so der armenische Premierminister Pashinjan. Eine vollständige Kapitulation vor der militärischen Überlegenheits des Nachbarn. Man fürchtete vermutlich, dass sollte es zu einem Krieg kommen, nicht „nur“ das unhaltbar gewordene Bergkarabach sondern womöglich auch ein Korridor zwischen Aserbaidschan und dessen an die Türkei grenzende Exklave Nachitschewan besetzt werden würde.

Währenddessen intensivierten sich die aserbaidschanischen Luftangriffe durch türkische Bayraktar und israelische Haroop Drohnen und Aserbaidschan startete eine Bodenoffensive. Bereits am zweiten Tag des Angriffs legten die Militärverbände Arzachs die Waffen nieder und kapitulierten. Ohne eine Intervention der regulären armenischen Armee konnten sie nichts gegen die Militärmacht Aserbaidschans ausrichten.

Am selben Tag gab es noch Angriffe auf russische Soldaten seitens der aserbaidschanischen Armee. Die aserbaidschanischen Soldaten feuerten mit Handfeuerwaffen auf die russischen Soldaten, die gerade von einem Beobachtungspunkt zu ihrem Stützpunkt zurückkehrten und töteten laut russischem Verteidigungsministerium mehrere von ihnen. Die armenische Regierung forderte in Folge dessen die russischen Friedenstruppen dazu auf einzugreifen, was aufgrund deren Schwäche jedoch illusorisch war. Eine weitere massive Demütigung Russlands, dass nicht einmal mehr einen direkten Angriff auf seine eigene Armee mit mehr als leeren Verurteilungen beantworten konnte und ein weiterer Beweis der Macht Aserbaidschans, das selbst der imperialistische Großmacht Russland zu verstehen geben konnte sich besser nicht mit ihm anzulegen.

Immerhin fokussierte die russische Armee sich auf die Evakuierung der Bevölkerung aus den Frontregionen. Zahlreiche Menschen wurden auf den Stützpunkten der Friedenstruppen und in russischen Kirchen in der Region untergebracht. Die meisten Menschen flohen auf den Flughafen der nun schon von aserbaidschanischen Truppen besetzten Hauptstadt von Arzach Stepanakert, wo sich zugleich auch der Hauptstützpunkt der Friedenstruppen befindet, und warteten auf Evakuierung. Am Mittwoch ab 13 Uhr wurde dann nach der Kapitulation der arzachischen Militärverbände eine allseitige Waffenruhe ausgerufen. Die Kernpunkte der Waffenruhe sind die Demilitarisierung bzw. die Entwaffnung aller arzachischen Streitkräfte und der Abzug aller armenischen Truppen aus Bergkarabach unter Beaufsichtigung russischer Friedenstruppen. Nun sind seit dem Waffenstillstand schon tausende weitere ethnische Armenier_innen vertrieben worden. Viele Armenier_innen versuchen nach Armenien zu fliehen, aber schaffen es teilweise nicht, da der Latschin-Korridor von Aserbaidschan militärisch kontrolliert wird. Es bildeten sich kilometerlange Staus an der armenischen Grenze. Die aserbaidschanische Armee begeht neben der Versorgungsblockade nun auch dutzende Kriegsverbrechen an der armenischen Bevölkerung Bergkarabachs.

Seit Jahren schon wird vor einem erneuten Genozid an den Armenier_innen gewarnt. Das kriegslüsterne und siegestrunkene Aserbaidschan sowie sein Verbündeter, die Türkei, die den ersten Genozid an Armenier_innen nachwievor verleugnet, scheinen ihre Aggressionen gegen den viel kleineren Nachbarn, dem Russland nicht mehr helfen kann und der Westen aus geopolitischen Kalkül nicht helfen will, noch nicht einstellen zu wollen. So könnte die nächste Frage die das Nachitschewan-Korridors sein, den Aserbaidschan bereits jetzt einfordert und der für die Türkei wesentlich relevanter ist als der Bergkarabach-Konflikt, schließlich würde er dieser eine quasi direkte Verbindung zum Kaspischen Meer ermöglichen und dem Traum vom „großtürkischen“ Imperium massiv befeuern. Der Westen würde vermutlich auch in einem solchen Konflikt um völkerrechtlich armenisches Territorium bestenfalls nicht eingreifen schlimmstenfalls die Aggressoren unterstützen. Vielleicht könnte man ja Aserbaidschan sogar nutzen um den russischen Verbündeten und westlichen Feind Iran tatsächlich zu destabilisieren? Das Schiksal der Armenier_innen bedeutet Baerbock und Co. heute jedenfalls nicht wesentlich mehr als es ihren preußisch-deutschen Vorgängern bedeutet hat, die auch damals zusahen für ihr türkischer Verbündeter, damals noch als Osmanisches Reich, Armenier:innen abschlachteten. Schließlich war man ja auf diesen angewiesen, als Gegenwicht zum Russischen Zarenreich im Kaukasus.

Das Selbstbestimmungsrecht der Armenier_innen in Bergkarabach darüber, zu welchem Staat sie gehören oder ob sie unabhängig bleiben wollen, wird bereits jetzt von Aserbaidschan mit Füßen getreten, mithilfe von Geldern der EU und Waffen Israels und der Türkei!

Wir fordern:

  • Volle Solidarität mit den Armenier_innen in Bergkarabach!
  • Den Abzug aller Truppen aus Bergkarabach, auch der russischen Friedenstruppen!
  • Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts aller Nationen!
  • Eine unabhängige Wahl, durch die in Bergkarabach lebenden Menschen, ob sie eine unabhängige Republik bleiben oder sich einem Staat anschließen wollen!
  • Das Rückkehrrecht für alle Vertriebenen und Geflüchteten dieses Krieges!
  • Schluss mit dem Morden – Für die Bildung einer Föderation sozialistischer Staaten des Kaukasus!

Für weitere Informationen zum Konflikt um Bergkarabach und dessen Einordnung ins weltpolitisch Gefüge, sowie über die Möglichkeiten der armischen und aserischen Arbeiter_innen einen gerechten Frieden zu schaffen, lest gerne auch den Text unserer Genoss_innen von der Gruppe ArbeiterInnenmacht! Diesen findet ihr unter:   https://arbeiterinnenmacht.de/2023/09/29/bergkarabach-nein-zur-vertreibung-der-armenierinnen/




Leipziger Kessel, Chatkontrollen und Letzte Generation oder:  Zuspitzung deutscher Repression

von Flo Rojo, Oktober 2023

4 Monate ist es her, seit in Leipzig rund 1300 Menschen für bis zu 11 Stunden eingekesselt und Jugendliche von Polizist_Innen krankenhausreif geschlagen wurden. Der dem vorausgehende Protest widmete sich thematisch dem, was den Demonstrant_Innen bevorstand: dem Kampf gegen die Zunahme staatlicher Repression. Hierbei spezifisch gegen das Urteil im Fall Lina E. und die Einschränkung des Rechts auf Versammlungsfreiheit an diesem Wochenende. Dieses Ereignis, welches als neue Qualität des Angriffs des deutschen Staates wahrgenommen wurde, ist jedoch nur ein Symptom eines allgemeinen Trends zunehmender staatlicher Härte. Dem gingen dieses Jahr schon die exzessive Gewalt der Räumung Lützeraths zugunsten der Kohlekonzerne und das konsequente Verbot jeglicher Proteste im Zuge des Jahrestags der Nakba (Vertreibung hunderttausender Palästinenser_Innen aus Palästina) voraus. Am ersten Juni-Wochenende richtete die Polizei dann mit rund 3.000-4.000 Einsatzkräften eine 48-Stunden-lange Kontrollzone in der Leipziger Innenstadt ein und untersagte jegliche Anmeldung von politischen Versammlungen wie Kundgebungen oder Demonstrationen. Das ganze mündete dann im größten und längsten deutschen Kessel der letzten Jahre sowie etlichen Strafverfahren.

Diese allgemeine Zuspitzung staatlicher Repression beobachtete auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, in dem sie die BRD zum ersten Mal in ihrem Bericht zu Polizeigewalt und Versammlungsfreiheit als Problemfall aufzählte.

Hierbei ist die teils enorm gewaltvolle Auflösung von Straßenblockaden der Letzten Generation (LG) ebenfalls zentral für deren Einschätzung. Amnesty kritisiert hierbei vor allem den Einsatz von Schmerzgriffen durch die Polizei gegen die durchweg friedlichen Aktionen der LG. Auch juristische Konsequenzen werden immer härter, neben etlichen Fällen von 30-tägiger Präventivhaft (Inhaftierung bevor eine potentielle Straftat begangen wurde) in Bayern reicht die Teilnahme an drei Straßenblockaden der LG nun schon für eine achtmonatige Haftstrafe, wie der Fall Caroline S. in Berlin zeigte.

Obwohl wir den Staat natürlich nicht „nach weniger Schlagstock“ fragen sollten und jegliche Repression als zu viel erkennen müssen, zeigt die Zunahme der juristischen und physischen Gewalt des Staats eine gefährliche Entwicklung. Dies steht im Sinne des internationalen Rechtsrucks und ist wahrscheinlich erst der Beginn von intensiverer Verfolgung von Aktivist_Innen und Kriminalisierung von (linkem) Protest durch die BRD.

Denn auch die EU plant eine rechtliche Ausweitung der Möglichkeiten zur Strafverfolgung. Das sogenannte Chatkontrollengesetz, welches auf Basis von Bekämpfung der Kinderpornographie propagiert wird, soll nämlich vor allem die Verschlüsselung von Textnachrichten untergraben. Obwohl natürlich der Kampf gegen Kinderpornographie ein dringend notwendiger ist, ist es klar, dass dieses Gesetz vor allem der Erweiterung der Kompetenzen der Repressionsorgane wie der Polizei gilt. Somit wird sichere Kommunikation über Nachrichtendienste nun endgültig abgeschafft.

Doch weshalb sieht der Staat die Notwendigkeit, den Repressionsapparat hochzufahren?

Polizeigewalt gegen Demos und das Inhaftieren von Aktivist_Innen sind Mittel, um andere dissidente (also oppositionelle bzw. staatskritische) Elemente der Gesellschaft über das Erzeugen von Angst davon abzubringen, sich ebenfalls bzw. weiterhin an solchen Aktionen zu beteiligen oder sonst in irgendeiner Weise sich gegen den Staat aufzulehnen. Der bürgerliche Staat braucht so einen Effekt, da wir uns in einer Zeit multipler Krisen befinden, welche die Lebenssituation vieler Menschen drastisch verschlechtern. Soziale Krisen birgen nämlich das Potential für Aufstände, Rebellionen und (für Staat und Kapital) im schlimmsten Fall Revolutionen. Es zeichnet sich auch eine generelle Unzufriedenheit mit der Regierung in der breiten Gesellschaft ab. Obwohl durch die Schwäche der politischen Linken bisher nur für rechte Akteure diese spezifische Situation zum Vorteil ausfällt, sieht der Staat während der zunehmenden Prekarisierung/Verarmung der Bevölkerung eine Gefahr für seinen Selbsterhalt. Darin liegt am Ende auch der Kern der intensiven Kriminalisierung der Klimabewegung: Dadurch, dass die Auto- und Kohleindustrie starke Kapitalfraktionen in Deutschland darstellen, liegt effektiver Klimaschutz nicht im Interesse von großen Teilen des Kapitals und somit nicht in dem des Staats, der dadurch im internationalen Wettbewerb mit anderen kapitalistischen Staaten abgehängt würde.

Hierbei sollte auch die Frage aufgeworfen werden, warum nun mit Nachdruck über die 20 untergetauchten “Linksextremisten” gefahndet wird, während rund 640 untergetauchte Nazis anscheinend unmöglich zu finden sind. Obwohl Olaf Scholz und Annalena Baerbock selbst wahrscheinlich kein Interesse an der Etablierung einer faschistischen Gesellschaftsordnung haben, ist der Faschismus für den Kapitalismus mehr im Interesse als eine soziale Revolution, welche den Arbeiter_Innen, Jugendlichen und Unterdrückten die Macht übergeben und den Kapitalismus abschaffen würde. Somit steckt der Staat als Handlanger des Kapitals mehr Kapazitäten in die Bekämpfung von linken an Stelle von rechten Strukturen. Weswegen in einer Zeit des intensivsten Rechtsrucks die Repression gegen Kommunist_Innen, Anarchist_Innen und Linke generell hochgefahren wird.

Ein weiterer nicht zu vergessender Aspekt ist dabei die Rolle von Hetzkampagnen, also medialer Repression gegen Aktivist_Innen, welche z.B. im Falle der Letzten Generation auch dazu führen, dass Arbeiter_Innen Jugendliche im Kontext der Straßenblockaden zusammenschlagen. Diejenigen, die eigentlich ein gemeinsames Interesse an der Überwindung der kapitalistischen Ausbeutung von Mensch und Natur haben, werden gegeneinander aufgehetzt.

Doch was heißt das ganze nun für uns als Revolutionäre und Aktivist_Innen?

Es ist klar, dass wir uns nicht durch die versuchte Einschüchterung von Polizei und Staat unterkriegen lassen dürfen. Die Krisen zeigen erneut die akute Notwendigkeit der Überwindung der kapitalistischen „Ordnung“ und somit die des verschärften Klassenkampfes, um für Verbesserungen der derzeitigen Lebenssituation zu kämpfen und die Überwindung dieses Systems vorzubereiten. Es gilt sich also den Angriffen konsequent entgegenzustellen, bessere Strukturen/Sicherheitskonzepte zu erarbeiten und gemeinsam und geschlossen Kapital und staatlicher Repression den Kampf anzusagen- in Schulen, Unis und Betrieben!




Rassistische Polizeigewalt in Frankreich: Gerechtigkeit für Nahel!

Oktober 2023, Revolution Zeitung September 2023

Immer wieder kommt es weltweit zu rassistischer Polizeigewalt. In Frankreich gipfelte sie am 27. Juni dieses Jahres mit der Erschießung des 17-jährigen Nahel Merzouk. Doch was ist passiert? Nahel war mit zwei weiteren Personen im Auto unterwegs, als die Polizei sie aufgrund von zu hoher Geschwindigkeit anhalten wollte. Nahel ignorierte dies und es kam zu einer Verfolgungsjagd bei der er schließlich stoppen musste. Kurz darauf wurde Nahel auf dem Fahrersitz des Wagens erschossen. Die Polizei behauptete danach, Nahel sei auf einen Polizisten zugefahren, welcher dann aus Notwehr gehandelt habe. Ein öffentlich gemachtes Video widerlegte dies allerdings, denn der Polizist hielt sich seitlich am Fahrzeug auf.

In Folge dieses Mordes kam es zu gewaltigen Protesten, die ganz Frankreich erfassten. Diese richteten sich hauptsächlich gegen die massive Polizeigewalt und Racial Profiling. Die Wut der Demonstrierenden äußerte sich auch in größeren Krawallen bei denen beispielsweise Brände gelegt wurden etc. Im Zuge dessen war der Protest eher Ventil für die verständliche Wut, statt dass er eine größere politische Perspektive aufzeigen konnte. Zwar erklärte der franz. Präsident den Mord als „unerklärlich“ und hielt eine Schweigeminute ab, doch praktisch reagierte der Staat auf die Krawalle mit der Mobilisierung von bis zu 45.000 Polizist_Innen und die Polizeigewerkschaften erklärten offen, man befände sich „im Krieg“. Selbstredend kam es auch hier zu massiver Polizeigewalt gegen die Demonstrierenden.

Doch nicht nur in Frankreich kommt es zu Polizeigewalt. Denken wir nur an die Tode von George Floyd in den USA oder den von Mouhamed Dramè in Dortmund. Auch knüppelt und schießt die Polizei praktisch weltweit Proteste nieder und das nicht nur in Ländern außerhalb des sich so liberal und freiheitsliebenden gebenden Westens. In jüngster Erinnerung sind sicherlich Proteste wie die nach dem Tode Nahels, gegen die Rentenreform in Frankreich oder auch die 1. Mai Demonstrationen.

Wer ist eigentlich die Polizei?

Um zu verstehen wieso es immer wieder dazu kommt und was eine Antwort darauf sein kann, müssen wir uns näher mit der Rolle der Polizei im kapitalistischen Staat befassen. Im bürgerlichen Staat ist die Polizei Teil der exekutiven Gewalt, sprich ausführenden Gewalt des Staates. Sie stellt also zumindest innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen den bewaffneten Teil des Staates dar. Ihre Aufgabe ist es, die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Staates zu gewährleisten. Alleine an ihr liegt es, mit Gewalt für „Recht und Ordnung“ zu sorgen. Wenn also nun in einem Staat Proteste entbrennen, die sich z.B. gegen eine rassistische Praxis innerhalb der Staatsordnung wenden, so ist es die Aufgabe der Polizei, diese niederzuschlagen und den Status Quo zu verteidigen. Das Problem ist nun, das der Status Quo, also die herrschende Ordnung, vor allem der Klasse der Kapitalist_Innen dient und nicht den Interessen des Großteils der Bevölkerung, der Arbeiter_Innenklasse und der Jugend.

Doch warum trifft die Polizeigewalt so oft unterdrückte Gruppen wie People of Color? Der Rassismus des Staates und der kapitalistischen Ausbeutung wird hier gewaltsam fortgeführt. Beispielhaft sind hier Migrant_Innen, die auf rassistische Art und Weise auf dem Arbeitsmarkt überausgebeutet in ein prekäres Dasein verdrängt werden, wo sie dann in den sogenannten „Problembezirken“ zusammenwohnen müssen, da man sich nur dort noch die Mieten leisten kann. Entwickeln diese Menschen dann eine berechtigte Wut auf die Art und Weise ihrer Behandlung durch den Staat, werden sie spätestens dann zum Problem für die herrschende Ordnung, wenn sie diese Wut kundtun. Aber auch Linke trifft die Gewalt des Staates immer wieder, da sie eben diesen kritisieren und abschaffen wollen, was natürlich im Gegensatz zur Aufgabe der Polizei steht, diesen zu bewahren. Es bleibt also festzustellen, dass die Polizei nicht unser Freund und Helfer ist, war oder sein wird. Sie setzten einfach nur die unserem Interesse entgegengerichtete Ordnung des Staates durch.

Doch wie gehen wir damit um, wenn wir uns die alltägliche Schikane und Gewalt durch den Staat nicht mehr länger gefallen lassen wollen? Da uns nun klar sein sollte, dass Polizeigewalt nicht Ausrutscher einzelner Polizist_Innen sind, sondern das Ergebnis der staatlichen Ordnung, müssen wir uns gegen diese organisieren. Die Forderungen müssen sich also damit auseinandersetzten, wie wir im Hier und Jetzt Polizeigewalt bekämpfen, aber auch wie wir die Polizei und den Kapitalismus als Ganzes überwinden können:

• Polizei aus dem DGB schmeißen! Bullen gehören nicht zur Arbeiter_Innenklasse, sondern sind die Schlägertruppe des Kapitals!

• Kein Massenüberwachung z.B. durch, Vorratsdatenspeicherung, Bundestrojaner, Videoüberwachung usw.!

• Kein Racial Profiling und ein hartes Aburteilen von Bullen, die Racial Profiling anwenden!

• Polizist_Innen, die gewalttätig werden, sollen vor Volksgerichte gestellt und diese bei Bedarf abgeurteilt werden! Dafür müssen sie durch ein individuelles Erkennungszeichen identifizierbar sein!

• Keine Militarisierung der Polizei. Sofortige Entwaffnung der Polizei, vor allem was Taser, Maschinenpistolen, Knarren und Handgranaten angeht!

• Für demokratisch legitimierte und kontrollierte Selbstverteidigungsstrukturen der Arbeiter_Innen, Jugendlichen und allen Unterdrückten des Kapitalismus!




Der Höhenflug der AfD

Von Vladlen Uljanow, Oktober 2023, Revolution Zeitung September 2023

Erstmals besetzt ein Politiker der AfD das Amt des Landrats in Thüringen, in Sachsen-Anhalt stellt sie einen Oberbürgermeister und auch in den Wahlprognosen nimmt die AfD wieder ordentlich Schwung auf. Betrachten wir die Entwicklung der AfD in den letzten Wochen und Monaten so scheint es erschreckend. Doch woran liegt das?

Der Kapitalismus, die bürgerliche Demokratie sowie die politische Linke stecken in einer tiefen Krise und die AfD weiß es, sich diese Faktoren zu eigen zu machen und darauf rechtspopulistische Antworten zu liefern. Diese stellen aber nicht eine Lösung für die Probleme dar, verschärfen sie viel mehr. Doch sie können den Unmut für ihre eigene Agenda umlenken und für Wahlstimmen und Proteste mobilisieren. Damit treiben sie die gesamte politische Landschaft nach rechts und werden dabei selbst immer rechter! Dagegen brauchen wir standfesten linken Widerstand!
Doch der Reihe nach: Was ist eigentlich gerade die Situation?

Die ökonomische Krise:

Schon die Pandemie hat die noch immer anhaltenden Auswirkungen der Finanzkrise von 2008 weiter verschärft. Doch spätestens die Inflation, die sich vor allem für die Lohnabhängigen und ärmere Zwischenklassen wie kleine Ladenbesitzer_Innen oder selbstständige Handwerker_Innen stark bemerkbar machen, führen zu der Angst, den aktuellen Lebensstandard nicht mehr halten zu können. Steigende Kreditunsicherheit erhöht das Risiko von Verarmung, Verschuldung und Insolvenz und auch die gestiegenen Energiepreise lösen bei einem großen Teil der Bevölkerung die reale Angst vor sozialem Abstieg aus, welche das Vertrauen in eine rosige Zukunft weiter schrumpfen lässt. Zeitgleich dazu stagnieren die Löhne und damit haben Lohnabhängige effektiv weniger Geld. Wenn es mal zu irgendwelchen Unterstützungen seitens des Staates kommt, werden vorrangig die Unternehmen gerettet. Die Suche nach Lösungen in Form eines politischen Richtungswechsels wachsen also immer weiter.

Die Krise der parlamentarischen Demokratie:

Unabhängig vom finanziellen Aspekt, sinkt auch das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie immer weiter. Durch die neoliberale Ideologie der kapitalistischen „Alternativlosigkeit“, die dazu führt, dass in der Regierung alle Parteien mehr oder weniger die gleiche Politik fahren, fällt es schwer, noch Hoffnung in eine Veränderung zu stecken.

Es findet auch gerade im Zuge der Krisen eine starke politische Verrohung statt. Der Hass auf Arme, Migrant_Innen sowie queere Menschen trifft auf immer mehr Anklang vor Allem bei denen, die Angst vor sozialem Abstieg haben. Auf diese Gruppen werden die Abstiegsängste projiziert und sie werden als Nutzlose, Schmarotzer oder Bedrohung beschimpft. Diese Sichtweise hat zwar eine reale Grundlage in dem ungerechten System des Kapitalismus‘, aber die Lesart wird trotzdem bewusst geschürt von der alltäglichen Propaganda, bei der alle bürgerlichen Parteien auf ihre Art und Weise mitmachen.

Krise der Linken

Die dritte Krise ist die Krise der Linken, vor allem aber des Linksreformismus‘. Dieser hat es verpasst, Antworten auf diese verschiedenen Krisen zu geben und sich als wirkliche und wirksame Opposition zu zeigen, anstatt sich an die bürgerlichen und konservativen Parteien anzubiedern oder sich in Schweigen zu hüllen. Das befeuert den Höhenflug der AfD noch weiter, da sie sich als einzige Alternative darstellen können und mit ihrem populistischen Gerede durchkommen.

Es braucht revolutionäre Antworten auf diese verschiedenen Krisen, die den Klassenwiderspruch, also den Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital aufdecken und die herrschende Klasse für diese verschiedenen Krisen verantwortlich macht, anstatt einer Politik, die den Arbeiter*innen nur minimale Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus‘ verspricht und es nicht mal schafft, diese in Regierungsverantwortung umzusetzen. Hierdurch versinkt die gesellschaftliche Linke momentan in Ziellosigkeit und Verwirrung und kommt nicht in die Position, Siege zu erringen.

Wie nutzt die AfD diese Situation aus?

Die AfD hingegen bespielt sehr erfolgreich die Rolle der Opposition. Sie lehnen vermeintlich alles ab, wofür die anderen Parteien stehen, und hat es im Zuge dessen auch in gewisser Weise geschafft, einen Anti-Establishment-Kurs populär zu machen, der sich aber nicht gegen die herrschende Klasse richtet, sondern gegen die herrschende Politik wettert und auf eine „falsche Repräsentanz“ pocht, also gewissermaßen nur Establishment austauschen will. Die AfD verfolgt hier die Strategie der Neuen Rechten: Um aus der Isolation zu kommen, werden Begriffe verbreitet und Themen besetzt, um die Gesellschaft und die politische Landschaft nach rechts zu treiben. Gleichzeitig will man sich als nur etwas aufmüpfigen Teil der bürgerlichen Politik darstellen. Hier ähnelt die AfD all den anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa, die schon seit Jahren immer wieder in Regierungen gelangen. Man sieht dort, was uns bald blühen könnte: Angriffe auf das Sozialsystem, Entrechtung von Minderheiten und Linken, autoritäre Law-And-Order-Politik.

Doch was können wir tun?

Der wichtigste Schritt ist es, klassenbewussten Widerstand aufzubauen, der also zum einen im Gegensatz zur AfD wirklich für die Interessen aller Arbeiter_Innen kämpft und nicht die verschiedenen Gruppen gegeneinander ausspielt, um am Ende eigentlich Politik für die herrschende Klasse zu machen. Zum anderen muss der Widerstand entschlossen und geeint gegen die Bedrohung von rechts stehen!

Im letzten Jahr sind während der Tarifrunden mehrere Tausend Menschen den Gewerkschaften beigetreten und haben sich aktiv am Kampf für faire Löhne und bessere Bedingungen eingesetzt. Es bilden sich neue, kampfbereite Teile der Klasse aus, denen zwar die Gewerkschaftsbürokratie unter Druck der Kapitalist_Innenklasse Steine in den Weg legt und dementsprechend wieder frustriert wurden. Aber auch eine Radikalisierung in Teilen der sozialen Bewegungen wie der Umweltbewegung lässt sich erkennen.

Nur weil bürgerliche Parteien wie die LINKE es nicht schaffen, die Dynamik aufzugreifen, heißt das noch lange nicht, der Kampf gegen die AfD sei verloren.

Um die reaktionäre Politik der AfD zu bekämpfen, müssen wir eine Antwort auf die realen sozialen Probleme bieten. Nur eine Bewegung, die kompromisslos und damit revolutionär-antikapitalistisch für die sozialen Interessen der Lohnabhängigen, Krisengebeutelten und Unterdrückten kämpft, kann den Aufstieg der AfD nicht nur zeitweise ausbremsen. Im Hinblick auf die weitere Zuspitzung weltumspannender Krisen und drohender Kriege zeigt sich die Bedeutung einer internationalen und solidarischen Organisierung. Diese Diskussion müssen wir einerseits mit den Gewerkschafter_Innen und sozialen Bewegungen führen, um diese davon zu überzeugen, dass wir mit den Mitteln des Klassenkampfes gegen die Angriffe der Regierung, des Kapitals und der Rechten angehen sollten. Andererseits geht es darum, eine strategische Diskussion, um eine revolutionäre politische und programmatische Alternative zu führen, um so die Grundlagen für eine revolutionäre Partei und Internationale zu legen.




Warum wir Schüler_Innen die Streiks der Lehrer_Innen unterstützen!

Revolution Zeitung September 2023

Mit einem Geräuschpegel von 90 Dezibel für eine Klassenarbeit zu lernen, ist schon daheim schwer, wenn sich jemand im gleichen Raum föhnt. Aber bei diesem dauerhaften Geräuschpegel im Unterricht wird es dann völlig unmöglich. Die Klassen sind massiv überfüllt mit sehr häufig mehr als 30 Schüler_Innen. Dies werden dann auch nur von einer Lehrkraft betreut und sie muss sich um alle Probleme während des Unterrichts kümmern, während Unterrichtsinhalte vielfach auf der Strecke bleiben. Das stellt eine massive Belastung für die Lehrer_Innen und uns Schüler_Innen dar.

Ebenfalls erlaubt dies keine faire Bewertung, wenn, wie man es vielleicht selber noch kennt, die Lehrkräfte nach einem halben Jahr immer noch nicht einmal alle Namen kennen und dies das Würfeln der Noten nur noch verschärft. Eine Methode für eine „fairere“ oder zumindest vergleichbarere Bewertung wäre eine größere Menge an schriftlichen Abgaben. Diese würden jedoch die Lehrkräfte nur noch weiter belasten und eine individuelle Förderung noch schwieriger gestalten. Eine individuelle Förderung basiert auf den Stärken, Schwächen und Interessen und ist aktuell so gut wie unmöglich, da wenige Lehrkräfte die Möglichkeit haben, so einen Mehraufwand zu leisten. Das ist ein strukturelles Problem vor Allem für Schüler_Innen mit größeren Förderbedarf!

Aber was hat das jetzt mit den Streiks zu tun?

Die Lehrkräfte haben im Gegensatz zu uns Schüler_Innen eine Organisation, welche sie vor ihrem Vorgesetzten (= die Bundesländer) geeint repräsentiert und Forderungen erhebt: die Gewerkschaften. Gegenüber den Bundesländern bestehen die Streiks als Möglichkeit, Druck aufzubauen. Doch gerade bei Lehrer_Innen gibt es da Probleme: Zum Beispiel, dass die Streikenden ihrem Ziel, eine gute Bildung uns Schüler_Innen zu bieten, damit auch teilweise entgegenwirken. Dazu ist ein Streik von Lehrer_Innen nicht mit so viel Druck verbunden wie bei Angestellten in Unternehmen, da dies einen deutlich direkteren finanziellen Druck aufbaut, wenn die Produktion stillsteht. Dies macht es umso wichtiger, dass wir Schüler_Innen die Streiks und das Tarifvorhaben unterstützen, weil die Herstellung von öffentlichem Druck eine größere Rolle spielt.

Das Tarifvorhaben (TV-L) richtet sich jedoch nicht ausschließlich an die Lehrer_Innen, sondern an alle im Öffentlichen Dienst, die bei den Bundesländern angestellt sind. Dabei sind sehr viele Arbeiter_Innen aus unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen mitbetroffen, wie Erzieher_Innen, bei denen Kita in der Hand des Landes sind, auch reguläre Beamte und aber leider auch Polizei, die eigentlich Feinde der Arbeiter_Innenbewegung sind. Insgesamt sind also neben der Lehrer_Innengewerkschaft GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften) noch ver.di, IG BAU, DBB (Deutscher Beamtenbund) und die GdP (Gewerkschaft der Polizei) mit von der Partie.

Diese müssen sich zuvor noch auf einen Forderungskatalog einigen, was den Prozess noch komplizierter macht. Hierbei müssen die Lehrkräfte darauf drängen, dass auch eine Entlastung durch Verkleinerung der Klassen gefordert wird. Der TV-L hat jedoch einen Unterschied zu dem Letztens abgeschlossen Tarifverträgen: Dieser ist nämlich zwischen Bund und Kommunen und den bei ihnen Angestellten. Diese Unterteilung von Bund und Kommunen auf der einen, Bundesland auf der anderen Seite schwächt die Position der Angestellten, da sie nicht geeint auftreten.

Wie können wir da mitsprechen?

Wir Schüler_Innen haben nur eine Repräsentation über die Schulsprecher_Innen. Diese haben jedoch keine tatsächlichen Machtbefugnisse. Sie sind ebenfalls nicht ein politisches Gremium, was die Interessen der Schüler_Innen tiefergehend vertritt. Denn es besteht keine jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit und die Schulsprecher_Innen bewegen sich meist nur im „offiziellen“ Rahmen, weniger in Aktionen und Aufklärung an der Schule. Ebenfalls ist die Vorstellung der Schule und Schüler_Innenvertretung als etwas Unpolitisches problematisch, da schlussendlich die Beliebtesten der Klasse oder der GSV (Gesamtschüler_Innenvertretung) gewählt werden. Weiterhin ist eine Transparenz des Gremiums der GSV nicht wirklich die Norm.

Um für einen Tarifvertrag zu kämpfen, welcher die Ziele der Lehrer_Innen und dem entsprechend auch teilweise der Schüler_Innen erfüllt, braucht es eine organisierte Bildungsbewegung, welche für unsere Interessen kämpft und dabei nicht davon zurückscheut, auch radikale Forderungen aufzustellen und ein anderes Bildungssystem vorzuschlagen. Ebenfalls sollten wir versuchen, als Schüler_Innen gemeinsam mit unseren Lehrer_Innen für eine Gerechtere Bildung zu kämpfen und Solidarität aufzubauen, da nicht nur sie von der Misere des aktuellen Bildungssystems betroffen sind. Wir als Schüler_Innen sollten versuchen, auch zu einer Schüler_Innengewerkschaft zu kommen, welche unsere Forderungen vertritt und für diese kämpft. Hierbei kann es helfen, die bestehenden Schüler_Innenvertretungen als eine Plattform zu nutzen, um eine Perspektive in die Schüler_Innenschaft zu tragen. Aber wir müssen auch unabhängig Druck aufbauen! Deswegen versucht, euch mit anderen Schüler_Innen zu vernetzen und unabhängige Schüler_Innen-Komitees aufzubauen, welche sich an Bildungsprotesttagen und Streiktagen der Lehrer_Innen beteiligt und das Perspektiven gegen die Bildungskrise in die Schüler_Innenschaft trägt.

Dabei sollten wir auch die Frage der Macht über die Bildung stellen. Diese ist nämlich in eindeutiger Hand der Bundesländer und damit dem bürgerlichen Staat, also einem Organ, für das nicht an erste Stelle das Interesse an einer möglichst guten Bildung für alle basierend auf ihren Interessen steht, sondern das ihres Machterhalts. Dementsprechend würden Unterrichtsinhalte, welche das Machtsystem in der BRD infrage stellt, nicht zugelassen werden. Vielleicht lernen wir dann irgendwann im selbstbestimmten Politik-Unterricht mal etwas über den Kapitalismus und wie eine Welt nach ihm aussehen könnte!