Was geht eigentlich ab?

REVOLUTION, November 2022

Auf unserer jährlichen Sektionskonferenz haben wir als gesamte deutsche Sektion von REVOLUTION uns die Köpfe darüber heiß diskutiert, wie wir eigentlich die Lage der Welt aktuell einschätzen. Dabei spielten Fragen wie die Folgenden eine Rolle: Wird es einen neuen Weltkrieg geben? Was wird aus der Inflation? Schlittern wir in die nächste Wirtschaftskrise? Gibt es ein internationales Roll-Back gegen Trans-Menschen? Wird die EU die kommende Krise überleben? Wie ist die Lage des Kapitals in Deutschland? Was wird aus der sogenannten „Zeitenwende“ (Olaf Scholz 2022)? Wird sich die Linkspartei auflösen? Was waren die Probleme der Klimabewegung?

Antworten auf das alles und noch viel mehr gibt’s im folgenden Text!

Weltlage

1. Die Welt, in der wir Leben beugt sich der kapitalistischen Ordnung, welche seit Jahren durch Krisen geprägt ist. In jedem Fall stehen wir aber an einem Wendepunkt der Entwicklung des globalen Kapitalismus, also inmitten einer Phase des globalen Klassenkampfes, die entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung nehmen wird – und zwar auf verschiedenen Ebenen:

2. Das weltweite Wirtschaftswachstum wird 2022 nach Schätzungen des IWF wahrscheinlich nur 3,6% betragen. Die Prognose musste wegen der Inflation, den Lockdowns in China und dem Ukrainekrieg gegenüber Januar 2022 um 0,8 % gesenkt werden. Besonders betroffen von dieser Entwicklung ist die EU. Für 2023 rechnet der IWF nur noch mit einem Wachstum von 3 %, allerdings auch nur unter der Voraussetzung, dass sich der Ukrainekrieg nicht ausweitet, es in China weniger Lockdowns gibt und auch sonst keine neuen Konflikte und Krisen ausbrechen. Für ein Drittel aller Länder (vor alle europäischen Länder, allen voran Deutschland) sagt der IWF sogar eine Rezession (also ein Schrumpfen der Wirtschaft in zwei aufeinanderfolgenden Jahresvierteln) voraus. Wir stehen also anscheinend vor einer Stagflation (einer Kombination aus stagnierendem Wirtschaftswachstum und Inflation). Wenn weitere Krisen (politisch, gesundheitlich, wirtschaftlich usw.) ausbrechen oder sich die bestehenden verstärken, kann die Weltwirtschaft schnell in eine ausgewachsene Rezession rutschen.

3. Eine gemeinsame Antwort der führenden imperialistischen Mächte auf die globale ökonomische Krise kann, anders als nach der großen Finanzmarktkrise 2008 und der darauffolgenden Rezession, faktisch ausgeschlossen werden.

4. Das verschärft nicht nur die zyklische ökonomische Krise in einzelnen Staaten, sondern auch die innerimperialistischen Gegensätze, die Tendenzen zur „Deglobalisierung“, zur Fragmentierung des Weltmarktes, zur Blockbildung sowie zur Abwälzung der Krisenkosten auf die halb-koloniale Welt. Der Krieg um die Ukraine und die wechselseitigen, beide Seiten massiv treffenden Sanktionen wirken krisenverschärfend, sowie die Krise die gegenseitige Konkurrenz und die Kriegsgefahr erhöht. 

5. All dies befeuert die katastrophenhafte Zuspitzung weiterer grundlegender Probleme der Menschheit, vor allem die ökologischen Katastrophen (nicht nur Klima, sondern auch andere wie Artensterben) und die Probleme der kapitalistische Landwirtschaft in Bezug auf ökologische und soziale Grenzen. Die Pandemie, die Millionen Tote gefordert hat, sowie die Hungerkrise und die drohende Vertreibung von einer Milliarde Klimaflüchtlingen im kommenden Jahrzehnt sind Ausdruck dieser Entwicklung. Die Kombination aus der ökonomischen Krise und dem innerimperialistischen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt wird die Krise des Verhältnisse zwischen der Menschheit und dem Planeten weiter massiv verschärfen.

6. Die Krise geht notwendigerweise mit Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse, die Bauernschaft, die Jugend, die unteren und ärmeren Teil des Kleinbürgertum und der Mittelschichten einher. Heute stehen Preissteigerungen und Inflation im Zentrum der Angriffe auf die Einkommen und Lebensbedingungen der Massen. Mit der Entwicklung der Krise könnte dies jedoch in Deflation umschlagen, die mit Massenentlassungen, Betriebsschließungen, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung einhergehen, wie diese heute schon für bedeutende Teile der Halbkolonien gilt.  

7. Auch wenn die Weltwirtschaftskrise 2008-2010 etliche vor allem Halbkoloniale Länder, wie Griechenland, in den Ruin trieben, konnte die imperialistische Bourgeoisie durch eine Politik des billigen Geldes dem entgegenwirken. Dies führte zu einer Begrenzung des eigentlich notwendigen Vernichtens überschüssigen Kapitals in den imperialistischen Zentren und konnte das Finanzkapital schützen. Mit der Corona Pandemie verschärfte sich die schon vorher aufkommende neue Krise, denn durch die Pandemie kam es zu einen massiven Produktionseinbruch, welches die Länder mit voller Wucht traf. Jedoch sind beide Krisen nicht gleich zu setzen. So haben sich die Gewichte der Weltwirtschaft weiter verschoben, welches auch zu einer Verschiebung innerhalb der globalen Konkurrenz führte und den damit einhergehenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

8. Dies sind leider auch keine guten Umstände für die Arbeiter_Innenklasse, denn auch hier befinden wir uns vor einer anderen Lage als nach der Weltwirtschaftskrise 2008-10. Nach der damaligen Krise befand sich die Bourgeoisie in einer ideologischen Defensive. Die arabischen Revolutionen und die vor-revolutionäre Zuspitzung in Griechenland verdeutlichten das Potential einer Wende im Klassenkampf und stellten über mehrere Jahre eine Inspiration der Arbeiter_Innenklasse und der Massen weltweit dar. Deren Ansturm erfolgte trotz einer schon damals tiefen Krise und verdeutlicht, das spontan revolutionäre Potential der Arbeiter_Innenklasse – aber auch dessen Grenzen. Die Niederlagen dieser Bewegungen offenbarten nicht nur die Tiefe der Führungskrise des Proletariats, sie hatten, zusammen mit anderen wichtigen Niederlagen) auch nachhaltige globale Auswirkungen auf die Moral, Kampfbereitschaft und das Bewusstsein der Arbeiter_Innenklasse. Dies hat heute noch eine große Auswirkung auf die Kämpfe der Arbeiter_Innen, und dessen Auswüchsen. Wir können immer mehr erkennen, dass viele einer politischen Alternative zwischen populistischen Rechten und „demokratischer“ Mitte hinterher laufen. Auch wenn wir in dem letzten Jahre mehrere kämpferische und spontane Bewegungen erkennen konnten (Frauenstreiks, BLM), waren auch diese stark geprägt durch kleinbürgerliche und neo-reformistische Ideen Identitätspolitik, Individualismus, Linkspopulismus, Transformationsstrategie).

9. Das Blatt kann sich jedoch schnell wenden. Mächtige Streikbewegungen in England und auch in Frankreich zeigen, wie schnell sich die Arbeiter_Innenklasse aufraffen und als Macht auftreten kann (ohne dadurch natürlich schon die Führungskrise zu lösen). In Russland gab es bereits Proteste gegen den Krieg und die Zwangsrekrutierungen. Im Falle Russlands besteht dabei die Aufgabe die „liberale“ bürgerliche Opposition als kaum bessere Alternative zu Putin zu entlarven. In der Halbkolonialen Welt machen die Proteste im Iran momentan die meisten Hoffnungen. Eine Revolution hätte Auswirkungen auf die kurdische Frage, auf die national unterdrückten Belutschen, welche im Iran und in Pakistan leben, aber auch auf die Lage der Frauen in Afghanistan, um nur die direktesten Einflüsse auf die Nachbarländer zu nennen. Sicher ist, dass uns auch in der Zukunft noch weitere spontane Massenmobilisierungen und Kämpfe erwarten werden, auf welche wir nicht nur reagieren müssen, sondern durch Interventionen versuchen müssen diese mit anzuleiten und in eine revolutionäre Richtung zu bewegen.

Weltwirtschaftslage

10. Die Globalisierungsperiode, die Anfang der 1990er Jahre begann, hat den Kapitalismus zweifellos auf einer qualitativ neuen Ebene internationalisiert. Die Produktion, die Dienstleistungen, der Handel, die Finanzströme, die Kommunikation und  die Wissenschaft haben alle ein neues Niveau der internationalen Organisation erreicht, das auf den Fortschritten der Produktivkräfte und einer Internationalisierung der  WeltArbeiter_Innenklasse beruht und eine expansive Bewegung der globalen Kapitalakkumulation ermöglicht. Diese neue Periode der Kapitalakkumulation setzte eine Wiederherstellung der Profitraten in den imperialistischen Zentren als Ergebnis wesentlicher Niederlagen der jeweiligen Arbeiter_Innenklassen voraus. Diese ermöglichten die Deregulierung der Arbeitsbedingungen, Offshoring, Investitionen in privatisierte Sektoren, eine Ausweitung des Welthandels, den Aufbau internationaler Produktionsketten usw. Unterstützt wurde dies durch eine massive Expansion neuer Formen des Finanzkapitals, das neu gegründete globale Unternehmen dominiert und eine verstärkte Kontrolle über Industrien und Nationalstaaten ausübt. Während diese Finanzkonzerne als internationale Agenturen agieren, ist die Quelle des von ihnen investierten Kapitals immer noch überwiegend die imperialistische Bourgeoisie Nordamerikas, die reichen europäischen Länder und in geringerem Maße die neue Bourgeoisie in China und Russland.

11. Nach der schwachen Erholung nach der „Corona“-Rezession, den überraschend niedrigen Wachstumsraten in China, der tiefen Krise mehrerer „Schwellenländer“ und den wirtschaftlichen Schockwellen nach dem Ukraine-Krieg kommt die Mehrheit der Wirtschaftskommentatoren zu dem Schluss, dass die Weltwirtschaft erneut auf eine globale Rezession zusteuert

12. Dies ist nicht nur auf zufällige oder kontingente globale Ereignisse zurückzuführen (Corona, Ukraine-Krieg). Diese Ereignisse trafen die Weltwirtschaft zu einem Zeitpunkt, an dem die eigentlichen Tendenzen zur Wirtschaftskrise bereits akut waren und die Endphase der Globalisierung ankündigten. Der globale Kapitalismus war nicht in der Lage, die Pandemie auf der notwendigen globalen Ebene zu bewältigen, was ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen hinauszögerte. Dadurch das der Kapitalismus scheiterte internationale Institutionen zu schaffen,  führte dies zu einem Widerspruch zwischen den realen staatlichen handlungsmöglichkeiten un den „demokratischen“ Versprechen des bürgerlichen parlamentarismus. Dies trug auch in den imerpialistischen Staaaten dazu bei, dass es zu einer Krise der Demokratie kam.

13. Die zunehmende Konkurrenz zwischen den imperialistischen Blöcken führte zu politischen und bewaffneten Konfrontationen  zwischen ihnen – und damit zu einer weiteren Vertiefung der wirtschaftlichen Krise der Globalisierung. Diese kontingenten Ereignisse dienten also als Katalysatoren, die die Krisentendenzen noch schneller und tiefer wirken lassen, so dass die kommende Rezession die Frage aufwerfen wird, wie eine kapitalistische Weltwirtschaft nach dem Ende der aktuellen Periode neu gestaltet werden kann. In den immer mehr miteinander konkurrierenden imperialistischen Staaten zählt Europa aktuell zu den schwächeren Teilen der Herrschenden.

14. Vor allem nach der Weltwirtschaftskrise 2008-10 konnte noch damals das deutsche Kapital  die EU als Instrument für den Aufbau eines Systems von Produktionsketten in Ost und Südeuropa nutzen, während das britische Kapital zusammen mit dem US amerikanischen Finanzsektor vor allem daran interessiert war, sich finanzielle  Investitionsmöglichkeiten in Europa zu sichern. Frankreich und Deutschland förderten die „Lissabon-Agenda“, die Perspektive der EU als wichtiger Konkurrent im imperialistischen  System. Dies erforderte jedoch ein stärkeres Bündnis mit dem russischen Imperialismus, um sowohl dessen große Energie- und Rohstoffmonopole als auch die großen, mit Russland verbundenen Märkte in Zentralasien zu nutzen. Russland, das aufgrund einer schleppenden Weltwirtschaft unter niedrigen Energiepreisen litt, wandte sich einer noch autoritäreren und aggressiveren Politik zu, um das Regime zu stabilisieren. In der Zwischenzeit verließen sich die osteuropäischen Länder mehr und mehr auf rechtspopulistische Regime als Sicherheitsventil gegen soziale Unruhen. Die meisten von ihnen lehnten auch die“schwache Position“ von Berlin und Paris gegenüber Russland ab und orientierten sich stark an den USA und deren NATO-Präsenz in Europa. Schließlich war der Brexit ein weiterer Schlag gegen den Aufbau eines starken „europäischen Wettbewerbers“ auf denWeltmärkten. Angesichts dieser politischen Rahmenbedingungen ist es nicht verwunderlich, dass Europa in den 2010er Jahren bei den Wachstumsraten, der Kapitalproduktivität, den Anteilen ihrer Großunternehmen und der Fähigkeit, mit Krisensituationen umzugehen, hinter China und den USA zurückfiel.

15. China, welches noch Anfang des 20. Jahrhunderts zu den „aufsteigenden“ Ländern gehörte, hat im 21. Jahrhundert die Konkurrenz um die Welthegemonie der USA strittig gemacht. Aber auch in China gelten die Gesetze der kapitalistischen Akkumulation. Als dynamischster Faktor der Weltwirtschaft in den 2010er Jahren mit einem immer höheren Ausmaß an kapitalistischer Rationalisierung ist es daher nicht verwunderlich, dass China  die kapitalistische Volkswirtschaft war, die den charakteristischsten Rückgang der Profitraten aufwies, insbesondere nach 2015, verbunden mit einer Verlängerung des Wachstums der absoluten Profitmassen – und damit einer Fortsetzung der hohen Wachstumsraten für einige Zeit. Dies führte zwangsläufig zu einer Überakkumulation, was sich in wachsenden Schwierigkeiten im Verhältnis von Neuinvestitionen zum bestehenden Kapitalstock zeigt. Die Schwierigkeiten bei der Finanzierung von weiterem Wachstum und Investitionen in einem politischen Wirtschaftssystem, das von hohen Wachstumsraten ausgeht, führten zwangsläufig zu Problemen im fragilen Finanzsystem, die sich in  mehreren Blasen-Krisen äußerten. Staatliche Eingriffe konnten das System zwar bisher stabilisieren, führten aber zu höheren Spannungen zwischen Bourgeoisie und Staatsapparat, die nur durch eine zunehmend autoritäre Form des Bonapartismus an der Spitze des Staates beruhigt werden können. Je mehr die kapitalistische Krise an die Oberfläche kommt, desto aggressiver muss dieser Bonapartismus auf die inneren und äußeren Spannungen reagieren. Vor allem die strikten Corona-Maßnahmen im Land mit Lockdowns in mehr als 45 Städten in den vergangenen Monaten führte zu einer weiteren Schwächung der Wirtschaft.

16. Diese Analyse zeigt, dass wir weit davon entfernt sind, uns in einer neuen Periode der steigenden Kapitalakkumulation zu befinden. Die nächsten Jahre werden weiterhin von der Krise des gegenwärtigen Akkumulationsregimes geprägt sein. Anders als zu Beginn der Globalisierung gibt es keine entscheidenden neuen Niederlagen der Arbeiter_Innenklasse, die zu noch höheren Ausbeutungsraten führen könnten. Die Profitraten aller imperialistischen Volkswirtschaften haben sich auf einem niedrigen Niveau angeglichen. China ist selbst eher zu einem Krisenfaktor als zu einem Motor der globalen Akkumulationsdynamik geworden. Alle Krisenfaktoren: Energie und Ökologie, Pandemie, Verschuldung, Inflationsgefahr, Zusammenbruch von Zombie Unternehmen, die aussichtslose Krise fast aller halbkolonialen Regionen, insbesondere der Absturz der Schwellenländer, die wachsende Kriegs- und Aufrüstungsgefahr – all das macht einen reibungslosen Übergang zu einer neuen Investitionswelle in klimaneutrale und intelligente Technologien (Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Industrie 4.0 etc.) höchst unwahrscheinlich. Die Phänomene der „Deglobalisierung“, wie der Rückgang der Direktinvestitionen, das geringere Gewicht globaler Wertschöpfungsketten, die Schwächung des Welthandels, zum Beispiel durch neue Zölle, sind ein Zeichen der Krise, kein Merkmal einer neuen Periode. Auch wenn die „Globalisierung“ nicht mehr dynamisch voranschreitet, wird es dem Kapitalismus sehr schwer fallen, sich von seinem neuen Internationalisierungsgrad zurückzuziehen. In der gegenwärtigen Krisenzeit bedeutet dies, dass auch die Krise eine viel internationalere und globalere Dynamik annimmt.

Kampf um die Neuaufteilung der Welt

17. Die russische Invasion in der Ukraine hat ein neues Kapitel in den internationalen Beziehungen aufgeschlagen, das erhebliche Auswirkungen auf die globale Wirtschaftsordnung hat. Der Ukrainekrieg hat sicherlich Bewegung in die Blockbildung (also der außenpolitischen Ausrichtung der Staaten) gebracht. Die hirntot geglaubt NATO ist plötzlich wieder erwacht, die USA und die EU fanden wieder zueinander und die Beziehungen zwischen der EU und Russland scheinen ein für alle mal zerbrochen. Die Integration von Schweden und Finnland in die Nato verdeutlicht dies zusätzlich und verschärft die Konfrontation mit Russland, welches nun tausende weitere Kilometer eine direkte Grenze mit einem NATO-Staat teilt.

18. Durch die Sanktionen wird die EU unabhängig von Russland, besonders von Öl und Gas. Doch der westliche Block wurde durch den Krieg nicht nur gestärkt. Außer der EU, USA, Kanada, Australien, Japan und Neuseeland hat sich kein Land den Sanktionen gegen Russland angeschlossen. Diese Länder wollen die Tür hinter sich nicht zuschlagen. Indien (traditionell ein Handelspartner Russlands, z.B. als Waffenimporteur) kauft massenweise billiges russisches Öl. Durch ihre gemeinsamen Neutralität zum Ukrainekrieg haben Indien und China ihr Beziehungen verbessert und versuchen gerade ihre Grenzstreitigkeiten zu lösen.
Aber das beispiellose Sanktionsregime der G7 haben wegen der Unterbrechung der Getreide-, Gas- und Ölversorgung Folgen weit über Europa hinaus. Russland und die Ukraine produzieren 19 % der weltweiten Gerste, 14 % 459 des Weizens und 4 % des Mais. Sie sind die Hauptlieferanten von Raps für den Rest der Welt und liefern 52 % des weltweiten Sonnenblumenöls. Die Blockade bedroht die  Ernährungssicherheit von etwa 50 Ländern in Afrika und Asien. Die Lebensmittelpreise sind 2020 um 28 % und 2021 um 23 % gestiegen; in diesem Jahr sind sie allein zwischen Februar und März um 17 % in die Höhe geschnellt. Hungersnöte und Hungergskrisen sind damit vorprogrammiert. Westliche Beschränkungen für russische Gas- und Ölexporte tragen ebenfalls zum Inflationsdruck bei und bringt heute schon, vor allem in Großbritannien die Arbeiter_Innen auf die Straße. Massive Preissteigerungen führen zu Hunger und Not und treiben die Inflation in Ländern  an, die weit vom Schauplatz des Konflikts entfernt sind.

19. Es wird deutlich welche Rolle Europa in diesem Konflikt einnimmt und welche Interessen damit verteidiget werden sollen. Deutschland, als ein Land welches gute wirtschafltliche Beziehungen zu Russland pflegte, liegt aktuell gänzlich auf der Linie der USA, Russland weiter zu stärken. Die USA schlugen auch deshalb einen Konfrontationskurs mit Russland ein, um so nicht nur den russischen Imperialismus, sondern vor allem auch eine Allianz Deutschlands (und Frankreichs) mit Russland zu verhindern. . Mit dem Krieg um die Ukraine haben die USA dieses Ziel erreicht und jede  absehbare Hoffnung von Teilen der europäischen Bourgeoisie auf eine Allianz mit Russland  für die nächste Zukunft zunichte gemacht. Unter der Vorherrschaft der USA rüsten die EU Staaten massiv auf und sind zu einer gewissen militärischen und politischen Konzentration gezwungen, die zur Zeit von den USA wesentlich mitbestimmt wird, später aber auch eigenständige europäische, von den USA unabhängige und mit ihnen rivalisierende Institutionen werden könnten

20. Vor allem aber treibt der Krieg zugleich Russland in die Armee des viel stärkeren chinesischen Imperialismus. Da Russland und China heute den Kern der riesigen eurasischen Landmasse beherrschen, stellen sie gemeinsam eine langfristige Bedrohung für die Welthegemonie der USA dar. Wenn sie die „Freundschaft“, die Wladimir Putin und Xi Jinping bei den Olympischen Winterspielen am Vorabend der russischen Invasion in der Ukraine in herzlichen Umarmungen zum Ausdruck brachten, in ein wirtschaftliches und  militärisches Bündnis umwandeln können, dann wird sich eine neue Vorkriegszeit eröffnen, die in mancher Hinsicht derjenigen der 1870er, 1910er und 1930er Jahre ähnelt.

21. Die Weltordnung findet ihren größten Widerspruch jedoch im Gegensatz zwischen USA und China. Er ist es, der der Weltlage maßgeblich bestimmt, auch wenn mit dem Ukrainekrieg der Fokus momentan auf der EU und Russland liegt. Diese Imperialismen spielen jedoch wirtschaftlich und militärisch nur die zweite Geige. Die USA ist mit knapp $20 Billionen BIP die größte Wirtschaftsmacht, China folgt mit $12 Billionen dahinter. Bei dem momentan stattfindenden Wettrüsten stehen USA und China an der Spitze und versuchen sich mit neuen Technologien und der Produktion der alten Techniken auszustechen. Auch der Kampf um Einfluss wie z.B. in Pakistan, Indien, Sri Lanka oder den Philippinen wird zwischen den imperialistischen Hauptmächten ausgefochten. Hier werden besonders asiatische Staaten erwähnt, weil sich viele davon noch nicht endgültig entschieden haben auf welcher der beiden Seiten sie stehen wollen. Zudem ist zwischen Süd- und Ostasien ein Großteil der Weltbevölkerung konzentriert. Dort stehen sich auch USA und China direkt gegenüber; Nur getrennt durch den Pazifischen Ozean.

22. Wir können Putins Gräueltaten in der Ukraine und Xi‘ Jinpings Vorgehen gegen die Uiguren in Xinxiang, seine Unterdrückung in Hongkong oder seine Drohung, in Taiwan einzumarschieren, die nicht im Geringsten gerechtfertigt sind, nicht übersehen oder relativieren. Wir müssen mit ihren Opfern sympathisieren und uns mit ihnen solidarisieren, nicht mit ihren Unterdrückern, aber ohne dem Westen einen demokratischen Heiligenschein zu verpassen, der nur zu Sozialimperialismus führen kann. Revolutionäre werden all diese Handlungen als typisch für imperialistische Mächte erkennen, auch wenn sie rivalisieren

EU und innere Krise

23. Nachdem sich die führenden EU-Mächte zu Beginn des Jahrtausends aufgemacht hatten, die  größte und führende Volkswirtschaft der Welt zu werden, erlebten das EU-Projekt, die kapitalistische Einigung, der EURO und andere Institutionen eine Reihe von Krisen und Rückschlägen – sei es die Ablehnung der Europäischen Verfassung, sei es die permanente Schuldenkrise, die Flüchtlingskrise und als vorläufiger Höhepunkt der Brexit Großbritanniens.

24. Der Krieg um die Ukraine bedeutet für die nahe Zukunft, dass die EU-Staaten (und auch Großbritannien) politisch von den USA geführt werden, dass die USA den geostrategischen Takt unter den westlichen imperialistischen Mächten vorgeben. Eine wirtschaftliche oder gar politische Annäherung an Russland, wie sie von Deutschland und Frankreich seit langem angestrebt wird, ist faktisch unmöglich geworden, solange es keinen Regimewechsel in Russland gibt. Die USA konnten auch eine Umverteilung der Kosten der NATO und ihrer Osterweiterung durchsetzen. Der Brexit und der Krieg um die Ukraine haben die Bewegungen und Kräfte für einen schnellen Austritt in der EU teilweise zur Besinnung gebracht. Keine bedeutende Kapitalfraktion in den führenden imperialistischen Staaten der EU (Deutschland, Frankreich, Italien) will einen. Deshalb treten wichtige EU-skeptische rechtsextreme, rassistische Parteien (RN in Frankreich, Fratelli d’Italia) nicht mehr für einen Austritt aus der EU ein, sondern wollen „nur“ die Spielregeln in Brüssel zugunsten ihrer Nation ändern. Dieser Sinneswandel hat sicher auch damit zu tun, dass die EU-Staaten bei der Bewältigung ihrer Schuldenkrisen immer abhängiger von der EZB geworden sind. Hinzu kommt, dass Deutschland in den letzten Jahren seine Blockade gegen eine gemeinsame Verschuldung und eine wichtige Rolle der EZB faktisch aufgegeben hat. Das hat nicht nur mit dem Druck der Ereignisse während der Pandemie und der Rezession zu tun, sondern auch damit, dass ein Flügel des deutschen Kapitals (vor allem die Grünen, die SPD, aber auch Teile der Union) glaubt, dass die Überwindung der inneren Widersprüche der EU möglich ist, wenn die EU und ihre Institutionen eine treibende Rolle bei der Umstrukturierung und Bildung eines europäischen Kapitals spielen, das wiederum natürlich vom deutschen Kapital dominiert werden soll. Die zunehmende wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit bedeutet nicht, dass die internen Probleme der EU überwunden sind. Um im Wettbewerb mit den USA und China bestehen zu können, ist ein „positives“ europäisches Projekt erforderlich. Der Green Deal stellt einen solchen Versuch dar. Der Ukraine-Krieg ermöglicht es, die gemeinsame Rüstungs-, Militär- und Außenpolitik stärker ideologisch als Kampf für die Demokratie zu rechtfertigen. Die derzeit weit verbreitete Einigkeit unter den Gegnern sollte jedoch nicht vergessen lassen, dass die EU nach wie vor von historischen Antagonismen imperialistischer Mächte durchdrungen ist, die allein keine den USA oder China gleichwertige Rolle ausfüllen können, die aber andererseits bereit sein müssen, untereinander einen neuen Modus vivendi zu finden, eine Partnerschaft unter deutscher, manchmal französischer Führung, und Europa in ihrem Interesse zu organisieren. Darüber hinaus können sie dies nicht in einem Vakuum tun. Derselbe Wettbewerb, dieselben Krisen, die sie zur Einigung drängen (was eigentlich dem Entwicklungstrend der Produktkräfte entsprechen würde), bringen auch jene Kräfte hervor, die einer Überwindung der nationalen Fragmentierung des Kontinents im Wege stehen. Hinzu kommt, dass die USA und China selbst Akteure im europäischen Spiel sind. Wie in den letzten Jahrzehnten wird die Frage des Verhältnisses zwischen Deutschland, Frankreich und – in geringerem Maße – Italien letztlich entscheidend für die Zukunft der EU sein

Halbkoloniale Welt

25. Die gegenwärtige wirtschaftliche und ökologische Krise trifft die halbkoloniale Welt natürlich besonders dramatisch. Gleichzeitig bedeuten die Entwicklung einzelner großer halbkolonialer Volkswirtschaften in den letzten Jahren, die Schwächung der US-Hegemonie und der zunehmende Kampf um die Neuaufteilung der Welt auch, dass wichtige Regionalmächte versuchen, in diesem Kampf ihre eigene Position innerhalb der imperialistischen Weltordnung zu verbessern. Dies gilt für eine Reihe von Staaten, wie Indonesien, Indien, Pakistan, die Türkei, Saudi-Arabien, Iran, Südafrika, Brasilien, um nur einige zu nennen. Es wäre impressionistisch, diese Länder als imperialistisch zu bezeichnen, auch wenn einige von ihnen ihre eigenen Finanzkapitale entwickelt haben (insbesondere Indien) und zu wichtigen regionalen Mächten geworden sind oder dies anstreben.

26. Generell kann man sagen, dass einige dieser Staaten, allen voran Indien, in den letzten Jahrzehnten einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt haben. Andere sind eher im Niedergang begriffen, vor allem Südafrika, aber auch Länder wie Brasilien und die meisten anderen lateinamerikanischen Staaten. Länder wie Pakistan, die Türkei und der Iran (in gewissem Maße auch die Golfstaaten) sind dagegen durch eine extreme Form der ungleichen Entwicklung gekennzeichnet. Pakistan und Iran beispielsweise befinden sich in einer fast ständigen Wirtschaftskrise. Andererseits verschaffen ihnen die Schwächung der US-Hegemonie und der Aufstieg Chinas einen gewissen Spielraum – nicht zuletzt, weil sie ihren Einfluss auch in Ländern wie Afghanistan oder dem Irak ausbauen konnten.

27. In der nächsten Periode werden sie alle mit massiven internen wirtschaftlichen und sozialen Krisen konfrontiert sein, allerdings unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen. Während sich das Modi-Regime und in geringerem Maße auch das von Erdogan auf eine breite Basis in der herrschenden Klasse stützen können und die traditionellen bürgerlichen Kräfte (Kongress und Kemalismus) erfolgreich ersetzt haben, befinden sich die bürgerlichen Parteien und Institutionen in Ländern wie Pakistan selbst in einem massiven inneren Konflikt. Generell können wir aber davon ausgehen, dass die Arbeiter:innenklasse, die in der Globalisierungsperiode in Asien massiv gewachsen ist, vor einer Art Bewährungsprobe steht, die auch die Möglichkeiten des Aufbruchs und der Entstehung neuer Organisationen und politischer Parteien der Klasse eröffnet.

28. Im Nahen Osten und in Nordafrika, und noch mehr in Afrika, ist die Situation eindeutig anders. Hier ist die Konterrevolution nach den Niederlagen des Arabischen Frühlings eindeutig gestärkt. Die Krise der US-Hegemonie und die Konfrontation mit Russland und China bedeutet, dass Länder wie Saudi-Arabien und Israel im Inneren weitgehend freie Hand haben. Das gilt im Grunde auch für Erdogan gegenüber dem kurdischen Volk und der Enklave Rojava. Die Mobilisierungen wie kürzlich im Irak oder auch revolutionäre Bewegungen wie im Sudan sind durch eine extreme Führungskrise gekennzeichnet. In Lateinamerika erleben wir auch die Auswirkungen der Pandemie und jetzt der Inflation. Politisch ist der Kontinent jedoch nach wie vor von bedeutenden Klassenkämpfen geprägt, einer Konfrontation zwischen reformistischen und links-populistischen Kräften auf der einen Seite und neoliberalen, autoritären bis bonapartistischen Kräften auf der andern.

Reaktionäre auf dem Vormarsch – Frauen- und LGBTIA-Unterdrückung

29. Die Lage von Fraune und LGBTIA Menschen verschlächtert sich in der aktuellen Phase immer mehr. Weltweit verdienen Frauen im Durchschnitt 23% weniger als Männer und dabei leisten sie jeden Tag 12,5 Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit (Reproduktionsarbeit, Hausarbeit usw.). Es bleibt jedoch nicht nur bei der ungleichen oder keinen Bezahlung, weltweit haben weniger als die hälfte der Frauen einen Job.

30. In Zuge der Verschärfung der Krisen werden Rechte die durch die Arbeiter_Innen erkämpft wurden, Schritt für Schritt zurück genommen und es findet weltweit, bis auf einige Länder ein Rollback von veralteten Frauenrollen und LGBTIA-Feindlichkeit und dem konservativen Familienbild statt. Die USA hat dabei in den meisten Staaten das Abtreibungsrecht komplett gelöscht oder immer weiter verschärft. Aber auch hier in Europa nehmen Reaktionäre Frauen- und LGBTIA Feindliche Politik fahrt auf. Polen und Ungarn sind dabei die Länder, in welchen in den Letzen Jahren und Monaten das Abtreibungsrecht verschärft wurde und auch die Rechte von LGBTIA Menschen eingeschränkt wurden oder ihre Existenz gänzlich abgelehnt wurde. Das spielt immer mehr den Rechten in die Hände mit ihren konservativen Familinivorstellungen. Es häufen sich immer mehr Angriffe und gezielte Morde an Frauen- und LGBTIA, sowie in Bratislava.

Die Rechte von LGBTIA und insbesondere trans Personen stehen international vor noch massiveren Angriffen. Besonders in den USA und in Großbritannien spitzt die Lage sich zunehmend zu. In den ersten drei Monaten von 2022 wurden in den USA nicht weniger als 240 Gesetzesentwürfe eingereicht, die LGBTIA-Rechte einschränken. Etwa die Hälfte davon bezieht sich ausschließlich und spezifisch auf Menschen, die transgender sind, allen voran Jugendliche und Kinder, eine fast verschwindend kleine und massiv vulnerable Minderheit. Ein Gesetze schränkt z.B. die Aufklärung über LGBTIA-Themen im Unterricht und Unterstützung von LGBTIA-Jugendlichen durch Schulpersonal sowie das bloße thematisieren von z.B. zwei Vätern ein, weil queere Menschen essentiell sexualisiert werden. Ein weiteres verlangt, dass ein Arzt das Geschlecht von trans Jugendlichen feststellt, bevor diese (meist geschlechtlich falsch eingeordnet) am Schulsport teilnehmen dürfen. In Texas konnte es kurzzeitig als Kindeswohlgefährdung ausgelegt werden, wenn Eltern ihre trans Kinder unterstützen, was Familien dazu bewogen hat umzuziehen. Das wurde allerdings nach Protesten von trans Personen und Unterstützer_Innen zurückgenommen. Ähnliches sehen wir in Großbritannien, wo seit dem Gerichtsprozess der detransitionierten Keira Bell medizinische Notwendigkeiten für trans Personen massiv erschwert wurden und der öffentliche Diskurs über transgender Menschen zutiefst reaktionär ist. In Ungarn sind Personenstandsänderungen unmöglich gemacht worden. Die Proteste, die sich gegen diese zugespitzten Angriffe richten, verbleiben meist eher klein, lokal, von LGBTIA Personen vor Ort getragen und überwiegend defensiv. Hintergrund der steigenden Angriffe auf trans-Personen ist der aktuelle gesellschaftliche Rechtsruck, der in Krisenzeiten eine Stärkung traditioneller Familien- und Geschlechterordnungen propagiert. Dieser Rechtsruck findet auch im Feminismus durch eine Stärkung liberaler Feminist_innen (wie Annalena Baerbock) oder TERFs (Trans Exclusionary Radical Feminists) seinen Ausdruck. In Großbritannien und den USA erleben wir auch zunehmend, dass sich diese „Feminist_Innen“ im Angesicht der „bedrohlichen Gefahr durch die Gender-Ideologie“ auf Querfronten mit zutiefst konservativen und rechtsradikalen Kräften einlassen. In Deutschland sehen wir diese Dynamik bisher nicht in der Form, es ist aber nicht auszuschließen, dass die Angriffe hier eine ähnliche Entwicklung vollziehen werden. Bereits aktuell finden sich Argumente von TERFS nicht nur in rechten Kreisen sondern auch vereinzelt und zunehmend in linken Organisationen und Bewegungen. Die Debatten um trans Frauen im Profisport und das von der Ampel vorgeschlagene Selbstbestimmungsgesetz (das das erniedrigende Transsexuellengesetz ersetzen soll) werden mit dehumanisierenden und transphoben Argumenten geführt, mit der Vorgabe, „echte Frauen zu schützen“. Es gilt also weiterhin und umso mehr, LGBTIA und v.a. trans Menschen vor Angriffen auf ihre Rechte zu schützen und den Argumenten von scheinfeministischen Transfeind_Innen entschlossen entgegenzutreten.

31. Das Austreten der Türkei aus den Frauenrechtskonvention war ein weiterer Einschnitt in die Frauenrechte und macht die internationale Stimmung um die Frage noch einmal deutlich. Durch die Pandemie verschärfte sich außerdem die (häusliche-) Gewalt gegenüber Frauen und LGBTIA Menschen und verschlimmerte damit ihre Lage immer mehr. Durch die Lockdowns waren viele Menschen gezwungen mehr als zuvor sich in den Häusern/Wohnungen mit ihren Partner_Innen aufzuhalten, der Schutz vor häuslicher und sexualisierter Gewalt war kaum noch vorhanden. Durch die Schließung von Schulen/Kindertagesstätten etc. stieg auch da die Doppelbelastung auf weibliche Personen, die dies kompensieren mussten. Dies führte auch zu einer weiteren Verstärkung der Rollenverteilung.

32. Außerdem sind weltweit 70% des Personals in sozialen und Pflegeberufen Frauen. Gerade diese Einrichtungen waren darauf fokussiert die Folgen der Pandemie zu bekämpfen, ohne eine faire Bezahlung geschweigeden angemessenen Arbeitsbedingungen. Erste Betroffene in der Entlastungswelle während der Pandemie waren vor allem Frauen und LGBTIA Personen, welche unteranderem im Niedriglohnsektor und in präkern/schlecht und informell Bezahtlten Jobs ihren Unterhalt verdienen. Alleine in Europa verloren in den ersten Monaten der Pandemie 70% der in informellen Sektor arbeitenden Frauen ihr Einkommen. Diese ökonomischen Folgen, machen Frauen und LGBTIA Personen immer mehr von ihrem männlichen Vormund/Ehemann/Vater etc. abhängig und drängt sie wieder zurück in die familiären und patriarchalen Strukturen.

33. Es gibt jedoch auch einige positive Beispiele die aufzeigen, was fortschrittliche Politik verändern kann, so wurde in Spanien nicht nur das Abtreibungsrecht ausgebaut, sondern es gibt immer mehr Rechte die Sexuelle Vergehen bestragen und es auch als solche anerkennen. Und noch immer spielen Frauen in internationalen Protesten eine große Rolle, sei es in der aktuellen Revolte im Iran oder in der Umweltbewegung, wo Frauen führende Rollen übernehmen.

Die derzeitigen Proteste im Iran werden international mit (formellen) Solidaritätsbekundungen beantwortet. Statt einer bedingungslosen Aufnahme aller Geflüchteten und internationalem Zusammenschluss der Frauenbewegung in Solidarität wird nun u.a. in Deutschland über Sanktionen gegen das Regime nachgedacht. Diese müssen verhindert werden, da sie in erster Linie die Protestierenden selber treffen werden. Die Bewegungen zeigen sich jedoch stark, sie werden von Frauen angeführt und richten sich gegen die massiv frauenfeindliche Gesetzgebung und das Regime. Zunehmend werden die Aufstände auch durch breite Streiks begleitet und immer mehr werden die Proteste explizit klassenkämpferisch. Sollten die Bewegungen nicht an der fehlenden Führung, ihrem Pluralismus oder den massiven Repressionen und der Gewalt von Regierung und Militär zerbrechen, könnte ihr Erfolg nicht nur positive Auswirkungen auf die Region, sondern auch auf die internationale Frauenbewegung haben. Ein Sturz des extrem frauenfeindlichen Regimes im Iran könnte zum Vorbild und Anstoß für internationale Kämpfe gegen die aktuellen reaktionären Angriffe werden.

Die Lage der Jugend in halbkolonialen Ländern

34. Mit der Verschärfung der Krisen, dessen Auswirkungen auf die Halbkolonialen Welt, verschläft sich auch die Lage der Jugend drastischer und an viele Stellen auch mehr als für den Großteil der Arbeiter_Innenklasse. Aufgrund dessen das sie weniger im Arbeitsmarkt vertreten sind, oder nur die prekären Jobs ausüben, werden sie in Krisen Situationen als erstes entlassen und haben oft nicht mal die Möglichkeit dazu, sich Gewerkschaftlich zu organisieren. Dabei wächst aber der Druck auf sie seitens der Familien immer mehr, denn Jugendlichen wird oft aufgezwungen für die Familien mit aufzukommen. Die Arbeitslosenquote steigt innerhalb der Halbolonialen Welt auch bei Jugendlichen weiter an, so haben zum Beispiel Länder wie Südafrika eine Jugendarbeitslosenquote von 61,4%, welches damit im Listenende steht. Die meisten Jugendarbeitslosenquoten der Halbkolonialen Welt liegen zwischen 30 und 15%, was bedeutet, dass jeder 3. bis 5. Jugendliche arbeitslos ist. Und diese Zahlen werden weiter ansteigen, je mehr sich die Krisen verschärfen.

35. In Europa sieht die Lage dabei nicht besser aus, Griechenland, welches schon durch die Weltwirtschaftskrise 2008-10 zu dem großen Verlieren gehörte, verzeichnet die höchste Jugendarbeitslosigkeit (28,6%) in Europa. Die Jugend kommt in eine Phase, in welcher die Zukunft in der sie lebt so ungewiss ist wie noch nie zu vor, die Zeiten einer „Besseren Welt, die auf uns warten“ sind Real für viele vorbei und nur noch ein trauriges Gespenst aus alten Filmen. Das führt vermehrt dazu, dass Jugendliche nicht nur an der Spitze von aufkommenden Protesten stehen, da sie es sind mit dem Interesse an eine bessere Zukunft und mehr Perspektiven, sondern auch der Teil der Arbeiter_Innenklasse darstellen, der immer weniger Hoffnungen in die staatlichen Strukturen hat, in denen sie leben. Dies bedeutet einerseits, dass Jugendliche eine treibende Kraft in Massenprotesten sein können, andererseits aber auch, dass viele aufgrund der Perspektivlosigkeit und dessen das sie zwar an Spitzen von Bewegungen stehen aber kein eigenes Sprachrohr besitzen, die Perspektive in den Ländern, in denen sie leben nicht mehr sehen. Die Frage der Flucht und Migration stellt sich vor allem hier den Jugendlichen, denn oft haben sie dann noch Hoffnung in einem imperialistischen Land von all der Unterdrückung und Ausbeutung zu entkommen. Für die Jugend ist nicht nur die Frage der Führungslosigkeit ein großes Problem, sondern auch die der Organisierung. Dies kann in spontan aufkommenden Massen dazu führen, dass sie eher mundtot gemacht werden. Es fehlt an Organisation außerhalb von meist zeitlich begrenzten Bewegungen, Verbindung von Kämpfen und einer übergreifenden Organisation zur Interessenvertretung von Schüler_Innen.

Die Ampelkoalition als Organisatorin der „Zeitenwende“ für das deutsche Kapital

36. Kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine verkündete der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz eine „Zeitenwende“. Was er damit gemeint hat, wird von Woche zu Woche deutlicher: Es bilden sich neue globale Blöcke und die Kosten der Krise werden auf die Arbeiter_innenklasse abgewälzt. Die Krise ist dabei 3-facher Art: Eine globale Klimakrise bedroht die Fortexistenz des Menschen auf diesem Planeten. Mit über 4500 Hitzetoten in Deutschland zählt die vergangene Hitzewelle zu den tödlichsten Sommern überhaupt. Überschwemmungen, Artensterben, Dürren und Waldbrände machen den Klimawandel lassen den Klimawandel als ein Problem erscheinen, welches längst nicht mehr nur die halbkoloniale Welt betrifft. Auch wenn die Coronakrise als weniger gefährlich dargestellt und in neoliberaler Manier auf die individuelle „Eigenverantwortung“ gepocht wird, hat das Virus in der vergangenen Periode 153 000 Menschen in Deutschland das Leben gekostet. Die dritte Krise ist eine Wirtschaftskrise samt hohen Inflationsraten, welche durch historisch niedrige Kapitalverwertung, die Tendenz zur De-Globalisierung und die Verschuldungskrise ausgelöst wurde und durch den Zusammenbruch globaler Lieferketten infolge der Coronakrise und des Ukraine-Krieges verschärft wird.

37. Wir erwarten eine wirtschaftliche Rezession als Folge der Inflation. Aktuell sagt das Institut für Wirtschaftsforschung noch relativ optimistisch eine Schrumpfung des deutschen BIPs um 0,7 Prozent voraus. Auch das deutsche Kapital selbst blickt laut dem ifo-Geschäftsklimaindex vom Oktober 2022 pessimistisch in die eigene Zukunft. Der Zusammenbruch globaler Lieferketten, das Sinken des globalen Konsumniveaus sowie der Stopp des Zufluss von billigen Rohstoffen aus Russland haben das deutsche Exportkapital schwer getroffen.

38. Während das deutsche Kapital in der vergangenen Konferenzperiode noch damit geliebäugelt hat, durch eine Stärkung der EU und seiner eigenen Führungsrolle darin sowie den Ausbau der Beziehungen zu Russland (siehe Nordstream 2) und China eine eigene globale Konkurrenzrolle in der Liga der imperialistischen Staaten einzunehmen, wurde es durch die Taktik der USA Russland international zu isolieren quasi in die Rolle des Juniorpartners der USA gezwungen.

39. Im Spektrum der bürgerlichen Parteien verkörperten insbesondere die Grünen, aber auch die FDP und die Mehrheit der CDU diese transatlantische Linie. Konflikte gibt es dabei mit den Kapitalfraktionen, die dadurch ihre Profite bedroht sehen, verkörpert durch die Minderheit in der CDU, die AfD und die schwankende Position der SPD. Die Ampel-Koalition erfüllt für das Kapital dabei den allgemeinen Zweck seine Interessen nach innen (durch Einbindung der Arbeiter_innenklasse und Gewerkschaften in Form eines SPD-geführten Innen- und Arbeitsministeriums) und nach außen (durch ein grün-transatalantisch geführtes Außenministerium) zu vertreten. Dabei hat es mit dem FDP-geführten Finanzministerium eine starke Lobby, die dafür sorgt, dass die Krisenkosten zu gering wie möglich für das Kapital gehalten und auf die Lohnabhängigen abgewälzt werden (siehe Pläne für Bildungskürzungen). Eine wichtige Aufgabe der Ampel es ist, den deutschen Monopolkonzernen finanzielle Verluste in großem Maßstab zu bezahlen (Gaspreisdeckel, Einstieg bei Uniper etc.) und Energiesichert zu gewährleisten (panische Reisen von Habeck und halbgare Blitzverträge mit Qatar).

Die Ampelkoalition ist das Ende der Merkel-Ära und vorerst auch das der Zeiten der GroKo. Als solches bestand neben dem Kleinbürger_Innentum auch in Teilen der Arbeiter_Innenklasse eine Hoffnung in die neue Regierung als Organisatorin einer „Zeitenwende“ v.a. bezüglich der Sozial- Wirtschafts- und Außenpolitik. Diese Wende findet auf mehreren Ebenen statt, allerdings als Angriff und Rollback, untermauert mit der ideologischen Rechtfertigung durch Krieg und Krise. Es ist eine „Zeitenwende“, aber keine im Sinne derer, die dieser Koalition mit Hoffnung entgegengeblickt haben. Dass dieser Verrat an der eigenen Basis und dem eigenen Programm durch v.a. SPD und Grüne nun als alternativlos dargestellt wird, muss angegriffen und gegenüber der Arbeiter_Innenklasse, die ihre Hoffnung immer noch in die SPD setzt, (anhand ihrer tatsächlichen Politik) entlarvt werden.

Krieg und „Nationale Einheit“

40. Das politische Bewusstsein der Arbeiter_innenklasse in Deutschland steht mehrheitlichim Zeichen der nationalen Einheit, was nicht heißt, dass das Land nicht politisch tief gespalten ist. Diese Spaltung erfolgt jedoch nicht anhand einer Klassenlinie zwischen Arbeit und Kapital. Vielmehr ordnet sich die Arbeiter_innenklasse den 2 bürgerlich geführten Blöcken unter: Auf der einen Seite befindet sich der vom Exportkapital dominierte Block, der für einen Green New Deal, gemäßigte Coronaschutzmaßnahmen, Migration von Fachkräften, mehr europäische Integration etc. eintritt (SPD, Grüne, Mehrheit der CDU, FDP, „Die Vernünftigen“), während auf der andere Seite der Block des kleineren, auf den deutschen Binnenmarkt orientierten Kapitals besteht, der durch seine in der globalen Konkurrenz in Bedrängnis geratene Position gegen Umweltschutzmaßnahmen, gegen Coronaschutzmaßnahmen, gegen Migration und gegen die EU wettert (AfD, Minderheit in der CDU, „die Unvernünftigen“).

41. Zuerst die Coronakrise und nun der Ukraine-Krieg haben trotz der großen sozialen Verwerfungen und Deklassierung durch das Anbiedern von SPD, Linkspartei und DGB die Bildung eines Bewusstseins der „nationalen Einheit“ begünstigt. Dies führt dazu, dass die Arbeiter_innenklasse in Deutschland Angriffe billigend in Kauf nimmt (siehe „Frieren für den Frieden“, Verzicht auf Lohnforderungen bei IGBCE, IG-Metall und verdi). Dabei konnte das Kapital seine Aufrüstungspläne (,die schon vor dem Ukraine-Krieg in Form von Floskeln für „Mehr Übernahme internationaler Verantwortung“ auf dem Tisch lagen,) nahezu widerstandslos durchsetzen. Die über 50 000 Unterschriften-starke Kampagne gegen die Grundgesetzänderung zur Aufrüstung ist praktisch ohne Konsequenzen geblieben. Dem Kapital ist es damit gelungen, die historisch gewachsene Aufrüstungssekpsis in der deutschen Bevölkerung (3 Millionen Menschen auf Demo gegen den Irakkrieg 2003) zu zerschlagen. Die Grünen, welche das Vertrauen vieler Pazifist_innen genossen, bildeten dabei die Sperrspitze.

42. Die wichtigsten Kriegsinstrumente stellen aktuell großzügige Waffenlieferungen und Wirtschaftssanktionen in historisch nie dagewesenem Ausmaß dar. Die zunächst zögerliche und abwartende Haltung der SPD konnte auf Druck der Grünen, der CDU und der konservativen Medien schnell gebrochen werden. Ziel ist es dabei Russland kriegsunfähig zu machen und es durch eine nachhaltige Schwächung seiner Wirtschaft aus der Liga der imperialistischen Staaten zu verbannen (siehe bereits 2014 Rausschmiss Russlands aus G8-Runde).

43. Die Ampel versucht die aktuelle Kriegssituation ferner für ein klimaschädliches Rollback zu nutzen. Die mühsam erkämpften Erfolge der Anti-AKW-Bewegung (Atomausstieg 2011) und der Klimabewegung (Kohleausstieg 2038) sollen wieder zurückgenommen werden. Während sich die AfD und der rechte Flügel der CDU als Vorreiterinnen für ein Zurück zur vermeintlich (!!) sauberen Atomkraft präsentieren, dient das grüne Energieministerium Habecks dem Kapital dazu, den Kohleausstieg noch weiter nach hinten zu verschieben, Öl aus Qatar und Frackinggas aus den USA zu besorgen und durch die Integration der Klimabewegung Widerstand dagegen zu verhindern.

44. Eine der wichtigsten Tagesforderungen ist es, jede Fortführung des Krieges, ob durch russische Panzer oder westliche Sanktionen und Waffenlieferungen, abzulehnen! Eine größere Friedensbewegung ist jedoch aus den anfänglichen Großmobilisierungen gegen den Krieg nicht entstanden. Ein Großteil der Kriegsgegner_innen vertritt die Regierungslinie und betrachtet Sanktionen und Waffenlieferungen als einzige Mittel zur Beendigung des Krieges. Das wesentlich kleinere Lager aus traditionell pro-russischer Friedensbewegung, Stalinist_innen und AfD erkennt der Bevölkerung in der Ukraine unter dem Slogan „Frieden mit Russland“ ein Recht auf Selbstverteidigung ab. Das kleinste aber progressivste Lager hat es nicht geschafft den einzig richtigen Slogan „No Nato- No Putin“ in größere bundesweite Aktionen unter Einbindung von Klassenorganisationen zu übersetzen. Auch Versuche von Sozialverbänden, Linkspartei und Gewerkschaftsgliederungen eine Bewegung gegen die Aufrüstungsvorhaben der Ampel aufzubauen, ist aufgrund dem Ausweichen oder der Abwesenheit einer Positionierung zum Ukraine-Krieg insgesamt gescheitert.

45. Waffenproduktion und -lieferungen müssen durch politische Streiks der Beschäftigten in Rüstungs- und Transportindustrie unterbunden werden. In der kommenden Periode gilt es außerdem die unpopuläre Forderung nach einem Stopp der Sanktionen in die Linke zu tragen (Nur noch 53% der Deutschen unterstützen die Sanktionen gegen Russland, wenn dies persönlichen Verzicht für sie bedeutet). Dabei müssen wir uns jedoch stark von der AfD oder dem Wagenknecht-Flügel der Linkspartei abgrenzen, denn wir lehnen die Sanktionen nicht wie diese Kräfte ab, weil sie auch dem deutschen Kapital und Kleinbürgertum schaden, sondern weil sie der russischen Arbeiter_innenklasse schaden und ein Mittel der imperialistischen Kriegsführung darstellen, welches der NATO-Block für sich nutzt, um RU als imperialistischen Konkurrenten auszuschalten und den USA nutzt, um Europa stärker an sich zu binden und seinen Hauptkonkurrenten China weiter zu isolieren. Es gilt jedoch ebenso aufzuzeigen, dass eine Widereröffnung von „Nordstream2“ und der Ausbau fossiler Energieträger angesichts der Flutkatastrophe in Pakistan, die über 30 Mio. Menschen in tiefste Not gestützt hat, ein Verbrechen darstellt. Wir treten weiterhin für den schnellstmöglichen Ausstieg aus fossiler Energiegewinnung unter Arbeiter_innenkontrolle ein. Wir lehnen die zynische Doppelmoral im Umgang mit ukrainischen Geflüchteten, russischen Deserteur_innen und muslimischen Geflüchteten ab. Stattdessen fordern wir offene Grenzen sowie Arbeitserlaubnisse, Mindestlohn und Privatwohnungen für alle Geflüchteten! Zur Beendigung der Kriegshandlungen fordern wir einen sofortigen Waffenstillstand. Gleichzeitig lehnen wir jedoch jede „diplomatische Lösung“ kategorisch ab, denn diese stellen nur zeitweilige Kompromisse zwischen imperialistischen Mächten (die gerade keine Möglichkeit mehr sehen, anderweitig mehr für ihre Interessen rauszuschlagen) dar, sind meistens nur temporär und nie im Sinne der Arbeiter_innenklasse. Unsere Alternative ist eine unabhängige Position der Arbeiter_innenklasse: ein revolutionärer Defätismus auf der Basis internationaler Klassensolidarität.

Rechtsruck vorbei?

Im Zuge der Verschärfung der Krise nimmt auch der Rechtsruck weiter zu, allerdings teilweise in anderen Formen und mit neuen Dynamiken, es ist wichtig diese zu verstehen um diesen neuen Rechtsruck, der sich nicht mehr auf das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte jenseits des klassischen Konservativismus und daraus folgend, dessen langsames Wandern nach Rechts beschränkt, sondern die komplette bürgerliche Politik gravierend verändert, zu bekämpfen. So sind es im Moment vor allem die Teile des bürgerlich-liberalen Lagers, die sich traditionell als links und progressiv betrachten, die extrem stark nach rechts driften, das Beispiel der Grünen in Deutschland zeigt dies besonders eindrucksvoll. Eine Partei die über lange Zeit in ihrem Selbstverständnis Pazifismus vertreten hat, treibt nun das imperialistische Säbelrasseln und die größte Aufrüstung Deutschlands seit 1945 voran und fordert die kompromisslose Bekämpfung des imperialistischen Rivalen Russlands. Der starke Rechtsruck der Grünen in den Außenpolitik kommt mit Verzögerung auch in anderen politischen Feldern an. So trieben die Grünen aktiv voran, dass das Dorf Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier doch noch abgebaggert wird, einzig und alleine um RWE mehr Profit ermöglichen zu können, biedert sich den reaktionärsten Regimen, wie Katar, Aserbaidschan oder der Türkei an, und lehnt Entlastungen für die Bevölkerung oder Besteuerung von Krisenprofiten ab.

Innerhalb der Grünen hat sich bereits mit ihrer Regierungsbeteiligung 1998 der Flügel durchgesetzt, der die Partei von sämtlichen pazifistischen und sozialen Altlasten aus ihrem politischen Entstehungskontext befreien wollte. So organisierte die Partei mit dem Kosovo[1]Krieg den ersten deutschen Kriegseinsatz nach dem zweiten Weltkrieg, versetzte der Arbeiter_innenklasse mit der Agenda 2010 einen historischen Schlag und stimmte den imperialistischen Kriegseinsätzen in Afghanistan und Mali zu. Seither unternehmen die Grünen den Versuch, von der kleinbürgerlichen Partikularpartei zur vorherrschenden bürgerlichen Kraft aufzusteigen. Durch ihre konsequente transatlantische Ausrichtung, ihre Bereitschaft zur Militarisierung Deutschlands im Zeichen des „Schutzes demokratischer Werte“ sowie die Perspektive einer industriell-technischen Erneuerung des deutschen Kapitals (Stichwort „Green New Deal“) auf Kosten der Arbeiter_innenklasse präsentierte sich die Partei im Bundestagswahlkampf 2021 als moderne alternative für die exportorientierten Kapitalfraktionen (laut einer Umfrage der deutschen Bank von 2021 wünschte sich die Mehrheit der Entscheider in 200 deutschen Industrieunternehmen eine grüne Regierungsbeteiligung). Der reaktionäre Charakter des grünen Programms wird in dem Maße deutlicher, indem sich der Kampf um die Neuaufteilung der Welt zuspitzt.

Auch beträchtliche Teile der sozialdemokratischen bis links-reformistischen Linken schließen sich diesem bürgerlichen Rechtsruck an und stimmen, ganz in alter Burgfrieden Manier, zu, dass man sich nun hinter den „freiheitlich demokratischen“ Westen stellen müsse um diesen gegen den viel übleren russischen Imperialismus zu verteidigen, und das man dafür nun einmal auch in Kauf nehmen muss, dass die Bedingungen für die Arbeiter:Innenklasse sich verschlechtern. Während das ehemals links-liberale Bürgertum nach rechts wandert und dabei teilweise traditionell konservative Kräfte überholt, sehen wir bei den rechtspopulistischen Kräften Europas eine fast schon entgegengesetzte Tendenz, diese Kräfte integrieren sich fester in den bürgerlichen Staat und die bürgerliche Politik und werden zum akzeptierten und integrierten Teil dieser. Besonders stark wird dies deutlich in Frankreich, wo der ehemalige Front National nun als Rassemblement National viele seiner rechtsradikalen Positionen entschärft um als rechts-konservative Partei breite Achtung und Akzeptanz der bürgerlichen Gesellschaft zu erhalten sowie in Italien, wo die Faschistin Meloni sich nun als ganz normale rechts-konservative Politikerin darstellt und auch von der breiten Masse der bürgerlichen Politik Europas so gesehen wird. In Deutschland ist dieser Trend noch nicht so deutlich zu sehen, was wohl einerseits mit der deutschen Geschichte zusammenhängt, vor allem aber mit einem anderen Faktor: Dem Verhältnis der Partei zum imperialistischen Konkurrenten Russland.

Eine andere Entwicklung der Rechten in Europa ist nämlich die Spaltung in zwei Lager: pro-ukrainische und pro-russische Kräfte. Diese Spaltung ist jedoch keineswegs ideologisch begründet, sondern im Grunde eine rein taktische. Während nämlich pro-russische Rechte wie AfD oder Rassemblement National dass Interesse der Teile ihrer nationalen Bourgeoisie vertreten, die sich statt des Bündnis mit dem US-Imperialismus, der als Hegemonialmacht über den NATO-Block auftritt, ein gleichberechtigtes Bündnis mit dem russischen Imperialismus wünschen, ist dies für die italienische Rechte nicht sinnvoll, da ihre Bourgeoisie nicht stark genug ist ein gleichberechtigtes Bündnis mit einem anderen Imperialismus aufzubauen und es für sie das beste ist sich in EU und NATO zumindest noch ein paar Stücke des westlich-imperialistischen Kuchens zu sichern, weshalb sich auch Melonis Fratelli D’Italia hinter EU, NATO und Ukraine stellen. Diese Spaltung hat allerdings, trotz ihres rein taktischen Charakters, durchaus das Potential, die Kooperation rechter Kräfte in Europa einzuschränken, so ist das jahrelang stabile Bündnis der Rechtsregierungen Ungarns und Polens durch unterschiedliche Positionen zum Krieg in der Ukraine auseinander gebrochen, während Polen klar und entschieden an der Seite der Ukraine gegen seinen historischen nationalen Feind Russland steht, sympathisiert Ungarn, das selber Anspruch auf eine ukrainische Provinz erhebt, nach wie vor mit Putin. Eine Dynamik hingegen zieht sich durch alle bürgerlichen Kräfte, ganz gleich ob pro-russisch oder pro-ukrainisch, liberal, konservativ oder rechtspopulistisch: Der Trend in der Krise zu einer autoritären Politik zu greifen. Aufrüstung nach außen geht meistens auch mit einer Aufrüstung nach innen einher. So greift der ukrainische Staat im Kriegszustand auf ein Verbot jeglicher politischer Opposition zurück, während Russland versucht, jedes Aufkommen einer Antikriegsbewegung durch scharfe Repression im Keim zu ersticken. In Deutschland und anderen westlichen EU-Ländern pocht das Kapital stattdessen angesichts einer sozialpartnerschaftlich ausgerichteten Arbeiter_innenbewegung auf die „Nationale Einheit“: die Bevölkerung soll für die deutschen Kriegspläne frieren und die Gewerkschaften sollen ihre Lohnforderungen so gering wie möglich ansetzen. Die harte Repression gegen kämpferischere Streiks wie derjenige der Hamburger Hafenarbeiter_innen oder gegen die Klimabewegung macht jedoch deutlich, wie das Kapital vorzugehen gedenkt, wenn die Arbeiter_innenklasse sich weigert, die Krisenkosten zu zahlen. So lassen sich bereits auf Länderebene Verschärfungen der Polizeigesetze erkennen, deren bundesweite Ausweitung bei einem Anstieg von Protesten wahrscheinlich ist.

Inflation ohne Ende?

46. Die Inflationsrate in Deutschland lag im September bei rund 10 Prozent. Die stärksten Preisanstiege finden sich bei Lebensmitteln (insbesondere Obst, Gemüse und Milchprodukte), Energiekosten, Mieten, sowie Freizeitkonsumgütern. Die massiven Teurungsraten stellen deshalb  längst nicht mehr nur tiefe Einschnitte im Alltag von Jugendliche und Geringverdiener_innen dar, sondern auch bei mittleren Einkommen und der Arbeiter_innenaristokratie und dem Kleinbürgertum.

47. Während die Bevölkerung für den Frieden frieren und verzichten soll, sorgt die Ampelkoalition dafür, dass Verluste der großen Unternehmen so gering wie möglich ausfallen. Obwohl die „Entlastung der Gering- und Mittelverdiener“ von Anfang an in aller Munde war, stellten Gasumlage und Tankrabatt lediglich Subventionen an die Energieindustrie dar. Des Weiteren wurden mehrere milliardenschwere Entlastungspakete auf den Weg gebracht, die gesamte Gesellschaft nach dem „Gießkannenprinzip“ entlasten sollten. Selbst laut Rechnungen des bürgerlichen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kamen jedoch 70 Prozent der 10 Milliarden € des 3. Entlastungspaketes lediglich den oberen 30 Prozent der höchsten Gehaltsklassen zugute.

48. Anhaltende Proteste haben die Ampel bereits stark unter Druck gesetzt und zu kleinen Nachbesserungen sowie zur Rücknahme der Gasumlage veranlasst. Das Potenzial des „heißen Herbstes“ eine soziale Massenbewegung zu werden, wird jedoch aktuell vor allem von Rechts genutzt. Besonders bildlich wurde dies beispielsweise am 8.10. in Berlin, als sich unter dem Slogan „Löhne rauf – Preise runter“ ca. 120 Menschen in Berlin-Wedding versammelten, während ca. 15 000 Menschen unter Führung der AfD mit Slogan „Unser Land zuerst“ durch das Stadtzentrum zogen. Während linke Kräfte daran scheitern, eine klare Position zum Krieg einzunehmen und die Ampel für ihre unsoziale Kriegstreiberpolitik anzugreifen erscheinen die rechten durch ihre konsequente Ablehnung der Sanktionen als glaubwürdigste Vorkämpfer gegen die soziale Verwerfungen der Inflation.

49. Da wir 2 Ortsgruppen in Ostdeutschland haben, soll an dieser Stelle noch einmal ein Blick auf die spezielle Lage vor Ort geworfen werden. Laut dem INSA-Meinungstrend vom 26.9. ist die AfD stärkste Kraft in Ostdeutschland. Zehntausende sind dort im Zuge der aktuellen Proteste unter offener Beteiligung von Faschist_innen wie dem III. Weg oder den Freien Sachsen auf der Straße gegangen. In Ostdeutschland sind aufgrund der Deindustrialisierung nach der Annektion der DDR mehr Menschen prekär, fühlen sich abgehengt und fremdbestimmt. Der Braunkohleausstieg, die Inflation sowie die ungeklärte Zukunft der Ölraffinieren verbreiten eine nicht unberechtigte Angst vor einer Deklassierung 2.0. Zudem ist die Wirtschaft traditionell stärker strukturell auf Russland ausgerichtet (siehe zum Beispiel PCK-Raffinerie in Schwedt, selbst die CDU-Sachsen vertritt viel pro-russischeren Kurs als die Bundespartei). Auch ideologisch wird Russland aufgrund der DDR-Sozialisierung weniger als Feind betrachtet.

50. Angesichts der rechten Führung über die sozialen Proteste trauen viele den großen breiten Gegenprotesten von Unteilbar etc. hinterher. Wir sehen aktuell jedoch deutlich, dass der Slogan „einfach alle zusammen solidarisch und ,unteilbar‘ gegen die AfD“ in Krisensituationen bei Abwesenheit einer klaren eigenen linken Perspektive nicht mehr funktioniert. Die Trägheit und Vorsicht der Linken eine eigene Perspektive aufzuwerfen, überlässt den Rechten das Feld. Ähnlich haben wir es bereits in der Corona-Krise erlebt, als die Abwesenheit einer kämpferischen und gegen die Regierung gerichteten Zero-Covid-Bewegung eine politische Lücke eröffnet hat, die Querdenken füllen und sich als Fundamentalopposition präsentieren konnte.

51. Aktuelle Ansätze in der radikalen Linken wie die „Dont Pay“-Kampagne (á la klauen im Supermarkt und den Armen geben) verurteilen wir zwar nicht moralisch aber politisch als individualistisch und kleinbürgerlich. Darüber hinaus kommen lokale linke Kleinstbündnisse in einigen Städten kaum dazu, unter zaghafter Beteiligung einzelner lokaler Gewerkschaftsgliederungen über ihre eigenen Unterstützer_innenkreise hinaus zu mobilisieren.

Die Genug ist Genug Kampagne sieht sich selbst als eine Plattform, welche als „Brücke“ zwischen Straßenprotesten und Gewerkschaften fungieren will. Angeführt wird die Kampagne in Deutschland vom reformistischen Jacobin-Magazin und Teilen des Ver.di Gewerkschaftsapparats. Auch wenn die Kampagne bisher nicht über Internetaktivismus, lokale Rallyes, Arbeitsgruppen zur Verbreiterung der Initiative und reformistische Minimalforderungen hinausgeht (zum Beispiel werden die Fragen nach Arbeiter:innenkontrolle des Energiesektors, der Positionierung zum Krieg und den Sanktionen bewusst ausgeklammert), bietet sie aufgrund ihrer Einbindung von Gewerkschaften und ihres internationalen Charakters im Vergleich zu anderen Antikrisenbündnissen bisher das größte Potential für den Ansatz des Aufbaus einer linken Antikrisenbewegung. Sie könnte sich in Zukunft in eine vielversprechende Richtung entwickeln, ist es zum jetzigen Punkt jedoch nicht. Entscheidungen werden mit Teilen des Gewerkschaftsapparats geheim und undemokratisch gehalten. Während sie auf den Rallys mit starken, klassenkämpferischen Reden glänzten (in Berlin rief der BSR (Stadtreinigung) für die kommende Tarifrunde beispielsweise zum Generalstreik auf) hält sich die Führung mit so etwas bewusst zurück. Mehr noch als das: interessierte, potentielle Aktivist_innen werden bis jetzt in ineffektiven Organizing-Arbeitsgruppen verheizt, wodurch der tatsächliche Aufbau einer Antikrisenbewegung sogar noch erschwert wird. Aktuell scheint die Kampagne in Deutschland also nicht an ihre Erfolge in UK anknüpfen zu können. Im Gegensatz zu den Protesten in UK stützt sie sich hierzulande nämlich nicht auf kämpferische Streiks, sondern wird lediglich von Gewerkschaftsfunktionär_innen aus verdi und GEW unterstützt, die die Kampagne ihren Mitgliedern gegenüber als Feigenblatt für Aktionismus gegen die Inflation nutzen.

Revolutionäre müssen mit dem Slogan einer europaweiten Antikrisenkonferenz in die Kampagne intervenieren und diese nach links treiben, bei gleichzeitiger Integration weiterer Gewerkschaftsgliederungen. In den Gewerkschaften müssen wir erkämpfen, dass diese die Forderungen von „Genug ist genug“ nicht nur dem Papier unterstützen, sondern ihre Betriebsgruppen aktiv über die Vertrauensleute mobilisieren. Unsere wichtigen Forderungen zur Inflation sind die Einführung Preisdeckeln unter Arbeiter_innenkontrolle, die gleitende Skala zur Anpassung von Löhnen und Sozialleistungen an die Inflation, die Öffnungd er Geschäftsbücher und eine Übergewinnsteuer sowie die Enteignung der Energiekonzerne unter Arbeiter_innenkontrolle.

Diesen allgemeinen Forderungen müssen sich für die Jugend spezifische Forderungen anschließen, da Inflation und damit verbundene Krisen sich Jugendlichen gegenüber besonders hart und aussichtslos zeigen. Einige zentrale Punkte hierbei sind: kostenloses Mittagessen an Schulen und Kontrolle von Schüler*innen über Auswahl und Preise des Mensasortimentes, finanzielle Unterstützung von Jugendlichen (z.B. für Freizeitangebote), besondere Unterstützung von Familien, der Inflation angepasste und faire Löhne sowie garantierte Übernahme für Azubis, außerdem die Forderung nach kostenlosem ÖPNV und einer starken Jugendbewegung, die an der Seite der Arbeiter_Innen gegen Krieg und Krise kämpft.

Gewerkschaften in der Krise

52. Der DGB fungiert aktuell nicht als Organ des Klassenkampfes, sondern durch seine Politik der Sozialpartnerschaft (kooperativer Ausgleich der Interessen von Kapital und Arbeit) als Stütze der bürgerlichen Herrschaft. Sowohl in der Coronakrise, in der Klimakrise, im Ukraine-Krieg und zur Inflation nimmt er keine fundamentale Oppositionshaltung zur Politik der Bundesregierung ein. Die Beteiligung des DGB an der „konzentrierten Aktion“, in der ein Konsens mit Unternehmer_innenverbänden zur Bekämpfung der Inflation gefunden werden soll, ist nur ein Ausdruck davon. Ebenso die Tatsache, dass der DGB seine historisch gewachsene antimilitaristische Haltung gegenüber dem Aufrüstungsvorhaben der Ampel aufgegeben hat. Es gab keine Ablehnung dessen von Seiten des DGB, lediglich den müden Verweis, dass die Aufrüstung nicht zulasten von Sozialem, Gesundheit und Bildung finanziert werden dürfe. Auf hohe Lohnforderungen wird zugunsten des Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland und aufgrund der angeblichen Gefahr einer „Lohn-Preis-Spirale“ ebenso verzichtet, wie auf politische Streiks angesichts der vielfachen Krisenlagen. Stattdessen gibt es Einmalzahlungen (siehe Abschluss IGBCE und müde Lippenbekenntnisse gegen den Klimawandel).

53. Diese staatstragende Haltung des DGB bringt die Mitgliedsgewerkschaften angesichts sich zuspitzender Krisenlagen in den Lebenswelten der Gewerkschaftsmitglieder in eine fundamentale Krise. Viel zu lange hat sich der DGB als verlässlicher Partner für das Kapital präsentiert, die Mitgliedschaft ruhiggestellt und dafür in wirtschaftlichen Aufschwungperioden Tariferhöhungen für Kernsektoren und Stammbelegschaften (= Arbeiter_innenaristokratie) herausgeholt. In Krisenzeiten, in denen es jedoch selbst für die sogenannten Kernsektoren kaum noch etwas abzuschöpfen gibt, gerät diese Politik in akute Bedrängnis. Zusätzlich geraten die Gewerkschaftsbürokraten der großen DGB-Gewerkschaften durch kämpferisch auftretendere Spartengewerkschaften unter Druck (siehe Cockpit oder GDL). Als Folge erlebt der DGB aktuell einen massiven Mitgliederschwund. Im Jahr 2021 (aktuellste Zahlen) verließen über 2 Prozent der Gesamtmitgliedschaft ihre jeweiligen Gewerkschaften (am meisten bei IG Metall und verdi). Gleichzeitig gehen die Rechten immer aggressiver auf Stimmenfang unter Gewerkschafter_innen, sodass die AfD in einigen Betrieben sogar bereits eine absolute Mehrheit unter Gewerkschaftsmitgliedern verzeichnen kann. Der Apparat versucht sich deshalb mit verzweifelten und halbherzig geführten „Organizing“-Kampagnen zu erneuern und Mitglieder zu gewinnen.

54. Dabei braucht es auch über rein tarifliche Forderungen hinausgehende Forderungen der Gewerkschaften, da die aktuellen Krisen (Corona, Klima, Krieg, Inflation) und die Tiefe mit der sie sich auf den Alltag von Lohnabhängigen auswirken, die traditionelle ökonomistische Selbstbeschränkung der Gewerkschaften in Frage stellen. Ferner liegen für die kommenden Tarifauseinandersetzungen von IG-Metall und verdi aktuell nur Forderungen auf dem Tisch, die knapp über der aktuellen Inflationsrate liegen. Nach den Verhandlungen sind also Reallohnverluste zu erwarten. Der kämpferische Streik der Hamburger Hafenarbeiter_innen konnte die Bürokratie dagegen zeitweise vor sich hertreiben und bildete dabei eine Ausnahme. Es wird immer deutlicher, dass der bürokratische Gewerkschaftsapparat das eigentliche Problem ist, der, um seine eigene privilegierte Stellung zu erhalten, gewerkschaftliche Kämpfe ausbremst. Was wir brauchen ist deshalb kein Organizing für einen erneuerten Gewerkschaftsapparat, sondern eine kämpferische Gewerkschaftsopposition, gestützt auf basisdemokratische Betriebsgruppen, die selbst über Forderungen und Kampfmittel entscheiden, sowie Wähl- und Abwählbarkeit von Delegierte entsenden. Verknüpft werden muss dies mit einem gewerkschaftlichen Aktionsprogramm des Klassenkampfes (statt Sozialpartnerschaft) gegen die Abwälzung der Krisenkosten und der kommenden Rezession auf die Beschäftigte. Die VKG bildet einen ersten Ansatzpunkt dafür.

War’s das mit der Linkspartei?

55. Die traurige Lage der Linkspartei ist geprägt von massiven Wahlverlusten bei der Bundestagswahl. Mit 5 Prozent und über 4 Prozent Stimmverlust ist sie noch knapp in den Bundestag eingezogen. Ähnlich schlecht sind die Ergebnisse bei den vergangenen Landtagswahlen. Hauptgrund dafür ist ihre reformistische Ausrichtung und ihre falschen Analyse des bürgerlichen Staates, die es ihr verwehrt einen radikale Kampf gegen die Angriffe der Regierung zu führen. Zusätzlich ist die Partei durch den inneren Kampf ihrer Flügel gelähmt.

56. Kurzzeitige Hoffnung machte die Proklamation des „Heißen Herbsts gegen soziale Kälte“, bei dem die Linkspartei in Leipzig ca. 4000 Menschen mobilisierte. Diese Aktion blieb jedoch der vereinzelte Höhepunkt der „Kampagne“, da die Positionen der jeweiligen Flügel zum Krieg und seinen Folgen zu unterschiedlich sind, um einen gemeinsamen Kurs vorzuschlagen. Der Flügel der sogenannten „Regierungssozialist_innen“ will dabei nur verhalten Opposition spielen, um sich weiterhin als verlässlicher Koalitionspartner zu präsentieren. Forderungen nach einem Ende der Sanktionen, die ihm von links unter Druck setzen könnten, versucht er dabei als „Rechtsoffenheit“ und „Putinverständnis“ zu denunzieren. Der linkspopulistische „Aufstehen“-Flügel um Sarah Wagenknecht versucht dagegen aktiv Proteste gegen die Inflation zu organisieren. Praktisch scheint der Flügel dabei zu testen, wie viel Basis er tatsächlich hat, um den Erfolg eines Bruchs mit der Linkspartei abschätzen zu können. Dabei strebt er eine Volksfront von Arbeiter_innenklasse und kleineren Unternehmen an, um die Lasten der Krise abzufedern. Seine Kritik an Sanktionen und der Abwälzung der Krisenkosten formuliert er jedoch nicht aufgrund von internationaler Klassensolidarität. „Aufstehen“ kämpft für ein „sozialeres Deutschland“, dessen durch Frieden mit Russland florierende Wirtschaft mehr Spielraum für Umverteilungspolitik hätte. Die Bewegungslinke will zwar laut eigenen Aussagen zwar eine Massenbewegung gegen die Regierung aufbauen, traut sich jedoch nicht die nötige Konfrontation mit anderen Flügeln einzugehen. Obwohl sie eine Mehrheit im Parteivorstand stellt, hat sie bisher nichts von ihren eigentlich fortschrittlichen Forderungen umgesetzt. Im Ernstfall haben ihre Mitglieder bisher auf den Parteitagen mit den Regierungssozialist_innen gestimmt und damit offenbart, dass sie keinen Kampf um die Partei für ein sozialistisches und „bewegungsorientiertes“ Programm führen wollen.

57. Die Anzeichen, dass der Wagenknecht-Flügel die Partei verlässt, nehmen dabei zu. Dies sieht man an den Streitereien innerhalb des Hamburger Landesverbandes oder beispielsweise dem Schreiben des NRW Landesvorstandes, bei dem der gesamte Vorstand sich nicht zur Wiederwahl bereit erklärte und ihre Erklärung zuerst der Presse zuschickte und dann den eigenen Strukturen. Vertreter wie Dieter Dehm, der zwar nicht 100% dem Wagenknecht-Flügel zu zuordnen ist, erklärten zudem öffentlich die Notwendigkeit einer neuen linken Initiative mit den Worten„Es muss eine Kraft antreten, die diesem Abbruchunternehmen da drüben im Karl-Liebknecht-Haus eine Alternative entgegensetzt“. So kann es sein, dass gerade im Hinblick auf die Europa-Wahl 2024 sich dieser Teil aus der Linkspartei verselbständigt um sich dort eigene Posten zu sichern. Sollte der Flügel rund um Wagenknecht und Populäre Linke die Partei im aktuellen Zustand verlassen, wird dies die Zersetzungserscheinungen beschleunigen. Praktisch bedeutet das ein weiteres Schrumpfen der Linkspartei, da schon jetzt mehr und mehr Aktivist:innen durch die andauernde öffentliche Schlammschlacht zwischen Parteiführung und Bundestagsfraktion bei gleichzeitigen Ausbleiben von Erfolgen demoralisiert sind, von Wähler:innen ganz zu schweigen.

Der interne Machtkampf ist dabei von der Idee geprägt, dass der „stärkere“ Flügel den anderen in Schach hält, da viele – inbesondere Vertreter:innen der Bewegungslinken (und M21-Mitglied) wie Christine Buchholz, der Idee nachhängen, dass eine weitere Spaltung zur Irrelevanz der Partei führen würde. Dies stimmt nur bedingt. Hätte es früher eine klare Abtrennung der populistischen Politik gegeben, verbunden mit einem Rausschmiss Wagenknechts hätte so eine Handlungsfähigkeit der Partei unter einem positiven Vorzeichen hergestellt werden können. Dies wäre auch jetzt noch möglich, nur setzt man eher auf Blockaden statt inhaltlicher Diskussion und gemeinsame Mobilisierungen aus Angst mehr Leute an das gegnerische Lager zu verlieren wie man an der Praxis in Leipzig sehen konnte. Dort iniitierte Sören Pellmann (einer der drei Gründe warum die Linke überhaupt noch im Bundestag ist) Anfang September einen Protest gegen die Inflation, nur um im Oktober bei der Aktion organisiert von Juliane Nagel und Katharina König-Preuss nicht reden zu dürfen.

Klimabewegung in der Sackgasse

58. In den letzten Jahren gab es gewaltige internationale Proteste der Klimabewegung. Trotzdem wurden keine relevanten politischen Verbesserungen erreicht. Der Ausstoß von Treibhausgasen hat sich sogar erhöht (abgesehen von dem Lockdownjahr 2020). Folglich befindet sich die Klimabewegung in einer Sackgasse. Alle bisher angewandeten Methoden waren anscheinend unzureichend, um etwas zu verändern. NGO´s und die Grünen haben sich spätestens seit dem Kohleverlängerungsgesetz als unfähig gezeigt wirklich etwas für das Klima zu tun. Die freitäglichen Schulstreiks von FFF gibt es schon lange nicht mehr, die Aktionstage werden immer kleiner. Auch die Waldbesetzungen haben sich als symbolische Aktionen einer scheinradikalen Minderheit ohne größere Bedeutung entpuppt. Das Gleiche gilt im Grunde genommen für das Bündnis Ende Gelände, welches nicht über ein reformistisches Programm und symbolisches Eventhopping hinausging. Die Aktionen von „die letzte Generation“ oder XR konnten nur Arbeiter_Innen ärgern, die zur Arbeit wollten, nicht jedoch die Regierungen zum Umdenken bewegen. Keine der genannten Bewegungen und Organisationen hat eine Verbindung zur Arbeiter_Innenklasse gesucht, obwohl ihre Streikmacht alleine Druck auf Regierung und Kapital ausüben kann. Zum Teil wurde ein Schulterschluss zur Klasse sogar abgelehnt, obwohl er sich aufgedrängt hat, wie z.B. rund um die Ende Gelände Proteste in Hamburg, die parallel zu dem beeindruckenden Streik im Hamburger Hafen stattfanden.

59. Die Ampelkoalition, bürgerliche Medien und Teile der kleinbürgerlich geprägten Umweltbewegungen nutzen den Ukrainekrieg und die Wirtschaftskrise als Grund, um Investitionen in grüne Technologien, Green New Deal und Umweltfragen in den Hintergrund zu schieben. Während es massive Investitionen in Aufrüstung und zur Unterstützung von Unternehmen gibt, wird uns weisgemacht, diese Depriorisierung von Klimafragen wäre alternativlos, weil andere Krisen im Vordergrund stünden. So kommt es, dass Atomkraft wieder im Gespräch ist und Kohlekraftwerke länger laufen sollen, als bisher geplant, während ein Aufschrei der Klimabewegung und große Mobilisierungen ausbleiben. Teile der Umweltbewegung gehen auch so weit, den Kurs der Regierung nicht nur passiv mitzutragen, sondern den Krieg des Westens gegen Russland zu unterstützen und ihn als Chance eines Ausstieges aus fossilen Brennstoffen zu sehen (z.B. in Teilen von FFF). Das Dogma von Luise Neubauer: „Wir haben eben Krieg, dann gibt es halt eine unpopuläre Politik“, setzt sich durch.

Radikale Linke und Klimabewegung

60. Das Mobilisierungspotenzial der radikalen Linken stagniert weiterhin. Hauptgrund dafür ist die Abwesenheit von klaren Positionen (oder gar Kampagnen) zu den drängenden Fragen der Zeit: Ob Corona-Krise, Klimakrise, Krieg, Rassismus, Inflation oder Frauenbefreiung. Eine Hauptursache stellt dabei die Führungskrise der Arbeiter_innenklasse und ihre Abwesenheit als ein in den Verlauf der Geschichte eingreifendes Subjekt dar. Vorherrschende reformistische oder postmoderne Ansätze bieten keine Antworten auf die drängenden Krisen und machen die Gruppen der radikalen Linken unfähig, über isolierte Großmobilisierungen hinaus eine Bewegung aufzubauen (siehe Black Lives Matter, EG, Frauen*streik, …).

61. Die Interventionistische Linke steckt als größte „linksradikale“ Organisation in einer tiefen Krise (3 Ortsgruppen sind ausgetreten), die auf andere sich an ihr orientierende kleinere Gruppen abfärbt. Ihr pluralistisches Aufbaukonzept und ihre Taktik der „breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisse“ scheinen angesichts der aktuellen Herausforderungen nicht mehr zeitgemäß und unfähig, praktisch in das Geschehen einzugreifen. Ferner hat sich ihre politische Erwartung der Herausbildung eines weltumspannenden Empires (siehe Antonio Negri) angesichts der Blockbildung, der Deglobalisierungstendenz und verschärfter bürgerlicher Angriffe nicht bewahrheitet, was die Organisation auch in eine programmatisch-politische Bedrängnis gebracht hat.

62. Das traditionell-stalinistische Milieu (SDAJ, DKP, MLPD) wurde empirisch in seiner Proklamation der friedliebenden Ambitionen Putins widerlegt (DKP-Slogan im Januar 2022: „Denkst du der Russe will Krieg?“) und hat Schwierigkeiten angesichts der neuen globalen Kräftekonstellation eine Position herauszubilden. Die Kommunismuskonferenz der Kommunistischen Organisation blieb mit 200 Teilnehmer_innen hinter den Erwartungen einen Umgruppierungsprozess anzustoßen zurück, sollte jedoch weiter beobachtet werden. Die traditionell maoistisch ausgerichteten Migrant_innenorganisationen haben noch wie vor eine große Mobilisierungskraft in den jeweiligen Diaspora-Communities. Sie stehen jedoch vor dem Problem, dass gerade das Bewusstsein von Jugendliche stärker durch ihre Klassenlage und die damit verknüpfen Alltagsprobleme bestimmt wird, als die Diasporapolitik der Organisationen ihrer Eltern.

63. Positiv zeichnet sich ab, dass die Forderung nach Vergesellschaftung von Unternehmen an Popularität gewonnen hat (siehe: 800 Menschen bei Vergesellschaftungskonferenz). Der erfolgreiche Volksentscheidung von „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ in Berlin hat sicherlich dazu beigetragen und zeigt zugleich dessen Probleme auf. So gilt es in der kommenden Konferenzperiode einen ideologischen Kampf um die Frage zu führen, ob diese Vergesellschaftung über Art. 15 des Grundgesetzes vor dem Gericht erstritten oder über politische Streiks in den betreffenden Betrieben durchgesetzt werden muss. Ebenso, ob die Kontrolle über die Vergesellschaftung in der Hand einer „Anstalt öffentlichen Rechts“ oder den Beschäftigten liegt. Die Forderung nach einer Vergesellschaftung des Energiesektors gewinnt aktuell in der Klimabewegung an Popularität und bildet ein vielversprechendes Bindeglied zur Antikrisen- bzw. Anti-Inflationsbewegung.

Lage der Jugend in Deutschland

64. Die Inflationsrate ist für Jugendliche bis zu 4 mal höher. Jugendliche haben in den meisten Fällen kein oder nur ein sehr geringes Einkommen. Bereits im Zuge der Pandemie haben viele ihre Nebenjobs verloren oder werden sie Blick auf die zu erwartende Rezession verlieren. Gleichzeitig sind die Preise von Waren, die verstärkt von Jugendlichen konsumiert werden, besonders stark angestiegen. Beispielsweise sind die Preise für linierte Blöcke (brauch man in der Schule) um 13% angestiegen. Viele können sich das Mensaessen nicht mehr leisten oder müssen auf Brötchen mit Ketchup zurückgreifen. Da neben sinkenden Einkommen und teureren Konsumgütern ebenso Mieten und Nebenkosten drastisch angestiegen sind, werden Jugendliche in Deutschland in der kommenden Konferenzperiode noch stärker an den elterlichen Haushalt gebunden bleiben.

65. Dies trifft noch stärker auf migrantisierte Jugendliche zu, die zudem teilweise in prekären und repressiven Familienstrukturen gezwungen sind, die eigene Familie noch finanziell durch Nebenjobbing zu unterstützen. Polizeigewalt ist ferner weiterhin ein Thema, was nicht aus den Leben migrantisierter Jugendlicher wegzudenken ist. Allein im August 2022 haben rassistische Polizist_innen sogar 4 migrantisierte Menschen erschossen. Jugendliche mit russischem Migrationshintergrund werden in der Schule oder in Peergroups verstärkt bloßgestellt und in Rechtfertigungsdruck für einen Krieg gebracht, für den sie nichts können.

66. Schüler_innen werden angesichts der geplanten Bildungskürzungen in einigen Bundesländern besonders am Anwachsen der Klassengrößen sowie am Ausfall von Unterricht bei gleichbleibenden Leistungserwartungen durch den Lehrer_innenmangel zu leiden haben. Ferner ist zu erwarten, dass die Schulen im Winter von einer erneuten Covid-Welle erfasst werden, zur starken Belastung für die Jugendlichen und ihre Familien werden wird. Dabei ist Long-Covid eine Folgeerkrankung auf eine Covid-Infektion von der viele Jugendliche betroffen sind, auf die in der Schule aber keinerlei Rücksicht genommen wird.

67. Auch die Einkommen von Azubis und Studierenden werden weiter durch die Inflation schrumpfen, da weder BAföG noch Mindestauszubildendenvergütung an die Inflation angepasst werden. Gleichzeitig werden sie beim Berufseinstieg mehr Schwierigkeiten haben, da Unternehmen mit Blick auf eine Rezession weniger Menschen einstellen oder geringere Löhne zahlen. Für Azubis sinken dabei die Übernahmechancen massiv ab.

68. All dies hat erhebliche Auswirkungen auf das Bewusstsein von Jugendlichen. Politisierte Jugendliche aus der Generation Z und jünger kennen eigentlich keine Welt mehr ohne existenzbedrohende Krisen und wurden zwischen Klimakrise, Corona-Krise, Ukrainekrieg und Wirtschaftskrisen sozialisiert. Laut einer Studie des Forsa Meinungsforschungsinstituts haben 72 Prozent der unter 30 Jährigen große Angst vor der Inflation. Damit sind sie die Altersgruppe, der die Inflation die meisten Sorgen bereitet. Die Coronapandemie bereitet laut der Studie dagegen nur 30% Sorgen, was vermutlich an einer Gewöhnung an den Krisenzustand sowie der Angst vor weiteren Schulschließungen liegt. Der Ukraine-Krieg und die Klimakrise bereiten jeweils 50 % der befragten Jugendlichen Sorgen. Über 50 % lehnen jedoch eine stärkere Einmischung Deutschlands in den Krieg ab. Wachsende Ängste, Einschnitte durch die Coronapandemie, eine verschärfte Konkurrenz um Arbeitsplätze, Schulnoten und soziales Prestige sowie gestiegene Leistungserwartungen verursachen einen Anstieg von psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen um über 20 Prozent. In dieser dauerhaft krisenhaften und oft hoffnungs- und perspektivlosen Lage gilt es, Perspektiven aufzuzeigen und Antworten auf bestehende Probleme und Krisen zu bieten, auch solche, die sofortige Verbesserung der Lage bewirken.




Warum Atomenergie keine grüne Alternative ist.

Von Flo Schwerdtfeger, November 2022

Wie schön könnte die Welt sein, wenn Atomenergie wirklich das wäre, was alle immer versprechen: klimaneutral, günstig, immer verfügbar und natürlich hoch sicher. Aber leider ist es nichts davon. Der Abbau und die Endlagerung haben große Umwelteinflüsse, die für die Stromerzeugung eingesetzten Stoffe sind genauso fossil wie Gas, Kohle und Öl und die Sicherheit der Kernkraftwerke ließ sich diesen Sommer, sowohl in Frankreich, als auch in der Ukraine beobachten. Und das Thema Kernkraft wird immer wieder auf den Tisch gebracht, sei es zur Rettung der Welt vor dem Klimawandel oder um uns trotz der Sanktionen gegenüber Russland durch den Winter zu bringen, ungeachtet der jahrzehntelangen Kämpfe der Anti-Atomkraft-Bewegung. Die sinnvollen und bereits oft genannten Alternativen werden hingegen weiter blockiert oder nur mit der Kneifzange angefasst: Windkraft und Photovoltaik laufen so schleppend weiter wie sonst auch, Wärmeerzeugung über Biogas wird durch Monokulturen ad absurdum geführt und mit bloßer Energieeffizienz in der Dämmung von Gebäuden oder dem Verkehr bräuchten wir gar nicht erst anfangen. Müssen wir aber! Und einen kleinen Überblick soll dieser Artikel leisten.

Atomenergie

Wie eingangs erwähnt ist die Sicherheit der Atomkraftwerke von ihrem Umfeld abhängig. Man denke an die Katastrophe im japanischen Fukushima zurück, wo ein Tsunami eine Nuklearkatastrophe auslöste. Die AKWs in Frankreich mussten diesen Sommer heruntergefahren werden, da die Wasserversorgung nicht gewährleistet werden konnte. Das Wasser ist für die Stromerzeugung durch Kernspaltung jedoch notwendig. Es wird benötigt, um das erhitzte Wasser, welches die Brennstäbe umgibt, abzukühlen. Ohne dieses Wasser würde das Kraftwerk überhitzen. Grund für die Wasserversorgungsprobleme in Frankreich war die anhaltende Dürre diesen Sommer. Angesichts des Klimawandels wird die nächste Dürre nicht lange auf sich warten lassen. Weiteres großes Katastrophenpotenzial liegt in der Ukraine. Da die Ukraine größtenteils ihren Strom aus AKWs bezieht, laufen diese trotz Krieg weiter und sind hochgefährdet. Einerseits könnte Russland durch ihre Eroberung die Hoheit über die Stromproduktion weiter Teile des Landes gewinnen und damit massiv an Macht gewinnen. Andererseits können Kämpfe in direkter Nähe zu Explosionen und damit zu unüberschaubaren Kettenreaktionen führen.

Doch nicht nur Kriege und Naturkatastrophen machen AKWs zu tickenden Zeitbomben. Es ist auch die Technologie an sich, die eine große Gefahr für Mensch und Natur darstellt. Atomkraftbefürworter_Innen führen oft an, dass bei der Verstromung lediglich ungefährlicher Wasserdampf entsteht. Das ist korrekt: Die Brennstäbe zerfallen, erhitzen dadurch einen Wasserkreislauf und dieser treibt eine Turbine an. Allerdings ist das Uran oder Plutonium, welches benötigt wird, auch endlich auf diesem Planeten. Außerdem wird bei der Förderung dessen CO2 und Radioaktivität freigesetzt und bei der Verstromung entsteht waffenfähiges Material. Das größte Problem liegt in der Endlagerung der radioaktiven Materialien. Bisher müssen alte Zechen herhalten, in der Hoffnung sie liegen in erdbebensicheren Gebieten und in die Höhlen tritt kein Wasser ein, welches die Metallfässer zum Rosten bringen könnte. Dabei reagiert radioaktives Material immer mit seiner Umwelt und stellt damit eine unmittelbare Bedrohung mit unvorhersehbaren Folgen dar.

Erneuerbare Energien

Doch sind erneuerbare Energien tatsächlich bessere Alternativen? Die meisten kennen Wind, Wasser und Sonne, sowie auch Biogas. Zurzeit besteht allerdings das Problem, dass all diese Technologien noch unter kapitalistischen Umständen eingesetzt und produziert werden. Für Solar- und Windkraft werden unter ausbeuterischen Verhältnissen der Arbeiter_Innen und der Umwelt die nötigen Ressourcen abgebaut und die Frage des Recyclings bleibt ebenfalls weiter offen. Die großen Wasserkraftwerke bzw. eher die anliegenden Stauseen überfluten weitreichenden Gebiete bei ihrem Anstauen, wobei Lebensräume für Tiere und Pflanzen zerstört werden. Und beim derzeitigen Einsatz von Biogas werden landwirtschaftliche Flächen aus der Lebensmittelproduktion entnommen und dort stattdessen hochenergetische Pflanzen angebaut. Wir sehen also, dass nur die Umstellung wie wir Strom produzieren nicht Klima und Umwelt retten wird. Einher muss auch der gesellschaftliche Wandel gehen rund um die Frage wie wir mit Energie in Zukunft umgehen wollen. Das heißt, es ist nicht nur zentral wie Energie gewonnen wird, sondern auch zu welchem Zweck, in welchem Wirtschaftssystem und wer die Kontrolle darüber hat. Grüne Technologie, die auf die Maximierung von Profit ausgerichtet ist, wird nie völlig nachhaltig sein, da der Hunger nach Profit letztlich über den Bedürfnissen von Mensch und Natur steht. Eine Solarzelle, die nie kaputt geht und ewig funktioniert, wird dem produzierenden Unternehmen weniger Geld einbringen, als ein Modell, das nach gewisser Laufzeit wieder ersetzt werden muss. Die Energiewende ist deshalb ein Prozess, der nur erfolgreich sein wird, wenn er demokratisch von den Beschäftigten der Energieproduktion und den Konsument_Innen organisiert und kontrolliert wird.

Wo steht die Politik?

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine befördert nun die Probleme der Energiepolitik weiter. Anstatt auf das Fehlen des Gases mit dem Umbau unserer Energieinfrastruktur zu reagieren, wird das ganze Repertoire an fossilen Systemem aufgefahren. Es wird Gas in Katar und den USA gekauft und eingeschifft, die Kohleverstromung wird weiter befeuert, Lützerath wird abgebaggert und der Atomausstieg wird aufgeschoben. Es wird alles getan, außer die Erneuerbaren zu fördern. Obwohl uns diese nicht nur mit den nötigen Energien beliefern könnten, sondern auch unabhängig gegenüber dem Öl, Gas und Uran der Despoten machen. Und trotzdem beharren von FDP, CDU bis zur AfD alle auf diesen Lösungen für die Energiekrise. Diese Parteien nutzen die Krise für einen Rollback um die Errungenschaften der letzten Jahre Klimaschutzbewegung ungeschehen zu machen. Aber es gab da doch noch eine Partei, die für Klimaschutz steht, in deren DNS die Gegnerschaft gegen Atomkraft eingewoben ist. Die Grünen! Tja, in der Regierung und der Realpolitik verschwinden dann auch ihre Ideale.

Was ist nun aber unsere Perspektive?

Wir stehen nun vor dem Problem, dass der Winter aller Wahrscheinlichkeit nach teuer wird, aber

dank Klimawandel vielleicht nicht kalt. Außerdem stehen wir vor dem Problem, dass wir zwar zu

Recht auf 20 Jahre und mehr vertanen Ausbau der Erneuerbaren Energien hinweisen müssen, aber

bis zum Winter nicht die technische Transformation geschehen wird.

Alles was uns bleibt ist den Protest zu organisieren. Sowohl für die Lösung der sozialen Probleme, die wir jetzt schon spüren und die bevorstehen, als auch um den Klimawandel zu bekämpfen. Es ist unsere Aufgabe, die Energiefrage in die Antikrisenbewegung hineinzutragen und deshalb fordern wir:

  • sofortiger Stopp der Subventionen für fossile Energien und massiver Ausbau der erneuerbaren Energien
  • Deckelung der Energiepreise und Enteignung der Energiekonzerne und Krisengewinne unter Arbeiter_Innenkontrolle
  • keine weiteren Laufzeitverlängerungen für Gas-, Kohle- und Atomkraftwerke
  • Schluss mit der Zerstörung von Lebensräumen und Dörfern für die Profite von RWE & Co



End Fossil: Occupy your School!

Die neue aufkommende Klimabewegung End fossil Occupy bereitet sich immer weiter aus. Schon in Frankreich, England, Schottland, der USA, Mexiko, Kanada, Dänemark, Spanien, Deutschland und Portugal gibt es Ortsgruppen von End Fossil. Die Bewegung setzt sich zum Ziel, „die fossile Wirtschaft zu beenden“ und macht dies, indem sie, wie der Name schon sagt, Schulen und Unis besetzt.

In Deutschland hat es schon an mehreren Unis und Schulen Besetzungen und Aktionen gegeben, so wie in Göttingen, wo zwei Schulen und eine Uni momentan besetzt sind. Bei den Besetzungen nehmen sich die Aktivist:innen einen Raum, wie zum Beispiel einen Hörsaal und benutzen ihn um den normalen Ablauf zu stören, so wie Workshops rund um das Thema Klimawandel und was man dagegen tun kann, zu veranstalten. Die Aktionen werden von bundesweiten Forderungen begleitet, so wie von lokalen Forderungen, die konkret an die besetzten Orte angepasst werden. Also so was wie „Solarzellen für das Uni-Dach!“. Einer der wichtigsten Forderungen der Bewegung ist aber “eine Übergewinnsteuer für alle Energieträger“, kombiniert mit der langfristigen Forderung der Vergesellschaftung der Energieproduktion unter demokratische Hand, die nicht profitorientiert sein darf. Außerdem beinhalten die Forderungen noch die Notwendigkeit des Ausbaus von ÖPNV und die sofortige Wieder-Bereitstellung des 9-Euro-Tickets. Langfristig fordern die Aktivist_innen einen kostenlosen ÖPNV. Dazu schließt sich End fossil Occupy auch den Forderungen von Lützi bleibt! ,Debt for Climate und Genug ist Genug an. Daran sieht man, dass End fossil occupy anerkennt, dass ihre Kämpfe nicht isoliert passieren können und aktiv mit anderen Kämpfen gegen den menschengemachten Klimawandel und für die Rechte von Lohnabhängigen verbunden werden müssen.

End Fossil gebührt unsere volle Solidarität! Keine Hetze von Schulleitungen, Dekan, Stadtregierung oder Springer-Presse kann diese brechen. Als Jugendorganisation unterstützen wir die Besetzungen, insbesondere von Schulen, und wollen diese Aktionen voranbringen. Wir unterstützen die 3 Prinzipien „Besetzen bis zum Erfolg!“, „Klimagerechtigkeit“ und „Jugend geführt“ voll und ganz. Wir glauben jedoch, dass wir sie nicht ganz erreichen werden, wenn End Fossil so weiter macht wie bisher. Da wir schon lange sowohl in der Bildungs- als auch in der Klimabewegung aktiv sind, konnten wir dort bereits wertvolle Erfahrungen sammeln. Im Folgenden wollen wir End Fossil deshalb einige Vorschläge machen, wie wir glauben, dass die Besetzungen langfristig Erfolg haben und ihre Ziele auch tatsächlich erreichen können. Uns ist dabei wichtig zu betonen, dass diese Vorschläge nicht von Besserwisser:innen abseits der Barrikade kommen, sondern solidarische Vorschläge von Aktivist:innen sind, die sich selbst aktiv an den Kämpfen beteiligen.

  1. Besetzen bis zum Erfolg

Zum einen halten wir es für wichtig, dass sich die Besetzungen nicht nur auf einen kleinen Kreis von Aktiven stützen, sondern von einem Großteil der Schüler_innen oder Studierenden getragen werden. Dafür müssen wir das Mittel der Vollversammlung nutzen, um mit möglichst vielen Leuten ins Gespräch zu kommen, und die kommenden Aktionen zu planen. So können wir erreichen, dass unsere Besetzungen nicht nur symbolisch bleiben, sondern tatsächlich eine Basis und Unterstützung haben, mit deren Hilfe wir länger bestehen bleiben können. Dabei ist wichtig, dass sich an Schulen und Unis aus den besetzenden heraus Demokratische Streikkomitees gründen, die die Besetzungen koordinieren, sich mit anderen Besetzungen vernetzen und vielleicht auch eigene Flyer erstellen, die andere an Schule und Uni von der Besetzung überzeugen können. Der Zweck davon ist es, damit die Besetzung länger am Laufenden zu halten, so wie die Bewegung so auszuweiten, dass die Besetzungen nicht isoliert bleiben, sondern von anderen Unis und Schulen unterstützt werden. Apropos Unterstützung: Auch die Lehrer_innen und Unibeschäftigten sollten wir für die Ideen unserer Besetzungen gewinnen. Auch sie geht die Klimafrage etwas an und außerdem kritisieren sie immer wieder, zu wenig Mitspracherechte zu haben. Hier bietet sich ihnen mal eine Gelegenheit, ihrem Unmut Luft zu verschaffen. Die Mitglieder der Bildungsgewerkschaft GEW müssen wir aufrufen, die Besetzungen zu unterstützen und diese sollten wiederum ihre Kolleg_innen überzeugen. So können wir unserer Besetzung mehr Rückhalt verschaffen und außerdem auch mögliche Repressionen abwenden.

2. Klimagerechtigkeit

Im Gegensatz zu vielen anderen Climate-Justice-Strukturen und Organisationen traut sich End Fossil die wichtige Forderung aufzuwerfen, dass die Energieproduktion demokratisch und nicht profitorientiert vergesellschaftet werden soll. Da fragen wir uns aber unter wessen demokratischer Hand? Die der Arbeiter:innen? Oder die der Politiker:innen? Deswegen schlagen wir vor, die Forderungen zu spezifizieren. Wir schlagen vor, die Energieproduktion unter der Kontrolle der Arbeiter:innen zu enteignen. Aber wie kann das End Fossil hinkriegen, wenn sie sich als Bewegung an Schulen und an Unis aufbaut?

End fossil muss aktiv in ihren Aktionen die Gewerkschaften und die Arbeiter:innen dazu aufrufen, sich ihnen anzuschießen und ihre Arbeitsplätze zu besetzen und unter eigene demokratische Kontrolle zu bringen. Dies kann sie durch die Aktionen und Besetzungen klarmachen, indem End fossil die Arbeiter:innenklasse aktiv in ihren Forderungen aufruft und darum auch mobilisiert. Die besetzten Räume müssen genutzt werden, um diese Forderungen klar an die Außenwelt zu tragen. Allein das Stören der Normalität und das Besetzen von Unis baut noch nicht den ökonomischen Druck auf das fossile Kapital auf, den es braucht, um damit endlich Schluss zu machen. Bleiben die Besetzungen der Unis isoliert, erzeugt dies zwar Aufmerksamkeit, aber um dem fossilen Kapital tatsächlich den Hahn abzudrehen, müssen wir es durch Streiks und Fabrikbesetzungen dazu zwingen. Eine Solidarisierung mit den aktuellen Tarifrunden in der Metallindustrie und dem öffentlichen Dienst wären erster Schritt, hin zu einem Schulterschluss zwischen Klima- und Arbeiter_innenbewegung. Streikende Arbeiter:innen, Beschäftigte aus der Energieproduktion und Gewerkschafter:innen müssen auf die Vollversammlungen eingeladen werden. Aber auch das Einladen und die Diskussion mit Lehrer_innen oder Renigungspersonal kann gewinnbringend sein. Gemeinsam können wir dann diskutieren und Aktionen planen, denn der Kampf fürs Klima ist letztlich ein Klassenkampf, für unsere Fortexistenz auf diesem Planeten. Die Forderung nach der Enteignung der Energiekonzerne unter Arbeiter:innenkontrolle kann eine wichtige Brücke werden zwischen Klimabewegung und denjenigen, die schon jetzt ihre Nebenkostenabrechnung nicht mehr bezahlen können.

3. Jugend geführt?

End fossil hat es jetzt schon geschafft viele Jugendliche an sich zu ziehen, welche es auch selbst geschafft haben, verschiedene Unis und Schulen überall in der Welt zu besetzen. In ihren Prinzipien versteht sich die Kampagne explizit als „Jugendbewegung“. Als Jugendorganisation teilen wir natürlich die Idee, dass sich Jugendliche selbstständig und unabhängig organisieren sollten. Wir halten es aber deshalb auch für zentral, dass auch Forderungen für die Jugend aufgestellt werden. Das glauben wir, weil Jugendliche in ihrem täglichen Leben und an der Schule nahezu kein Mitbestimmungsrecht haben und von Autoritäten wie Eltern oder Lehrer:innen abhängig sind. Warum sonst müssen wir unsere Schule erst einmal besetzen, um überhaupt gehört zu werden? Eine Jugendbewegung muss dies anerkennen, auf die autoritäre Fremdbestimmung eingehen und Vorschläge machen, wie wir das ändern können. Es braucht Forderungen, mit den man Jugendliche besser erreichen und sie aktiv in einen Kampf gegen den Klimawandel einbinden kann. Es gilt unsere Lebenssituation zu verbessern und uns mehr gesellschaftliche Macht zu erkämpfen. Deshalb fordern wir:

  • Kostenloseses und ökologisches Mensaessen! Selbstverwaltete Speisepläne von uns Schüler_innen!
  • Von Schüler_Innen selbstorganisierte Freiräume, die in den Pausen für alle frei zugänglich sind, an jeder Schule!
  • Weg mit dem Leistungsterror Schüler:innen Kontrolle über den Lehrplan!
  • Demokratische Kontrolle der Schüler:innen und Beschäftigten über die Schulen/Unis, bildet Räte!
  • Für eine flächendeckende Modernisierung und energetische Sanierung aller Schulgebäude sowie ihrer Heizungs-, Wasser- und Belüftungssysteme. Bezahlt werden soll das von denen, die vom Krieg und den steigenden Energiepreisen profitieren!
  • Solidarität mit den Tarifrunden in Metallindustrie und öffentlichem Dienst!
  • Sofortige Enteignung aller Energiekonzerne unter Arbeiter:innenkontrolle!



4 Fragen und 4 Antworten zur aktuellen Inflation: Woher sie kommt und was wir dagegen tun müssen

Von Romina Summ

Unser Alltag ist seit den letzten Monaten von andauernden Preissteigerungen geprägt. Früher konnte man sich in der Mittagspause mal einen Döner für 3,50 € holen, mittlerweile bekommt man für unter 5 € kaum noch ein Mittagessen am Imbiss nebenan. Genauso sieht es mit den meisten Lebensmittelkosten und sonstigen Lebensunterhaltungskosten aus. Alles wird teurer. Das stellt für fast alle lohnabhängigen Menschen, aber besonders auch für uns junge Menschen ohne festes Einkommen ein riesiges Problem dar.

Welche Ursachen hat die aktuelle Inflation?

Preisschwankungen können verschiedene Ursachen haben. Die Preise auf kapitalistischen Märkten sind im Grund immer und zu jeder Zeit gewissen Preisschwankungen ausgesetzt. Oft sind zum Beispiel Preise gerade am Anfang des Monats höher als am Ende des Monats. Das liegt daran, dass am Anfang des Monats nach Gehaltszahlungen mehr Geld bei den arbeitenden Menschen vorhanden ist und mehr konsumiert werden kann. Gegen Ende des Monats sinkt dann die Nachfrage, womit ein Überschuss an Waren auf dem Markt ist. Um diese Waren überhaupt noch loszuwerden, muss der Preis sinken. Schließlich ist es für das Kapital besser eine Ware etwas billiger zu verkaufen als gar nicht.

Preisschwankungen können jedoch auch auf eine Veränderung von Angebot oder Nachfrage zurückgehen. Wenn zum Beispiel die Menge an angebotenen Produkten auf dem Markt zurückgeht (z.B. wegen Lieferengpässen), kann dieses Angebot die gleichbleibende Nachfrage nicht bedienen. Es kommt zu einer Steigerung des Preises, wodurch sich nun weniger Leute die Produkte leisten können und die Nachfrage zurückgeht und sich so dem Angebot angepasst hat. Die derzeitige Inflation hat ihre Ursachen genau in einem solchen Rückgang des Angebotes. Wenn also weniger Waren angeboten werden, steigen die Preise, da das Weniger an Waren stärker nachgefragt wird. Die Ursachen für die aktuelle Inflation liegen in den globalen Krisen, die gerade unser Leben bestimmen. Angefangen hat es damit, dass durch pandemiebedingte Lockdowns globale Lieferketten unterbrochen wurden, was zu einer mangelnden Auslastung der Produktionskapazitäten führte. Viele Rohstoffe oder Vorprodukte konnten nicht geliefert werden oder nur mit starken Verzögerungen. Die Auswirkungen zeigen sich bis heute noch und haben zu einem Angebotsschock geführt. Die gleichbleibende Nachfrage ist auf ein extrem sinkendes Angebot gestoßen. Das hat die Preise zunächst in die Höhe getrieben.

Als im Februar der Angriffskrieg auf die Ukraine von russischer Seite begann, antworten die Regierungen der NATO-Staaten mit historisch unvergleichbar harten Sanktionen, welche das Angebot weiter reduzierten. Diesmal beim Gas. Außerdem legte der Krieg die Wirtschaft in der Ukraine, ein Land, welches einen großen Teil der Welt mit Getreide versorgt, (10 % des weltweiten Getreidemarktes, 15 % des Maismarktes) lahm. Dies hatte Auswirkungen auf das Angebot von Lebensmittelpreisen, wodurch auch hier die Preise in die Höhe schießen. Dass sich die Preissteigerungen aber mittlerweile auf fast alle Produkte bei uns niederschlagen, liegt daran, dass für die Produktion Energie benötigt wird. Die gestiegenen Energiekosten schlagen sich somit auf die Endprodukte nieder und spiegeln sich im Preis wider. Dadurch dass die meisten Energiekonzerne und Mineralölkonzerne eine Monopolstellung im Markt inne haben, können sie leichter Preise heben, da es wenig Konkurrenz gibt, die günstiger anbietet. Daher zeichnen sich in dieser Branche in den letzten Monaten Rekordgewinne ab, während immer mehr Menschen verarmen.

Gab es auch vor Pandemie und Ukraine-Krieg schon Inflation?

Die Ursachen der Inflation dürfen jedoch nicht losgelöst von der wirtschaftlichen Entwicklung im letzten Jahrzehnt betrachtet werden. Denn bereits vor der Corona-Pandemie gab es Inflationstendenzen, welche anhand von 3 Faktoren, 1. der niedrigen Kapitalverwertung, 2. der steigenden Verschuldung und 3. der Tendenz zur Deglobalisierung deutlich wurden. Schon seit den 2000er Jahren sank die Produktivität der Weltwirtschaft, was letztlich auch zur großen Finanzkrise im Jahr 2008 geführt hat. Erholen konnte sich die Wirtschaft davon nie wirklich und die Verwertung von Kapital blieb bis heute niedrig. Das bedeutet, dass aus investiertem Kapital durchschnittlich nur niedrige Gewinne abflossen. Dadurch gingen Investitionen und Handel zurück und führten zu einer stagnierenden Kapitalakkumulation (Anhäufung von Kapital durch Investitionen) und niedrigen Profitraten.

Auch die hohe Verschuldung von Staaten und Unternehmen begünstigt in diesem Zusammenhang die Inflationstendenz. Zu Beginn der Coronakrise lag die Verschuldung bei dem 2,6-fachen des Welt-GDP (Bruttoinlandsprodukt aller Länder), mittlerweile sind wir beim über 3-fachem. Schulden sind allerdings nur dann inflationstreibend, wenn die Verwertung der aufgenommenen Kredite nicht mehr produktiv ist. Einfache Verbraucherkredite hingegen führen nicht zur Inflation. Beispiel: Wenn ein Land oder Unternehmen Kredite zu einer Kondition von 7 % Zinsen aufnimmt, aber dieses Geld im Verwertungsprozess (Investition in Produktion, Verkauf von produzierten Waren, Gewinnabschöpfung) nur 3 % Gewinn abwirft, ist die Produktivität geringer und es würde durch die Aufnahme von Krediten nur eine weitere Verschuldung stattfinden. Eine solche Schuldenentwicklung, wie sie sich in Ländern wie Italien zeigt, treibt die Inflation voran.

Zuletzt ist es die Entwicklung zur Deglobalisierung, die die Inflation, am schlimmsten in den abhängigen halbkolonialen Ländern vorantreibt. Weg von der Globalisierung geht der Trend hin zur Verlagerung der Produktion aus den halbkolonialen Ländern zurück in die imperialistischen Länder. Mit entsprechend schlimmen Folgen für die abhängigen Länder: Durch den Abzug von imperialistischem Kapital sinkt der Handel vor Ort, was wiederum dazu führt, dass die lokale Währung nicht mehr so gefragt ist und verfällt. Hinzu kommt, dass durch den Abzug von Fabriken und Kapital mehr importiert werden muss und die Arbeitslosigkeit steigt. Sowohl der Verfall der Währung als auch die teureren Importe feuern die Inflation besonders in diesen abhängigen Ländern an und führen zu einer Verelendung der Menschen. Aufgrund dieser Entwicklung hat sich schon vor dem Krieg und vor der Coronapandemie in vielen südlichen Ländern eine starke Inflation abgezeichnet. Wir sehen also, dass es direkte Ursachen für die aktuelle Inflation im Krieg und in der Pandemie gibt. Diese Aspekte haben aber eine schon dagewesene Krise des Wirtschaftssystems mit inflationären Tendenzen verschärft.

Was bedeutet das für uns?

In genau diesen Ländern ist die Krise nun besonders drastisch und führt teilweise zur Hyperinflation. In Argentinien sind die Menschen teilweise aufgrund der Inflation von knapp 80 % zum Tauschhandel übergegangen. Im Sudan liegt die Inflationsrate sogar bei über 200 %. Der Hunger und der Kampf ums tägliche Überleben bekommen gerade in diesen Ländern eine immer wichtigere Bedeutung. Doch auch hierzulande sind die Auswirkungen der massiven Preisanstiege insbesondere für Menschen ohne festes Einkommen, wie Jugendliche, Studierende oder Arbeitslose, ziemlich verheerend. Alles wird teurer, aber Geld ist sowieso nicht vorhanden. Viele von uns haben bereits vorher schon am Existenzminimum gelebt und haben keine Ersparnisse, sodass wir nun nicht wissen, mit welchem Geld wir die Preissteigerungen bezahlen sollen. Ebenso haben auch Arbeiter_Innen mit einem festen Einkommen bereits große Probleme. Auch ihnen droht durch die Inflation Verarmung. Durch die höheren Preise verlieren sie immer größere Teile ihres Lohns. Die Gewerkschaften hätten die Möglichkeit höhere Löhne, die nicht sofort wieder von der Inflation aufgefressen werden, für die Arbeiter_Innen zu erkämpfen. Anstatt in die Offensive zu gehen, halten sie sich jedoch in den aktuellen Tarifverhandlungen (IG-Metall fordert lediglich 8% Lohnerhöhung) viel zu stark zurück.

Und während die Armut weltweit größer wird, werden die Gewinne einiger Konzerne, vor allem die der Ölkonzerne, immer größer. Besteuerung oder Umverteilung? Fehlanzeige! Die Regierung hat zwar drei Entlastungspakete auf den Weg gebracht, doch diese beinhalten unzulängliche Einmalzahlungen für Heiz- und Energiekosten, für Empfänger_Innen von Sozialleistungen und Arbeitslosengeld und die Anhebung von Kindergeld. Das ist jedoch angesichts der eben beschriebenen Probleme nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Selbst das eher unternehmerfreundliche Institut für Wirtschaftsforschung hat berechnet, dass von 10 Milliarden Euro des 3. Entlastungspaketes ganze 70% an die oberen 30% der Gesellschaft gehen. Die Armen gehen also weiterhin ziemlich leer aus. Das liegt nicht daran, dass die deutsche Regierungskoalition zu unfähig ist, sich effektive Entlastungsmaßnahmen auszudenken, sondern daran, dass ihre Politik in erster Linie die Profite der Unternehmen sichern soll, um der deutschen Wirtschaft ihren Ruf als „Exportweltmeister“ zu erhalten. Die geplante Gasumlage war ein gutes Beispiel dafür. Nur durch massiven Druck von der Straße konnte ihre Umsetzung letztlich verhindert werden.

Was können wir tun?

Nicht wir sollen für diese Krise zahlen, sondern diejenigen, die sie selbst verursacht haben. Vorschläge wie die Einführung einer Übergewinnsteuer gehen dabei schon einmal in die richtige Richtung. Dabei sollen Unternehmen, die besonders hohe Profite durch die Krise gemacht haben, stärker besteuert werden, um Sozialleistungen für Lohnabhängige, Arbeitslose, Jugendliche und Rentner_Innen zu finanzieren. In Spanien wurde eine solche Steuer bereits eingeführt und damit ein kostenloser ÖPNV finanziert. Maßnahmen wie diese müssen wir unterstützen, auch wenn sie noch nicht weit genug gehen. Mit einer kurzzeitig höheren Besteuerung können zwar die Symptome der Inflation ein wenig abgefedert werden, jedoch bleiben ihre Ursachen unangetastet. Dafür müssen wir die Energiekonzerne enteignen und unter demokratische Kontrolle der Konsument_Innen und Beschäftigten stellen. Nur so können wir sicherstellen, dass die Unternehmen ihre Verluste nicht zu Lasten ärmerer Länder ausgleichen und dabei eine ökologische Transformation weg von fossiler Energiegewinnung organisieren. Eine Umgestaltung der Wirtschaft, hin zu einem ausgeglichenen Kreislauf zwischen Mensch und Natur, kann jedoch letztlich nur in einer demokratischen Planwirtschaft erfolgen, in der nicht der Profit, sondern die Bedürfnisse von Mensch und Natur die Produktion bestimmen. Um dahin zu kommen, müssen wir im Hier und Jetzt Forderungen aufwerfen, die eine Antwort auf die sozialen Verwerfungen der Inflationskrise geben und zugleich den Massen aufzeigen, dass sie selbst die Macht erobern müssen, um der Barbarei zu entkommen.

Wir fordern:

  • Lehrmittelfreiheit! Schulbücher, Hefte, Stifte, digitale Endgeräte und auch das Schulessen müssen kostenlos für alle sein!
  • Eine Erhöhung des Mindestlohns und der Renten! Für ein elternunabhängiges Grundeinkommen für Jugendliche von 1600 € monatlich!
  • 9€-Ticket vorbei? Macht den ÖPNV endlich kostenlos!
  • Für eine gleitende Skala der Löhne, die automatisch an die steigende Inflationsrate angepasst wird!
  • Stoppt die Preisexplosionen! Sofortige Preisdeckel für Energie, Lebensmittel und Mieten!
  • Für eine stärkere Besteuerung derjenigen, die an der Krise verdienen! Legt ihre Geschäftsbücher offen und enteignet die, die sich weigern, die Steuer zu bezahlen!
  • Geld für Soziales, Bildung und Gesundheit statt 100 Milliarden für die Bundeswehr!

Diese Forderungen werden sich nicht von selbst umsetzen. Wir müssen schon selbst dafür kämpfen, dass die Krise nicht auf unserem Rücken ausgetragen wird. Dabei müssen wir auch klar machen, dass wir den hinterhältigen Angriff Russlands auf die Ukraine klar ablehnen, jedoch in den Sanktionen kein Mittel sehen, das den Krieg aufhält. Vielmehr versuchen imperialistische Staaten wie die USA oder Deutschland mit den Sanktionen eine missliebige Konkurrenz wie Russland zu schwächen, und das auf dem Rücken der Ukraine, der russischen Arbeiter_Innen und von uns. Was wir brauchen ist internationale Klassensolidarität unter dem Slogan „No Putin, No NATO“.

Auch wenn die Positionen der Organistor_Innen zum Ukraine-Krieg weit auseinandergehen, gibt es bundesweit bereits regelmäßig Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Folgen der Inflation. Verschiedene Bündnisse wie „Genug ist genug“ oder „Brot, Heizung, Frieden“ versuchen linke Initiativen und Organisationen hinter gemeinsamen Forderungen zu vereinen. Zentral ist dabei, ob sie es schaffen werden, die Gewerkschaften und auch linke Teile der SPD und der Linkspartei für sich zu gewinnen und diese zur Mobilisierung ihrer Mitgliedschaft zu bewegen. Nur mit Massendemonstrationen und Streiks werden sich diese Forderungen auch tatsächlich durchsetzen lassen. Jedoch wäre das nicht die erste soziale Bewegung, in der SPD, Linkspartei und Gewerkschaften am Start waren, und die Bewegung jedoch vielmehr ins System integriert anstatt im Kampf gegen das System unterstützt haben. Deshalb müssen wir Aktionskomitees in unseren Schulen, Unis, Stadtteilen und Betrieben aufbauen, uns von unten organisieren und verhindern, dass die Reformist_Innen die Führung an sich reißen. Aktuell bleibt jedoch noch offen, ob der viel beschworene „Heiße Herbst“ eine rechte oder linke Richtung annehmen wird. Mit bürgerlichen Forderungen nach einem Wiedereinstieg in die Atomenergie oder einer Verschiebung des Kohleausstieges versuchen die Rechtspopulist_Innen die sozialen Verwerfungen für sich zu nutzen. Auch Forderungen nach Aufhebung der Sanktionen gegen Russland finden sich bei den Rechten. Ihnen geht es dabei jedoch nicht um internationale Klassensolidarität, sondern um’s „deutsche Volk“. Es geht ihnen darum, deutsche Kleinunternehmen, die durch die Sanktionen in Bedrängnis geraten sind, wieder zahlungsfähig zu machen. Es liegt an uns, die Rechten von unseren Demos zu schmeißen und eine klarere und entschiedenere Perspektive von links aufzuzeigen, wollen wir die Folgen der Inflation abfedern und aus dieser Defensive in die revolutionäre Offensive übergehen!




Antislawischer Rassismus: Geschichte und Perspektiven

Von Sani Meier

In aktuellen Debatten um Rassismus wird dieser häufig als Phänomen beschreiben, welches People of Color abwertet, unterdrückt und ausbeutet. Dass diese Definition in vielen Fällen zwar zutrifft, aber dennoch, vor allem in Europa, nicht ausreicht, soll dieser Artikel herleiten. Es geht im Folgenden um die Geschichte und die Merkmale des Antislawischen Rassismus in Deutschland, welcher bis heute nicht aufgearbeitet oder anerkannt wird und im Zuge des Krieges um die Ukraine erneuten Aufschwung erfährt.

Um wen geht es eigentlich?

In Europa bilden die sogenannten „slawischen Völker“ die zahlenmäßig größte Gruppe von Ethnien. Dazu zählen die ostslawischen Staaten Russland, die Ukraine und Belarus, die westslawischen Staaten Polen, Tschechien und die Slowakei und die südslawischen Staaten Bulgarien, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien und Montenegro. Zusätzlich leben bis heute große slawische Minderheiten in den ehemals zur Sowjetunion gehörigen Staaten Litauen, Lettland, Estland, Kasachstan und Moldau. In Deutschland machen Menschen aus Osteuropa die Hälfte aller Menschen mit Migrationshintergrund aus. Ihre rassistische Unterdrückung wird als antiosteuropäischer / antislawischer Rassismus oder Antislawismus bezeichnet und äußert sich durch abwertende Zuschreibungen zum geografischen Raum Osteuropas und seinen (ehemaligen) Bewohner_Innen. Damit einhergehend kommen unter anderem eine wirtschaftliche Benachteiligung, verstärkte Ausbeutung, Vertreibung, Ausgrenzung und andere Gewalterfahrungen.

Geschichte des antislawischen Rassismus:

Die Zeugnisse für die Existenz von antislawischem Rassismus in Deutschland reichen zurück bis ins Mittelalter. Da Slawen zu dieser Zeit in den Gebieten des heutigen deutschen Ostens lebten, wurden sie immer wieder Opfer germanischer Raubzüge und Kriege. Die Versklavung, Unterwerfung und Vertreibung der slawischen Stämme stellte eine Haupteinnahmequelle für die Ritter dar und ist auch heute noch in der Ähnlichkeit der Worte (Slawe/Sklave) sichtbar.

Im Deutschen Kaiserreich wird diese Tradition durch die kolonialen Interessen Deutschlands in Osteuropa wiederbelebt und der Erste Weltkrieg soll den uneingeschränkten Zugriff auf slawische Arbeitskräfte sichern. Da solch brutale und menschenverachtende Pläne immer nach einer vermeintlichen Legitimierung fordern, blühen die rassistischen, pseudo-wissenschaftlichen Diskurse im 19. Jahrhundert besonders auf und konstruieren die Slawen als eigene „Rasse“, die gegenüber den Deutschen abgewertet wird. Besonders eindrücklich wird dies durch die Etablierung des Begriffs des „slawischen Untermenschen“. Dass diese Form des Rassismus auch oft Hand in Hand mit anderen Unterdrückungsformen wie dem Antisemitismus und dem Antiziganismus (Diskriminierung von Sinti*ze und Rom*nja) geht, zeigt sich an stigmatisierenden Begriffen wie dem des „Ostjuden“.

Obwohl der Erste Weltkrieg für Deutschland scheitert, lebt der Traum vom „Deutschen Osten“ im Nationalsozialismus weiter und erreicht im Vernichtungskrieg seinen negativen Höhepunkt. Ideologisch wird der slawischen Bevölkerung durch das NS-Regime die Rolle minderwertiger Sklaven zugewiesen und deren Genozid zur Bedingung einer erfolgreichen Expansionspolitik erklärt. Die ohnehin als „Untermenschen“ betrachteten Menschen seien der nationalsozialistischen Ideologie gemäß durch den Bolschewismus zu „zurückgebliebenen Tieren“ mutiert. Der faschistische Vernichtungskrieg wurde in kolonialer Manier zur „Zivilisierungsmission“ verklärt. Die Blockade Leningrads, bei welcher über eine Millionen Menschen erfroren und verhungerten, weil die Deutschen sie für „unnötige Esser“ hielten, stellt nur eine von vielen Gräueltaten gegenüber der slawischen Bevölkerung dar. Auch in der Ukraine vernichteten die deutschen Besatzer ganze Dörfer. Nachdem die Rote Armee die Faschist_innen jedoch erfolgreich zurückschlug und zurück nach Westen drängte, wurde das Stereotyp der „feigen Halbtiere“ durch die „asiatischen wilden Horden“, die über das arme Deutschland herfallen, ausgetauscht.

Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs wird der Rassismus gegenüber Osteuropäer_Innen weder aufgearbeitet und entschädigt, noch bekämpft und bekommt in Zeiten des Kalten Krieges im Antikommunismus ein neues Gewand. Zuwander_Innen aus dem Osten Europas werden massiv abgewertet und das Stereotyp der „wilden und invasiven Horden“ bleibt bestehen: Immer noch begegnen uns die Vorurteile von angeblich „klauenden Polen“, „saufenden Russen“ oder „arbeitsscheuen Bulgaren“. Diese Formen der rassistischen Abwertung legitimierten Gesetze, die die Einreise nach Deutschland massiv erschwerten, sowie berufliche Dequalifizierungen, durch welche Osteuropäer_Innen in der deutschen Arbeitshierarchie weit nach unten gedrängt wurden. Bis heute sind sie am stärksten in Branchen wie der Lagerlogistik, der Fleischindustrie, der Landwirtschaft und als Reinigungs- oder Pflegekräfte tätig, welche am rücksichtslosesten von deutschen Kapitalist_Innen ausgebeutet werden. Hinzu kommen Diskriminierung und Ausgrenzung aufgrund von Sprache, Akzent oder kulturellen Traditionen, welche vor allem russischsprachige Menschen seit Beginn des Ukrainekrieges verstärkt zu spüren bekommen. Obwohl der russische Angriffskrieg klar zu verurteilen ist, werden nun alle Menschen, die man (oft fälschlicherweise) für Russ_Innen hält, für diesen verantwortlich gemacht. Russische Restaurants und Geschäfte werden mit Drohungen überhäuft und mitunter auch angegriffen. Menschen, die Russisch sprechen werden beleidigt. Schüler_Innen berichteten uns davon, in der Schule mit Fragen wie „Und wie sehen deine Eltern das eigentlich?“ konfrontiert zu sein und sind einem konstanten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Damit wird auch implizit die Erwartung ausgedrückt, alle Russ_Innen wären zwangsläufig Unterstützer_Innen Putins, was die Einbeziehung dieser Menschen in den Widerstand gegen den Krieg verhindert und Schüler_Innen in ihrem Alltag unnötig unter Druck setzt und zu sozialer Ausgrenzung führen kann.

Also doch Rassismus gegen Weiße?

Aber Moment mal: Das heißt also, es gibt doch Rassismus gegen weiße Menschen? Die Aussage, dass es diesen nicht geben könne, wird meistens dann getroffen, wenn Phänomene, die eindeutig keine strukturelle rassistische Unterdrückung darstellen, als solche betitelt werden. Zum Beispiel, wenn Linke sich gegen das Zelebrieren von Nationalstolz während der Fußball-WM aussprechen oder wenn in den USA im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung gefordert wird, dass weiße Menschen sich in dieser zurücknehmen sollen, um Betroffenen Raum für den Ausdruck ihrer Erfahrungen zu geben. In diesen Fällen liegt natürlich eindeutig kein Rassismus gegen Deutsche oder weiße US-Amerikaner_Innen vor- aber dennoch ist die Analyse von Rassismus, als einer Unterdrückungsform, die zwangsläufig und primär aufgrund einer dunkleren Hautfarbe oder anderen äußerlichen Merkmalen ausgeübt wird, ungenügend.

Rassismus ist ein soziales Phänomen, welches von der besitzenden Klasse eingesetzt wird, um bestimmte Arbeiter_Innen möglichst effizient ausbeuten zu können- dies kann über biologische Merkmale legitimiert werden, muss es aber nicht zwangsläufig. In Bezug auf Osteuropäer_Innen wird dies vor allem durch die Zuschreibung eines niedrigeren sozialen Status gemacht und nicht durch die Hautfarbe. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass der Kapitalismus auf dem Streben nach maximalem Profit und internationaler Konkurrenz beruht: Kapitalist_Innen sind also darauf angewiesen, möglichst kostengünstig zu produzieren, um ihre Gewinne zu steigern. Ein sehr effizienter Weg ist dabei die Einsparung von Lohnkosten, welche sich am besten rechtfertigen lässt, indem die Arbeitskraft bestimmter Menschen dequalifiziert wird. Dass diese Ungleichbehandlung als „natürlich“ angesehen werden kann, wird durch die Einteilung der Welt in Nationalstaaten und die Konkurrenz zwischen diesen erleichtert. Hierarchisierung und Ausbeutung erscheint in diesem Zuge als notwendig und legitim und verhindert zusätzlich eine effektive Solidarisierung innerhalb der weltweiten Arbeiter_Innenklasse gegen die Kapitalist_Innen. Letztendlich kann Rassismus prinzipiell jede Gruppe treffen, die im Kapitalismus zu einer anderen Gruppe in ökonomischer Konkurrenz steht. Wie flexibel und wandelbar die Darstellung bestimmter Nationen in den deutschen Medien ist, zeigt sich momentan am Beispiel der Ukraine: Während Ukrainer_Innen über Jahrzehnte hinweg den Stereotyp der billigen Reinigungskraft, Feldarbeiter_In, Bauarbeiter_In oder Sexarbeiter_In verkörpern mussten, sind sie nun innerhalb weniger Wochen zu heroischen Freiheitskämpfer_Innen der Demokratie im Osten Europas geworden. Dass dieser Wandel zeitgleich mit einem gesteigerten Interesse des deutschen Imperialismus an der ukrainischen Wirtschaft und deren geopolitischer Lage von statten geht, ist kein Zufall, sondern Taktik.

Als Revolutionär_Innen ist es unsere Aufgabe, die Rolle des Rassismus innerhalb des Kapitalismus aufzuzeigen und zu benennen: Er ist eines der Werkzeuge, welches die Kapitalist_Innen einsetzen, um möglichst effizient auszubeuten und eine gemeinsame Organisierung der Arbeiter_Innen und der Jugend zu verhindern. Doch davon dürfen wir uns nicht blenden lassen: Die Aufteilung der Welt in Nationalstaaten und die ihnen zugeschriebenen Attribute sind weder natürlich, noch notwendig und unsere Solidarität muss sich in all unseren Kämpfen über sie hinwegsetzen. Sei es im Widerstand gegen die rassistische und mörderische Politik an den europäischen Außengrenzen oder im Kampf gegen den Krieg in der Ukraine und überall sonst auf der Welt. Auch die russische Arbeiter_Innenklasse muss sich dazu gegen ihre nationalistische Führung erheben und in die weltweiten Kämpfe dagegen einbezogen werden!

  • Weder Putin, noch NATO! Für eine internationale Antikriegsbewegung der Arbeiter_Innen und Jugend!
  • Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!
  • Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter_innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Festgenommen!
  • Kein Mensch ist illegal! Staatsbürger_Innenrechte & Zugang zu Sozialleistungen für alle!
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Gegen die Überausbeutung migrantisierter Arbeiter_Innen und für die Integrierung dieser in Gewerkschaften und Streiks!
  • Für die lückenlose Aufklärung der Verbrechen des Nationalsozialismus an Osteuropäer_Innen, Sinti*ze und Rom*nja!



Kapitalismus macht krank! 5 Fragen und 5 Antworten zum Zusammenhang von psychischen Erkrankungen und Kapitalismus

von Leila Cheng

Was sind psychische Erkrankungen?

Es gibt viele verschiedene psychische Erkrankungen. Diese sind immer noch stigmatisiert und es wird öffentlich kaum darüber gesprochen, obwohl jeder zweite Mensch einmal im Leben an ihnen erkrankt. Psychische Erkrankungen sind ebenso vielfältig wie die Krankheiten des Körpers. Sie beinträchtigen Stimmungen und Gefühle, verursachen Ängste und Zwangshandlungen, verzerren die Wahrnehmung oder stören Denkvermögen und Gedächtnis.

Macht uns der Kapitalismus krank?

Wenn man nicht so funktioniert, wie es die Gesellschaft von einem erwartet, ist man halt selbst schuld und sollte das eigenverantwortlich wieder in den Griff kriegen. So ist das allgemeine Bild, das im Kapitalismus von psychischen Erkrankungen vermittelt wird. Die strukturellen Probleme des Kapitalismus selbst, die es eigentlich sind, die uns krank machen, werden dabei verschleiert. Denn unser Sein bestimmt unser Bewusstsein: Was wir täglich erleben, wie wir aufwachsen, was unser Umfeld und die Gesellschaft tun, in welcher sozialen Lage wir uns befinden, all dies prägt unser Bewusstsein, unseren Charakter, unsere Psyche.

Im Kapitalismus befinden wir uns in einem System, was auf ständiger Konkurrenz aufbaut. So bekommt nur eine_r von vielen einen Arbeitsplatz, nur die mit dem besten Notendurchschnitt können studieren. Ständig geht es darum der oder die Beste, Schnellste, Größte, Tollste zu sein. Denn in der kapitalistischen Ideologie sind nur die etwas wert, die auch etwas leisten. Das sorgt für enormen Stress, Streit, Zwietracht, Selbstzweifel, Versagensängste und Mobbing. Viele Menschen arbeiten sich durch diesen Druck ins Burnout oder bekommen vom Stress Panikattacken oder Depressionen. Wer sich nach oben strecken muss, tritt häufig nach unten. So werden laut gewerkschaftlichen Studien ca. 3 bis 5 Prozent aller Beschäftigten am Arbeitsplatz gemobbt. In Schulen ist die Zahl weitaus höher. Diskriminierungsstrukturen verstärken dies noch: Rassismus, Sexismus, Ableismus, LGBTIA-Feindlichkeit, Antisemitismus und vieles mehr sorgen für schlimme Traumata, Mobbing und daraus folgende Angststörungen. Als hätten es sexistisch unterdrückte oder migrantisierte Menschen nicht schon schwer genug. So sind gerade sie es, die oft noch unter Traumata durch sexuelle Gewalt, Krieg und Flucht leiden.

Auch Armut und Geldsorgen verursachen permanenten Stress, Angst und Leid. Auch sie sind ein Auslöser für viele psychische Erkrankungen. Gerade arme Menschen sind überdurchschnittlich oft betroffen. Gleichzeitig werden gerade Jugendliche, die sich nicht anpassen wollen, nicht brav genug sind, sich nicht den autoritären Regeln beugen, häufig mit Diagnosen von Persönlichkeitsstörungen, Entwicklungsstörungen und psychischen Erkrankungen gebrandmarkt und aussortiert.

Warum sind Jugendliche besonders von psychischen Erkrankungen betroffen?

Nach Angaben der World Health Organization sind weltweit etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychisch erkrankt. Der WHO-Chef dazu: „Eine der wichtigsten Ursachen für Depressionen sind Missbrauch, Mobbing oder Schikane im Kindesalter.“ Tatsächlich entstehen die meisten psychischen Erkrankungen bereits in der Kindheit und Jugendzeit, bzw. haben da ihre Ursache.

Das liegt zum einen an unserem Bildungssystem. Um uns auf die Anforderungen der kapitalistischen Verwertungslogik vorzubereiten und vorzusortieren, wer später welche Drecksarbeit macht, baut auch die Schule auf Konkurrenz, Disziplinierung und Leistungsdruck auf. Wir spüren dies durch das Notensystem, Tadel, Versetzungsentscheidungen, unendliche Berge an Schulstoff, Strafarbeiten und viele Prüfungsängste. Dieser große Druck führt teilweise zu erhöhten Selbstmordraten unter Jugendlichen und dazu, dass sich dieser Druck in Mobbing zwischen den Schüler_Innen entlädt. Neben dem Schulstress wirkt auch der gesellschaftlich gemachte Optimierungswahn großen Druck auf uns aus. Einem unerreichbaren Schönheitsideal hinterherrennend, spritzen sich Jugendliche Steroide oder hungern sich magersüchtig. Viele verfallen in Depressionen oder werden zu Mobbingopfern, weil sie den Bildern von angeblich perfekten Körpern nicht entsprechen. Hinzu kommen kapitalistische Statussymbole wie Markenklamotten, iPhones, Sneaker usw. Wer das nicht hat, wird oft zum Außenseiter gemacht.

Doch der Druck kommt nicht nur von Mitschüler_Innen und der Schule, sondern auch aus der Familie, die angeblich ein save space sein soll. Dabei bedeutet Familie im Kapitalismus vor allem die Herrschaft des Mannes über Frau und Kinder. Immer noch kommt es oft zu Gewalt an Kindern oder sexuellem, psychischem und körperlichem Missbrauch. Der Leistungsdruck kommt oft schon vor dem Schulbesuch aus den Elternhäusern und hört nie auf. Da wir von unseren Eltern finanziell abhängig sind, werden wir von ihnen entmündigt. Wir erfahren die ersten Jahrzehnte unseres Lebens, dass wir machtlos sind, unsere Meinung nicht zählt und wir uns unterzuordnen haben. Dabei sorgt die starke Belastung, die der Kapitalismus auf Arbeiter_Innenfamilien durch Reproduktionsarbeit, Zukunftsängste, Kündigungen, Teilzeitverträge, Überstunden, Jobcenter-Sanktionen, Kreditrückzahlungen usw. ausübt, dafür, dass die glückliche Mutter-Vater-Kind-Familie aus dem Kinderbuch in der Realität kaum existiert. Stattdessen existieren Trennungsstreits, Gewalt und Vernachlässigung und all das kann psychische Erkrankungen im frühen Kindesalter auslösen.

Warum können psychische Erkrankungen im Kapitalismus nicht effektiv geheilt werden?

Das liegt zum einen daran, dass der kapitalistische Staat, um wettbewerbsfähig zu bleiben, kontinuierlich im Gesundheitssektor Geld einspart. Zum anderen liegt es daran, dass die angebotenen Therapieformen fast nur Symptome bekämpfen und nicht die dahinterliegenden Ursachen. Denn das Ziel einer Therapie im Kapitalismus ist leider oft nicht die Gesundung, sondern die schnellstmögliche Wiedereingliederung in das System, also das Arbeiten gehen, Hausarbeit machen und Leistungen bringen. Außerdem hält sich der Irrglaube, dass psychische Erkrankungen keine „richtigen“ Erkrankungen seien. Deswegen lässt sich auch nur ein Drittel der Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland behandeln. Ein weiterer Grund dafür ist die schnelle Kategorisierung von Menschen in Krankheitsbilder, die ihnen oft auch aufgepresst werden (zum Beispiel ohne Gespräche über schriftliche Fragebögen). In unserem kaputtgesparten Gesundheitssystem wird zudem häufig zur günstigeren Medikamentenvergabe gegriffen und das Pflegepersonal hat kaum genügend Zeit, um sich angemessen um die Patient_Innen zu kümmern.

Aber das größere Problem ist nicht, dass Leute sich nicht behandeln lassen, sondern, dass es nicht genügend Angebote gibt. Es kommt nämlich zur künstlichen Verknappung von Therapieplätzen durch Krankenkassen, um Geld zu sparen. So kommt es teilweise zu Wartezeiten von 6 Monaten bis 1 Jahr auf einen ambulanten Therapieplatz, noch länger auf Klinikplätze. Wer reich ist, kann sich meist bessere und einfacher zugängliche Privattherapien leisten, während wir lange auf einen staatlich finanzierten Therapieplatz warten müssen. Außerdem kommen jede Menge versteckte Kosten einer Therapie dazu, z.B. therapiebedingter Arbeitsausfall, Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Erkrankung, Krankenhausgeld und Medikamentenzuzahlungen. Für Lohnabhängige ist das alles schwer finanzierbar.

Für Jugendliche unter 18 kommt noch die völlige Abhängigkeit von ihren Eltern als ein weiteres Problem hinzu. Sie können z.B. nicht allein mit dem_der Therapeut_In über die Medikamenteneinnahme oder den Beginn einer Therapie entscheiden. Bei unter 16-Jährigen dürfen die Eltern sogar bei der Therapie dabei sein, obwohl sie oft Teil des Problems sind.

Was können wir tun, um unsere Situation zu verbessern?

Wer einen Therapieplatz ergattert hat, kann sich glücklich schätzen. Es ist gut und wichtig, dass wir uns Hilfe holen, wenn wir selbst nicht mehr weiterwissen. Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass unsere Probleme nicht aus unserem individuellen Versagen herrühren, sondern gesellschaftliche Ursachen haben. Und um diese Ursachen langfristig zu bekämpfen, hilft nur revolutionäre Organisierung, um dieses Scheißsystem endlich in eine gerechtere und menschenwürdigere Gesellschaft zu verwandeln. Trotzdem müssen wir im Hier und Jetzt für Verbesserungen eintreten und diesen Kampf zu einem Kampf gegen den Kapitalismus ausweiten. Wir fordern:

  1. Für eine flächendeckende Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich! Weg mit Hartz IV und ein Mindesteinkommen von 1.600 Euro/Monat für Jugendliche, Arbeitslose und Rentner_Innen!
  2. Für den Ausbau von Schutzeinrichtungen für Gewaltopfer jeder Art, Herkunft und Geschlecht! Kollektive Selbstverteidigungsstrukturen für alle unterdrückten Gruppen!
  3. Für mehr Schulpsycholog_Innen und Sozialarbeiter_Innen! Aufklärung über die menschliche Psyche und eine Entstigmatisierung ihrer Erkrankungen gehört in den Schulunterricht!
  4. Keine Profite auf Kosten unserer Gesundheit! Entprivatisierung des Gesundheitssystems und Enteignung der pharmazeutischen Industrien unter Kontrolle von Patient_Innen, Jugendlichen und Arbeiter_Innen!
  5. Für die Abschaffung der privaten Krankenkassen und die Auflösung der bürokratischen Hürden bei der Therapieplatzvergabe! Kostenlose Therapieplätze und freie Wahlmöglichkeiten der Therapieform und der Therapeut_Innen!



Neues Schuljahr aber alte Probleme: Leistungsdruck, Covid und kaputte Fenster

Das neue Schuljahr hat in allen Bundesländern begonnen und egal in welchem der 16 verschiedenen Schulsysteme du zur Schule gehst: die Probleme sind überall dieselben. Herr Müller macht immer noch dieselben rassistischen „Witze“ und checkt dein Neo-Pronomen nicht, der Rollladen klemmt immer noch, sodass man das Fenster nicht öffnen kann und von Tag 1 an wird uns wieder Druck gemacht, dass schon wieder so viele Klassenarbeiten und Klausuren anstehen. Leider hat sich keins der strukturellen Probleme in der Schule in den Ferien in Luft ausgelöst. Dabei war im letzten Jahr noch überall die Rede davon, dass wir Schüler_Innen die Zukunft seien, dass keine Investition in das Bildungssystem zu teuer sein dürfe und man auf keinen Fall bei den Schulen sparen würde. Alle Parteien haben bei der Bundestagswahl beteuert, wie sehr ihnen unsere Bildung am Herzen liege. Das Hauptargument für die Öffnung der Schulen während der Pandemie war in allen Zeitungen, dass man uns Schüler_Innen nicht im Stich lassen wolle.

Sparen, sparen, sparen?

Schon ein paar Monate später sieht die Situation wieder ganz anders aus: Jetzt müssen wir sparen, denn das Vaterland muss verteidigt werden. Ohnehin steckte die Wirtschaft auch schon vor der russischen Invasion der Ukraine in einer tiefen Krise. Die Coronapandemie hat diese noch verschärft und seitdem Krieg herrscht, kann die Bundesregierung so tun, als ob die ganzen geplanten Sparmaßnahmen Solidaritätsaktionen für die Ukrainer_Innen wären. „Frieren für den Frieden“ zählt auch für die Schule – nur dass die Heizung auch schon im letzten Winter nicht funktioniert hat. Und während die Bundesregierung fucking 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr steckt, will sie bei der Bildung sparen. Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann hat vorgeschlagen, die Klassengröße einfach zu erhöhen. Mehr Schüler_Innen in einer Klasse bedeutet schließlich, dass man weniger Lehrer_Innen und Räume braucht. Leider lässt sich in überfüllten Klassen nur richtig beschissen lernen. Das grüne Außenministerium kürzt die Gelder des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) für rund 6.000 Stipendien. Für 6000 Jugendliche aus Arbeiter_Innenfamilien heißt das: Ciao Studium. In Berlin plante der Senat die veranschlagten 136 Millionen Euro für den Bau neuer Schulen und 10 Millionen Euro für zusätzliche Sozialpädagog_Innen einzusparen. Und das sind nur einige Beispiele.

Kalter Corona-Herbst

Auf uns wartet ein kalter Herbst und ein noch kälterer Winter, doch unsere Schulgebäude sind einfach krasse Bruchbuden. Fenster lassen sich nicht richtig schließen oder öffnen, gereinigt wird aufgrund von Personalmangel nur noch alle 3 Tage und die Toiletten sind dauerverstopft. Ein Raum, in dem wir in Pausen entspannt und vor allem von Lehrer_Innen ungestört abhängen können, existiert nur in unseren kühnsten Träumen. Dabei gibt es nicht einmal genug Gebäude, um uns alle unterzubringen. So müssen manche von uns weite Schulwege in Kauf nehmen, mit 32 anderen Schüler_Innen in einer Klasse sitzen oder haben jahrelang in einem Container Unterricht. Doch der Herbst wird nicht nur kalt, es rollt auch noch eine neue Coronawelle auf uns zu. Man hätte ja aus den letzten Jahren lernen können und sichere Belüftungssysteme in die Schulgebäude einbauen können. Stattdessen wurde das Förderprogramm für Luftfilteranalagen auslaufen gelassen. Also heißt es wieder: Fenster auf, Erkältung rein. Auch in diesem Jahr nehmen die Landesregierungen in Kauf, dass wir uns mit Corona anstecken, unsere Familien infizieren, wieder tagelang isoliert zuhause sitzen müssen und vielleicht auch noch Folgeschäden mit uns tragen. Einfach weil ihnen der Ausbau von sicheren Hygienemaßnahmen zu teuer ist. Dazu kommen noch Tausende von uns, die sich bereits in den letzten Monaten mit Corona infiziert haben und seit dem Long Covid zu kämpfen haben. Für diejenigen gibt es keine Hilfemaßnahmen, sondern sie haben halt Pech gehabt, wenn sie sich im Unterricht nicht konzentrieren können, einschlafen und schlechte Noten schreiben.

Leistungsdruck

Das Schuljahr ging kaum los, schon steht da wieder die Mathelehrerin und erzählt uns, wie schlecht unser Jahrgang ist und was wir alles aufholen müssen. So als ob es unsere Schuld wäre, dass wir in einer Pandemie stecken und sowieso ständig Unterricht ausfällt. Ausbaden müssen es trotzdem wir, indem wir den gleichen Unterrichtsstoff, mit der gleichen Anzahl von Klassenarbeiten in weniger Unterrichtszeit in immer volleren Klassen durchpauken müssen. Immer mehr von uns müssen das Nicht-Gelernte in privatem Nachhilfeunterricht nachholen, dabei kann sich das nur leisten, wer reiche Eltern hat. Alle Politiker_Innen haben in den Anfangsmonaten der Pandemie davon geredet, was die geschlossenen Schulen für eine starke psychische Belastung für uns Schüler_innen sei. Und ja, ihr habt Recht, es war echt scheiße. Aber wo sind die ganzen Schulpsycholog_Innen und Sozialarbeiter_Innen, die ihr uns versprochen habt? Wo das Plus an Therapieplätzen, um über unsere Depressionen und Angststörungen sprechen zu können? Anstatt uns zu helfen, wird der Leistungsdruck erhöht. Das Personal fehlt dabei nicht nur im psychologischen Bereich, sondern in der ganzen Schule. Der Lehrer_Innenmangel führt sogar weit, dass ganze Fächer einfach ausfallen und man zum Beispiel in der 9. Klasse einfach mal ein paar Monate kein Englisch hat oder die Sportstunden von 3 auf 2 eingekürzt werden. Die Willkommensklassen sind voll mit Schüler_Innen aus der Ukraine, aber es gibt nicht genügend Lehrkräfte, damit sie auch vernünftigen Unterricht bekommen. Und Inklusion gibt es auch nur auf dem Papier, denn es gibt kein Personal, um diejenigen von uns, die mehr Unterstützung beim Lernen bräuchten, aufzufangen.

Inflation betrifft uns auch.

Dass unser Bildungssystem diejenigen aus reichen Familien belohnt und Migrant_Innen- oder Arbeiter_Innenkids benachteiligt, ist kein Geheimnis. Aber warum redet niemand davon, dass dieser Unterschied noch krasser wird, wenn die Inflation unsere Eltern noch ärmer macht? Zum Beispiel sind die Preise für Schulhefte von Juni auf Juli um 13,6 Prozent gestiegen und sogar das schlechte Mensaessen ist teurer geworden. Auf die Inflation folgt meistens eine Rezession und Zehntausende verlieren ihre Jobs. Das wird auch uns in der Schule treffen und unsere Chancen auf einen nicen Schulabschluss nur noch verringern.

Yallah Klassenkampf!

Wird Zeit, dass wir was tun! Lasst uns mit unseren Mitschüler_Innen über die Probleme in unseren Schulen diskutieren und aktiv werden. Mit kleinen Protestaktionen im oder vor dem Schulgebäude können wir auf die Missstände hinweisen und Aufmerksamkeit schaffen. Lasst uns Aktionskomitees an unseren Schulen gründen, um weitere Aktionen zu planen und uns mit anderen Schulen bundesweit zu vernetzen. Die Gewerkschaft der Lehrer_Innen, die GEW, plant in den kommenden Wochen Aktionen und Streiks, von denen auch wir Schüler_Innen etwas haben: Ob für kleinere Klassen oder für mehr Lohn und damit weniger gestresste Lehrkräfte. Lasst uns mit unseren streikenden Lehrer_Innen solidarisch sein und mit ihnen gemeinsam auf die Straße gehen. Wenn man etwas durchsetzen will, sind Gewerkschaften eine praktische Sache, deshalb brauchen wir auch sowas! Und zwar eine basisdemokratisch organisierte Schüler_Innengewerkschaft, in der wir unsere Interessen gegenüber den Landesregierungen und den Lehrerinnenverbänden deutlich machen und verteidigen können. Dabei müssen wir unsere Forderungen in die Schule tragen und uns mit den bestehenden Bewegungen auf der Straße, ob gegen die Inflation, gegen den Klimawandel oder gegen Rassismus verbinden. Denn allein in der Schule werden wir die tiefgreifenden Probleme des Bildungssystems nicht lösen können.

Wir fordern:

  • Stoppt sofort alle geplanten Sparmaßnahmen im Bildungswesen! Stattdessen brauchen wir eine flächendeckende Modernisierung aller Schulgebäude sowie ihrer Heizungs-, Wasser- und Belüftungssysteme. Bezahlt werden soll das von denen, die vom Krieg und den steigenden Energiepreisen profitieren!
  • Von Schüler_Innen selbstorganisierte Freiräume, die in den Pausen für alle frei zugänglich sind, an jeder Schule!
  • Lehrmittelfreiheit! Schulbücher, Hefte, Stifte, digitale Endgeräte und auch das Schulessen müssen kostenlos für alle sein!
  • Kleinere Klassen und dafür neue Lehrer_Innen, Sozialarbeiter_Innen, pädagogische Assistenzkräfte, Sonderpädagogog_Innen, Schulpsycholog_Innen, Sozialarbeiter_Innen und auch Personal in der Verwaltung und Instandhaltung!
  • Gleiche Mitbestimmungsrechte bei den Lehrplänen, dem Prüfungskalender und beim Unterrichtsstoff durch gewählte Organe von uns Schüler_Innen!



Rest in Power, Malte. Schluss mit den Angriffen auf trans Personen!

Am 2.9. verstarb Malte nach einem queerfeindlichen Angriff auf dem CSD in Münster. Nur einen Tag später wird eine trans Frau in einer Bremer Straßenbahn brutal von einer Gruppe Jugendlicher zusammengeschlagen. Berichte über ähnliche Fälle häufen sich derzeit nicht nur in Deutschland und zeigen die Auswirkungen des momentanen Rechtsrucks in ihrer schockierendsten Form. Hintergründe zum Mord an Malte, aber auch Perspektiven für den Kampf für queere Rechte findet ihr in diesem Beitrag. Wir trauern. Und müssen uns umso mehr im Klaren sein, dass der Kampf gegen Queerfeindlichkeit nur ein gemeinsamer sein kann! Rest in power Malte.

Der Mord am trans Mann Malte beim CSD in Münster bildet einen weiteren traurigen Höhepunkt der langen Reihe queerfeindlicher Angriffe in Deutschland und weltweit. Er war angegriffen worden, weil er sich an die Seite einer Gruppe Frauen gestellt hatte, die homofeindlich beleidigt worden waren. Gerade aus radikalfeministischen Kreisen hört man daher die Argumentation, die Tat sei eigentlich überhaupt nicht transfeindlich gewesen. Dass diese Scheindebatte in erster Linie dazu dient, die Solidarisierung von LGBTIA+-Menschen untereinander zu untergraben, sollte auch klar so benannt werden. Radikalfeminist_Innen fallen schon länger durch ihre transphoben Angriffe, wie beispielsweise auf die Grünen-Abgeordnete Tessa Ganserer, auf, indem sie trans Personen ihre Identität absprechen und diese aus feministischen Kämpfen ausschließen wollen. Tatsächlich sind Homo- und Transfeindlichkeit miteinander untrennbar über das strikte binäre Geschlechterverständnis der kapitalistischen Gesellschaft verbunden, welches vorschreibt, wie ein Mann und wie eine Frau zu sein haben – in allen körperlichen, charakterlichen wie romantischen und sexuellen Aspekten. Davon profitieren die Kapitalist_Innen am Ende, weil sie Frauen die Rolle der Hausfrau und Mutter zuschreiben können, die sich dann kostenlos um Haushalt und Familie (Reproduktionsarbeit) kümmern soll, während Männer Lohnarbeit für sie verrichten. Dieses System stützt sich auf eine binäre Einteilung in Mann und Frau und bekommt mit sozialen Geschlechterrollen und Klischees einen pseudo-natürlichen Anstrich. Homosexuelle, trans Personen und alle, die nicht in diese Vorstellung passen wollen, stellen das System damit in Frage und gefährden den maximalen Profit der Kapitalist_Innen. Deshalb reagiert der Staat darauf mit Repression, wie z.B. Heiratsverboten, Kriminalisierung oder unnötiger Bürokratisierung von geschlechtsangleichenden Behandlungen. Das gemeinsame Ziel muss es also sein, diese Rollenbilder und die damit einhergehende Zwangseinteilung in die binären Geschlechter gemeinsam mit dem Kapitalismus – dessen geschlechtliche Produktionsaufteilung diese notwendig macht – abzuschaffen, statt Kämpfe zu trennen, die eigentlich gemeinsam gekämpft werden müssen.

Auch Rufe nach einer verstärkten Polizeipräsenz auf Pride-Veranstaltungen gehen in eine völlig falsche Richtung. Auch wenn der Wunsch nach mehr Sicherheit verständlich ist, hilft es niemandem, die Polizei als politisch neutrale oder gar progressive Kraft zu verklären. Dazu muss man den Blick nicht einmal auf die Historie des Christopher-Street-Days werfen- auch heute noch zeigt die Polizei uns regelmäßig, auf wessen Seite sie steht, wenn sie unsere Demonstrationen angreift oder in geleakten Chat-Verläufen ihre rechte Gesinnung offengelegt wird. Eine erhöhte Polizeipräsenz kann letztendlich nur für weniger, nicht für mehr Sicherheit sorgen.

Letztendlich gilt das alte Credo: „Wir können uns nur selbst befreien!“ Dazu gehört organisierter Selbstschutz genauso wie ein organisierter Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse, die diesen erst nötig machen. Denn Angriffe, wie der auf Malte zeigen: Wir sind noch lange nicht am Ziel!

Wir fordern:

  • Organisierte Selbstverteidigung von LGBTIAQ+-Menschen gegen jegliche queerfeindliche Übergriffe, auch gemeinsam mit anderen unterdrückten Gruppen und der Arbeiter_Innenbewegung!
  • Das Recht auf medizinische Geschlechtsangleichung an die soziale Geschlechtsidentität – kostenfrei und ohne unnötigen bürokratischen Akt!
  • Die Abschaffung der erzwungenen binären Einteilung in Mann und Frau – auch gerade in offiziellen Dokumenten!
  • Zurückdrängung aller Formen der Rollenklischees, Diskriminierung und Ausgrenzung in der Jungend und Arbeiter_Innenklasse!
  • Reproduktionsarbeit muss vergesellschaftet werden und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung beendet werden!
  • Gleiches Geld für gleiche Arbeit! Schluss mit dem Gender Pay Gap!



Interview der Leipziger Gruppe Handala

Wir spiegeln hier ein Interview, das unsere Genoss_innen von der Gruppe Handala geführt haben.

Du hast dich an der Demo „Jetzt reicht’s“ des DGB und der Linkspartei beteiligt. Was war deine
Motivation?

Das Thema der Demo betrifft mich sehr: Ich habe Angst vor der kommenden Stromrechnung und den
Heizkosten. Seit ich nach Deutschland gekommen bin, 2015 so wie viele andere Flüchtlinge aus
Syrien, habe ich versucht einen Job zu finden. Ich musste natürlich erst die Deutsch- und
Integrationskurse absolvieren, ich hatte anfangs gedacht, dass ich wie in Syrien mit Kindern arbeiten
könnte. Ich habe in Damaskus eine Ausbildung gemacht und in einem Soziokulturellen Zentrum für
Kinder in Yarmouk gearbeitet, wo ich aufgewachsen bin und lebte. Schnell habe ich dann verstanden,
dass ich hier als unqualifiziert gelte. Auf meine Bewerbung zu einer Assistenzkraft in KiTas habe ich
nicht einmal eine Antwort bekommen. Ich habe auch versucht mich bei Supermarktketten zu
bewerben, aber auch diese wollten mich nicht. Mein Deutsch ist nicht so gut und ich trage Kopftuch.
Das geht ja übrigens beinahe allen Flüchtlingen so, dass sie keine gute Arbeit finden und nicht in dem
Bereich, in dem sie früher gearbeitet haben.
Momox hat mich schließlich genommen. Es ist mein erster Monat bei Momox und ich weiß noch
nicht, was netto bei mir herauskommt. Da ich mich gerade erst an die Schichten gewöhnen muss und
an einen veränderten Schlafrhythmus, liege ich häufig wach und denke, ob der Lohn wohl für die
Heizkosten reicht? Also bin ich zur Demo gegangen mit meiner palästinensischen Gruppe, Handala.
Das klingt vielleicht etwas lustig, aber für mich war es die erste „deutsche“ Demo, also eine Demo,
die nicht von Handala zu Palästina organisiert wurde, sondern von deutschen Organisationen. Auf
der Demo hielt eine Kollegin von mir, die auch bei Momox arbeitet, eine Rede auf dem Podium.
Darüber habe ich mich sehr gefreut. Ich habe versucht zu verstehen, was sie sagt, aber leider konnte
ich mich nicht darauf konzentrieren. Ich hatte ein Schild in der Hand, das die Organisator:innen der
Demo verärgerte und es kam zu einem lauten Tumult, also habe ich die Rede verpasst.
Was ist denn genau passiert? Was war der Tumult?
Wir hatten für die Demo ein Pappschild und ein Transparent vorbereitet und ich hielt das Schild, auf
dem stand: „Gegen jede Besatzung“, daneben war eine Karte Palästinas in palästinensischen Farben
gemalt. Es kam ein Mann auf mich zu und stellte sich vor mich. Er bedeckte mit seinem eigenen
Transparent unser Schild. Ich fand das sehr irritierend und versuchte ihm zu erklären, dass dies
Palästina sei und Israel Palästina besetze. Er sagte: „Nein, das ist Israel“. So habe ich erst verstanden,
dass er einer von diesen sogenannten deutschen „Antideutschen“ ist, die ich hier erst durch die
Palästina-Demos kennen gelernt habe. Vorher wusste ich gar nichts davon, dass in Deutschland
einige vermeintliche Linke für Israel sind. Da ich bereits sehr schlechte Erfahrungen mit diesen Leuten
gemacht habe, dachte ich, dass es bestimmt keinen Sinn macht, mit ihm zu diskutieren. Das fällt mir
auf Deutsch ohnehin sehr schwer. Es kamen dann aber noch viel mehr Leute, die sehr hitzig mit
meinen Freund:innen sprachen, die schon länger in Deutschland leben. Ich habe ehrlich gesagt nicht
viel verstanden. Ich wusste nur, dass sie unsere Teilnahme nicht wollten. Da ich körperlich eher klein
bin, habe ich unser Schild einem Freund gegeben, der viel größer ist, als ich. Er ist sehr jung und
kommt aus Gaza. Er ist so neu hier in Deutschland, dass er wirklich wenig verstanden hat, was um ihn
herum gesagt wurde, aber er hielt das Schild über die Köpfe aller anderen hinweg in die Höhe. Die
Leute vom Bündnis, mit denen wir als Handala auf der Demo waren, versuchten uns zu schützen vor
diesen Antideutschen. Doch eine Frau von ihnen – von der ich später erfuhr, dass sie eine wichtige
Person in der Linkspartei ist- nahm ihm das Schild gewaltsam weg. Sie hat es einfach zerrissen. Ich
habe es nicht glauben können.
Warum reagieren Leute, die sich als Linke verstehen, so aggressiv auf Handala?
Ich verstehe überhaupt nicht, warum. Wirklich nicht. Ich verstehe es nicht.Es ging doch um die Palästina-Karte, oder?
Ja, darum ging es. Außerdem wurde uns gesagt – mir musste dies immer von den anderen
verdolmetscht werden – dass Nationalfahnen auf der Demo nicht erlaubt seien. Wir sind auch darauf
eingegangen. Wir haben die Karte in palästinensischen Farben ausgeschnitten. Als die Frau von den
Linken uns das Schild entriss, waren nur die Umrisse der Karte zu erkennen. Mir wurde von meinen
Freund:innen erklärt, dass die Frau gesagt haben soll, dass wir die Demo für unsere Sache ausnutzen
würden und dass die Karte antisemitisch sei, weil sie ganz Palästina zeige.
Ich denke, die Frau und diese Antideutschen haben unser Schild überhaupt nicht verstanden. Und ich
habe wiederum nicht verstanden, wie die Demo den Krieg in der Ukraine selbst ausgeklammert hat.
Die Energiepreise, die uns so viel Angst bereiten, sind doch eine Folge des Krieges.
Wenn wir als Palästinenser:innen sagen, dass wir gegen jede Besatzung sind, dann heißt es doch,
dass wir auch gegen die Besatzung der Ukraine sind. Auf dem anderen großen Transparent hatten wir
die Länder aufgezählt, die von NATO- Staaten besetzt und bombardiert wurden und werden;
Afghanistan, Kurdistan, Libyen, Palästina und der Irak. Eine Frau hatte sich mit einer Israel- Fahne
davorgestellt. Ich war so schockiert. Diese Leute wissen überhaupt nichts.
Was wissen sie nicht?
Naja, zum Beispiel wissen sie nicht, dass es unter uns alten Flüchtlingen und den neuen Flüchtlingen
aus der Ukraine eine Art von Konkurrenz gibt und dass viel Neid durch die unterschiedliche
Behandlung durch Deutschland geschürt wird. Erst einmal wurde der Widerstand der ukrainischen
Bevölkerung gegen die russische Besatzung als heldenhaft dargestellt. Während unser Widerstand in
Palästina gegen die israelische Besatzung als terroristisch bezeichnet wird. Dann sagen die Staaten
und auch viele Leute hier, die Israel unterstützen, dass Russland ganz schlimm sei. Überall sind hier
Ukraine- Fahnen in Solidarität gezeigt worden. Aber mir wird eine Israel- Fahne vor mein Transparent
gehalten.
Aber auch die Situation der Flüchtlinge aus der Ukraine ist sehr viel besser als unsere. Sie können
sofort arbeiten, sie müssen sich nicht auf Wartelisten für eine Wohnung setzten. Der ganze Umgang
mit ihnen ist ein anderer. Daher ist es doch besonders wichtig zu sagen, dass wir gegen jede
Besatzung sind. Ich denke, ich kann mich sehr gut in Ukrainer:innen einfühlen. Wenn ich sehe wie die
Leute in der Ukraine bombardiert werden, dann weiß ich, wie sich das anfühlt. Ich habe die lange
Belagerung und Aushungerung meines Flüchtlingslagers Yarmouk durch syrische Regierungstruppen
erlebt. Wir waren eingeschlossen, wir hatten kaum etwas zu essen, wir haben richtig gehungert und
wir wurden dabei aus der Luft mit Raketen beschossen. Der junge Mann von uns, dem die Frau von
den Linken das Schild entrissen hat, war zur gleichen Zeit, als ich in Yarmouk die Belagerung und
Bombardierung erlebte, unter dem Bombardement Israels in Gaza. Er hat insgesamt drei große
Bombardierungen erlebt: 2008/9, 2014 und 2021. Wie in Yarmouk konnten die Menschen in Gaza
auch nicht fliehen, weil sie eingeschlossen sind. Wer wenn nicht wir, versteht die Situation der
Ukrainer:innen? – Das ist es vor allem, was sie nicht wissen.
Wie geht es jetzt weiter bei Handala?
Ich denke, wir müssen weiter machen und besonders unsere Community hier vor Ort gewinnen. Das
ist sehr schwierig, denn wir werden immer angegriffen und beschimpft. Wie bei vielen anderen
Palästinenser:innen war die Nakba- Kundgebung im Mai letzten Jahres meine erste Demo- Erfahrung
in Deutschland. Einerseits war es ein sehr gutes Gefühl auf dem Augustusplatz zu stehen und gegen
die ethnische Säuberung von Sheikh Jarrah in Jerusalem und die Bombardierung des Gaza- Streifens
zu demonstrieren. Aber es war für viele wie mich auch die erste Erfahrung mit den Antideutschen
und einer Berichterstattung, die uns als antisemitisch diffamierte. In der Folge gab es in Deutschlandeine Diskussion über Abschiebungen von „antisemitischen“ Palästinenser:innen. In den
arabischsprachigen Sozialen Medien wurde davor gewarnt, sich Demonstrationen anzuschließen.
Wenn man Flüchtling ist, gar noch im Asylverfahren, aber auch danach; wenn man an die
Verlängerung des eigenen Aufenthaltes denkt, dann ist es ohnehin schwierig, keine Angst zu haben,
politisch aktiv zu werden. Es wird einem manchmal mulmig. Und wenn dann noch Menschen, die sich
als Linke verstehen, gegen uns sind und uns als Rassist:innen beschimpfen, dann wird einem noch
mulmiger. Vielen aus der Diaspora macht das besonders viel Angst.
Daher bin ich sehr, sehr froh, dass die Leute und Organisationen unseres anti- imperialistischen
Bündnisses uns geschützt und sich mit uns solidarisiert haben. Das hat mir Hoffnung gegeben. Auch,
dass mir später ein Mann geholfen hat, das unzerstörte, große Transparent während der
Demonstration zu tragen, war sehr schön. Er war auch Ausländer, aber nicht aus einem arabischen
Land, und er arbeitet auch bei Momox. So war es auch bei der Nakba- Demo selbst. Es
demonstrierten sehr viele Menschen aus vielen Ländern – z.B. aus Südamerika – mit uns mit. Das
müssen wir so an unsere Community weitergeben: Die Internationale Solidarität ist stärker als der
Hass der Antideutschen.
Was ist deine Position und die Position von Handala zur Palästina- Frage?
Die Frage klingt so theoretisch. Ich glaube, viele Leute hier in Deutschland wissen nicht, dass wir,
anders als sie selbst, nicht einfach nach Tel Aviv fliegen können, am Strand von Jaffa, unter dem sich
ein palästinensisches Massengrab befindet, liegen und unsere ehemaligen Dörfer und Städte sehen
können.
Die Position unserer Gruppe Handala ist sehr klar: Wir wollen ein Ende der Siedlerkolonie und
Apartheid. Wir wollen einen einzigen Staat für alle Menschen mit gleichen Rechten – egal welchen
Hintergrunds, ob Einheimische oder ehemalige Siedler:innen – und die Rückkehr aller
palästinensischen Flüchtlinge, wenn sie dies so wollen.
Ich möchte einfach zurückkehren können nach Palästina. Ich komme aus dem Dorf Lubya in der Nähe
des See Genezareth. Also auf der „antisemitischen“ Karte, die wir hochgehalten haben, ganz im
Norden gelegen. Es war eines der größten Dörfer in der Umgebung und hatte beinahe Zweitausend
Einwohner. Über Monate hinweg hat das Dorf Widerstand geleistet gegen die Golani Brigarde, die
den Befehl hatte, mein Dorf von seinen Einwohner:innen zu säubern, und dann Teil der israelischen
Armee wurde. Nach dem Fall Nazareths wurden dann auch meine Großeltern vertrieben. Mein Opa
hat mir sehr viel von dieser Zeit erzählt. Er ist inzwischen in Yarmouk gestorben. Und ja, ich möchte
zurückkehren, auch wenn Lubya völlig zerstört wurde. Das ist meine Position zur Palästina- Frage




Revolutionärer Bruch braucht Programm

Am 10. Oktober 2022 veröffentlichten junge Sozialist:innen, die in der Linksjugend solid aktiv sind, eine Erklärung unter dem Titel „Für einen revolutionären Bruch mit der Linkspartei und solid“. Wir begrüßen die Diskussion um den Aufbau einer revolutionär-sozialistischen Partei in Deustchland, an der wir uns aktiv beteiligen wollen. Hier spiegeln wir eine Erklärung von mehreren Genoss:innen, die sich begannen in solid zu politisieren und sich im Verlauf des letzten Jahres auch der Jugendorganisation REVOLUTION anschlossen. Sie stellen hier ihre Ansichten zu den Grundlagen einer neuen revolutionären Kraft zur Diskussion.

Verfasser:

Die Weltgesellschaft befindet sich wahrhaftig an einem Wendepunkt. Die Bewegungen der Lohnabhängigen und sozial Unterdrückten sehen sich mit einer grundlegend neuen Situation konfrontiert.

Mit dem Krieg in der Ukraine hat auch eine allgemeine Auseinandersetzung um die Neuaufteilung der Welt begonnen. Großmächte wie China, Russland, Indien, die USA, Japan, Deutschland, Frankreich und Großbritannien bereiten sich auf einen globalen militärischen Konflikt vor, der die gesamte Zivilisation zerstören könnte. Die Diskussion über die Gefahr eines Dritten Weltkrieg ist in den offiziellen Medien, in den Reden von Politiker:innen und im alltäglichen Gespräch kein Tabu mehr. Gerade für die Jugend gilt es, zu verhindern, dass ein dritter Weltkrieg je ausbrechen kann.

Die Klimakatastrophe ist heute. Verwüstung, Trockenheit und Feuer wechseln Fluten, Überschwemmungen und Stürme ab. Gleichzeitig erleben wir ein apokalyptisches Artensterben. Wir erleiden die Vermüllung unseres Planeten, und die Vergiftung unseres Trinkwassers und unserer Nahrung. Während allein in diesem Jahr weltweit eine Billion Dollar für den Militarismus ausgegeben wurden, bleibt die ökologische Transformation aus, die uns bürgerliche Politiker:innen und Konzerne immer wieder versprachen. (Das sind 1000000000000 Dollar oder eintausend Milliarden Dollar.) Wenn wir die Zukunft der jungen Generation sichern wollen, braucht es einen radikalen Systemwechsel.

Gleichzeitig brach mit der Corona-Pandemie auch eine außerordentliche Wirtschaftskrise des Kapitalismus aus. Die Lohnabhängigen, kleine Bauern, die kleinen Gewerbetreibenden, sowie die städtische und ländliche Armut werden unter dieser Krise erdrückt. Große Teile der Welt erleben eine massive Hungerkrise. Auch hier in Deutschland überschritt die Inflation zuletzt die 10% Marke, viele bangen um ihre Arbeit, ihre Wohnung, fürchten sich vor der nächsten Gasrechnung oder dem Einkauf. Mehr als 16% der Bevölkerung lassen eine Mahlzeit aus, um zu sparen. Währenddessen vermehrt sich der Reichtum der großen Kapitalist:innen. Wenn wir nicht erneut wie 2008 für die kapitalistische Krise zahlen sollen, braucht es einen entschlossenen Kampf von unten.

Diese drei Menschheitsfragen können nicht durch den Kapitalismus gelöst werden. Denn es ist der Kapitalismus, der sie hervorgerufen hat.

Wir kämpfen für eine Gesellschaft, die sich an den Bedürfnissen der gesamten Menschheit ausrichtet, auch der Generation von Morgen.

Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der demokratische Teilhabe nicht von der Wirtschaftsmacht einer Region, von einzelnen Staaten, Verbänden oder Individuen abhängig ist.

Wir kämpfen für eine Gesellschaft, die frei von Privilegien ist, von Privilegien die andere Menschen klein machen, ausgrenzen und ihre Ausbeutung ermöglichen.

Das einzige Privileg, für das wir kämpfen, ist der Menschheit eine Zukunft auf diesem Planeten zu sichern. Wir streben eine Zukunft an, in der wir gleichberechtigt unsere Lebenszeit voll ausschöpfen und genießen können. Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der die Fähigkeiten und Interessen von Kollektiven und Individuen voll zur Entfaltung kommen können. Um diese Zukunft zu sichern, müssen die Technologien zu produktiven Kräften werden, anstatt zu Mechanismen der zunehmenden Kontrolle, oder gar der Zerstörung der Welt. Wir brauchen Formen des Zusammenlebens, die sich frei machen von der Irrationalität, dem Hass und der Lüge der heutigen Zeit. Eine Gesellschaft in der stattdessen der Drang nach Wissen, Austausch und dem Verständnis unserer Existenz im Vordergrund stehen.

Diese Gesellschaft nennen wir Sozialismus.

Wir müssen aber feststellen, dass wir diesem Ziel heute sehr fern stehen.

Mit dem Beginn der Krise 2007 hoffte eine ganze Generation junger und alter Menschen von einem Ende des Kapitalismus. Im gleichen Jahr wurden die LINKE und die Linksjugend solid gegründet. Fünfzehn Jahre später ist die LINKE in einer tiefen Krise. Heute fürchten die Kapitalist:innen in Deutschland nicht die linke Erhebung. Eine weit verbreitete Sorge der damailigen zeit, als Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung davon sprachen, dass das Marx zurück sei. Stattdessen müssen Lohanbhängige heute den Aufstieg der Rechten fürchten und unter der unsozialen Politik der Regierung leiden.

Es fehlt aber nicht an den objektiven Bedingungen dieses Ziel zu erreichen. Es fehlt an einer Kraft, die für dieses Ziel entschlossen kämpft. Wir denken, die LINKE ist nicht diese Kraft. Denn die LINKE formuliert nur ein vages Ziel. Sie hat die Kampfkraft der Lohnabhängigen in den letzten fünfzehn Jahren nicht gestärkt, sondern ihre Hoffnung auf grundlegende Veränderungen, und ihre Moral durch eine Reihe von prinzipienlosen Regierungsbeteiligungen gebrochen. Aktuell streitet sie darüber, ob die deutsche Regierung nun die blödeste Europas sei oder nicht. Stattdessen sollten wir uns darauf konzentrieren, dass es eine kapitalistische Regierung ist, die unsere Interessen nicht umsetzt. Die LINKE scheitert auch praktisch, sie ist zerstritten und ist nicht das Zentrum eines linken Widerstandes gegen die Dreifachkrise.

Dies hat tiefere Gründe. Denn alle drei relevanten Flügel der LINKEN (Bewegungslinke, Wagenknecht-Flügel und Reformer) haben eine politische Schwäche, die sie teilen. Sie richten ihre Politik letztlich primär auf die graduelle Reform eines Systems aus, das nicht grundlegend reformierbar ist. Ihr Hauptvehikel bleibt dabei letztlich mehr oder weniger das Parlament und der bürgerliche Staat. Wir erkennen hingegen wirklich an, dass die heutige Welt in Klassen aufgeteilt ist. Einerseits in jene, die über Land, Ressourcen und Produktionsmittel besitzen, jene die direkt oder indirekt die Grundlagen der Politik der heutigen Staaten bestimmen. Andererseits in jene, die dies nicht tun. Ein Großteil dieser zweiten Klasse sind die Lohnabhängigen dieser Welt.

Für uns ist das nicht einfach eine Phrase, sondern kommt mit praktischen Verpflichtungen. Es heißt, dass die Welt von den Interessen einer kapitalistischen Minderheit bestimmt ist. Diese Minderheit bestimmt letztlich das Schicksal der „Wirtschaft“. Auch das vorherrschende Denken ist das Denken der Herrschenden, solange ihre Herrschaft nicht in Frage gestellt wird.

Das bedeutet, dass wir unser Ziel nur durch eine Politik verändern können, die diese herrschende Klasse herausfordert. Das ist eine Politik die wir als revolutionären Klassenkampf bezeichnen.

Die erdrückende Mehrheit in die LINKE und die linksjugend solid, und wichtiger ihr Apparat aus Funktionär:innen und Mandatsträger:innen die letztlich die Praxis dieser Partei bestimmen,

vertreten keine klassenkämpferische Politik. Sie vertreten eine Politik, die wir als Reformismus bezeichnen. Das ist eine Politik, die im besten Fall glaubt, durch graduelle Reformen den Sozialismus zu erreichen. In der Praxis ist es aber eine Politik und ein soziales System, dass die Lohnabhängigen an die Unternehmen der Kapitalist:innen und an „ihren Staat“ bindet und unterordnet.

Wir glauben, dass es einen grundlegenden Bruch mit dem politischen Programm und der organisatorischen Praxis der LINKEN und von Linksjugend solid benötigt, wenn wir unsere Zukunft sichern wollen. Denn mit dieser Politik ist ein wirklicher Systemwechsel ausgeschlossen.

Deshalb unterstützen wir von REVOLUTION den Aufruf zu einer Konferenz, in der alle kritischen Teile der linksjugend solid und der LINKEN zusammenkommen, die eine Politik wünschen, die für einen Systemwechsel eintritt und dies mit einer Politik des Klassenkampfes verbindet.

Um der heutigen, neuen Situation gerecht zu werden, muss es unser Anliegen sein, die antikapitalistischen Teile der Klimabewegung, der kämpferischen Gewerkschafter:innen, die klassenkämpferischen Teile der antirassistischen und feministischen Bewegung in einer gemeinsamen Partei zu vereinigen, um für solch einen Systemwechsel, eine sozialistische Revolution möglich zu machen.

In siebzehn Punkten möchten wir hier unsere grundlegenden Überlegungen äußern, welche Strategie und Organisationsform solche eine Partei kennzeichnen sollte und wie sie für den Sozialismus unter den aktuellen Bedingungen in Deutschland kämpfen müsste.

  1. Wir befürworten Reformen. Wir unterstützen jede Reform, die unsere unmittelbare Lebensgrundlage verteidigt oder verbessert. Das trifft auf alle gesellschaftlichen Bereiche zu, von der Erhöhung von Löhnen, der sofortigen Umsetzung von Maßnahmen zur Rettung der Umwelt und der Abschaffung von Praktiken oder Gesetzen, die rassistische, sexistische oder homophobe Unterdrückung zementieren.
  2. Wir müssen für Reformen kämpfen. Die Reichen, die Banker, Industriellen und Großgrundbesitzer, die bürgerlichen Politiker und staatliche Institutionen werden uns nichts freiwillig geben. In diesem Klassenkampf um Reformen, richten wir uns nicht an dem für die herrschende Klasse „machbaren“ aus. Wir schlagen immer den Kampf für das Leben und Überleben der Lohnabhängigen und der Menschheit „notwendige“ vor.
  3. Wir befürworten den Antritt zu Wahlen. Sozialist:innen sollten ihre Ansichten in Wahlen und im Parlament zum Ausdruck bringen. Diese Ansichten sollen aber den Kampf um Reformen und für die Revolution verbessern, und nicht zur Integration in jene bürgerlichen Regierungen und den büegrlichen Staat fordern, in dem es sich auch die LINKE bequem gemacht hat.
  4. Das strategische Ziel des Sozialismus bestimmt also unsere Taktik. Wir unterscheiden uns hier grundlegend von der reformistischen Politik der LINKEN oder der Gewerkschaftsführung. Denn diese ordnet ihre Forderungen und ihre Praxis dem unter, was die Koalitionspartner oder die Konzernchefs als „machbar“ verkaufen. Sie beteiligt sich an der Verwaltung des kapitalistischen Systems in bürgerlichen Regierungen, was wir kategorisch ablehnen. Gleichzeitig fordern wir reformistische Parteien und die Gewerkschaften immer wieder dazu auf, für konkrete Forderungen zu mobilisieren und zu kämpfen. Eine zentrale Kritik, die wir aktuell an ihnen haben, ist gerade, dass sie nicht entschlossen gegen Inflation, Krise, Krieg und Umweltzerstörung kämpfen. Wir fordern sie also jederzeit dazu auf eine gemeinsame Front für die Erkämpfung von Reformen zu schließen. Aber wir begrenzen unsere eigenen Aktivitäten, Forderungen und unser Programm im gemeinsamen Reformkampf nicht auf das, was die Führer:innen der Gewerkschaften oder der LINKEN für „machbar“ halten. Wir sagen jederzeit, was wir für „notwendig“ erachten und wir erhöhen dabei die Selbstorganisierung der kämpfenden Basis.
  5. Der Kampf um Reformen hat einen realen Zweck im Hier und Jetzt. Dieser Reformkampf ist nicht einfach ein „Trick“.Wenn wir zum Beispiel von unserem Lohn jetzt nicht leben können, dann muss der Lohn jetzt sofort steigen. Aber gleichzeitig kann der Sozialismus nicht ohne eine Revolution erreicht werden. Sozialist:innen werden dies in jedem Reformkampf betonen und den Kampf um die Reformen so führen, dass sie die Revolution vereinfachen, denkbar machen und vorbereiten.
  6. Sozialist:innen können die Revolution propagieren. Die Revolution machen kann aber nur die Klasse der Lohnabhängigen. Sie ist eine wirkliche soziale Kraft, und auch nur durch ihre Revolution gegen die Diktatur des Kapitals, kann eine Zukunft gesichert werden, in der es eine Demokratie der Lohnabhängigen anstatt einer stalinistischen Dystopie gibt.
  7. In Deutschland kann kein ernsthafter Reformkampf gewonnen, keine Revolution ohne die Gewerkschaften geschehen. Eine zentrale Aufgabe ist es daher auch die Gewerkschaften für eine Politik des entschlossenen Reformkampfes und für eine sozialistische Politik zu gewinnen. Es gibt eine riesige Klasse in Deutschland, aber sie ist von einer reformistischen Bürokratie beherrscht, oder anders gesagt von Menschen kontrolliert, die mit einem Parteibuch der SPD, der Grünen oder auch der LINKEN ausgestattet sind. Diese Bürokratie sitzt in Aussichtsräten, in staatlichen Institutionen und erhält zum Teil riesige Gehälter. Aber sie vertritt nicht unsere Interessen. Sie glaubt „die deutsche Wirtschaft“, das heißt die Profite der Kapitalist:innen wären das Maß aller Dinge. Zum Teil verhindert oder verschleppt diese Bürokratie auch die Organisierung ganz neuer Schichten der Lohnabhängigen. So verweigerte sie lange den Zutritt von Geflüchteten in die Gewerkschaften. Sie müssen wieder zu Orten der Demokratie und des Kampfes der Lohnabhängigen werden. Eine zentrale Aufgabe ist es also heute eine klassenkämpferische Basisopposition in den Gewerkschaften aufzubauen. Dies schließt auch die Auseinandersetzung mit weit verbreiteten Illusionen und Ideologie des Reformismus, sowie unterschiedlichen Formen des Chauvinismus unter einfachen Gewerkschaftsmitgliedern selbst ein.
  8. Denn die Klasse ist aktuell gespalten. Sie ist anhand nationaler Unterschiede, vermittels von imperialistischen und halb-kolonialen Kriegen, aufgrund von sexistischer, rassistischer, homophober Unterdrückung und auch anhand unterschiedlicher sozialer Stellung einzelner Schichten der Lohnabhängigen gespalten. Es ist eine zentrale Aufgabe diese Spaltung in der gemeinsamen Auseinandersetzung zu überwinden. Daher kämpfen wir auch für den Aufbau einer sozialistischen Internationale, die alle diese Auseinandersetzungen miteinander verbindet. Die gemeinsame internationale Organisierung ist das beste Mittel gegen den Chauvinismus.
  9. Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Dieser Hauptfeind ist für uns die deutsche Klasse der Kapitalist:innen und der mit ihr verbundene Staat. Das heißt für uns auch, dass wir uns nicht ihren außenpolitischen Ambitionen anschließen. Wir lehnen jede Form des Imperialismus und des Militarismus ab. Nur weil Deutschland nach innen größere demokratische Rechte gewährt als beispielsweise China oder Russland dies tun, heißt das nicht, dass deutsche Waffen, die an die Saudis und die Türkei verkauft werden, und im Jemen Krieg und in Kurdistan eingesetzt werden, demokratischer seien. Es heißt nicht, dass deutsche Bundeswehrsoldaten die Demokratie in Mali, in Afghanistan oder im Irak verteidigt haben. Das können nur die demokratisch und sozialistisch organisierten Lohnabhängigen dieser Länder selbst. Die ökonomische, diplomatische und militärische Intervention Deutschlands zerstört aber solche Prozesse immer wieder.
  10. Gleichzeitig wissen wir auch, dass es andere Großmächte wie Russland, China, die USA, Japan, Frankreich, Großbritannien oder Indien gibt. Wir stehen an der Seite keiner dieser Staaten. In der militärischen Auseinandersetzung zwischen diesen Staaten sagen wir „Dreht die Waffen um.“ Kämpft nicht gegen die Menschen des anderen Landes. Stattdessen sollten die Lohnabhängigen und die ins Militär eingezogene Jugend gegen ihre „eigenen“ Kapitalist:innen, Diktatoren oder bürgerlichen Regierungen und für eine sozialistische Revolution kämpfen.
  11. Wir tun alles uns mögliche, um den Aufbau von Gewerkschaften, sozialen und ökologischen Bewegungen sowie von sozialistischen Parteien in anderen Ländern zu unterstützen. Uns Interessieren die konkreten Kämpfe und die Debatten unserer Geschwister im Ausland. Wir beteiligen uns an einer internationalen Debatte, anstatt nationale Borniertheit zu betreiben.
  12. Dies muss sich auch durch den Aufbau einer sozialistischen Partei der Lohnabhängigen in Deutschland ausdrücken, die alle diese Aspekte hier vor Ort vereint. Jeder Kampf gegen jede Form von Unterdrückung ist unser Kampf, denn wer ist denn schwul, schwarz, weiblich oder geflüchtet, wenn nicht wir Lohnabhängigen?
  13. Eine revolutionäre Partei braucht ein revolutionäres Programm, auf dessen Basis die Mitglieder gemeinsam und verbindlich agieren. Dieses Verständnis unterscheidet sich grundlegend von dem der Linkspartei, deren Programm keine praktische Bedeutung für die tägliche Aktivität hat. Letztlich erwarten nicht einmal die Mitglieder der Partei, dass sie für ihr Programm kämpft. Wir hingegen halten es für notwendig, ein Programm zu diskutieren und zu erarbeiten, das als Anleitung zum Handeln dient, das den Kampf um soziale, ökonomische und politische Rechte mit dem Kampf für die sozialistische Revolution verbindet. Nur auf dieser Basis kann das gemeinsame, verbindliche Agieren einen demokratischen und befreienden Charakter haben.
  14. Dieser Prozess muss auf der Grundlage der vollen und freien politischen Diskussion beruhen. Gleichfalls bedarf es aber auch der gemeinsamen und verbindlichen Umsetzung von beschlossenen Aktionen.Für uns bedeutet „Partei“ also nicht einen Wahlverein zu gründen, der beständig die eigenen Versprechen in bürgerlichen Regierungen bricht, bürokratisch agiert und die Aktivität der Basis lähmt. Für uns ist die „Partei“ ein Zusammenschluss der kämpferischsten Aktiven, der Jugend, der sozialen Bewegung und der Gewerkschaften, die aus den Niederlagen und Siegen der Vergangenheit gemeinsame Schlüsse ziehen, diese in der täglichen Praxis im Kampf um Reformen überprüfen, dynamisch neue Erfahrungen machen, diese mit der breiteren Arbeiter:innenbewegung und den sozialen Bewegungen diskutieren und so im täglichen Handgemenge die Strategie der Revolution erklären und erfahrbar machen. Wir reden also von einer Form der Organisation, die einerseits das Bewusstsein, das Selbstbewusstsein und die Selbstorganisierung unserer Klasse so steigert, dass die Revolution kein abstraktes, fernes Ziel ist, sondern etwas das zunehmend durch die gemachten Erfahrungen denkbar und auch machbar wird. Die reformistischen Parteien, vor allem die LINKE charakterisieren das Gegenteil einer solchen Praxis.
  15. Wir treten für den Aufbau einer revolutionären Jugendorganisation ein, die von der Partei ernst genommen wird, aber nicht von ihr bürokratisch beherrscht wird, eine Organisation mit einem sozialistischen Programm, dass sie gemeinsam mit der Partei erarbeitet, in der Jugendliche aber selbstbestimmt ihre eigenen Erfahrungen, und ohne Angst vor Rüge auch Fehler machen können.
  16. Die Revolution machen, heißt den bürgerlichen Staat zu zerbrechen. Die kapitalistische Justiz, die Regierung, Polizei, Militär und Bürokratie werden uns die Zukunft nicht gewähren, die wir brauchen, um zu überleben. Sie müssen gebrochen und durch eine Rätedemokratie der Lohnabhängigen ersetzt werden, die ihre Revolution auch verteidigen kann.
  17. Eine der ersten ökonomischen Aufgaben nach einer Revolution wäre die Umwandlung zu einer demokratischen Wirtschaft, die nach den Interessen von Mensch und Natur plant und ein Notfallprogramm durchsetzt, um den ökologischen Kollaps zu verhindern, das 1,5 Grad Ziel und die Ernährungs- und Energiesicherheit zu gewährleisten.

Diese Überlegungen stellen unserer Meinung nach noch kein Aktionsprogramm im eigentlichen Sinn dar. In den kommenden Monaten wird es unsere gemeinsame Aufgabe sein, ein solches gemeinsam mit all jenen innerhalb und außerhalb der LINKEN zu diskutieren, die auf einen neuen Morgen hoffen. Auch heute gibt es in Deutschland Zehntausende, die sich tagtäglich für eine Welt ohne Kapitalismus einsetzen, sei es in der Klimabewegung, in antirassistischen und feministischen Kämpfen und in gewerkschaftlichen oder betrieblichen Auseinandersetzungen mit den Chefs. Aber es fehlt uns an einer gemeinsamen revolutionär-sozialistischen Kraft. Es ist Zeit, sie aufzubauen!

Wenn du oder deine Gruppe diese Ansichten teilt, könnt ihr diese ebenfalls unterzeichnen, nicht zuletzt um den Austausch unterschiedlicher aktiven zu erleichtern.

Wenn du oder deine Gruppe den Aufbau einer neuen revolutionär-sozialistischen Partei teilt, aber Punkte in dieser Erklärung diskutieren möchtet, sind wir bereit eure Antwort als Debattenbeitrag zu veröffentlichen.

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