Identität als politisches Programm? Marxismus und Identitätspolitik

Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9,
März 2021

„Wir glauben, dass die tiefgreifendste und potentiell radikalste
Politik direkt aus unserer eigenen Identität kommt.“ (Combahee
River Collective, 1977
)

Dieser Satz stellt eine Art Credo dessen dar, was heute unter
„Identitätspolitik“ verstanden wird. Ursprünglich prägten
schwarze, antirassistische und antikapitalistische Feministinnen den
Begriff. Mittlerweile werden damit Politiken von radikalen Linken,
feministischen, reformistischen und bürgerlich-liberalen Kräften
oder auch des Rechtspopulismus gefasst.

Mit der Ausweitung der Phänomene, Strömungen und
gesellschaftlichen Kräfte, die mit dem Terminus bezeichnet werden,
geht eine zunehmende Unbestimmtheit einher, die noch dadurch vermehrt
wird, dass Identitätspolitik mittlerweile zu einem Kampfbegriff
geworden ist.

Annäherung an eine erste Definition

Bevor wir diese Entwicklung kurz nachzeichnen und die Frage
diskutieren, warum mittlerweile gegensätzlichen Klassenkräften
dieses Label zugeschrieben wird, wollen wir darstellen, was diese
Politik von Beginn an auszeichnet. Aus obigem Zitat wird deutlich,
dass der Begriff der eigenen Identität als entscheidende Grundlage
einer radikalen Politik zur Befreiung oder zur Beseitigung von
Ungerechtigkeit und Benachteiligung reklamiert wird.

Identität stellt dabei das individuelle oder kollektive
Bewusstsein vor, das aus der eigenen oder gemeinsam geteilten
Erfahrung entsteht. Darauf basiere die radikalste Politik im
Interesse der jeweiligen Gruppe von ausgebeuteten, unterdrückten und
diskriminierten Menschen. „Die“ Frauen, „die“ Schwarzen,
„die“ Arbeiter_Innen teilten nicht nur gemeinsame Erfahrungen.
Sie würden damit auch über einen Zugang zur Erkenntnis der Ursachen
und der Politik zur Überwindung der Lage von Ausgebeuteten oder
Unterdrückten verfügen, der Nicht-Angehörigen dieser Gruppe
prinzipiell verwehrt ist. Dies ergibt sich logisch daraus, dass die
jeweils eigene Identität zur Quelle für die „tiefgreifendste und
potentiell radikalste Politik“ erklärt wird.

Die Erklärung des Combahee River Collective bringt das direkt zum
Ausdruck. Die Erfahrung mit dem Rassismus weißer Mittelschichtfrauen
im Feminismus der 1970er Jahre und mit männlichem Chauvinismus sowie
Sexismus in der Black Community einschließlich radikaler linker
Organisationen wie der Black Panther Party führen sie zur
Schlussfolgerung:

„Wir erkennen, dass die einzigen Menschen, die sich genug um uns
kümmern, um konsequent für unsere Befreiung zu arbeiten, wir selbst
sind. Unsere Politik entwickelt sich aus einer gesunden Liebe zu uns
selbst, unseren Schwestern und unserer Gemeinschaft, die es uns
erlaubt, unseren Kampf und unsere Arbeit fortzusetzen.“

Diese jeweils eigene Identität wird zum privilegierten Ort von
Radikalität und Erkenntnis. Nicht-Angehörige der jeweils
betroffenen Gruppe können Unterdrückung zwar nachzuempfinden und
nachzuvollziehen versuchen, aber sie können nie selbst auf die
gleiche Weise aus dieser Erfahrung als „Frau“, „Schwarze“
(oder auch als „Arbeiterin“) schöpfen.

Sobald dieses Verständnis von Erfahrung – Identität –
Politik akzeptiert wird, befinden wir uns auf dem Boden der
Identitätspolitik.

Sobald die Grundlagen der Identitätspolitik akzeptiert werden und
diese selbst zu einer bestimmenden Ideologie politischer Strömungen
wird, entfalten sich daraus auch deren innere Widersprüche. Sie
manifestieren sich gerade mit ihrem Siegeszug z. B. in weiten
Teilen der Frauenbewegung, in der „radikalen“ Linken, aber auch
durch ihre Akzeptanz im bürgerlichen Politikbetrieb. Im Folgenden
wollen wir diese Entwicklung nachzeichnen.

Entstehung

Geprägt wurde der Begriff der Identitätspolitik vom Combahee
River Collective, einer 1974 gegründeten Organisation schwarzer
Feministinnen. In ihrem Statement von 1977 arbeiten sie nicht nur
ihre Erfahrungen als unterdrückte schwarze, heterosexuelle und
lesbische Frauen auf, sondern auch die Reproduktion von Rassismus im
von weißen Mittelschichtfrauen dominierten Feminismus, die
Reproduktion von Sexismus durch die Männer der antirassistischen
Bewegung.

Im Gegensatz zu den meisten späteren Vertreter_Innen von
„Identitätspolitik“ verstand sich das Combahee River Collective
als revolutionäre Organisation. Ähnlich wie die von Claudia Jones
schon Ende der 1940er Jahre formulierte Triple Oppression Theory
(TOT) begriff es die kapitalistische Ausbeutung, Patriarchat und
Rassismus als die Gesellschaft prägenden und damit auch revolutionär
zu überwindenden Strukturen.

Für das Combahee River Collective stellte die Herausbildung einer
„radikalen“, revolutionären Identität der Unterdrückten eine
spontane Tendenz dar, sofern und sobald diese ihre gemeinsamen
Erfahrungen im Rahmen kollektiven Austauschs ihrer Probleme und
gemeinsamer Organisierung zu artikulieren beginnen. Diese Verkürzung
wird angesichts der geschichtlichen Lage der frühen 1970er Jahre
verständlich. Seit der Bürgerrechtsbewegung war die Lage der
rassistisch Unterdrückten in den USA von einem politischen Erwachen,
dem Anwachsen einer Massenbewegung und deren Radikalisierung bis hin
zur Black Panther Party geprägt. International bildeten nationale
und antikoloniale Befreiungskämpfe bis hin zum Sieg Vietnams gegen
die USA einen historischen Hintergrund, der nicht nur Anlass zu
revolutionärem Optimismus gab, sondern auch die Vorstellung nährte,
dass die Unterdrückten – und hier zuerst die am meisten
Unterdrückten – spontan zu revolutionärem Bewusstsein gelangen
würden.

Zugleich steht das Combahee River Collective ironischerweise auch
für eine Kritik an der Identitätspolitik, die die Frauenbewegung
prägte (insbesondere den radikalen Feminismus). Das Statement von
1977 weist mit scharfer Kritik auf die widersprüchliche Lage in den
Bewegungen der Unterdrückten selbst hin, darauf, dass in der von
weißen Mittelschichtfrauen dominierten feministischen Bewegung
Rassismus reproduziert wird, die antikolonialen und antirassistischen
Bewegungen vor allem von Männern (und oft von solchen aus der
Intelligenz) dominiert wurden, in der Arbeiter_Innenklasse weiße,
ältere Männer Politik und Ausrichtung bestimmten.

Das Statement stellte damit auch eine Reaktion auf die
Reproduktion sozialer Unterdrückung in der Arbeiter_Innenklasse und
unter den Unterdrückten wie auf die Blindheit linker Kräfte
gegenüber dieser Tatsache dar. Auch wenn in der bürokratisch
dominierten Arbeiter_Innenbewegung und in nationalen
Befreiungsbewegungen ähnliche Mechanismen wie in der radikalen sowie
in der bürgerlichen Frauenbewegung seit Ende der 1960er Jahre
wirken, so wurde der Begriff der Identitätspolitik lange Zeit vor
allem auf Letztere angewandt.

Ein bedeutender Unterschied zu späteren Kritiken z. B. des
Queerfeminismus besteht darin, dass diese radikale Strömung des
Feminismus oder Antirassismus die Bildung einer kollektiven Identität
bzw. einer Massenbewegung zur Beseitigung der strukturellen Ursachen
der Unterdrückung zum Ziel hatte.

Ausweitung der „Identitätspolitik“

Die Ausweitung der Identitätspolitik in der Frauenbewegung und im
Feminismus ging, wie auch in Bewegungen gegen rassistische
Unterdrückung, zugleich oft (und wohl auch entgegen den Intentionen
mancher ihrer Schöpfer_Innen) damit einher, dass die „gemeinsame
Identität“ als klassenübergreifende vorgestellt wurde. Der
radikal antikapitalistische und antiimperialistische Anspruch geht in
den 1970er und 1980er Jahren mit der Verbreitung der
Identitätspolitik rasch verloren, sofern er überhaupt je
existierte. Verstärkt wird er durch die Niederlagen der
Arbeiter_Innenklasse im Zuge der neoliberalen Offensive und der
Restauration des Kapitalismus, die gerade für die Intelligenz als
„Ende des Marxismus“ erscheint. Für die Identitätspolitik
existiert faktisch die Einheit „der Frauen“ oder „der
Schwarzen“ als klassenübergreifende gegenüber „den Männern“
oder „den Weißen“, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit.

Dies unterstellt eine gemeinsame Erfahrung „aller“ Frauen
(oder „aller“ Unterdrückten). Wir wollen hier keineswegs
bestreiten, dass es tatsächlich gemeinsame Unterdrückungserfahrungen
gibt, die die Angehörigen aller Klassen betreffen. Zugleich finden
wir aber auch erhebliche Unterschiede. Entscheidend ist jedoch, dass
auf Basis der Identitätspolitik die grundlegenden Gegensätze
zwischen Frauen aus der herrschenden Klasse und der
Arbeiter_Innenklasse ebenso wie die Sonderinteressen der Frauen aus
dem Kleinbürger_Innentum und den lohnabhängigen Mittelschichten
hintangestellt werden. Es ist auch kein Zufall, dass die
Vertreter_Innen von Identitätspolitik oft aus letzteren Klassen bzw.
Schichten stammen. Deren Lage zwischen den Hauptklassen der
kapitalistischen Gesellschaft bildet einen sozialen Nährboden für
die Ausbreitung von Ideologien, deren Gehalt in der Verwischung der
Klassengegensätze besteht.

Dabei treten die inneren Gegensätze im realen Leben und gerade
auch in Massenbewegungen mit Macht hervor. So im „Women’s March“
gegen Trump 2017. Tamika Mallory, eine linke Aktivistin und
Vertreterin von Black Lives Matter, wurde des „Antisemitismus“
beschuldigt, weil sie sich mit dem palästinensischen Widerstand
solidarisierte und an einer Veranstaltung der Nation of Islam
teilnahm. Trotz klarer Beweise dafür, dass sie gegen Antisemitismus
in der Black Community auftrat, verstummten die Anschuldigungen nicht
und es folgte schließlich eine Spaltung der Koordinierung.

In ihrer Verteidigung machte Mallory auf einen Punkt aufmerksam,
der die Doppelstandards ihre Kritiker_Innen verdeutlichte. Während
sie sich ständig für einen Auftritt bei der Nation of Islam
rechtfertigen müsse, wurde z. B. die Republikanerin Meghan
McCain nie gefragt, ob sie sich von der Politik ihrer Partei oder
frauenfeindlichen Äußerungen ihres Vaters distanziere. Im
Gegenteil: Sie wurde willkommen geheißen, weil sie als prominente
Republikanerin die Bewegung verbreiten, Mallory mit ihrem
Antizionismus und Antikolonialismus hingegen „die Frauen spalten“
würde.

Hinter dieser Konzeption wird deutlich, dass
„identitätspolitische“ Einheit, die Einheit „aller“ Frauen
unabhängig von Klassenzugehörigkeit und Unterdrückung nur ein
ideologischer Deckmantel für die Durchsetzung besonderer, in der
Regel bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Klasseninteressen
darstellt.

Dieses Beispiel verweist auch schon darauf, dass die
Identitätspolitik in den letzten Jahrzehnten eine weit über die
ursprüngliche Frauenbewegung hinausgehende Bedeutung erfahren hat
und Eingang in die bürgerliche Öffentlichkeit fand.

Eine „(neo)liberale“ Identitätspolitik, die vor allem die
besonderen Interessen der Frauen aus den Mittelschichten, dem
Kleinbürger_Innentum und z. T. auch aus der
Arbeiter_Innenaristokratie artikulierte, wurde von bürgerlichen und
reformistischen Parteien aufgegriffen, um diese Frauen oder in
analoger Weise auch andere Unterdrückte als Wähler_Innen zu
gewinnen.

Linke Feministinnen wie Nancy Fraser oder im Manifest „Feminismus
für die 99 %“ unterzogen diesen „liberalen Feminismus“
einer scharfen Kritik, der faktisch eine Allianz mit Vertreterinnen
des „aufgeklärten“ Kapitalismus auf dem Rücken der
proletarischen „weißen“ Männer, aber auch aller anderen
subalternen Schichten und Klassen geschlossen habe. Damit hätte er
Trump und dem Rechtspopulismus erleichtert, sich als Vertretung der
„arbeitenden Klasse“, der „hart arbeitenden Amerikaner_Innen“
auszugeben.

Dieser durchaus berechtigte Vorwurf greift aber zu kurz. Während
Fraser die Folgen und die politische Kapitulation eines liberalen
Feminismus entlarvt, greift sie nicht die jeder Identitätspolitik
zugrundeliegende Vorstellung an, dass die eigene Erfahrung direkt zu
fortschrittlichem, befreiendem und gesellschaftsveränderndem
Bewusstsein führen würde. Im Gegenteil, das Manifest „Feminismus
für die 99 %“ durchziehen selbst identitätspolitische
Vorstellungen, namentlich wenn die Bildung eines
gesellschaftsverändernden „revolutionären“ Subjekts selbst als
Allianz verschiedener Klassenfraktionen der Subalternen und der
Unterdrückten, also als Addition kollektiver Identitäten,
verstanden wird (eine ausführliche Kritik findet sich in Urte March,
Feminismus
für die 99 Prozent – eine Kritik
, in: Fight 8, März 2020).

Veränderung der Klassenbasis

Die Erweiterung des Begriffs gegenüber den 1970er Jahren
reflektiert eine Veränderung der Klassenbasis von Identitätspolitik.
Ursprünglich stellte sie eine kleinbürgerliche Ideologie dar, die
aus Bewegungen von Unterdrückten hervorging und eine, aus der
gemeinsamen Erfahrung gewonnene Einheit im Kampf begründen sollte –
auch in Abgrenzung zu anderen Unterdrückten oder Ausgebeuteten, die
eine vergleichsweise privilegierte Stellung in der Gesellschaft
innehatten.

Die frühen, identitätspolitisch geprägten Gruppierungen,
Bündnisse und Bewegungen gingen oft mit einer ideologischen Tendenz
zur „Essentialisierung“ des Unterdrückungsverhältnisses einher.
Diese drängt sich geradezu auf, wenn die Identität der
Unterdrückten direkt der gemeinsamen Erfahrung entspringen soll.
Diese scheint dann nicht in einem historisch konstituierten
gesellschaftlichen Verhältnis zu stehen, sondern als „Eigenschaft“
einer bestimmten Gruppe von Menschen, die im Extremfall biologisch,
natürlich oder durch gemeinsame Kultur, Lage usw. spontan produziert
wird.

Daher können Frauen z. B. als das „friedliche“
Geschlecht erscheinen, das von Haus aus „verständigungsorientierter“
sei. Die Tendenz zur Naturalisierung liegt der Identitätspolitik
zugrunde, weil ihr die Identität (bzw. das bürgerliche Individuum)
selbst als etwas „Natürliches“ erscheint, als Grundkonstante,
als ein vorgefundenes Wesen des/der Unterdrückten.

Dies trifft auch auf radikalere Teile der Frauenbewegung zu, die
ihre Politik oft genug mit einer „Essentialisierung“ der
gemeinsamen Erfahrung begründen. So lassen sich auch die heftigen
Konflikte jener Teile des Feminismus, die ein essentialistisches
Verständnis des natürlichen Geschlechts und der
Geschlechteridentität („Frauen sind Frauen“) vertreten, mit
Trans-Aktivist_Innen verstehen. Auf der Basis von Identitätspolitik
sind diese Gegensätze letztlich nicht auflösbar.

Solange der/die TrägerIn der Identität nicht als Ensemble
gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern als vereinzeltes
bürgerliches Individuum oder als Gruppe von Individuen verstanden
wird, die gemeinsame Eigenschaften und Erfahrungen teilen, erscheint
Identität als ein unhinterfragbares Absolutes. Wer nichts besitzt,
besitzt immerhin, so scheint es, seine eigene Identität.

Natürlich wohnt der Suche nach ihr und dem Austausch gemeinsamer
Erfahrungen auch ein wichtiges emanzipatorisches Moment inne, ohne
das es keine fortschrittliche oder revolutionäre politische Bewegung
geben kann. Aber zugleich müssen die Grenzen dieser Suche verstanden
werden.

Wird die Identität als Ort privilegierter Erfahrung und Wahrheit
gesetzt, so ergibt sich für jede darauf begründete Politik eine
Tendenz zur Verabsolutierung der jeweils individuellen oder
Gruppenerfahrung „der“ Frauen, „der“ Schwarzen, aber auch
„der“ Fabrikarbeiter_Innen usw. usf.

Wird die eigene oder kollektive Erfahrung zum entscheidenden
Kriterium für Wahrheit und Richtigkeit von Politik, so lässt sich
über diesen Wahrheitsanspruch und die daraus abgeleitete Politik
letztlich nicht vernünftig streiten. Verschiedene Ansprüche stehen
einander mit gleichem Recht auf Authentizität entgegen. Jedes
Infragestellen des unbedingten Anspruchs auf die Richtigkeit der
eigenen Erfahrung und Wahrnehmung erscheint notwendigerweise als eine
Relativierung der sich erhebenden Identität der/des Betroffenen.

Die Verabsolutierung der eigenen Erfahrung tritt uns in
verschiedenen Formen entgegen, z. B. im Konzept von
Definitionsmacht, dem zufolge allein die Beschuldigung von
Täter_Innen durch Opfer physischer oder verbaler Übergriffe auf
Unterdrückte definiert, ob eine solche Tat auch vorlag – im Grunde
ein Rückfall hinter das bürgerliche Recht, weil Beschuldigten oder
Täter_Innen jedes Recht auf Verteidigung genommen wird. Die
rechtliche oder gesamtgesellschaftliche Problematik ist offenkundig.
Sie zeigt sich außerdem auch schlagend, sobald verschiedene
Unterdrückte auf ihre jeweilige Definitionsmacht absolut pochen,
wenn also z. B. ein rassistisch unterdrückter Mann einer weißen
Frau Rassismus vorwirft, diese wiederum dem Mann Sexismus.

Noch weitaus problematischer wird es, wenn die eigene
Unterdrückungserfahrung zum entscheidenden Wahrheitskriterium für
die Richtigkeit von Politik gemacht wird. Über die Politik einer
nationalen Befreiungsbewegung könnten demzufolge Menschen aus den
Metropolen, die keine Angehörigen der unterdrückten Nation sind,
nicht „von außen“ urteilen. Dies käme einer typisch westlichen,
kolonialistischen Arroganz gleich. Lassen wir einmal beiseite, dass
auch die Solidarisierung mit einer Befreiungsbewegung (oder erst
recht mit einer bestimmten politischen Strömung) ein Urteil „von
außen“ impliziert, so läuft diese identitätspolitische
Vorstellung regelmäßig auf eine Immunisierung vor Kritik hinaus.
Und diese begünstigt unwillkürlich die dominierenden bürgerlichen
Klassenkräfte innerhalb dieser Bewegungen.

In extremer Form schlägt die Identitätspolitik in einen
Relativismus um, der den Kampf gegen reaktionäre Ideologien und
Organisationen unter den Unterdrückten ablehnt oder deren
repressiven Charakter verharmlost. Vom Standpunkt revolutionärer
Klassenpolitik aus bedeutet eine Akzeptanz der Identitätspolitik in
der Frauenbewegung eine Anpassung an kleinbürgerliche und
bürgerliche, zumeist feministische Ideologien, bei nationalen
Befreiungsbewegungen an verschiedene Spielarten des Nationalismus.
Kurzum, der mit der Identitätspolitik einhergehende Relativismus
führt unwillkürlich zur politischen Unterordnung des Proletariats
unter kleinbürgerliche, bürgerliche, im Extremfall sogar direkt
reaktionäre Klassenkräfte.

Linke Lösungsversuche

Diese Problemstellungen greifen linke Verteidiger_Innen der
Identitätspolitik wie Lea Susemichel/Jens Kastner in ihrem Buch
„Identitätspolitiken“ auf und versuchen, eine „relativierte“
Identitätspolitik zu begründen, die diesen Fehler vermeiden soll.

Einerseits nehmen sie eine Erweiterung des Begriffs vor, indem sie
faktisch jede Massenpolitik, jede Bewegung als eine Form von
Identitätspolitik interpretieren, weil diese immer auf ein
kollektives Wir verweisen müsse, auf eine gemeinsame Lage, Erfahrung
und Gegner_Innen, um eine gemeinsame politische oder
gesellschaftliche Kraft zu konstituieren.

So erscheint für Susemichel/Kastner die Arbeiter_Innenbewegung
als eine neue, organisierte Massenbewegung, als erste, globale Form
der Identitätspolitik. Neben dieser fortschrittlichen Urform
(Identifikation mit der Klasse statt mit der Nation) steht für sie
am anderen Pol eine rechte Identitätspolitik wie z. B. der
Populismus eines Trump.

Wenn alles Identitätspolitik ist, diese also als Bedingung des
Politischen erscheint, wird der Begriff freilich inflationär und
nichtssagend. Wohl müssen wir uns fragen, warum so diese
verschiedenen politische Bewegungen und Ideologien überhaupt als
„Identitätspolitik“ erscheinen können. Der Grund dafür liegt
nicht einfach darin, dass Bewegungen auch auf gemeinsame Erfahrungen
rekurrieren sowie auf ein gemeinsames Wir oder eine/n gemeinsamen
(Klassen-)GegnerIn.

Der Punkt für die Überlappung von rechter und linker
Identitätspolitik liegt vielmehr im Versuch, die Politik einer
Bewegung, ihr Programm, ihre Forderungen usw. aus dieser scheinbar
unmittelbar vorgefundenen Identität herzuleiten. Er rekurriert dabei
auf eine wirkliche oder angebliche gemeinsame Erfahrung aller Frauen,
Weißen, Unterdrückten, die zu einer „natürlichen“
Gemeinsamkeit verklärt wird.

Auch wenn alle diese Bewegungen Momente von Identitätspolitik
enthalten, so wirft die Charakterisierung politischer Strömungen
unter diesem Label eigentlich mehr Probleme auf, als sie löst. Wenn
Bewegungen und politische Kräfte, die sich auf unterschiedliche
Klassen (oder Teile von Klassen) stützen, zusammengeworfen werden,
wird der Begriff entweder nichtssagend oder er verwischt die
eigentlich grundlegenden Unterschiede zwischen diesen Bewegungen, vor
allem ihren Bezug auf die verschiedenen Klassen der Gesellschaft.

Die Frage müsste also vielmehr lauten, warum Nationalismus,
Populismus, Feminismus, Ökonomismus so leicht mit
identitätspolitischen Vorstellungen verknüpft werden können. Der
Grund liegt darin, dass diese Ideologien allesamt mit dem Rekurs auf
eine angebliche gemeinsame Identität oder Erfahrung die
Arbeiter_Innenklasse sowie gesellschaftlich Unterdrückte
bürgerlichen Kräften unterordnen. Dies verdeutlicht einmal mehr den
grundsätzlich reaktionären Charakter der Identitätspolitik.

Vorläufer und historische Bezugspunkte linker
Identitätspolitik

Die Vertreter_Innen einer „linken“ Identitätspolitik
versuchen, die Probleme, die mit deren „Essentialisierung“
einhergehen, durch die Begründung einer nicht-essentialistischen
Identitätspolitik zu lösen. Ihre Bemühungen knüpfen dabei an
historische Vorbilder wie Simone de Beauvoir oder an Frantz Fanon an,
die wir im Folgenden untersuchen werden, um zu verdeutlichen, dass
auch diese Spielart der Identitätspolitik ihren inneren Problemen
nicht entkommen kann.

De Beauvoir

In ihrem Werk „Das andere Geschlecht“ kommt de Beauvoir das
Verdient zu, radikal „das Frausein“ in Frage zu stellen. „Man
kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“, fasst sie zusammen.
Damit verweist sie – ähnlich wie die marxistisch-materialistische
Erklärung der Frauenunterdrückung – darauf, dass
Geschlechterrollen, das „Frausein“, weibliche Sexualität (bzw.
deren Verleugnung) keine „natürlichen“, angeborenen
Eigenschaften „der Frau“, sondern gesellschaftliche Phänomene
darstellen.

Auch wenn de Beauvoir nicht die Erste war, die auf die
gesellschaftliche Konstitution der Geschlechterrollen und Identitäten
hingewiesen hat, so liegt die Bedeutung ihres Buchs darin, diese
markant und für Millionen Frauen hervorgehoben zu haben.

Aber aufgrund ihrer philosophischen Grundlage, des
Existenzialismus, kann sie das Wesen „des Menschen“ nur
individualistisch und abstrakt fassen. Für sie geht (wie für Sartre
und andere) die Existenz „des Menschen“ seinem gesellschaftlichen
Wesen voraus; d. h. das Individuum wird ontologisch als Mensch
verstanden, der in die Welt geworfen, zum Individuum gemacht wird,
indem er gezwungen ist, sich zu entscheiden. Der Mensch ist, wofür,
wozu er sich entscheidet. Bei de Beauvoir ist dies eng mit dem
Streben nach Freiheit verbunden.

Damit greift sie zwar ein reales Moment menschlichen und
insbesondere politischen Handelns auf, das notwendig
Entscheidungssituationen hervorbringt. Aber sie abstrahiert von der
historischen Bestimmtheit dieses Entscheidens und des Strebens nach
Freiheit. „Entscheidung“ und „Freiheit“ werden nicht mehr als
historisch konstituierte und wandelbare Größe begriffen, sondern
als Grundeigenschaften „des Menschen“.

In de Beauvoirs Arbeiten werden zwar immer wieder die Grenzen
dieser abstrakten Bestimmungen des für sich existierenden
Individuums deutlich. Aber ihr philosophischer Ausgangspunkt lässt
in sie gesellschaftliche und historische Faktoren nur im Nachhinein
einfließen. Diese relativieren zwar die grundlegenden Fehler des
Existenzialismus, aber ohne dessen eigentliche Grundlagen zu
überwinden, nämlich „Freiheit“ oder „Entscheidung“ nicht
als historische, sich entwickelnde Phänomene zu begreifen, die mit
der Entwicklung der Gesellschaftsformationen und der Produktivkräfte
selbst erst entstehen und einem Veränderungsprozess unterzogen sind.

Diese Probleme tauchen in jeder „nicht-essentialistischen“
Identitätspolitik auf wie auch im Queer- und Differenzfeminismus. Um
den Fallstricken des „Essentialismus“ zu entgehen, nehmen
Letztere zum subjektiven Idealismus Zuflucht. Frau, Geschlecht,
Identität erscheinen als rein diskursive Konstruktionen, in denen
„die Frau“ oder „das Geschlecht“ „gemacht“ wird. Der
Preis für diese „Lösung“ besteht freilich darin, dass jede
kollektive Identität per se suspekt und tendenziell repressiv wird.
Differenz- oder Queerfeminismus führen daher politisch logisch zu
einer rein idealistischen, individualistischen Politik – Identität
selbst ist eine Konstruktion. Oder anders formuliert: Auf Grundlage
einer Dekonstruktion eines scheinbar natürlichen Wesens kann nur
eine rein individuell, negativ bestimmte Identität von Unterdrückten
hergeleitet werden. Befreiung wird damit ihrer kollektiven Aspekte
entkleidet und wesentlich auf Selbstbestimmung, Selbstermächtigung
des Individuums und auf Verschiebung von Diskursen, also
Sprachpolitik konzentriert. Der Queer- und Differenzfeminismus mit
seinem Fokus auf das Individuum stellt dabei nicht nur eine
reaktionäre, idealistische Konzeption dar. Diese Ideologie
entspricht zugleich der Klassenlage der Mehrzahl ihrer
Vertreter_Innen unter den lohnabhängigen Mittelschichten (v. a.
den akademisch ausgebildeten).

Grenzen

Die „nicht-essentielle“ Identitätspolitik hingegen will nicht
nur dem Problem des „Essentialismus“, sondern auch des
bürgerlichen Individualismus entgehen. Sie greift daher – wie der
„Essentialismus“ – auf eine gemeinsame Erfahrung als Grundlage
für gemeinsame Politik zurück. Dessen Fehler und Tendenzen zur
Verabsolutierung sollen aber durch Reflexion auf ihre möglichen,
andere Unterdrückte „ausschließenden“ Momente der eigenen
Identität vermieden werden. Dazu wurde eine ganze Reihe von
Techniken entwickelt, darunter der Intersektionalismus, eine Art
Reparaturbetrieb auf Grundlage der Identitätspolitik.

Das Problem, das bei der Begründung einer
„nicht-essentialistischen“ Identitätspolitik immer wieder
auftaucht, hängt mit Folgendem zusammen. Um die Identität einer
Massenbewegung zu begründen, reicht eine rein abstrakte, bloß
negative oder rein diskursive Bestimmung der Identität nicht aus.
Eine kollektive Identität muss also an der Wirklichkeit ansetzen.
Dazu soll die gemeinsame Erfahrung herhalten. Doch die Erfahrung
selbst stellt sich in der bürgerlichen Gesellschaft als
widersprüchliche dar. Auch jene der Unterdrückung (oder erst recht
des „Ausgebeutet-Seins“) bringt die realen gesellschaftlichen
Verhältnisse keineswegs unmittelbar zum Ausdruck, sondern auf eine
ideologisierte, die realen Verhältnisse teilweise sogar auf den Kopf
stellende oder verschleiernde Weise.

Wenn bei Bildung einer kollektiven Identität unmittelbar aus der
eigenen Erfahrung ein sich befreiendes Subjekt abgeleitet werden
soll, entsteht unwillkürlich die Tendenz, dass auf gesellschaftlich
vorherrschende Formen des Bewusstseins der Unterdrückten
zurückgegriffen wird. Dass z. B. auch der Masse der Frauen die
Familie als „natürliche“ und wünschenswerte Form des
Zusammenlebens erscheint, entspringt den gesellschaftlichen
Verhältnissen im Kapitalismus selbst (ganz so wie den
Warenbesitzer_Innen die Warenproduktion als natürlich erscheint).

Wir wollen das an einem Beispiel verdeutlichen. Im Kapitalismus
wird der größte Teil der Reproduktionsarbeit von Frauen geleistet.
Diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung führt dazu, dass sie
nicht nur dementsprechende Fähigkeiten und darauf aufbauende
Bewusstseinsformen stärker ausbilden als Männer. Weil diese
Arbeitsteilung über Generationen, ja in unterschiedlicher Form die
gesamte Geschichte der Klassengesellschaften prägt, erscheint es so,
dass Frauen nicht nur „von Natur“ aus besser für Reproduktions-
und Sorgearbeiten geeignet wären, sondern auch mit dieser verbundene
Haltungen gegenüber anderen Menschen „natürlich“ einnähmen.
Sie wären sorgender, mitfühlender, kooperativer, friedfertiger,
kompromissbereiter … Ein auf Identitätspolitik basierender
Feminismus greift zwar durchaus die in der bürgerlichen Gesellschaft
vorherrschenden Rollenzuschreibungen und Ungleichheiten der
Geschlechter an, er übernimmt aber auch bestimmte scheinbar
natürliche Charaktereigenschaften „der“ Frau. Statt diese als
Resultate einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu begreifen,
werden diese auch in der Identitätspolitik als natürliche
Eigenschaften der Frau reklamiert, allerdings positiv konnotiert. So
sollten Frauen mehr bestimmen, weil sie das an sich friedfertigere,
solidarischere, sorgendere Geschlecht seien.

Die „nicht-essentialistische“ Identitätspolitik begreift zwar
dieses Problem. Sie erkennt, dass die identitätspolitischen
Bewegungen gesellschaftlich Unterdrückter an einen toten Punkt
angelangten, wenn verschieden Unterdrückte (z. B. „die
Frauen“, „die rassistisch Unterdrückten, „die Jugend“) ihre
Unterdrückung gegenüber anderen jeweils absolut setzten. Aber die
Begrenzung gegenüber der Absolutheit durch Vermittlung zwischen den
Bewegungen und Reflexion der eigenen „blinden Flecken“ greift in
Wirklichkeit zu kurz.

Ihr gerät nämlich der ideologische, widersprüchliche, verkehrte
Charakter der „spontanen“ Identität der Unterdrückten selbst
aus dem Blick. Um die Grenzen der Identitätspolitik zu sprengen und
zugleich eine Massenbewegung (z. B. von proletarischen Frauen
oder von rassistisch Unterdrückten) aufzubauen, reicht es nicht aus,
die ausgrenzenden Tendenzen „spontaner“ identitätspolitischer
Bewegungen einzuhegen. Es muss vielmehr die Vorstellung
problematisiert werden, dass die eigene Erfahrung von Unterdrückung
spontan zur richtigen Erkenntnis der Ursachen und Wege zur
Überwindung der Unterdrückung führen könnte.

Frantz Fanon

Dies wollen wir auch an einem zweiten Vorbild der
„nicht-essentialistischen Identitätspolitik“ verdeutlichen:
Franz Fanon. In seiner Schrift „Die Verdammten dieser Erde“ übt
er immer wieder scharfe Kritik an der Anpassung der schwarzen
Intelligenz an koloniale Herrschaft und bürgerlich-demokratische
Ideologien, aber auch an einen schwarzen Nationalismus, der die
traditionellen afrikanischen Gesellschaften romantisiert und deren
Vergangenheit neu beleben möchte. Fanon selbst charakterisiert dies
als reaktionäre und folkloristische Sentimentalität, als Ablenkung
vom Kampf um Befreiung.

In diesem Sinn ist Fanon „anti-essentialistisch“. Aber um eine
Massenbewegung im antikolonialen Befreiungskampf zu begründen,
greift er nicht zum Marxismus und zu Trotzkis Theorie der permanenten
Revolution, die allein den Kampf um demokratische Rechte und die
sozialistische Revolution theoretisch und programmatisch zu verbinden
vermag. Er steht vielmehr in der Tradition des sowjetrussischen
Stalinismus und Maoismus und der von ihnen geprägten Etappentheorie,
der zufolge die Revolution in den Halbkolonien zuerst zur nationalen
Befreiung führen muss, bevor die sozialistischen Aufgaben angegangen
werden können.

Er verleiht ihr freilich noch eigene Elemente. Erstens gilt Fanon
die städtische Arbeiter_Innenklasse in den Kolonien als eine
gekaufte, eng mit dem Kolonialismus verbundene Klasse, und sie
scheidet somit als revolutionäre Kraft aus, ja mag wie große Teile
der städtischen Bevölkerung als rückschrittlich erscheinen. Kein
Wunder also, dass er die revolutionäre Kraft eher auf dem Land als
in den Zentren sucht und der von dort aus organisierte
Befreiungskampf favorisiert wird.

Zweitens trennt er scharf zwischen der „nationalen Kultur“,
wie sie vorgefunden wird, von der „Nation“, wie sie im
Befreiungskampf erst begründet wird, am Entstehen ist. Wie ein
Phönix aus der Asche erhebt sich ein nationales Bewusstsein, das für
ihn auch die höchste Form revolutionären Bewusstseins darstellt.

„Die internationalen Ereignisse, der um sich greifende
Zusammenbruch der Kolonialreiche, die Widersprüche innerhalb des
kolonialistischen Systems unterhalten und verstärken die
Kampfbereitschaft, lassen ein nationales Bewusstsein entstehen und
geben ihm Kraft.“ (Fanon, Die Verdammten dieser Erde, suhrkamp,
Frankfurt/Main 1981, S. 202)

Und weiter: „Wenn die Kultur eine Äußerung des
Nationalbewusstseins ist, so zögere ich für unseren Fall nicht zu
sagen, dass das Nationalbewusstsein die am meisten entwickelte Form
der Kultur ist.“ (Ebenda, S. 208)

Er versucht, einen „revolutionären Nationalismus“ zu
begründen, der ihm zufolge qualitativ anders als der Nationalismus
alter Prägung sei, insofern er eine „internationale Dimension“
besitze. Anders als der Marxismus, der auch den Nationalismus der
unterdrückten Nationen als bürgerliche Ideologie betrachtet und
kritisiert und daher den Kampf um nationale Befreiung scharf von
allen Zugeständnissen an den Nationalismus abgrenzt, imaginiert
Fanon einen „internationalen“ Befreiungsnationalismus. Für
diesen will er in der Realität Anknüpfungspunkte finden, ihn aus
den „positiven“ Traditionen des nationalen Kampfes ziehen. Im
konkreten Fall des Befreiungskampfs in Algerien waren dies die linke,
bürgerlich-nationalistische Befreiungsfront FLN und die entstehende
panafrikanische Bewegung.

Die Verallgemeinerung einer aus unmittelbaren Erfahrungen
gewonnenen „Identität“, selbst wenn sie sich von Beginn an von
problematischen hergebrachten Formen abgrenzt, führt also auch bei
Fanon dazu, dass er auf eine reale, vorgefundene, von der
Gesellschaft geprägte Identität zurückgreifen muss.

Für die Bildung eines kollektiven Subjekts reicht auch beim
„Befreiungsnationalismus“ eine rein negative Bestimmung letztlich
nicht aus. Es muss an etwas, das „spontan“ in den
Auseinandersetzungen, Erfahrungen auftritt, angeknüpft werden, das
dann die gemeinsame Identität bildet. Diese kann entweder
„essentialistisch“ im biologischen Wesen, der Natur des Menschen
gefunden oder muss scheinbar spontan auftretenden, in Wirklichkeit
jedoch gesellschaftlich vermittelten objektiven Bewusstseinsformen
entnommen werden. Im Fall Fanons ist Letzteres der kämpfende
Nationalismus. Letztlich entrinnt diese „nicht-essentialistische“
Identitätspolitik den Problemen ihres Konterparts nicht, sondern
ideologisiert vielmehr das Klasseninteresse der bürgerlichen
Führungen der Befreiungsbewegungen der 1960er Jahre.

Ökonomismus

Neben Autor_Innen wie de Beauvoir oder Fanon präsentieren einige
Verteidiger_Innen einer linken Identitätspolitik auch die
Arbeiter_Innenbewegung als eine solche. „Denn auch all jene
praktischen wie theoretischen Versuche, unter den Lohnabhängigen
(und über diese hinaus) Klassenbewusstsein zu formieren, sind Formen
von Identitätspolitik: Schließlich ging es nicht zuletzt darum,
dass die einzelnen Individuen sich kollektiv über die Arbeit und
über ihre Klassenposition identifizieren.“ (Susemichel/Kastner,
Identitätspolitiken, UNRAST-Verlag, Münster, 2018, S. 13)

Das Problem mit dieser Auffassung besteht aber gerade darin, dass
das „spontane“, im Rahmen des Lohnabhängigkeitsverhältnisses
und der Identifikation mit der Arbeit hervorgebrachte Bewusstsein
längst noch kein Klassenbewusstsein darstellt – jedenfalls nicht
für Marx, Lenin und andere Autor_Innen der
revolutionär-marxistischen Arbeiter_Innenbewegung. Im Gegenteil:
Marx verweist im „Kapital“ auf die Problematik des spontanen
Arbeiter_Innenbewusstseins. So zeigt er beispielsweise im Kapitel
über den Arbeitslohn, dass die Lohnform notwendigerweise bei den
Kapitalist_Innen wie bei den Arbeiter_Innen ein verkehrtes
Bewusstsein über das Klassen- und Ausbeutungsverhältnis
hervorbringt.

In der kapitalistischen Produktionsweise muss der Wert der Ware
Arbeitskraft notwendigerweise die Form des Arbeitslohns annehmen. Es
erscheint, als würde der/die KapitalistIn nicht die Arbeitskraft
kaufen, sondern die gesamte, vom/von der Lohnabhängigen für ihn
verrichtete Arbeit bezahlen. Daher verschwinden mit der Lohnform auch
Mehrarbeit und -wert und damit die eigentliche kapitalistische
Ausbeutung im Bewusstsein von Kapitalist_Innen und
Lohnarbeiter_Innen. Wie Marx zeigt, stellt dieses Verschwinden des
grundlegenden Ausbeutungsverhältnisses im Bewusstsein
antagonistischer Klassen ein notwendiges Resultat der
kapitalistischen Produktionsweise selbst dar, eine Verkehrung, die
mit der Wertform der Waren untrennbar verbunden ist. Es handelt sich
bei der Lohnform also um eine objektive Gedankenform, eine
Mystifikation wesentlicher Verhältnisse. Die unmittelbare Erfahrung
der Arbeiter_Innenklasse und der nur-gewerkschaftliche Kampf zwischen
Lohnarbeit und Kapital bewegen sich innerhalb dieser Gedankenform, ja
bestärken diese sogar bis zu einem gewissen Grad. Im
Alltagsbewusstsein der Arbeitenden drückt sich das z. B. darin
aus, dass nur schlecht bezahlte, prekäre Arbeit als „Ausbeutung“
zu einem Hungerlohn erscheint, während ein Lohn, der die
Reproduktionskosten deckt oder sogar etwas höher als diese bezahlt
wird, als „gerecht“ wahrgenommen wird.

Auch der rein ökonomische Klassenkampf verbleibt, wie Lenin an
Marx anknüpfend in „Was tun“ deutlich macht, noch auf der Ebene
des Aushandelns der Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft. Diese
Auseinandersetzung kann zwar eine Schärfe erreichen, die
Lohnabhängige empfänglich für revolutionäre Agitation und
Propaganda macht, z. B. wenn bestimmte Kämpfe wie Streiks, die
vom Staat unterdrückt werden, Fragen aufwerfen, die über den
Bewusstseinshorizont der gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen
hinausgehen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das politische
Klassenbewusstsein nicht spontan in diesen Auseinandersetzungen
entsteht. Es kann vielmehr, wie es Lenin ausdrückt, „dem Arbeiter
nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich
außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der
Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern.“ (Lenin, Was tun?,
LW 5, S. 436)

Wenn die Arbeiter_Innenbewegung als identitätspolitische, also
auf der spontanen, naturwüchsig entstehenden Identifikation mit der
Arbeit, dem Arbeiter_Innensein und der Lohnbewegung beruhende
begriffen, ja fixiert wird, so wird hier nur der Fehler des
Ökonomismus wiederholt, den gewerkschaftlichen Konflikt und dessen
reformpolitische, gesetzgebende Verlängerung im Ringen gegen
„soziale Ungleichheit“ zum eigentlichen Arbeiter_Innenkampf zu
verklären.

Das Problem besteht aber gerade darin, dass dieses spontane
Arbeiter_Innen- kein revolutionäres Klassenbewusstsein bilden kann,
sondern eine Form bürgerlichen Bewusstseins darstellt. Dasselbe
trifft auch auf eine solcherart geprägte „Arbeiter_Innenidentität“
zu. Wenn wir beispielsweise die Kultur und Identität betrachten, wie
sie z. B. der Austromarxismus, der „Sozialstaat“, aber auch
die vom Stalinismus beherrschten Staaten hervorbrachten, so waren
diese wesentlich Formen verbürgerlichter „Arbeiter_Innenkultur“
und dementsprechender Identitäten. Diese gingen zwar mit der
Anerkennung der Lohnarbeiter_Innen als gesellschaftlicher Kraft
einher. Zugleich jedoch wurden mit dieser nicht nur Identifikation
mit „der Arbeit“ und ein gewisser Stolz vermittelt, sondern auch
ein in den gesellschaftlichen Zusammenhang eingegliedertes
„Arbeiter_Innensein“, das dann nicht auf die Aufhebung der
Arbeiter_Innenklasse (oder gar den revolutionären Sturz des
Kapitalismus oder der Herrschaft einer Staatsbürokratie) abzielte.
Im Gegenteil, Sozialdemokratie, Gewerkschaftsbürokratie und
Stalinismus drängten und drängen danach, eine bestimmte
„Arbeiter_Innenkultur“ zu verewigen. Diese geht notwendigerweise
mit einer Anpassung an die bürgerliche Kultur, eine Übernahme von
reaktionären Elementen einher, so z. B. einer Idealisierung der
bürgerlichen Familie, von reaktionären Geschlechterrollen, aber
auch der jeweiligen nationalen Kultur. Wie die Identitätspolitik
fassen auch Reformismus und Ökonomismus die
„Arbeiter_Innenidentität“ als etwas Gegebenes, Statisches.

Für den revolutionären Marxismus hingegen ist revolutionäres,
das eigentliche proletarische Klassenbewusstsein grundlegend
verschieden von demjenigen, das an der Oberfläche der Gesellschaft
entsteht. Das spontane Bewusstsein ist ein bürgerliches. Dem
Marxismus geht es darum, die Arbeiter_Innenbewegung in eine Richtung
zu lenken, die Verhältnisse erkämpfen kann, in denen nicht nur
diese Bewusstseinsformen aufgehoben werden können, sondern vor allem
die Bedingungen, die sie notwendig hervorbringen.

In der Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“
formuliert Marx die Forderung, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in
denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein
verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, S. 385).

Die revolutionäre Kraft der Arbeiter_Innenklasse besteht nicht
darin, die Identität, die der aktuelle Zustand hervorbringt, einfach
positiv bejahend aufzunehmen, sondern sich vielmehr als ein im Werden
begriffenes Subjekt zu verstehen. Dies erfordert aber, dass die
Arbeiter_Innenklasse (wie auch sozial Unterdrückte) nicht bloß als
bestehende Gruppe von Menschen mit ähnlichen Erfahrungen (oder auch
einem/r gemeinsame GegnerIn) begriffen werden darf, sondern auch von
ihrem Ziel, von ihrer Bestimmung als revolutionärer Kraft verstanden
werden muss. Das Wesen der Arbeiter_Innenklasse, das sie überhaupt
erst zu einer revolutionären Klasse macht, besteht also nicht darin,
wie sie ist, sondern wie sie werden kann und muss, um sich selbst und
die gesamte Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien.

Die Identitätspolitik hingegen vertritt einen statischen, aus dem
Hier und Jetzt, sei es nun „essentialistisch“ oder
„nicht-essentialistisch gewonnenen Begriff von Identität. Da sie
Identität als etwas Gegebenes, Statisches oder Konstruiertes
auffasst, verstrickt sie sich in die Dialektik des Wesens und kann zu
keiner Aufhebung vorgefundener Identitäten kommen. Hier erweist sich
das philosophische Verharren auf dem Empirismus, Pragmatismus,
Existenzialismus, Postmodernismus oder auch einem mechanischen
Materialismus als fatal.

Gegenüber diesen letztlich antidialektischen Theorien besteht der
Fortschritt in der Hegel’schen Bestimmung des Wesensbegriffs gerade
darin, dass es selbst als etwas erst im Entstehen Begriffenes,
Nicht-Fertiges aufgefasst ist, das gerade und trotz dieser
Unbestimmtheit und Offenheit der Entwicklung im Zusammenhang des
Ganzen zentral für die Gesamtbewegung ist. Wie es in der
Phänomenologie heißt: „Das Ganze aber ist nur das durch seine
Entwicklung sich vollendende Wesen.“ Und weiter: Es ist „wesentlich
Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in
Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches,
Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“ (Hegel, Phänomenologie des
Geistes, Werke, Bd. 3, S. 24)

Das Subjekt der Befreiung liegt daher in diesem Sinn nicht fertig
vor. Seine Wirklichkeit und Erfahrungen sind vielmehr notwendig
widersprüchlich und erst in Bildung begriffen. Die
dekonstruktivistische Kritik am „Essentialismus“ beraubt das
Subjekt gerade um das, was Voraussetzung seines Werdens als
Geschichtssubjekt ist – seine Kollektivität, seinen
Massencharakter –, während letztlich jede Form von
Identitätspolitik verkennt, dass sich das Subjekt überhaupt erst
herausbilden muss.

Genau diesen Punkt greift der Marxismus auf, wenn er von der
Entwicklung der Klasse an sich zu einer für sich spricht. Als eine
Klasse für sich bildet sich die Arbeiter_Innenklasse jedoch nur als
revolutionäre, wenn sie sich als Geschichtssubjekt der Umwälzung
und Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung konstituiert, also
die Bedingungen schafft für das Abstreifen aller reaktionären,
rückschrittlichen Seins- und Bewusstseinselemente sowie ihrer
Aufhebung als Klasse, ihr Aufgehen in einer vom Joch der
Klassenherrschaft befreiten Menschheit. Das Ziel der revolutionären
Bewegung der Arbeiter_Innenschaft besteht schließlich nicht in der
nachrevolutionären Verewigung als nun herrschende Klasse, sondern in
der Überwindung der Klassenspaltung selbst und dem Schaffen einer
klassenlosen Gesellschaft, in der erst die Menschen endgültig das
Erbe ihrer Erniedrigung, Versklavung, Vereinseitigung abgeschafft
haben werden.

Wurzeln der Identitätspolitik unter
Unterdrückten

Abschließend wollen wir noch einige wesentliche
Schlussfolgerungen unserer Betrachtung und Kritik zusammenfassen:

Erstens muss eine marxistische Kritik der linken Identitätspolitik
verstehen, warum diese ideologisch so prägend werden konnte. Dies
liegt zu einem guten Teil auch an den traditionell vorherrschenden
Strömungen und Ideologien in der Arbeiter_Innenklasse. Stalinismus,
Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie negieren letztlich die
subjektiven Erfahrungen der Lohnabhängigen als handelnde Subjekte.
Daher machen viele Unterdrückte, darunter auch sozial unterdrückte
Teile der Arbeiter_Innenklasse mit den verkrusteten,
verbürokratisierten und reformistischen Führungen die Erfahrung,
dass ihre Unterdrückung, ihre verstärkte Ausbeutung auch von der
Arbeiter_Innenbewegung nicht ernst genommen wird. Sie werden – oft
nicht viel anders als in der bürgerlichen Gesellschaft – auf einen
„späteren“ Zeitpunkt vertröstet, weil jetzt angeblich
Wichtigeres auf der Tagesordnung stünde. Sie werden
paternalistisch-wohlwollend behandelt, als Objekt, um das man sich
schon kümmern würde. Ihre Subjektivität, zumal eine aktive,
rebellische, gilt als suspekt. Die Tatsache, dass die
Arbeiter_Innenbürokratie auch alle anderen Teile der Klasse passiv
und unter Kontrolle hält, kann darüber nicht hinwegtrösten.

Im Gegenteil: Die Arbeiter_Innenbürokratie stützt sich in der
Regel auf die relativ privilegierten Lohnabhängigen in den
imperialistischen Ländern, auf die Arbeiter_Innenaristokratie, die
ihrerseits oft männlich, weiß, heterosexuell geprägt ist.
Natürlich sind auch deren Bewusstseinsformen oft von reaktionären
Ideologien – Chauvinismus, Sexismus, teilweise sogar Rassismus –
geprägt. Die vorherrschende Politik der Gewerkschaften und
reformistischen Parteien, sich auf rein ökonomische Kämpfe bzw.
Wahlkämpfe und Sozialreform zu beschränken, bedeutet, dass der
gesellschaftlich vorherrschende Bewusstseinszustand der Klasse nicht
nur in Kauf genommen wird. Oft stützen sich gewerkschaftliche
Apparate und reformistische Parteien direkt auf diese Formen. Im
schlimmsten Fall verhalten sie sich gegenüber Kämpfen der
Unterdrückten passiv oder vertreten Formen von Chauvinismus,
Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie, wie sie
auch im bürgerlichen Mainstream vorherrschen.

Daher erfordert eine politische Auseinandersetzung mit
Identitätspolitik in fortschrittlichen Bewegungen einen
unversöhnlichen Kampf gegen alle Formen repressiver,
unterdrückerischer Politik in der Arbeiter_Innenbewegung selbst. Nur
so werden die besten Kämpfer_Innen von den inneren Grenzen und der
Notwendigkeit des Bruchs mit der Identitätspolitik überzeugt werden
können. Nur so werden sie überzeugt werden können, dass die
marxistische Kritik am bürgerlichen Charakter dieser Ideologie
nichts mit einer passiven Haltung zu ihrer Unterdrückung und ihren
persönlichen und kollektiven Erfahrungen zu tun hat.

Im Gegenteil, Revolutionär_Innen müssen dafür kämpfen, dass
diese gehört werden, diese Kraft Eingang in den Kampf findet. Eine
Erscheinungsform jeder sozialen Unterdrückung wie auch der
kapitalistischen Ausbeutung besteht schließlich tatsächlich darin,
dass ihre Erfahrungen (und noch vielmehr spontane Formen von
Rebellion, Aufbegehren und Widerstand) in dieser Gesellschaft
marginalisiert werden.

Der Marxismus erkennt an, dass Subjektwerdung der Klasse auch eine
viel breitere, umfassende Artikulation der Erfahrungen mit Ausbeutung
und Unterdrückung beinhaltet. Die Arbeiter_Innenkorrespondenzen in
den Zeitungen der Zweiten und Dritten Internationale verdeutlichten
auch, wie wichtig diese für die Formierung einer kämpfenden
Bewegung und den kollektiven Austausch waren. Die Betonung dieser
Erfahrung in der Identitätspolitik inkludiert somit ein richtiges
Moment, das die Arbeiter_Innenbewegung insgesamt – und zwar nicht
nur hinsichtlich der Erfahrung von Lohnabhängigen, sondern aller
Unterdrückten forcieren muss.

Zweitens muss die Arbeiter_Innenbewegung alle fortschrittlichen
Kämpfe von gesellschaftlich Unterdrückten, sei es gegen die
Unternehmer_Innen, den Staat oder die Rechten, sei es gegen
imperialistische Ausbeutung und Besatzung, ohne Wenn und Aber
unterstützen. Dass die Identitätspolitik bei vielen
Auseinandersetzungen und Bewegungen eine bedeutende, wenn nicht sogar
vorherrschende Ideologie spielen mag, ändert daran nichts. Es geht
schließlich nicht darum, eine falsche politische Konzeption zu
unterstützen, sondern die legitime Gegenwehr. Wenn die
Arbeiter_Innenbewegung und vor allem deren revolutionärer Flügel
wirklich zeigen will, dass sie jedes Aufbegehren gegen Unterdrückung
als integralen Bestandteil des Klassenkampfes um eine andere,
sozialistische Gesellschaft begreift, so muss sie dies z. B. den
Aktivist_Innen der Frauenbewegung, in antirassistischen Kämpfen,
Geflüchteten, sexuell Unterdrückten auch praktisch zeigen.

Kritik der Identitätspolitik

Diese praktische Politik muss aber einhergehen mit eine
unversöhnlichen Kritik der Identitätspolitik selbst. Diese geht
letztlich von einem bürgerlichen Verständnis der Subjektbildung
aus. Im Grunde betrachtet sie das Individuum oder Identität und
damit Bewusstsein nicht als gesellschaftliches, geschichtliches,
veränderbares Produkt.

Entweder tut sie das in der kruden Form, dass aus der eigenen
Erfahrung/Empfindung unmittelbar auf die Richtigkeit der
gesellschaftlichen Einschätzung Rückschluss gezogen wird (Teile des
Feminismus, Antikolonialismus, Ökonomismus) oder diese Politik wird
komplexer gedacht und begründet. So wird anerkannt, dass auch das
Bewusstsein der Unterdrückten „entstellt“, vom
Unterdrückungsverhältnis geprägt sein kann. Aber statt den
widersprüchlichen Charakter der persönlichen und kollektiven
Erfahrung selbst zu begreifen, wird auf eine eigentliche, aber
dahinter liegende, weniger unmittelbare Erfahrung rekurriert, die
gewissermaßen nur freigelegt werden müsse, oder es wird eine
gewisse Relativierung wie im Intersektionalismus vorgenommen, wenn
verschiedene Erfahrungen gegeneinander abgewogen werden.

Auch wenn die eigene bzw. kollektive Erfahrung für den Kampf
gegen Ausbeutung oder Unterdrückung einen unerlässlichen
Ausgangspunkt für Handeln, Rebellion, Infragestellung scheinbarer
Selbstverständlichkeiten darstellt, so kann aus ihr selbst heraus
sicher nie die Richtigkeit einer Analyse, eines Verständnisses des
Gesamtzusammenhangs hergeleitet werden.

Im Gegenteil, im Kapitalismus kann, ja wird bei den Unterdrückten
notwendig und spontan ein falsches Verständnis reproduziert werden.
Das tut z. B. der bürgerliche Feminismus, indem er die
Frauenunterdrückung auf eine Gleichheitsfrage reduziert; das tut der
Nationalismus von Befreiungsbewegungen, denn der Nationalismus ist
auch dann noch eine bürgerliche Ideologie; das tut der Ökonomismus,
indem er Arbeiter_Innenpolitik als Verlängerung des
nur-gewerkschaftlichen Klassenkampfes betrachtet.

Für den Marxismus stellt der Mensch hingegen ein „Ensemble
gesellschaftlicher Verhältnisse“ dar. D. h. die
Individualität, auch die Identität der Einzelnen z. B. ist
selbst ein historisches Produkt.

Damit ist nicht nur gemeint, dass wir in eine bestimmte Welt mit
bestimmten Möglichkeiten hineingeboren worden sind. Bestimmte
Klassengesellschaften bringen auch verschiedene Klassenindividuen
hervor und je nach Typus spezifische objektive Gedanken- und
Bewusstseinsformen, damit auch bestimmte Formen der Identität.

Aber die Identität stellt sich im Kapitalismus spezifisch dar.
Und zwar selbst in doppelter Weise als bürgerliches 
(WarenbesitzerIn) und Klassenindividuum (Klasse an sich).

Das Bewusstsein, bestimmte Bewusstseinsformen der Individuen sind
schon in der Form davon geprägt, dass die gesellschaftlichen
Verhältnisse in ihnen verschleiert werden, verkehrt erscheinen oder
überhaupt ihr Wesen verschwindet – und zwar mit Notwendigkeit. So
z. B. in der Lohnform – und das hat auch Auswirkungen auf die
Frage der Hausarbeit, privaten Arbeit, damit auch des Verhältnisses
zwischen den Geschlechtern.

D. h. die Identität der Ausgebeuteten und Unterdrückten ist
nicht einfach nur in dem Sinne „geformt“, dass sie z. B.
herrschaftskonforme Stereotypen nachvollziehen (z. B. Gehorsam,
moralische Werte, Geschlechternormen), sondern auch in dem, dass ihre
spontanen moralischen Ziele (Gleichheit, Gerechtigkeit, …) selbst
ideologische Formen darstellen und eine dem System selbst
entsprechende, wenn auch widersprüchliche Identität gebildet wird.
Diese enthält bewusste und unbewusste Komponenten und auch in sich
widersprüchliche Momente – nicht zuletzt weil auch die
Gesellschaft, deren subjektive Reflexion sie darstellt,
widersprüchlich ist.

Eine nicht gesellschaftsbezogene Betrachtung führt das dazu, dass
die Ungleichheit von Mann und Frau in der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung als Effekt biologischer „natürlicher“
Unterschiede erscheint oder als Auswirkung eines Diskurses, Narrativs
betrachtet wird.

Dieser Biologismus sitzt ebenso wie Identitätspolitik und
Queerfeminismus gesellschaftlichen Oberflächenphänomen auf. Er
nimmt die Identität (oder im Fall des Letzteren den Diskurs), also
eine bewusstseinsmäßige Widerspiegelung der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung zum Ausgangspunkt, nicht die materiellen, alltäglichen
Grundlagen der Gesellschaft: die herrschenden
Produktionsverhältnisse.

Wenn aber die gesellschaftlichen Verhältnisse (Ausbeutung,
Unterdrückung) nur vermittelt, ideologisiert im Bewusstsein und in
Rollen„zuweisungen“ erscheinen können, so kann auch nicht aus
der eigenen Erfahrung unmittelbar auf die Wurzeln oder die
gesellschaftliche Bedeutung der eigenen Unterdrückung/Ausbeutung
geschlossen werden.

Das Verhältnis von kapitalistischer Ausbeutung zu
Frauenunterdrückung lässt sich aus der unmittelbaren Erfahrung
nicht ableiten. So stellt das Kapitalverhältnis (und damit die
Ausbeutung der Lohnarbeit) das grundlegende gesellschaftliche dar.
Das bedeutet jedoch keineswegs immer, dass die Lebenslage der
Arbeiter_Innenklasse am schlechtesten wäre. In etlichen Ländern
oder ganzen Perioden kann die der Kleinbauern/-bäuerinnen und
Landlosen deutlich schlechter sein. Nichtsdestotrotz vermögen diese
keine konsequent revolutionäre Kraft zu konstituieren aufgrund ihrer
gesellschaftlichen Lage als, wenn auch in Auflösung begriffener,
Teile des Kleinbürger_Innentums.

Auch der Unterschied zwischen Ausbeutungs- und
Unterdrückungsverhältnis lässt sich nicht aus der Erfahrung
erkennen und verstehen, lässt sich nicht aus der Identität der
Ausgebeuteten oder Unterdrückten herleiten, weil die Identität
selbst objektiv gesellschaftlich geprägt ist, also „funktionale“
unterm Kapitalismus spezifische objektive Bewusstseinsformen,
Fetischformen (nicht nur im Sinn von falschen Zuschreibungen)
hervorbringt.

Identitätspolitik geht nicht vom Menschen als „Ensemble
gesellschaftlicher Verhältnisse“ aus, sondern vom Individuum. Die
gesellschaftlichen Verhältnisse werden nicht als konstitutiv
eingeführt, sondern bei der Analyse erst nachträglich (z. B.
in Form von Kritik an Privilegien, diskursiven Zuschreibungen usw.)
hinzugefügt und auch dann in der Regel auf der Ebene von
Verteilungsverhältnissen, nicht des ihnen zugrundeliegenden
kapitalistischen Produktionsverhältnisses und eines Verständnisses
der Totalität der bürgerlichen Gesellschaftsformation.

Damit werden zwar reale Erscheinungsformen zur Kenntnis genommen
und betont, aber auf einer falschen methodischen Grundlage, in der
z. B. Klassenverhältnisse nur als ein weiteres Attribut von
Diskriminierung und (autoritärer) Herrschaft erscheinen, nicht als
grundlegendes Ausbeutungsverhältnis.

Daher kann ein Programm auf Basis der Identitätspolitik
bestenfalls eklektisch sein, nicht revolutionär.

Daher muss der Marxismus Identitätspolitik grundsätzlich und in
jeder Form ablehnen, insbesondere  auch die Vorstellung,
Klassenpolitik als eine Form der Identitätspolitik zu begreifen. Das
würde bedeuten, Marxismus auf Ökonomismus zu reduzieren.

Die Ablehnung der Identitätspolitik bedeutet dabei nicht, die
Wichtigkeit eigener Erfahrung und der Bedeutung kollektiver Identität
abzulehnen. Im Gegenteil: Deren Betonung stellt ein wichtiges Element
revolutionärer Politik dar. Aber diese kann nicht spontan zu
revolutionärer Politik führen. Revolutionäres Klassenbewusstsein
erfordert vielmehr eine Verbindung kollektiver Erfahrung mit dem
Marxismus. Dies wiederum bedeutet den Aufbau einer revolutionären
Partei und Internationale, eines internationalen Kampfverbandes der
entschlossensten und bewusstesten Teile der Arbeiter_Innenklasse und
aller Unterdrückten auf der Basis eines Programms, dem eine
wissenschaftlich fundierte Verallgemeinerung geschichtlicher
Erfahrung zugrunde liegt.




Check your privileges – aber reicht das aus?

Leonie Schmidt, Revolution Deutschland, Fight! Revolutionäre
Frauenzeitung Nr. 9

„Check your privileges“/ „Check mal deine Privilegien“:
ein Satz, den du bestimmt schon mal irgendwo gehört hast. Gerade im
Zuge der BLM- und Antira-Proteste der letzten Jahre kam er vermehrt
auf und fordert Menschen, die nicht oder weniger unterdrückt werden,
dazu auf, sich ihrer Stellung in der Gesellschaft bewusst zu werden.
Dafür gibt es extra Checklisten im Internet oder in Büchern. Zu den
Unterdrückungsformen, die hier erforscht und verglichen werden,
gehören bspw. Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Ableismus
(bezeichnet die Beurteilung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten
und ist behindertenfeindlich) und auch Klassismus (Abwertung aufgrund
der Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse, insbesondere Vorurteilen
gegenüber Armen, aber ungleich dem Klassenwiderspruch). Viele der
Fragen auf den Checklisten beziehen sich auf strukturelle Probleme,
die die Unterdrückten alltäglich erleben. Manche beziehen sich
natürlich auch auf die Jobsuche und andere wichtige Bereiche wie zum
Beispiel das Familienleben.

Erstmals entwickelt wurde der Begriff des „male privilege“
(männliches Privileg) von Feminist_Innen in den 1970er Jahren, wo
besonders die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Vordergrund
stand. Später wurde die Untersuchung aber auch intersektionaler,
denn die Feministin Peggy McIntosh begann auch das „white
privilege“ mit zu untersuchen. So beschrieb sie diese Privilegien
als etwas, was bspw. Männer nicht direkt erkennen, da sie ihre
gesellschaftliche Stellung als etwas Persönliches und Individuelles
wahrnehmen. Aufgrund ihres eigenen Schicksals erkennen sie gar nicht,
dass sie gewisse Privilegien gegenüber anderen Personen genießen
oder aber aufgrund des bereits lange andauernden patriarchalen
Systems daran gewöhnt sind, weswegen die Vorteile und Rechte als
normal angesehen werden. Des Weiteren war ihr auch wichtig, dass
nicht alle Männer aktiv und bewusst zur Unterdrückung beitragen,
aber alle davon profitieren würden.

Das klingt ja eigentlich ganz plausibel, oder?

Sie mögen ein hilfreiches Werkzeug darstellen, um sich des
Ausmaßes von Unterdrückung bewusst zu werden, jedoch zählen diese
Checklisten lediglich Symptome auf und helfen uns nicht wirklich, die
strukturellen Unterdrückungsmechanismen zu verstehen, und vor allem
nicht, wie wir sie letztlich bekämpfen können, denn dazu gibt es
keine klaren Aussagen in der „Privilege Theory“
(Privilegientheorie). Wenngleich gerade in Bezug auf „male
privilege“ von einem patriarchalen System ausgegangen wird, so wird
dieses doch nicht näher in einen Kontext gesetzt und schon gar nicht
in den, dass es mit dem Kapitalismus und der Klassengesellschaft
zusammenhängt.

Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die „Privilege Theory“
wurde ähnlich wie die heute vorherrschenden Formen der
Identitätspolitik im Rahmen des Postmarxismus groß und verbreitete
sich, nachdem der Marxismus als gescheitert erklärt wurde.
Dementsprechend ist sie auch nicht darauf ausgelegt, Unterdrückung
im gesellschaftlich-strukturellen Sinne zu erläutern, sondern
fokussiert sich stattdessen lieber auf die individuelle Person. Und
wenngleich tatsächlich Personen, die kaum oder gar nicht unterdrückt
werden, bevorzugt werden in unserer Gesellschaft, müssen wir uns
doch fragen, wer am Ende WIRKLICH profitiert.

Und das ist in der Klassengesellschaft nun mal die herrschende
Klasse, im Kapitalismus die Bourgeoisie. Einerseits profitieren sie
von der Spaltung der Gesellschaft, insbesondere der
Arbeiter_Innenklasse, welche durch Unterdrückungsmechanismen
verstärkt wird und mit dafür sorgt, dass die Unterdrückten nicht
ihre gemeinsame Unterdrückung durch die Ausbeutung der Arbeitskraft
erkennen. Andererseits dient die Unterdrückung besonders von Frauen
und Queerpersonen der weiteren Aufrechterhaltung des Idealbilds der
bürgerlichen Familie. Diese ist im Kapitalismus unter anderem dafür
da, dass die Ware Arbeitskraft (also die Arbeiter_Innen) so günstig
wie möglich (re)produziert werden. Das mag abstrakt klingen, aber in
diesen Bereich fallen vor allem Erziehung, Haus- und Carearbeit,
welche im klassischen Rollenbild den Frauen aufgetragen werden. Das
lohnt sich für die Kapitalist_Innen insofern, dass sie so wenig wie
möglich dafür bezahlen müssen, also einen höheren Profit
erwirtschaften können.

Es ist zwar dem Kapital an sich egal, welches Geschlecht die
Hausarbeit letztendlich übernimmt. Aber im Kapitalismus wird das
nach wie vor den Frauen aufgetragen, nachdem eine schon vorgefundene
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung fortgeschrieben wird. Faktisch
kümmern sich auch heutzutage mehr Frauen um die Hausarbeit. So
verrichten im EU-Durchschnitt 79 % der Frauen täglich
Hausarbeit, aber nur 34 % der Männer. In vielen halbkolonialen
Ländern fällt das noch deutlicher aus – allerdings im Gegensatz
zum klassischen Bild der bürgerlichen Familie meist zusätzlich zu
der klassischen Lohnarbeit, so entsteht eine doppelte Ausbeutung.
Außerdem existiert weiterhin der Gender Pay Gap
(geschlechtsspezifischer Lohnunterschied; Frauen verdienen im
Durchschnitt 20 % weniger als Männer). Dadurch, dass Männer
mehr Lohn erhalten, manifestiert sich auch ihre Macht und das
passiert auch in der Arbeiter_Innenklasse. Dadurch helfen die
Privilegien auch die Klassengesellschaft zu stützen, denn viele
wollen sie nicht einfach aufgeben.

Bewusstsein und Kampf

Aber letztlich ist das nicht nur eine Frage des individuellen
Bewusstseins. Was z. B. den Gender Pay Gap betrifft, so lässt
sich das auf individueller Ebene auch nicht so leicht
bewerkstelligen. Würde sich z. B. eine proletarische Familie
dafür entscheiden, dass die Frau mit geringerem Stundenlohn Vollzeit
arbeitet und der Mann mit höherem teilzeitbeschäftigt ist, so
müssten sie und ihre Kinder unter den bestehenden Verhältnissen
signifikante Einkommenseinbußen hinnehmen. Gerade für ärmere
ArbeiterInnenfamilien ist das unmöglich, da sie ohnedies schon an
der Untergrenze der Reproduktionskosten leben. Um diese Unterdrückung
und doppelte Ausbeutung aufzuheben, brauchen wir also kollektive
Lösungen, die erkämpft werden müssen wie gleiche Löhne für
gleiche Arbeit und  die Vergesellschaftung der Hausarbeit, so
dass sie aus dem privaten Rahmen geholt und gesellschaftlich
organisiert wird. Solange die Hausarbeit noch nicht vergesellschaftet
ist, treten wir auch für die gleichmäßige Verteilung der
Hausarbeit auf alle Geschlechter im privaten Bereich ein.

Auch Rassismus ist hilfreich für die herrschende Klasse, denn so
kann das imperialistische System weiter aufrechterhalten werden. Er
liefert auch eine „Rechtfertigung“, warum bspw. migrantische
Menschen in Jobs im Niedriglohnsektor arbeiten müssen. Um Rassismus,
Sexismus usw. also gänzlich abzuschaffen, müssen wir ihnen die
materielle Voraussetzung nehmen: nämlich die Klassengesellschaft.
Erst im Sozialismus wird es möglich sein, effektiv diese Mechanismen
abzuschaffen, allerdings sind sie keine „Nebenfrage“, sondern
integraler Bestandteil des Klassenkampfes. Im Hier und Jetzt müssen
diese Kämpfe miteinander verbunden werden.

Wenngleich Klassismus auch eingebaut ist in der „Privilege
Theory“, so wird der Klassenkampf dadurch längst doch nicht zum
Dreh- und Angelpunkt der sozialen und politischen
Auseinandersetzungen. Die Ungleichheit der Klassen wird nur als ein
gleichgeordnetes Unterdrückungsverhältnis angesehen. Des weiteren
ist Klassismus in dieser Theorie auch nicht als letztlich nur
revolutionär aufhebbarer Klassenwiderspruch verstanden worden,
sondern bedeutet lediglich, dass (zumeist) die unteren Schichten mit
negativen Vorurteilen und Nachteilen im Bildungssektor und auf dem
Arbeitsmarkt zu kämpfen haben. Platt gesagt, soll man, nur weil man
aus einer niedrigen Schicht kommt, nicht respektlos behandelt oder
für unfähig erklärt werden, intellektuelle Kopfarbeit auszuführen.
Das berücksichtigt allerdings keinesfalls die Klassenunterdrückung
im Kapitalismus, in welcher die Bourgeoisie das Proletariat
ausbeutet. Somit ist dieser Ansatz unzureichend und präsentiert als
Lösung bloß, netter zu den unteren Schichten zu sein, weniger
Vorurteile zu haben, aber nicht die Klassengesellschaft an sich
abzuschaffen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass es, um effektiv seine
Privilegien zu „checken“, schon einen gewissen Grad an
Bewusstsein braucht, denn man muss ja erkennen, dass es diese Formen
von Unterdrückung gibt. Außerdem ist die Einsicht, dass es
Privilegien gibt, noch lange keine Garantin dafür, dass Personen
ihre auch ablegen wollen. Manche wollen sie im Gegenteil eher
verstärken (bspw. Konservative, die Abtreibungen verbieten wollen).
Grundsätzlich geht es natürlich beim Begreifen von Ungleichheit und
Unterdrückung innerhalb der eigenen Klasse immer auch um Bewusstsein
und Bewusstwerdung. Aber diese sind nicht losgelöst von den
materiellen Bedingungen. Das gesellschaftliche Sein bestimmt unser
Bewusstsein und nicht andersherum. Demnach kann diese gedankliche,
kritische Auseinandersetzung nicht alleine zu einer Lösung führen.
Des Weiteren verläuft die Bewusstseinsentwicklung nicht linear und
stellt auch nicht bloß ein persönliches, sondern vor allem auch ein
gesellschaftliches Phänomen dar. Das Massenbewusstsein kann Sprünge
machen – und zwar aufgrund gemeinsamer Kämpfe und Erfahrungen.
Umgekehrt kann es auch wieder zurückfallen, bspw. durch einen
Rechtsruck. Außerdem kann man bspw. in einer Reflektionsrunde viel
sagen, solange man nicht auch so handelt, hat das nur wenig Gewicht
und dient im schlimmsten Fall lediglich der Selbstbeweihräucherung.

Was tun?

Wir müssen den Chauvinismus und Sexismus in der Klasse bekämpfen,
um die Spaltung zu überwinden und die gemeinsame Kampfkraft zu
entfalten. Deshalb treten wir bspw. für das Caucusrecht von
Unterdrückten in den Organisationen der Arbeiter_Innenklasse ein.
Das bedeutet, dass sie das Recht haben, in einem gesonderten Raum,
allein unter ihresgleichen, über ihre Unterdrückung zu sprechen,
Probleme in der eigenen Organisation kollektiv aufzugreifen und
Empfehlungen an das Kollektiv auszusprechen, wie diese überwunden
werden können oder welche gemeinsamen Forderungen und Aktionen im
Kampf vorangetrieben werden sollen.

Wir treten für den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung
ein. In bestimmten Situation kann die Bildung einer kommunistischen
Frauenorganisationen sinnvoll sein, sowohl, um den Chauvinismus in
der Arbeiter_Innenklasse zu bekämpfen, die Arbeit unter
proletarischen Frauen zu systematisieren und so Frauen, die noch
nicht der revolutionären Partei (oder ihrer Vorform) beitreten
wollen, auf der Basis eines revolutionären Aktionsprogramms gegen
Frauenunterdrückung in einer möglichst engen Kampfgemeinschaft
näher an diese heranzuführen. Des Weiteren müssen wir auch in den
Organisationen dafür kämpfen, dass sich nicht nur die Unterdrückten
mit ihrer eigenen Unterdrückung theoretisch auseinandersetzen,
sondern auch alle anderen.

Alles in allem dürfen wir uns nicht darauf verlassen, dass wir,
wenn wir uns alle nur selber genug reflektieren, die
Unterdrückungsmechanismen abschaffen können. Auch die Vereinzelung
der Unterdrückungsformen und Unterdrückten sind nicht hilfreich,
denn wenn wir wirklich die Klassengesellschaft abschaffen wollen, ist
es nötig, dass wir ein revolutionäres Programm mit gemeinsamen
Forderungen aufstellen und zusammen für eine sozialistische Zukunft
kämpfen, die wir nicht durch Reform des kapitalistischen Systems,
sondern nur durch einen revolutionären Umsturz auf Basis einer
breiten Massenbewegung unter kommunistischer Führung erreichen!




Pan y Rosas: Zwischen Reform und Revolution?

Aventina Holzer, Arbeiter*innenstandpunkt, REVOLUTION
Österreich, Fight 9, März 2021

Seit Jahren nehmen nicht nur Angriffe auf Frauenrechte zu, sondern
stellen sich auch Bewegungen in unterschiedlichen Ländern dieser
Realität. Dies hat auch zu einer Wiederbelebung linker Strömungen
geführt, die darauf eine Antwort geben wollen. Auf der einen Seite
wird versucht, die Bewegungen zu unterstützen und zu analysieren,
auf der anderen sie loszutreten, sie zu befeuern und in eine richtige
Richtung zu lenken. Was die wenigsten Organisationen und Strömungen
aber begreifen, ist die Notwendigkeit, Frauenkämpfe nicht nur
abstrakt im Zusammenhang mit dem Kapitalismus zu sehen, sondern auch
dementsprechend revolutionäre und klassenspezifische Organisierung
zu erreichen. Deshalb halten wir es für zentral, in eine politische
Debatte mit jenen Kräften zu treten, die diesen Anspruch an sich
selbst und die Bewegung stellen. Schon in früheren Publikationen
haben wir uns mit programmatischen Manifesten und Theorien
beschäftigt, die selbst einen antikapitalistischen, sozialistischen
oder marxistischen Anspruch formulieren. So diskutierten wir in der
letzten Ausgabe von Fight!
das Manifest Feminismus der 99 %. Im Revolutionären
Marxismus 53
beschäftigten wir uns mit Lise Vogels
Marxismus und Frauenunterdrückung und der Social
Reproduction Theory.

Brot und Rosen

Im Folgenden besprechen wir das 2013 in Argentinien erschienene
Buch Brot und Rosen: Geschlecht und Klasse im Kapitalismus
(1) von Andrea D’Atri, dessen deutsche Übersetzung 2019
veröffentlicht wurde. Andrea D’Atri ist eine Aktivistin der
argentinischen Frauenbewegung und eine Genossin der
Frauenorganisation Pan y Rosas (Brot und Rosen) sowie der Partido de
los Trabajadores Socialistas (Partei der sozialistischen
ArbeiterInnen, PTS). Als eine der Gründerinnen von Brot und Rosen
hat sie auch einen beachtlichen theoretischen Beitrag ihrer
Organisation geleistet. Im Folgenden werden wir ihr Buch hinsichtlich
ihres historischen Verständnisses und ihrer Programmatik
untersuchen, aus denen sich maßgeblich ihre Vorstellungen für den
anvisierten politischen Kampf ergeben. Im Anschluss werden wir daher
auch auf  die programmatischen Grundlagen und
Schlussfolgerungen  des Internationalen Manifests von Brot
und Rosen
eingehen.

Auch wenn Andrea D’Atris Buch nicht das Produkt eines
gemeinsamen Beschlusses der gleichnamigen Organisation ist, so kann
man es durchaus als die politische Grundlage des Manifests von
Brot und Rosen
betrachten. Es beginnt mit einer Geschichte von
Frauenkämpfen. Mit einer Mischung aus historischem Gesamtblick und
einzelnen biographischen Erzählungen sollen aus einer proletarischen
Perspektive die Zugänge zum Kampf um Frauenbefreiung und Feminismus
erläutert werden. Beginnend mit Getreideaufständen in Europa und
gefolgt von der Französischen Revolution, über die
Industrialisierung, die Pariser Commune bis hin zum Kampf für die
demokratischen Rechte der Frau wird an episodischen Einzelschicksalen
die Situation und die Notwendigkeit der Kämpfe verdeutlicht. Danach
werden des Weiteren die Kriegssituation und auch die Kämpfe der
sozialistischen Frauenbewegung anhand der Organisationen und Debatten
der Zweiten Internationale dargestellt. Ein eigenes Kapitel
beschäftigt sich mit der Sowjetunion und Frauenrechten. Im weiteren
Verlauf wird auch deren stalinistische Degeneration beleuchtet.
Schließlich werden die Lage nach dem Zweiten Weltkrieg, der
Aufschwung der Linken nach 1968, das damit verbundene Anwachsen und
die Radikalisierung des Feminismus betrachtet. Am Ende findet sich
eine Kritik des institutionalisierten Feminismus wie des mit
Postmodernismus, Dekonstruktivismus und Postmarxismus einhergehenden
Vordringens von Individualismus und Skeptizismus.

Dieser Überblick verdeutlicht schon, worum es sich beim Buch
handelt – und worum nicht. Brot und Rosen ist sowohl eine
geschichtliche Darstellung der Frauenunterdrückung und der
Entwicklung des Kampfes dagegen wie der Entwicklung des Feminismus.
Oft erscheinen auch die linken Strömungen des Feminismus als synonym
mit revolutionärer, marxistischer Politik. Anders als der Untertitel
des Buches – Geschlecht und Klasse im Kapitalismus
suggeriert, stellt es keine theoretische Ausarbeitung des
Verhältnisses von kapitalistischer Ausbeutung zu systematischer
Unterdrückung der Frauen dar. Das Buch betont zwar immer wieder zu
Recht, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung nicht vom
Klassenkampf getrennt begriffen werden darf, dass die
ArbeiterInnenklasse das zentrale Subjekt im Kampf für Sozialismus
und die Überwindung aller Unterdrückungsformen darstellt. Es
verweist auch immer wieder berechtigter Weise darauf, dass das
Kapital von der Fesselung der proletarischen Frau an die Hausarbeit
unmittelbar ökonomisch profitiert und die Spaltung der Klasse seine
Herrschaft politisch festigt. Auf analytischer Ebene allerdings
bleibt die Darstellung im Wesentlichen bei diesen allgemeinen
Wahrheiten stehen, die sowohl der Marxismus wie auch Teile des
sozialistischen Feminismus anerkennen. Die spannende, für
MarxistInnen zu beantwortende Frage wäre allerdings, wie die private
Hausarbeit, und damit die spezifische Form der Frauenunterdrückung,
mit dem Kapitalverhältnis zusammenhängt, wie das
 Lohnarbeitsverhältnisses der Reproduktionsarbeit seinen
Stempel aufdrückt. Diese theoretischen Schwächen werden
insbesondere dann deutlich, wenn die Konzeptionen verschiedener
feministischer Strömungen betrachtet werden. Im Buch wird sich
ebenfalls mit der zweiten Welle des Feminismus und weiteren neueren
Strömungen beschäftigt. Diese werden auch stärker politisch
analysiert und eingeordnet. Hier können wir auf die politische
Position der Autorin selbst Rückschlüsse zu ziehen und die
Abgrenzung zum bürgerlichen Feminismus besser verstehen. Es werden
dabei speziell die Unterschiede zwischen Gleichheitsfeminismus, zu
denen D’Atri auch einige Strömungen des sozialistischen Feminismus
zählt, und des Differenzfeminismus herausgearbeitet.

Gleichheitsfeminismus und Differenzfeminismus

D’Atri beschreibt in diesem Kontext die feministische Bewegung
Ende der 1960er Jahre sehr unkritisch: „Die generelle
Perspektive der feministischen Bewegung der 70er Jahre ist
anti-institutionell. Deshalb ist sie nur im Rahmen der weltweiten
aufständischen Bewegungen zu verstehen […].“
  (S. 175)
Dies geht für sie – auch mit einem gewissen historischen Recht –
mit einer Radikalisierung des Feminismus einer. Der
Gleichheitsfeminismus betritt die Bühne. Dieser beschäftigt sich
mit Geschlecht als Konstrukt, worauf auch die Unterscheidung in sex
und gender, also zwischen biologischem und sozialem
Geschlecht, aufbaut. Diesbezüglich schreibt D’Atri:

„Der Gleichheitsfeminismus hat das Verdienst, Geschlecht als
soziale Kategorie zu begreifen […]. Er macht sichtbar, dass die
Unterdrückung der Frauen einen historischen Charakter hat und keine
„natürliche“ Konsequenz aus anatomischen Unterschieden ist. Der
Differenzfeminismus wiederum widersteht der Anpassung an ein System,
das auf der Unterordnung, Diskriminierung und Unterdrückung all
dessen basiert, was vom „universellen“ Modell abweicht, welches
unter patriarchaler Herrschaft geschaffen wurde.“
(S. 196)

Die Radikalität der zweiten Welle des Feminismus verortet die
Autorin also darin, dass sie an den Versprechen der bürgerlichen
Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – anknüpfe
und diese gegen Patriarchat und Kapitalismus wende. D’Atri entgeht
dabei zwar nicht, dass auch der bürgerliche und liberale Feminismus
genau daran ansetzen. Sie geht jedoch nicht auf die Grenzen der
Methode ein, die Kritik an Ausbeutung und Unterdrückung durch einen
Abgleich mit den uneingelösten Freiheitsversprechen zu begründen.
Es entgeht ihr damit, dass diese selbst zu einer reformerischen
Lösung drängt, wie sie in der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft
selbst noch in deren Idealen befangen bleibt, statt diese selbst als
Ideologie zu begreifen.

Innerhalb des Gleichheitsfeminismus unterscheidet sie drei Formen:
Den liberalen, den radikalen und den sozialistischen. Ersterer wolle
den Kapitalismus reformieren, um die Lage der Frauen zu verbessern.
Zweiterer betrachte das Patriarchat als die grundlegende
Gesellschaftsstruktur, die es abzuschaffen gelte. Der Zugang, den die
radikalen Feministen wählen, macht den Feminismus zu einer
politischen Theorie, die die Gesamtheit des politischen Systems
beschreiben soll. Hier werden die Frauen selbst als eigene Klasse
betrachtet. Die sozialistischen Feministen konzentrieren sich, so
D’Atri, währenddessen auf die Verbindung von marxistischer
Gesellschaftsanalyse mit Frauenunterdrückung.

„Er (der sozialistische Feminismus; d. Red.) setzt den
Schwerpunkt auf das Konzept des Patriarchats und auf die historische
Entwicklung der Art und Weise, wie Familienverhältnisse in den
verschiedenen Produktionsweisen organisiert sind. Die sozialistischen
Feministinnen verstehen die Ungleichheit als eine ganz und gar
gesellschaftliche Frage: Sie beschäftigen sich vor allem mit dem
Konzept der gesellschaftlichen Arbeitsteilung – eine Teilung, die
für sie die Ursache für die soziale Ungleichheit zwischen den
Geschlechtern ist. Sie definieren das Patriarchat als die Gesamtheit
der gesellschaftlichen Verhältnisse der menschlichen Reproduktion,
die von der männlichen Dominanz über Frauen und Kinder strukturiert
sind.“
(S. 180)

Für einige, so D’Atri weiter, stellt das Patriarchat den Fokus
und auch den Ausgangspunkt aller anderen Unterdrückung dar, der aus
historisch-materialistischer und dialektischer Perspektive
aufgearbeitet werden muss. Für andere besteht die Hauptaufgabe
darin, Frauenunterdrückung mit der Entstehung der
Klassengesellschaft zu begreifen und sie im Hinblick auf Produktion
und Reproduktion zu analysieren. Die Autorin belässt es bei dem
Verweis, dass sozialistische Feministen das Verhältnis von
Patriarchat und kapitalistischer Ausbeutung verschieden fassen. Dabei
liegt das Grundproblem des sozialistischen Feminismus gerade darin,
dass er eine methodisch-theoretische Versöhnung zwischen radikalem
Feminismus und Marxismus versucht, bei ihm Patriarchat und
Kapitalverhältnis als mehr oder weniger gut miteinander verbundene,
parallele, die gesellschaftliche Dynamik strukturierende Verhältnisse
dargestellt werden.

Für den Marxismus stellt allerdings das Kapitalverhältnis den
grundlegenden gesellschaftlichen Widerspruch dar, der die
spezifischen Formen der modernen Reproduktion und damit auch die
Frauenunterdrückung formt (2). Der sozialistische Feminismus
vertritt hingegen letztlich eine dualistische Auffassung. Diese muss
logisch und politisch-praktisch zu einem unterschiedlichen Begriff
des revolutionären Subjekts führen. Für den Marxismus ist dies die
ArbeiterInnenklasse, für den sozialistischen Feminismus gibt es
hingegen letztlich zwei Befreiungssubjekte, die Lohnabhängigen und
die Frauen. Unterschiedliche Strömungen innerhalb des
sozialistischen Feminismus legen ein stärkeres Augenmerk auf das
eine oder andere Subjekt. Tatsächlich ist dies im Endschluss
allerdings eine Negation Zetkins vollkommen korrekter Bemerkung, dass
es eine „Frauenfrage für die Frauen des Proletariats, des
Mittelbürgertums und der Intelligenz und der oberen Zehntausend


[gibt]

; je nach der Klassenlage dieser Schichten nimmt sie eine
andere Gestalt an.“ (Zetkin,
Nur mit der proletarischen Frau wird der Sozialismus siegen
)

Von dieser grundsätzlichen Problematik des sozialistischen
Feminismus findet sich im Buch kein Wort. D’Atri unterstellt
vielmehr, dass der sozialistische Feminismus eigentlich auf dem Boden
der revolutionären ArbeiterInnenpolitik stehen würde: „die
sozialistischen Feministinnen – strategisch und mit verschiedenen
Nuancen – [bestehen] auf der Notwendigkeit einer
antikapitalistischen Revolution.“
(S. 181) Wir möchten
keinesfalls in Frage stellen, dass einige sozialistische
FeministInnen durchaus subjektiv revolutionäre Ambitionen hegen.
Allerdings verwischen solche Formulierungen die eigentlich
fundamentalen Unterschiede zum Marxismus. Anstatt sozialistische
FeministInnen für den historisch-dialektischen Marxismus zu
gewinnen, werden letztlich gewichtige Positionen des letzteren
aufgegeben. Unterschiedliche Theorien, oft auch mit unterschiedlichen
praktischen Resultaten, erscheinen als reine Nuancen. Logischerweise
wird daher auch der Niedergang des Gleichheits- und die Krise des
sozialistischen Feminismus ohne Bezug auf deren eigene, innere
Problematik erklärt. Er erscheint einzig als Resultat einer
geschichtlichen Epochenwende:

„Während die bürgerliche Restauration voranschreitet, kann
weder die Integration in die kapitalistische Demokratie des
Gleichheitsfeminismus noch die widerspenstige Gegenkultur des
Differenzfeminismus verhindern, dass sich Gewalt und Unterdrückung
von Millionen Frauen auf der ganzen Welt fortwährend reproduzieren
[…].“
(S. 197)

Richtig ist sicherlich die kritische Haltung gegenüber dem
institutionalisierten Gleichheits- und zum Differenzfeminismus.
Stärker wird außerdem mit der Intersektionalität und
Identitätspolitik abgerechnet, obwohl diese nur am Rande erwähnt
werden. Die Kritik konzentriert sich darauf, dass eine
Individualisierung der Unterdrückung nicht der Weg sein kann, um sie
kollektiv zu überwinden. Es sei gefährlich, Ausbeutung auf eine
Stufe mit Unterdrückung zu setzen, damit also auch die Ursprünge
der Unterdrückung im Kapitalismus unscharf zu machen. Während dies
der richtige Ansatzpunkt ist, wundern wir uns, warum diese Erkenntnis
nicht auf die eigene Analyse der gesellschaftlichen Rolle von Frauen
konsequent angewandt wird. Die Auseinandersetzung mit postmodernen
Strömungen ist vor allem auf Judith Butler bezogen und kritisiert im
weiteren Verlauf vor allem deren individualistische und idealistische
Ansprüche, keine Theorie für die Massen schaffen zu können und zu
wollen, daher auch teilweise keinen Anspruch zu hegen, das
kapitalistische System zu überwinden. Neben dieser sehr berechtigten
Kritik an unterschiedlichen Strömungen des Feminismus stellt sich
für die LeserInnen ein bisschen die Frage, was denn nun die eigene
Perspektive der Autorin ist. Das ist zwar nicht unbedingt die
Fragestellung des Buches, wird aber auch im Manifest nicht
ausreichend beantwortet, das am Ende des Buches veröffentlicht ist.

Brot und Rosen als Manifest

Das Internationale Manifest von Brot und Rosen stammt aus
dem März 2017. Die Genossinnen dieser Organisation sind zugleich
Teil der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale.
Ähnlich wie das Buch beginnt das Manifest mit einem kurzen Abriss
von Frauenkämpfen, von einzelnen Biografien revolutionärer Frauen
und von Kämpfen, die langfristige Veränderungen und Verbesserungen
für die ArbeiterInnenbewegung gebracht haben. Es wird damit versucht
zu erklären, in welcher Tradition Brot und Rosen sich sieht. Mit
diesen historischen Verweisen wird im weiteren Verlauf auch die
Notwendigkeit einer Abgrenzung von neoliberalen Lösungsversuchen und
vom bürgerlichen Feminismus begründet, die sich auf individuelle
statt kollektive Lösungsversuche verlassen. Zeitgleich wird aber
auch betont, wie die Kämpfe der Vergangenheit zu einer kompletten
Veränderung der Situation von Frauen weltweit führten, speziell was
die Frage von demokratischen Rechten angeht. Dies wirft, laut dem
Manifest, auch ein besonders schlechtes Licht auf den Stalinismus,
der nicht nur eine reaktionäre Rolle in Frauenkämpfen spielte,
sondern damit auch die Abkehr vieler Frauen vom Sozialismus zu
verantworten hatte.

Die weitere Analyse leitet den Existenzgrund der Gruppierung aus
dem speziellen Faktor der Gewalterfahrung aufgrund sexistischer
Diskriminierung ab, was mit der Bewegung „Ni una menos“ auch ein
wichtiger Ausgangspunkt der Entstehung der Organisation ist. Hierbei
geht es in der Analyse speziell um die Ohnmacht, die Frauen fühlen
und ihre Rolle als Opfer, wogegen sich Brot und Rosen stark machen
möchte. Frauen sollen ihren Subjektstatus wiedererlangen. Zeitgleich
wird argumentiert, dass man sich nicht auf den bürgerlichen Staat
verlassen könnte, um dieses Problem zu lösen und stattdessen der
Hass gegen Unterdrückung und unfaire Behandlung auf den wahren
Übeltäter, den Staat, gerichtet werden muss.

Im nächsten Abschnitt werden die ersten Forderungen mit den
vorhergehenden Analysen verbunden. Es geht auf der einen Seite um den
Kampf um politische Freiheiten und demokratische Rechte. An dieser
Stelle wird zu Recht eine ultralinke Politik abgelehnt und
argumentiert, dass man durchaus auch im Parlament für Verbesserungen
und  Frauenrechte kämpfen kann. Andererseits wird für die
breiter gefächerten Forderungen wie „gegen Gewalt an Frauen“
auch konkret vorgeschlagen, Frauenkommissionen in Betrieben,
Wohnorten und Ähnlichem zu gründen, die sich selbst organisieren.
Was diese Kommissionen dann aber konkret tun müssen, um aktiv gegen
Gewalt an Frauen anzukämpfen, wird nicht weiter ausgeführt.
Schlussfolgerungen wie Selbstverteidigung und demokratische Kontrolle
an und über Arbeitsplätze/n werden nicht erwähnt. Weitere
Forderungen beziehen sich auf antiimperialistische Positionen und ein
„Ende von Rassismus“, Selbstbestimmungsrecht über den eigenen
Körper, Ausbau von Kinderbetreuung und Trennung von Staat und
Kirche. Auch arbeitsrechtliche Verbesserungen haben ihren Platz im
Manifest wie das Ende von prekärer Arbeit und einzelne
Übergangsforderungen wie die nach Aufteilung der Arbeit auf alle
Hände.

Der Ursprung der Frauenunterdrückung?

Es wird sich zwar immer wieder auf klassenkämpferische Politik
bezogen, aber zeitgleich eine Ebene etabliert, auf der sexistische
Unterdrückung zusätzlich, daher letztlich auch begriffslogisch
unabhängig vom Kapitalverhältnis existiert. Folglich werden also
die Fragen von Reproduktionsarbeit und der Vergesellschaftung dieser
sowie zur Einbeziehung der gesamten Klasse in gemeinsame politische
Kämpfe um diese herum nicht als zentraler programmatischer
Ausgangspunkt gesehen – weder im Buch noch im Manifest.

Dieser Mangel führt auch dazu, dass wichtige Teilforderungen nach
sozialer und politischer Gleichheit nicht mit der eigentlich
strategischen Frage verbunden werden, in welche Richtung denn die
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung überwunden werden muss. Eine
Reihe von Minimalforderungen aufzustellen, ist zwar gut und richtig,
führt aber zu keiner nachhaltigen Überwindung des Systems und
entwickelt auch keinen Ansatz dazu, wie nach einer erfolgreichen
Revolution Frauenunterdrückung überwunden werden kann.

Der ganze Text wirkt eher wie eine Aneinanderreihung von
Ungerechtigkeiten als eine systematische Analyse, aus der sich
logisch der gemeinsame Kampf gegen Staat und Kapital ergibt. Am Ende
wird anerkannt, dass die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus
die Aufgabe der ArbeiterInnenklasse ist. Diese Schlussfolgerung wird
aber davor kaum argumentiert. Sätze wie: „Denn in der
unbezahlten Hausarbeit ruht ein Teil der Profite der
Kapitalist_Innen, die so den Arbeiter_Innen nicht die Tätigkeiten
entlohnen müssen, die für ihre eigene tägliche Reproduktion als
Arbeitskräfte […] nötig sind“
(S. 252) beinhalten auch ein
einseitiges Verständnis der Ökonomie der privaten Hausarbeit. Es
wird suggeriert, dass diese immer mit einer Senkung des Werts der
Ware Arbeitskraft einhergehen würde. Dies ist aber keineswegs immer
der Fall. Unter bestimmten Bedingungen können die
Akkumulationsbedürfnisse sogar eine begrenzte Sozialisierung der
Reproduktionsarbeit erfordern, die ihrerseits mit einer Senkung des
Werts der Ware Arbeitskraft einhergeht, wenn z. B. die Kosten
für Lebensmittel sinken und Teile der Reproduktionsarbeit staatlich
organisiert werden. Die Steigerung des Profits ist in diesem Fall
nicht auf  Vermehrung privater Hausarbeit zurückzuführen, ja
kann sogar mit deren Abnahme einhergehen.

Ein Übergangsprogramm zur Frauenbefreiung?

Schlussendlich betont das Manifest, dass Klassenunabhängigkeit
erreicht werden muss. Die logische Schlussfolgerung ist die Schaffung
einer unabhängigen Arbeiter_Innenbewegung, die am Aufbau einer
revolutionäre Massenpartei und Internationale beteiligt sein müsse.
Das Programm endet mit der Betonung auf einem klaren Bruch mit dem
Reformismus und einem Bekenntnis zur ArbeiterInnenbewegung. Damit
steht es weit links von den meisten feministischen Strömungen. Die
Frage ist freilich, ob das Manifest selbst eine konsequente
programmatische Antwort liefert. Brot und Rosen steht in einer
trotzkistischen Tradition und vielen Forderungen lässt sich das auch
anmerken. Es fehlt aber eine Systematik, die versucht, ein
schlüssiges Programm miteinander verbundener Übergangsforderungen
zu entwickeln. Letztlich bleibt die Verbindung zwischen den heutigen
Kämpfen und der Revolution hölzern. Vielmehr handelt es sich beim
Manifest um eine Reihe an Minimal- und Maximalforderungen, die ohne
einen roten Faden mit sporadischen Einsprengseln einzelner
Übergangsforderungen aufgezählt werden.

Am augenscheinlichsten ist dabei, dass die Frage nach
Arbeiter_Innenkontrolle kaum erwähnt wird. Die Forderung
aufzuwerfen, dass es „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ braucht
oder auch eine Aufteilung der Arbeit auf alle Hände notwendig ist,
ist sicher richtig, beantwortet aber nicht, wer das kontrolliert und
wie diese Forderungen umgesetzt werden sollen. Die häufiger
erwähnten Frauenkommissionen, die an Arbeitsplätzen, Schulen und
Wohnorten gegründet werden sollen, bleiben relativ zahnlos. Es wird
nicht erklärt, wie sie zu einem Interaktionspunkt einer militanten
und von den kapitalistischen Institutionen unabhängigen
Frauenbewegung werden können. Hierfür müssten sie sowohl Organe
der  Selbstverteidigung einerseits sowie andererseits der
Kontrolle am und über den Arbeitsplatz, Wohnort etc. sein. Es müsste
außerdem dargestellt werden, in welchem Verhältnis sie zu den
bestehenden Massenorganisationen stehen sollten. Es erscheint, als
würden Gewerkschaften, reformistische oder links-populistische
Parteien sich zu solchen Organen nicht verhalten oder diese gar
kontrollieren falls sie morgen geschaffen würden.

Inwiefern sollen und können diese Frauenkommissionen mit dem
vorherrschenden Bewusstsein brechen? Unter welchen Umständen können
sie Gegeninstitutionen des bürgerlichen Staates verkörpern? Vor
allem aber bleibt auch unklar, ob solche Kommission als Organe der
proletarischen Einheitsfront oder Organe einer Minderheit der Klasse
auftreten sollen.

Richtigerweise wird im Manifest die Notwendigkeit des Bruchs mit
dem bürgerlichen Staat, dessen Institutionen und den bürgerlichen
Parteien gefordert. Aber dies bleibt abstrakt ohne Bezugnahme auf die
sehr reale Bewegung von Arbeiter_Innen, die organisatorisch oft von
reformistischen Parteien und bürokratischen Gewerkschaften
kontrolliert, ideologisch von unterschiedlichen nicht-revolutionären
feministischen Ideologien beeinflusst werden. In solchen Situationen
sind Einheit in der Aktion und revolutionäre Kritik von oberster
Bedeutung. Eine prinzipienfeste Anwendung der Einheitsfronttaktik
kann sogar zeitweilige Bündnisse mit bürgerlichen oder liberalen
Feministinnen wie mit Vertreter_Innen des Differenz- oder
Queerfeminismus als auch dem Reformismus erlauben. Aber natürlich
tragen solche Formationen einen Klassencharakter. Eine Schwäche von
Brot und Rosen ist die fehlende theoretische Tiefe, welche wiederum
kein breites taktisches Reservoir bietet. Das beinhaltet auch die
Gefahr, dass praktischer Kontakt mit z. B. einer bürokratischen
Gewerkschaft, die Arbeiter_Innen organisiert, oder liberalen
Feminist_Innen, die eine kämpfende kleinbürgerliche Frauenbewegung
anführen, impressionistisch bleiben muss.

Dies wird umso deutlicher, wenn wir uns vor Augen halten, dass die
subjektiv revolutionären Linke – und dazu gehört auch Brot und
Rosen – eine kleine Minderheit innerhalb der Arbeiter_Innenklasse
und der Frauenbewegung darstellt. Erfolgreiche Kämpfe sind auch auf
dem Gebiet der Verteidigung der Rechte der Frauen nur möglich, wenn
es gelingt, die Anhänger_Innen von Massenbewegungen zu gewinnen,
wenn wir die Forderung nach Einheit im Kampf sowohl an deren
Mitglieder als auch an deren Führungen systematisch stellen. Diese
methodische Schwäche bezüglich der Einheitsfront betrifft sicher
nicht nur Brot und Rosen alleine, sondern bildet eines der
Kernprobleme der zentristischen Politik der Trotzkistischen Fraktion
für die Vierte Internationale.

So erscheint das Entstehen einer revolutionären Kraft, der Bruch
mit der Bourgeoisie vor allem als deklamatorische Übung. Natürlich
kann es einer solchen Politik manchmal gelingen, eine beträchtliche
Minderheit von Radikalen zu versammeln. Aber welche Richtung wird
diese Minderheit einschlagen, um die Tore der gesamten Klasse zu
stürmen? Wir fürchten, dass Brot und Rosen eine theoretische
Schwäche innewohnt, die die Gefahr einer scharfen Wendung zum
Opportunismus oder einer Fortsetzung des Sektierertums in sich birgt,
sobald eine solche Organisation auf die Probe gestellt wird, wenn sie
sich tatsächlich in der größeren Arena des Klassenkampfes
praktisch verhalten muss. Dies ist verbunden mit einer Konzeption,
die leicht als idealistischer Ansatz missverstanden werden kann, der
erklärt, dass die Erfahrung der Unterdrückung und des radikalen
Bruchs an sich das Potenzial für die revolutionäre Überwindung des
Kapitalismus bieten würde.

Revolution, aber wie?

Neben diesen programmatischen Unklarheiten ist auch die
Schwerpunktsetzung etwas undurchsichtig. Für ein Programm, das sich
selbst auf die Fahne schreibt, für eine Überwindung des
Kapitalismus zu stehen, wird über diese letztlich kaum konkret
geschrieben. Vielleicht sieht sich Brot und Rosen nicht in der
Verantwortung, als Vorfeldorganisation eine eigenständige
konsequente, revolutionäre Programmatik vorzuschlagen, sondern
überlässt das lieber der Trotzkistischen Fraktion.
Nichtsdestotrotz: Für eine Organisation, die sich in Worten so stark
auf die Revolutionärin Luxemburg bezieht, wäre  eine
Revolutionskonzeption durchaus angebracht. Das Manifest erklärt das
Ziel der Schaffung einer Internationalen, aber auch hier erscheint
dies vor allem als eine Willensbekundung.

Die Forderungen des Manifests spiegeln weitestgehend den Inhalt
des Buches wider. Während wir mit den meisten konkreten Forderungen
übereinstimmen, fallen diese jedoch recht knapp aus. Ein wichtiger
blinder Punkt ist der Kampf um LGBTQIA+-Rechte, die vor allem in den
letzten Jahren ein essenzieller Bezugspunkt für Frauenkämpfe
geworden sind. Es wird weder klar, warum diese Kämpfe erneut an
Bedeutung gewonnen haben, noch wie diese in der revolutionären
Konzeption von Brot und Rosen zusammengeführt werden können.

Wie bereits erwähnt, fehlt ein zentraler programmatischer Punkt:
die Vergesellschaftung der Hausarbeit und zentrale damit verbundene
Forderungen. Leider fehlt auch eine Positionierung zu den
Frauen*streiks, immerhin eine Massenbewegung unserer Zeit, die die
Trennung von reproduktiver und produktiver Arbeit in den Vordergrund
gestellt hat.

Sowohl Buch als auch Manifest übersehen oder bestreiten, dass der
sozialistische Feminismus eine dualistische Interpretation des
gesellschaftlichen Grundwiderspruchs darstellt. Zumindest implizit
akzeptieren Brot und Rosen die Grundannahme aller feministischen
Strömungen, dass es eine spezielle Frauenfrage gibt, die mit den
Werkzeugen des historisch-dialektischen Materialismus nicht adäquat
erklärt werden kann. Statt den Marxismus weiterzuentwickeln, auch
durch kritische Auseinandersetzung mit empirischen, historischen oder
theoretischen Konzepten des Feminismus, wird der Marxismus dem
sozialistischen Feminismus angepasst.

So erklärt sich die dargestellte Dichotomie zwischen Feminismus
und Arbeiter_Innenbewegung, der die Leser_Innen nur schwer entkommen
können. Dies mag auch mit der Schwäche des Buches und des Manifests
zusammenhängen, unterschiedliche analytische Ebenen zu etablieren:
Theoretische Abstraktionen, historische Realitäten und zukünftige
Interventionen erscheinen nebeneinander. Während die
Auseinandersetzung mit der Historiografie und konkrete persönliche
Beispiele das Verständnis und die empathische Beziehung zu einem
Thema stärken können, wird es aber problematisch, wenn sich eine
solche Methode im Manifest widerspiegelt.

Buch und Manifest schwanken stark zwischen Proklamationen,
Geschichtsschreibung, persönlichen Erzählungen, theoretischen
Zusammenfassungen, Forderungen und einer Kritik am liberalen
Feminismus. Ein konsistentes Programm und zentrale Taktiken unserer
Zeit werden jedoch kaum entwickelt. Der implizite Fokus, so scheint
es, ist, den Feminismus wieder (?) sozialistisch zu machen. Dies
scheint der Weg zu sein, auf dem eine proletarische, eine
revolutionäre Frauenbewegung aufgebaut werden kann.

Letztlich ist es daher nicht verwunderlich, dass sowohl eine
theoretische als auch eine programmatische Trennung zwischen dem
Marxismus und den verschiedenen Spielarten des sozialistischen
Feminismus fehlen, wo diese notwendig wären. Dies wird durch eine
mangelnde Konzeption für die Intervention der revolutionären
Organisationen gegenüber den Massenorganisationen ergänzt. Der
Aufbau der proletarischen Frauenbewegung erscheint daher, wenn
überhaupt, als ein ambivalenter und diskursiver Prozess des
subjektiven sozialistischen Flügels innerhalb des Feminismus, nicht
aber als eine theoretisch klärende Intervention des Marxismus
gegenüber Strömungen des Feminismus.

Damit soll der wichtige Beitrag in den täglichen Kämpfen der
Genossinnen von Brot und Rosen nicht unterschätzt werden. Ganz im
Gegenteil. Gerade aufgrund der Impulse, die die Genossinnen gegeben
haben, sind wir der Meinung, dass theoretische und programmatische
Schwächen diskutiert werden sollten, bevor der gewonnene Fortschritt
durch die bevorstehenden größeren praktischen Tests rückgängig
gemacht wird. In diesem Sinne hoffen wir, dass diese Kritik auch als
eine solidarische verstanden wird. Wir haben unsererseits ein großes
Interesse sowohl an einem gemeinsamen Klärungsprozess als auch an
einer gemeinsamen Praxis beim Aufbau der heutigen Bewegungen.

Endnoten

(1) Andrea D’Atri, Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im
Kapitalismus, Argument Verlag, Hamburg 2019; Zitate aus dieser
Ausgabe

(2) Ausführlicher dazu: Bewegung für eine
revolutionär-kommunistische Internationale, Keine Frauenbefreiung
ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung, in:
Revolutionärer Marxismus 42 und Stefan
Katzer, Kritik des Feminismus
, in: Fight! Revolutionärer
Frauenzeitung Nr. 6




Vergesellschaftung der Hausarbeit

Ella Mertens, REVOLUTION Österreich, Fight! Revolutionäre
Frauenzeitung Nr. 9

Obwohl Frauen rund 60 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Haus- und
Sorgearbeit – Kochen, Putzen, Kinder- und Krankenbetreuung –
aufbringen als Männer, werden weder diese Arbeit noch die sie
Ausübenden besonders geschätzt. Nicht nur nicht gewürdigt wird die
Hausarbeit, sie wird größtenteils nicht einmal als Arbeit
wahrgenommen. „Niemand bemerkt sie, es sei denn, sie wird nicht
gemacht.“ (Barbara Ehrenreich, 1975)

Dieses Ungleichgewicht in der geschlechtlichen Aufteilung der
Hausarbeit geht mit einem Ungleichgewicht in der Aufteilung der
bezahlten Arbeit einher: In Deutschland ist rund die Hälfte aller
Frauen teilzeitbeschäftigt – unter Müttern ist diese Zahl noch
höher. Gleichzeitig arbeiten 88,8 % der Männer ausschließlich
in Vollzeit – eventuelle Vaterschaft beeinflusst diese Zahl kaum.
Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bildet die Grundlage für
ein Machtgefälle innerhalb der bürgerlichen Familie: die
(Haus-)Frau ist finanziell von ihrem Mann abhängig, während
gleichzeitig ein Großteil der Reproduktionsarbeit von ihr verlangt
wird.

Die Pandemie hat diese Doppelbelastung nochmal massiv verstärkt.
Gleichzeitig gibt es einige Stimmen, die glauben, dass Homeoffice die
Situation für Frauen verbessert, da sich diese dann „flexibler“
aussuchen können, wann sie denn die unbezahlte Mehrarbeit erledigen
können. An dieser Stelle wollen wir aufzeigen, dass das nur eine
Scheinlösung ist und was wirklich hilft, das Problem zu lösen. Doch
bevor wir dazu kommen, wollen wir klären, warum es überhaupt diese
Form der unbezahlten Arbeit gibt.

Was ist Reproduktionsarbeit?

Der Begriff der Reproduktionsarbeit geht auf Karl Marx zurück und
bezeichnet die Wiederherstellung der Arbeitskraft (also die Fähigkeit
produktive Arbeit zu verrichten), sowohl im individuellen als auch im
gesellschaftlichen Bereich. Es zählen dazu alle Tätigkeiten, die
direkt zum Erhalt des menschlichen Lebens dienen (Waschen, Kochen,
Pflegen, Erziehen). Sie kann gegen Lohn oder unbezahlt stattfinden.
Die Reproduktionsarbeit stellt in der Regel keine produktive Arbeit
für das Kapital dar, weil sie meist keinen Mehrwert generiert
(obwohl es auch Unternehmen gibt, wo Reproduktionsarbeit einen Profit
für das Kapital schafft wie z. B. bei privaten
Krankenhauskonzernen). Produktiv bedeutet hier vor allem die Stellung
welche die Arbeit zum Kapital hat und keine moralische Wertung.

Auch wenn die Reproduktionsarbeit in bestimmten Entwicklungsphasen
(z. B. Expansion nach dem 2. Weltkrieg) selbst Tendenzen zur
Vergesellschaftung unterliegt, so verbleiben wesentliche Teile im
privaten Haushalt. Gerade in Krisenperioden wird versucht, diese
Arbeiten ins Private zurückzudrängen, wo sie nicht entlohnt werden
muss. Das trifft besonders die Tätigkeit, die wir tagtäglich zum
Überleben brauchen: jene unsichtbare, selbstverständliche
Angelegenheit der Hausarbeit, die mehrheitlich von Frauen verrichtet
wird.

Die für den Kapitalismus typische Struktur stellt dabei die
bürgerliche Kleinfamilie dar. Dabei erfüllt sie unterschiedliche
Aufgaben. So dient sie für die Familien der Arbeiter_Innenklasse
dazu, die Ware Arbeitskraft zu reproduzieren. Gleichzeitig wird
dadurch die geschlechtliche Arbeitsteilung zwischen Männern und
Frauen reproduziert und an die nächste Generation vermittelt.

Aber was ist mit Kindergärten, Krankenhäusern und Schulen? Ist
das nicht widersprüchlich, dass es die gibt, wenn versucht wird,
alle Kosten zu sparen? Diese Teile der Care-Arbeit, die
gesellschaftlich organisiert werden, resultieren aus Kämpfen der
Arbeiter_Innenbewegung, verstärkter Nachfrage nach (weiblicher)
Lohnarbeit sowie den gestiegenen Anforderungen an die Arbeitskraft.
Beispielsweise Schulbildung ist ein Bereich, der (zumindest
teilweise) staatlich organisiert wird, u. a. damit die einzelnen
Kapitalist_Innen nicht die Ausbildungskosten tragen müssen, was
einen Konkurrenznachteil gegenüber ihrer Konkurrenz mit sich bringen
würde, die ausgebildete Arbeitskräfte einstellt, aber nicht für
ihre Ausbildung bezahlt. Deswegen tritt an ihrer Stelle der Staat als
ideeller Gesamtkapitalist und trägt die Kosten, welche auch durch
Steuern von der Arbeiter_Innenklasse eingetrieben werden.

Insgesamt sind diese Care-Bereiche oftmals schlecht bezahlt und
unterliegen wie beispielsweise die Arbeit im Krankenhaus dem Druck,
profitabel zu wirtschaften. Generell werden Frauen nicht nur in
schlechter bezahlter Berufe gedrängt, sondern verdienen auch bei
gleicher Arbeit deutlich weniger, was wiederum die
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Haushalt der
Arbeiter_Innenklasse insgesamt reproduziert.

Was tun?

Individuelle Lösungen wie Homeoffice, Putzhilfen, Absprachen mit
dem männlichen Partner oder Einbeziehung von Freund_Innen mögen
vielleicht unmittelbar helfen. Aber sie sind keine
gesamtgesellschaftliche Lösung, ja sie können, wenn wir z. B.
den überausgebeuteten Sektor weiblicher Haushaltshilfen betrachten,
sogar die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertiefen.

Oft sind sie nur für jene möglich, die sich des Problems
überhaupt bewusst sind und es sich „leisten“  können, weil
sie entweder Geld haben, sich von dieser Arbeit freizukaufen oder
über ein Umfeld verfügen, das genügend Zeit dafür bietet. 
Es gibt auch Feminist_Innen, die eine Lösung versucht haben zu
finden. Mit ihrem Werk „Die Macht der Frauen und der Umsturz der
Gesellschaft“ prägten  Mariarosa Dalla Costa und Selma James
die Debatte um die Hausarbeit entscheidend. Aus dieser Theorie
entstand erstmals 1974 in Italien die Forderung nach Lohn für
Hausarbeit. Diese ist allerdings ebenfalls problematisch. Anstatt die
Rolle der Hausfrau abzuschaffen und eine neue Verteilung der
reproduktiven Arbeit zu bieten, institutionalisiert sie sie und
festigt sie somit. Die geschlechtliche Arbeitsteilung  bleibt
erhalten und somit kämpft diese Forderung nicht für eine
konsequente, langfristig Verbesserung für Frauen. Was also tun? Wenn
wir die Doppelbelastung von Frauen beenden wollen, dann müssen wir
das Problem an der Wurzel packen: der bürgerlichen Familie.

Wie stellen wir uns das vor?

Das heißt nicht, dass wir als Kommunist_Innen die Familie
verbieten wollen. In der kapitalistischen Gesellschaft dient, sie wie
oben beschrieben, für die Arbeiter_Innenklasse als Ort, wo die
eigene (und zukünftige) Arbeitskraft reproduziert werden kann. Sie
ist trotz all ihrer Widersprüchlichkeit der Raum, in dem man sich
auch erholen kann. Statt also individuelle Absprachen zu treffen oder
zu hoffen, dass man irgendwann genug Geld verdient, sich
Haushaltshilfen zu leisten, macht es Sinn, gesamtgesellschaftliche
Lösungen zu finden – also die Reproduktionsarbeit auf alle Hände
aufzuteilen.

Dazu braucht man nicht an eine utopische Zukunft in mehreren
Jahrzehnten zu denken, um sich eine vergesellschaftete Hausarbeit
vorstellen zu können. Bereits 1930 gab es in Wien ein Wohnprojekt,
das – zumindest im kleinen Stil – diese Forderungen aufgriff: den
Karl-Marx-Hof. In dem Gemeindewohnbau gab es zusätzlich zu Wohnungen
mehrere gemeinschaftliche Einrichtungen wie kommunale Waschküchen,
Jugendheime und Kinderbetreuungsstellen, die von den Bewohner_Innen
gemeinsam organisiert und genutzt wurden. Für diese Einrichtungen
sprechen gleich mehrere Sachen: Erstens wird die Zeit, die wir
individuell in die Reproduktion stecken, gesenkt, die wir dann
woanders nutzen können. Zweitens beenden wir damit ebenso die
geschlechtliche Arbeitsteilung und damit die Grundlage für die
nervigen Geschlechterrollen, in die wir im Kapitalismus gedrängt
werden.

Wie ist das realisierbar?

Im Kapitalismus hat das Ganze Grenzen. Schließlich geht’s den
Kapitalist_Innen nicht darum, dass wir glücklich sind, sondern um
ihre Profite. Zwar gibt es Tendenzen, wie beispielsweise in
Kriegszeiten, in denen mehr Bereiche der Reproduktion kollektiviert
wurden. Dies diente aber nur kurzfristig dazu, mehr Frauen in die
Produktion zu ziehen. Nach dem Kriegsende wurde das Ganze wieder
geändert und die Frauen entlassen.

Damit es also nach unserem Interesse läuft, müssen wir die
Vergesellschaftung der Hausarbeit selber kontrollieren. Konkret heißt
das, dass wir alle Kürzungen im Bereich der öffentlichen
Reproduktionsarbeit und alle Privatisierungen bekämpfen müssen.
Stattdessen müsste ein massiver Ausbau von
Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen, des Gesundheitswesens und
der Freizeiteinrichtungen erkämpft werden.

Ebenso unterstützen wir im Hier und Jetzt den Kampf für einen
Mindestlohn, angepasst an die Inflation für alle Arbeiter_Innen. Für
alle, die keine Arbeit haben, fordern wir ein Mindesteinkommen in
derselben Höhe. Damit kann auch sichergestellt werden, dass niemand
aufgrund ökonomischer Abhängigkeit gezwungen ist, bei seiner
Familie zu leben, und so Gewalt, Druck oder Mehrarbeit ausgesetzt
sein muss.

Auch wenn im Kapitalismus einzelne Verbesserungen erkämpft werden
können, erfordert eine konsequente Vergesellschaftung der Hausarbeit
die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft. Warum? Eine
Vergesellschaftung der Hausarbeit würde auch bedeuten, dass die
Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft vergesellschaftet wird,
ihr Warencharakter und die Konkurrenz innerhalb der Klasse
eingeschränkt würden.

Daher ist die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit
untrennbar mit gesamtgesellschaftlicher Planung und Organisation
verbunden. Nur so kann die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in
Produktion und Reproduktion dauerhaft durchbrochen werden.
Pädagogische und andere versorgende Einrichtungen müssen
umstrukturiert und anders geplant werden, und die Neuaufteilung der
Hausarbeit muss durch Räte, die die Arbeiter_Innen selbst
repräsentieren und ihre Beschlüsse umsetzen, in Angriff genommen
und abgesichert werden.

Wir müssen also weiter kämpfen und das Ausbeutungssystem des
Kapitalismus revolutionär überwinden, um allen Menschen eine freie,
selbstbestimmte Zukunft gewährleisten zu können!

Quellen

https://arsfemina.de/rassismus-und-sexismus/vergesellschaftung-der-hausarbeit
https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-unbezahlte-arbeit-frauen-leisten-mehr-3675.htm
https://www.zeitschrift-luxemburg.de/wiedergelesen-die-frauen-und-der-umsturz-der-gesellschaft/
http://www.dasrotewien.at/seite/karl-marx-hof



Gewalt gegen Frauen bekämpfen – Ursachen abschaffen!

Veronika Schulz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9,
März 2021

Dass während der Corona-Pandemie häusliche und sexualisierte
Gewalt gegen Frauen drastisch angestiegen ist, wird mittlerweile
allgemein anerkannt. Eine Studie der UN-Frauenorganisation (Einheit
der Vereinten Nationen für Gleichstellung und Ermächtigung der
Frauen, kurz: UN Frauen; United Nations Entity for Gender Equality
and the Empowerment of Women, UN Women) verweist auf eine Zunahme der
Hilferufe bei nationalen Hotlines von 25–30 %.

Das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen und Mädchen war schon vor der
Pandemie erschreckend. Nach internationalen Studien wird jede dritte
Frau mindestens einmal geschlagen, vergewaltigt oder ist auf andere
Weise Gewalt ausgesetzt.

Naturgemäß sind diese Zahlen Indikatoren und Schätzungen, weil
ein großer Teil der erfahrenen Gewalt nie öffentlich gemacht wird.
Schon vor Corona fand Gewalt gegen Frauen und Mädchen vor allem im
engsten Umfeld, im Heim und der Familie statt, die oft als Orte der
Geborgenheit und des Schutzes idealisiert werden. Häusliche Gewalt
gegen Frauen bildete also schon in den letzten Jahren deren häufigste
Form – und das in vielen Ländern (darunter auch in Deutschland)
mit einer steigenden Tendenz.

Der weitere dramatische Anstieg im letzten Jahr wird oft mit der
räumlichen Nähe und Enge sowie größerem Stress durch Homeoffice
und soziale Isolation begründet. Offensichtlich hat die Pandemie den
Fokus auf diese privateste aller Sphären richten müssen, um zu
verdeutlichen, dass die Wohnung allzu oft keinen Schutzraum für
Frauen (und Kinder), sondern für den Täter darstellt, der
Gewaltverbrechen vor der Öffentlichkeit verbirgt.

Dennoch bleibt die Frage: Ist Gewalt gegen Frauen ein Phänomen,
das mit einer prekärer werdenden Situation zunimmt und somit
ökonomische, sicherlich auch psychologische Gründe hat? Oder ist
sie per se mit Männlichkeit verbunden und in deren Natur angelegt?
Wie hängt Gewalt gegen Frauen mit Kapitalismus, Ausbeutung und
systematischer Unterdrückung zusammen?

Diesen Fragen wollen wir uns im folgenden Artikel widmen, weil
davon auch abhängt, welche Politik, welches Programm zur Bekämpfung
dieser Gewalt und ihrer Ursachen notwendig ist.

Gewalttätigkeit des Mannes: genetisch bedingt?

Unterdrückung von und Gewalt gegen Frauen hat aus
radikal-feministischer Sicht ihre Grundlage oftmals in Faktoren wie
der Rolle der Frau bei der Reproduktion auf der einen und dem Wesen
des Mannes bzw. der Frau auf der anderen Seite. Essentialistische
Argumente, wonach Männer „aggressiver“ sind und „ihre Dominanz
ausnutzen“, blenden soziale Gegebenheiten zugunsten biologischer
nahezu vollständig aus. Einige gehen sogar so weit, Frauen und
Männer als eigenständige Klassen anzusehen, losgelöst von ihrer
Stellung im Produktionsprozess oder ihrem Zugang zu
Produktionsmitteln.

Die deterministische Perspektive, wonach Männer „von Natur aus“
zu Gewalt neigen und aggressives Handeln im männlichen Geschlecht
verwurzelt ist, lehnen wir als Marxist_Innen aus verschiedenen
Gründen ab. Wenn dem so wäre, hätten wir es mit biologischen
Konstanten zu tun. Unabhängig von allen äußeren Umständen und
somit sozialen Gegebenheiten würden Männer zu allen Zeiten der
Geschichte per Geburt den Hang zu Gewaltbereitschaft in sich tragen,
im vermeintlichen Gegensatz zur „weiblichen Natur“. Ein Ende des
Geschlechterkampfes wäre, folgt man diesem Denkschema in aller
Konsequenz, schwer möglich, da die gegebene „männliche Natur“
unveränderbar wäre.

Janet Sayer widerlegt solche und ähnliche Annahmen in ihrem Buch
„Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist Perspectives“.
Schon die simple Tatsache, dass durch die Mechanisierung körperliche
Kraft eine geringere Rolle im Produktionsprozess spielte,
verdeutlicht, dass „natürliche“ Kraftunterschiede spätestens
seit der Industrialisierung nicht mehr als (alleiniges/primäres)
Argument für die althergebrachte Arbeitsteilung, anhaltende
Unterdrückung und Gewaltausübung gegen Frauen herangezogen werden
können.

Rezepte des liberalen Feminismus

Am einfachsten wird die Unzulänglichkeit der Argumentation des
liberalen Feminismus offenbar: persönliche Freiheit und rechtliche
Gleichstellung würden gewissermaßen automatisch zur Emanzipation
der Frau führen. Abgesehen von bis heute geführten Debatten um
Frauenquoten, die sich oft nur auf eine Minderheit ohnehin
privilegierter Vorstandsposten beziehen, hat sich die liberale
Gleichheitsillusion nicht bestätigt. Dennoch lohnt ein Blick auf das
Argumentationsmuster liberaler Feminist_Innen.

Anders als der biologisch-deterministische Ansatz radikaler
Feminist_Innen vertritt der liberale Feminismus, wie Sayers
hervorbebt, vorrangig die Sichtweise, dass die geschlechtliche
Unterdrückung ein Hindernis für den freien Markt und dessen
Entfaltung darstellt. Dieser Aspekt kann nicht genug betont und
ebenso kritisiert werden: Es geht bei dieser Idee weder um die
Befreiung der Frau als Selbstzweck oder
humanistisch-emanzipatorischen Akt, sondern vor allem um das
„Funktionieren“ der Ökonomie und die rein formelle Gleichheit.
Liberaler Feminismus kann nicht erklären, weshalb trotz formell
verankerter Gleichberechtigung der Geschlechter in den Verfassungen
„liberaler“ Demokratien Ungleichheit weiterhin existiert, Gender
Pay Gap, Teilzeitfalle und „Gläserne Decke“ seien hier nur als
Schlagworte genannt.

Idealismus, Strukturalismus und historischer Materialismus

Die Mehrzahl feministischer Theorien ist entweder
strukturalistisch (Männer sind unabänderlich gewalttätig) oder
idealistisch (der Wille der Männer stiftet allein Geschichte), führt
somit zu einem „umgekehrten“ Geschlechterkampf. Darüber hinaus
sind diese Ansätze allesamt ungeschichtlich, d. h. sie lassen
außer Acht, dass Frauenunterdrückung und Gewalt gegen Frauen ein
Resultat menschlicher Geschichte, also menschengemacht sind.

Frauenunterdrückung ebenso wie jedwede soziale Unterdrückung
muss geschichtlich erklärt werden. Als Marxist_Innen orientieren wir
uns bei der Analyse an einer Geschichtsschreibung,  die
ausgehend vom grundlegenden Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur,
der Arbeit und der von ihr eingegangenen Gesellschaftsverhältnisse
die Gesamtheit aller Gesellschaftsbeziehungen untersucht
(Totalitätsverständnis). Diesem Verständnis gemäß ist die
Geschichte nicht nur die von Staaten und Politik, nicht nur die
„großer Männer“ und ihres Willens, ihrer
Charaktereigenschaften, sondern aller Gesellschaftsmitglieder, v. a.
der arbeitenden Klassen, der Frauen, Jugendlichen und Kinder.

Marxistische Erklärung

Wir als Marxist_Innen können Phänomene wie Gender Pay Gap
erklären, was liberaler und radikaler Feminismus nicht können: Sie
liegen darin begründet, dass Frauen und Männer dem
Produktionsprozess verschiedenartig ausgesetzt sind. Frauen sind
aufgrund Jahrtausende währender geschlechtlicher Arbeitsteilung seit
Beginn der Sesshaftigkeit, die die Voraussetzungen für den Übergang
zur Klassengesellschaft im Ackerbau schuf (neben der auch
nomadisierend betriebenen Viehzucht, die von Beginn an eine männliche
Domäne war), ans Haus gefesselt.

Damit konzentrieren sie sich auf den inneren Kern der Reproduktion
des unmittelbaren Lebens (Kindererziehung, Hausarbeit für den
privaten Bedarf der einzelnen Familien), während Männer den
„Gesellschaft stiftenden“ Teil der Arbeit (Hofarbeit als
wesentliche Quelle des Mehrprodukts, der Revenue für die jeweils
ausbeutenden Klassen, Handel, Handwerk – also gesellschaftliche
Tauschoperationen bedingende Tätigkeiten) überwiegend verrichten.
Innerhalb der Lohnarbeiter_Innenfamilie, in der die Urproduktion
eigener Lebensmittel mangels Besitz an Grund und Boden weitestgehend
weggefallen ist, fehlt sogar jeglicher Produktionsanteil der
proletarischen Hausfrau im eigenen Zuhause. Sie ist „nur“ noch
für die unentlohnte Subsistenzreproduktion und den darüber
vermittelten Anteil an der (Wieder-)Herstellung der Ware Arbeitskraft
verantwortlich.

Ihre Diskriminierung in einer Gesellschaft wie der bürgerlichen,
die nur die Produktion von (mehr) Geld und v. a. Kapital als
sozial wertvoll im wahrsten Sinne des Wortes anerkennt, ist also noch
umfassender als in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Ihre
Arbeitskraft gilt nicht nur als quantitativ geringer, sondern
qualitativ: sie schöpft keinen Tauschwert. Bei der Proletarierin im
Produktionsprozess wirkt sich zusätzlich die geschichtlich ererbte
und ans Wertgesetz angepasste geschlechtliche Arbeitsteilung als
strukturell ungleicher Lohn aus.

Bürgerliche Demokratie schafft unterdrückerische
Spaltungslinien nicht ab

Auch in Gesellschaften mit bürgerlicher Demokratie und formaler
Gleichstellung der Geschlechter stößt diese Gleichheit in der
kapitalistischen Produktionsweise und der damit einhergehenden
Ausbeutung der Arbeiter_Innenklasse an ihre Grenzen.

Der Kapitalismus profitiert von einer zementierten Ungleichheit
der Geschlechter wie auch von der Konkurrenz entlang weiterer
Spaltungslinien: Jung gegen Alt, Stadt- gegen Landbevölkerung, Volk
und Nation gegen Migrant_Innen, um nur einige zu nennen. Der Fokus
auf immer nur einen dieser Teilaspekte bzw. eine Spaltungslinie
verschleiert die eigentlichen Klassenwidersprüche, deren Dynamiken
die jeweiligen Geschichtsepochen prägen. Schon bei oberflächlicher
Betrachtung zeigt sich, dass eben nicht alle, d. h. nicht alle
Frauen, gleichermaßen von Gewalt betroffen sind. Bestimmte Formen
von (sexualisierter) Gewalt treffen hauptsächlich oder besonders
stark Frauen aus der Arbeiter_Innenklasse oder der
Bauern-/Bäuerinnenschaft – und hier wiederum aus den unteren
Schichten: z. B. Frauenhandel, Zwangsprostitution, systematische
Gewalt von kriminellen Banden in Slums und Armenvierteln,
Vergewaltigungen und Gewalt als Mittel in (Bürger-)Kriegen. Hinzu
kommt, dass die ökonomische Abhängigkeit der Frauen aus der
Arbeiter_Innenklasse, aber auch aus Teilen des Kleinbürger_Innentums
von ihren Männern viel größer ist – nicht, weil die Männer
schlechter als jene der Bourgeoisie wären, sondern aufgrund ihrer
Klassenlage.

Es handelt sich also auch bei diesem Themenkomplex um eine
Klassenfrage, die nicht isoliert vom Gesamtsystem betrachtet werden
darf. Der Kapitalismus ist für uns Marxist_Innen nicht nur ein
Produktionssystem, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Seine Logik
wirkt in alle Lebensbereiche, prägt unser Denken und Handeln und
formt unsere Gesellschaft demnach auch abseits des Arbeitsplatzes
mehr, als uns oftmals bewusst ist.

Soziale Unterdrückung und Ideologie

Der Kampf gegen Gewalt muss sich gegen die Ursachen der
Unterdrückung wenden. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Rolle
von Ideologie, die den Fortbestand der kapitalistischen Gesamtordnung
sichert. Gemeinhin werden die gegebenen gesellschaftlichen
Verhältnisse – auch von den Ausgebeuteten – als legitim
erachtet. Opfer und Täter werden individualisiert, was dazu führt,
dass selbst bei konkreten Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen
kein organisiertes Handeln aus dem Kollektiv heraus erfolgt, sondern
Vereinzelung vorherrscht. Allein das erschwert schon das Erstatten
einer Anzeige enorm. So individualisiert der Untersuchungs- und
Rechtsprechungsprozess durch bürgerliche Polizei und Justiz die
Frauen und reproduziert strukturell die Ohnmachtserfahrung des
Opfers.

Aus marxistischer Sicht ist eine der Hauptursachen von
Frauenunterdrückung die dem Kapitalismus inhärente Trennung von
gesellschaftlicher Produktion und privater Haus- und Sorgearbeit.
Diese schafft neben schlechterer Position für Frauen auf dem
Arbeitsmarkt (s. o.) Abhängigkeiten – beispielsweise vom
Lebenspartner oder Ehemann.

Wesentlich zur Aufrechterhaltung der Unterdrückungsverhältnisse
tragen subtil wirkende gesellschaftliche Mechanismen bei wie z. B.
geschlechtsspezifische Sozialisierung und damit die Reproduktion
stereotyper Verhaltensweisen. Es sind eben keine natürlichen
Vorprägungen, die automatisch für geschlechtliche Unterdrückung
verantwortlich sind. Physische Gewalt ist dabei „nur“ ein Extrem,
die sichtbarste Spitze des Eisberges von (Frauen-)Unterdrückung.

Zunahme der Gewalt und Klassenkampf

Aber wie die Zahlen zeigen, handelt es sich um eine gigantische
„Spitze“. Die Zunahme von Gewalt gegen Frauen – auch im
öffentlichen Bereich – muss vor dem Hintergrund aktueller
gesellschaftlicher Entwicklungen verstanden werden, die die inneren
Spaltungen der Arbeiter_Innenklasse und die geschlechtsspezifische
Arbeitsteilung noch prekärer machen.

Die letzten Jahrzehnte waren hinsichtlich der Lage der Frauen im
Berufsleben durch eine widersprüchlichen Entwicklung geprägt.
Einerseits wurden öffentlich organisierte Teile der
Reproduktionsarbeit zurückgefahren oder privatisiert (und damit
verteuert), andererseits nahm aber die Zahl der erwerbstätigen
Frauen, wenn auch oft in Teilzeitstellen, zu – in manchen
halbkolonialen Ländern wie z. B. Indien sogar in einem sehr
großen Ausmaß. Frauen leisten also nicht nur den größten Teil der
privaten Hausarbeit, auch ihr Anteil an der gesamten Lohnarbeit
steigt.

Dies unterminiert die bestehende Arbeitsteilung. Vor dem
Hintergrund einer strukturellen Krise des Kapitalismus und erst recht
der Verheerung durch die Pandemie bringt diese Entwicklung die Kräfte
der Reaktion auf verschiedene Weise auf den Plan, die sie als
angebliche „Feminisierung“ und einen imaginierten „Genderwahn“
brandmarken. Den aggressiven Antifeminismus des Rechtspopulismus
können wir dabei nur verstehen, wenn wir die Klassenlage des
Kleinbürger_Innentums und der von Deklassierung bedrohten
Mittelschichten in der Krise begreifen. Die Ausweitung von Lohnarbeit
der Frauen wird – obwohl zumeist auf schlechter entlohnte, prekäre
Arbeitsverhältnisse konzentriert und in den „besseren“ Berufen
noch immer krass unterpräsentiert – zur angeblichen „Förderung“
oder gar Bevorzugung von Frauen (und rassistisch Unterdrückten)
verkehrt. Die reale und durchaus berechtigte Abstiegsangst angesichts
verschärfter Konkurrenz und Krise wird nicht den kapitalistischen
Verhältnissen, sondern „den Frauen“ oder „den Minderheiten“
angelastet. Der Feminismus erscheint als Gefahr, die die hart
arbeitenden Männer in den Ruin treiben würde. Da die Führungen der
Arbeiter_Innenklasse zumeist eine passive, wenn nicht gar
chauvinistische Haltung gegenüber lohnabhängigen Frauen einnehmen,
können rechtspopulistische oder gar (halb-)faschistische Kräfte
auch rückständige Arbeiter_Innen für ihre reaktionäre Demagogie
gewinnen.

Die aktuelle Zunahme von Gewalt gegen Frauen muss auch in diesem
Kontext begriffen werden. Die in den letzten Jahren entstehenden
Frauen*streiks und die Bewegung Ni una menos, die in Argentinien
ihren Ausgang nahm, weisen dem Kampf gegen Femizide sowie Gewalt
gegen Frauen und sexuell Unterdrückte zu Recht eine zentrale Stelle
zu.

Dieser inkludiert notwendigerweise den Schutz vor den Tätern.
Dabei dürfen sich die Frauen nicht auf den bürgerlichen Staat
verlassen, sondern es müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet
werden, die von der gesamten Arbeiter_Innenbewegung und der
Unterdrückten getragen werden.

Gegen häusliche Gewalt braucht es als direkte Maßnahme
öffentlich finanzierte, selbstverwaltete Frauenhäuser und
Beratungsangebote.

Eine weitere politische Forderung muss sich auf den
flächendeckenden Ausbau an Kinderbetreuungsangeboten beziehen, damit
Frauen eine Erwerbstätigkeit ermöglicht wird, deren Lohn zum Leben
reicht und nicht durch Teilzeit in Aufstockung und später
Altersarmut durch Mindestrente endet, was überproportional
Alleinerziehende trifft. Daran zeigt sich auch, mit welch
finanziellen Einbußen eine Trennung vom Partner oftmals verbunden
ist und warum viele Frauen trotz Gewalterfahrung in einer toxischen
Beziehung verharren.

In den Gewerkschaften, in den Betrieben wie auch in den
Wohnvierteln müssen Kampagnen und Beratungsstellen organisiert
werden, die sich gegen jede Form von männlichem Chauvinismus und
Gewalt gegen Frauen richten, die Opfer unterstützen und für eine
Verhaltens- und Bewusstseinsänderung der Männer wirken.

Damit eine solche Kampagne erfolgreich sein kann, darf sie nicht
nur als Frage individuellen Verhaltens begriffen werden, sondern auch
als eine des kollektiven Ringens gegen den Einfluss reaktionärer
Bewusstseins- und Verhaltensformen in der Arbeiter_Innenklasse.

Der Kampf gegen diese Gewalt muss daher verbunden werden mit dem
um gleiche Rechte, gleichen Lohn und Arbeitsbedingungen. Er muss
verbunden werden mit der Forderung nach Vergesellschaftung der
Reproduktionsarbeit, d. h. einer doppelten Überwindung der
Vereinzelung – sowohl der häuslichen Tätigkeiten als auch der
Gebundenheit der Frau an die (Klein-)Familie.

Zur Umsetzung dieser Forderungen müssen wir uns zusammenschließen
und eine proletarische Frauenbewegung aufbauen, die sich als Teil
einer neuen revolutionären Internationale sieht und für die
Befreiung aller Menschen eintritt.

Literaturquellen

Engels, Friedrich (1878): Gewaltstheorie, in: Herrn Eugen Dührings
Umwälzung der Wissenschaft. Online verfügbar unter
http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_136.htm

Sayers, Janet (1982): Biology and the Theories of contemporary
feminism, in: Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist
Perspectives. Tavistock Publications: New York, S. 173–203.

Sayers, Janet (1982): Physical strength, aggression, and male
dominance, in: Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist
Perspectives. Tavistock Publications: New York, S. 65–83.




Gewalt gegen Frauen in Bolsonaros Brasilien

Raquel Silva, Liga
Socialista/Brasilien
, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9,
März 2021

Der erste Jahrestag der Covid-19-Pandemie verging in Brasilien
ohne jegliche Feierlichkeiten. Tatsächlich gibt es in der aktuellen
Situation nichts zu feiern. Wie Studien ergeben, hat die soziale
Isolation, in der wir seit März 2020 leben, zu einem Anstieg der
Vorfälle an häuslicher Gewalt und Femiziden geführt. Im Oktober
2020 zeigten Erhebungen, dass in Brasilien zwischen März und August
497 Frauen getötet wurden. Das bedeutet, dass alle neun Stunden eine
Frau ermordet wurde. Die Bundesstaaten mit den höchsten Gewalt- und
Mordraten sind São Paulo, Minas Gerais und Bahia. Die von sieben
Journalistenteams durchgeführten Erhebungen weisen auf einen Anstieg
der Zahlen während der Pandemie hin. Sie verdeutlichen auch, dass
die niedrigen Zahlen gewaltbezogener Vorfälle in einigen
Bundesstaaten tatsächlich auf ihre Untererfassung zurückzuführen
sind. Die Daten zeigen, dass die Mehrheit der Opfer schwarze und arme
Frauen sind. In Minas Gerais zum Beispiel sind 61 % der Opfer
schwarze Frauen.

Indigene Frauen

Seit dem Putsch gegen Dilma Rousseff von der Partido dos
Trabalhadores (PT; Partei der Arbeiter_Innen) hat die Intensität der
Angriffe auf indigene Bevölkerungsgruppen stark zugenommen. Mit der
Zerstörung von Hilfs- und Unterstützungseinrichtungen für indigene
Völker wie Fundação Nacional do Índio (FUNAI; wörtlich:
Nationale Stiftung des Indios) sind die Dörfer nun noch
verwundbarer. Indigene Gemeinden werden auch durch illegalen Bergbau,
Brände und Agrobusiness angegriffen. Zudem hat die Gewalt gegen ihre
Vertreter_Innen zugenommen. Mehrere ihrer Sprecher_Innen wurden in
den letzten Jahren getötet.

Daten über die Situation indigener Frauen fehlen generell. Einige
Berichte deuten jedoch darauf hin, dass sich ihre Situation
verschlechtert hat, da häusliche Gewalt und Vergewaltigungen in den
Dörfern während der Pandemie zugenommen haben. Illegaler Bergbau
führt zu einer Situation der Verwundbarkeit und Gewalt in den
indigenen Gemeinden. Wie eine/r der Anführer_Innen berichtet, führt
die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten und ihre/seine Kinder zu
ernähren, oft dazu, dass indigene Frauen der gleichen oder sogar
noch härteren Gewalt ausgesetzt sind als nicht-indigene Frauen der
Arbeiter_Innenklasse. Sie alle leiden unter einem Mangel an
finanzieller und anderer Unabhängigkeit, was sie anfälliger für
Verbrechen wie häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung und in den
schlimmsten Fällen Femizid macht.

Zurücknahme von Errungenschaften

Wir sind uns bewusst, dass nicht erst die Regierung Bolsonaro
Gewalt gegen Frauen hervorgebracht hat. Der Kampf gegen Gewalt gegen
Frauen reicht Jahrzehnte zurück. Obwohl die Errungenschaften der
letzten 30 Jahre seit der Verfassung von 1988 unzureichend waren,
bedeuteten sie einen Schritt in die richtige Richtung, ebenso wie
alle anderen Fortschritte, die durch den Kampf sozialer Bewegungen
erreicht wurden.

Nach dem Putsch haben jedoch reaktionäre Sektoren, die mit der
Rechten und rechtsextremen evangelikalen Gruppen verbunden sind, die
die so genannte „Bibelbank“ (in den Parlamentskammern) bilden,
versucht, den Frauen ihre Rechte und Errungenschaften zu nehmen,
indem sie der großen Mehrheit der Frauen der Arbeiter_Innenklasse
ein reaktionäres und gewalttätiges Programm aufzwingen wollen. Dies
geht einher mit der kapitalistischen neoliberalen Agenda der Angriffe
auf die Rechte von Arbeiter_Innen. Zusätzlich zu Gesetzesänderungen,
die den Arbeiter_Innen verschiedene Rechte und Garantien entzogen
haben, ist der Angriff auf Frauen noch heftiger. Das liegt daran,
dass Frauen, ohnehin der Doppelbelastung von Lohn- und Hausarbeit
ausgesetzt, in der Arbeitswelt um ein Vielfaches mehr unter noch
niedrigeren Löhnen und verlängerten Arbeitszeiten leiden. Die
Rentenreform hat die Frauen der Arbeiter_Innenklasse noch stärker
getroffen, da sie nun mit einer Erhöhung der notwendigen
Lebensarbeitszeit konfrontiert sind, um länger in die Rentenkassen
einzuzahlen, wodurch der Rentenanspruch noch schwieriger zu erreichen
sein wird.

Die Regierung Bolsonaro hat bereits in ihrem ersten Amtsjahr 2019
die Mittel zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen drastisch gekürzt.
Sie schaffte das Sekretariat für Frauenpolitik ab und schuf
stattdessen das Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte
(das die LGBTQ+-Agenda ausschloss). Ein Ministerium, dessen
ideologische Agenda darin besteht, „Moral und gutes Benehmen“ zu
bewahren, hat sogar die begrenzten verfassungsmäßigen Rechte und
Garantien angegriffen wie z. B. den Zugang zur assistierten
Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung, Lebensgefahr für die
Mutter oder Anenzephalie (schwere Missbildung des embryonalen bzw.
fötalen Gehirns).

Der reaktionäre Charakter der gegenwärtigen Regierung und derer,
die sie unterstützen, wurde vor allem durch die skandalöse
Behandlung eines 10-jährigen vergewaltigten Kindes im Juli 2020
entlarvt. Das Recht auf Abtreibung dieses Vergewaltigungsopfers wurde
in Frage gestellt, sein Name veröffentlicht und es erlitt ein
schweres psychologisches Trauma, da Extremist_Innen versuchten, eine
Abtreibung zu verhindern. Ministerin Damares Alves vom Ministerium
für Frauen, Familien und Menschenrechte, eine evangelikale Pastorin,
erließ zwei Gesetze, die den Zugang zur assistierten Abtreibung
erschweren und peinliche und restriktive Maßnahmen für weibliche
Vergewaltigungsopfer schufen.

Ele Nao! Nicht er!

Unter den Bedingungen der Pandemie 2020 wurden viele der Angriffe
der Regierung Bolsonaro auf Frauen und die LGBTQ+-Community massiv
spürbar, da die Mobilisierung schwieriger wurde. Doch schon während
des Präsidentschaftswahlkampfes 2018 ist klar geworden, dass uns im
Falle eines Sieges von Bolsonaro schwere Rückschläge bevorstehen
würden. Seine Aussagen als Parlamentarier zeigten bereits, dass die
Angriffe auf Frauen, Schwule, Schwarze und Indigene hart ausfallen
würden.

Bolsonaro widmete seine Stimmabgabe für Dilmas Amtsenthebung dem
Oberst Brilhante Ustra, der während der Militärdiktatur für die
Folterung inhaftierter linker, militanter Frauen verantwortlich war.
Dilma war eine von ihnen gewesen. Bolsonaro griff auch eine
PT-Abgeordnete in der Abgeordnetenkammer an und rief: ,,Ich würde
sie nicht vergewaltigen, weil sie es nicht verdient hat.“ In einer
anderen Kampagne machte er deutlich, dass er die Quilombola-Schwarzen
angreifen würde, womit er sich auf die Dörfer der Schwarzen bezog,
die aus der Sklaverei geflohen sind, um ein selbstbestimmtes Leben zu
führen. Ihr Kampf wird im rassistischen Narrativ mit Chaos
gleichgesetzt. Er drohte auch damit, die Linke und die sozialen
Bewegungen anzugreifen.

Im Angesicht dieser Drohungen wurde die Bewegung „Ele Nao!“
(Nicht er!) in den sozialen Medien populär, die eine beeindruckende
Demonstration gegen die Wahl Bolsonaros organisieren konnte. In einem
erbitterten Kampf gewann Bolsonaro die Wahl. Es war eine Wahl, die
von einer Politik des Hasses gegen die PT, dem Verbot der Kandidatur
Lulas und vielen Enthaltungen geprägt war.

In der neuen Regierung gingen Sparmaßnahmen gegen die
Arbeiter_Innen Hand in Hand mit der Weiterführung der konservativen
Agenda der rechtsextremen Evangelikalen. Die Frauenbewegung hat in
verschiedenen Kollektiven, die sich im ganzen Land ausbreiten,
versucht, diese Angriffe zu stoppen. Aber die aktuelle Situation
führte dazu, dass die Pandemie eine entmutigende Wirkung auf die
Bewegungen ausübte. Die soziale Isolation hat viele
Straßenbewegungen gelähmt. Viele Kollektive agieren virtuell,
andere gehen in extremen Fällen auf die Straße (wie im Fall des
vergewaltigten Mädchens, als Rechtsextremist_Innen versuchten, eine
Abtreibung zu verhindern und das Frauenkollektiv das Recht des
Mädchens wahrte, indem es die Extremist_Innen von der Krankenhaustür
vertrieb).

Die Linke und soziale Bewegungen

Generell finden Aktionen gegen die Angriffe der Regierung
Bolsonaro seit letztem Jahr über soziale Medien statt. Die soziale
Isolation schafft eine sehr starke Barriere gegen Aktionen. Die Angst
vor Ansteckung, aber auch die, als „Corona-Leugner_In“ wie
Bolsonaro zu erscheinen, hindert Bewegungen daran, außerhalb des
Internets zu agieren.

Bei den landesweiten Kommunalwahlen 2020 (in Brasilien finden sie
alle am selben Tag statt), bei denen Tausende von Stadträt_Innen und
Bürgermeister_Innen gewählt wurden, konzentrierte sich die Linke
oft auf Kandidaturen, die die Unterdrückten repräsentieren –
Frauen, Schwarze und Trans-Personen.

Die Webseite der Deutschen Welle Brasilien bewertet die Vielfalt
in Bezug auf Geschlecht, sexuelle und ethnische Identität bei den
Wahlen 2020 als Fortschritt. Der Anstieg der Kandidaturen von
Unterdrückten war höher als 2016. Von den 503 Trans-Kandidat_Innen
wurden 82 gewählt. In Hauptstädten wie Belo Horizonte (Minas
Gerais) und Aracaju (Sergipe) erhielten Trans-Kandidat_Innen die
meisten Stimmen. Die Zahl der Frauen im Allgemeinen sowie die Zahl
der schwarzen Frauen, die in gesetzgebende Ämter gewählt wurden,
hat ebenfalls zugenommen. In 18 Städten gibt es 16 % weibliche
Abgeordnete. Parteien wie Partido Socialismo e Liberdade (PSOL;
Partei für Sozialismus und Freiheit) und PT stellten die größte
Anzahl von Kandidat_Innen aus den sozial unterdrückten Schichten
auf, aber auch die konservativen und liberalen Mainstream-Parteien
erhöhen die Anzahl der Kandidaturen von Frauen und rassistisch
Unterdrückten. Kommentator_Innen führen diese Veränderung auf eine
Reaktion gegen die Wahl Bolsonaros und seine rechtsextreme Plattform
zurück. Sie sehen darin einen Versuch der Reorganisation von Teilen
der Linken, indem Kandidat_Innen der sozialen Bewegungen aufgewertet
werden. Darüber hinaus wird vielen Kandidat_Innen zugesprochen, dass
sie über die LGBTQ+- und Frauenagenda hinausgehen und sich auf
Fragen des Wohnungsbaus, der Bildung und Gesundheit der
Arbeiter_Innen zubewegen.

Verstärkte Polarisierung

Analyst_Innen weisen aber auch darauf hin, dass rechtsextreme
Kandidaturen zugenommen haben und es in den gesetzgebenden Kammern zu
vielen Auseinandersetzungen kommen wird.

Die Situation hat sich während der Pandemie für verschiedene
Schichten verschlechtert. Die Versäumnisse, vor allem nach der Krise
in Manaus (Amazonas), als Patient_Innen wegen Sauerstoffmangels zu
sterben begannen, sowie das Ende der Katastrophenhilfe, ein Anstieg
der Arbeitslosigkeit (allein die Schließung von Ford Brasilien
führte zum Verlust von 55.000 direkten und indirekten
Arbeitsplätzen), Korruptionsskandale und die Veruntreuung von
Geldern aus der Covid-Hilfe, beginnen die Regierung Bolsonaro immer
mehr zu zermürben. Angriffe auf die Presse haben Unzufriedenheit
erzeugt, sogar bei Teilen, die die PT angegriffen und Bolsonaro zum
Wahlsieg verholfen haben.

Viele harte Kämpfe liegen noch vor uns. Ohne Impfstoffe werden
die Kämpfe jeden Tag härter, besonders jetzt, wo wir mit einer sehr
starken zweiten Welle der Pandemie und der neuen Variante des Virus
konfrontiert sind. Die PT und PSOL, linke Parteien mit
parlamentarischer Vertretung, agieren zaghaft im Aufruf zu Protesten
auf der Straße, während sie sich darauf konzentrieren,
Unterstützung für „moderate“ Parteien im Rennen um die
Präsidentschaft des Bundeskongresses zu sammeln (obwohl diese
Parteien Teil des Putsches gegen die Linke waren!).

Gleichzeitig können wir aber auch Anzeichen für ein mögliches
Wiederaufleben von Massenmobilisierungen sehen. Die 8M
(Weltfrauenstreik) und Kollektive, die Teil des „World March of
Women“ (Weltfrauenmarsch) sind, nehmen an den aktuellen
Mobilisierungen gegen Bolsonaro teil, die in den „Carreatas“
(Autokorsos) der Gewerkschaften ihren Mittelpunkt haben. Dies sind
wichtige Schritte für die Frauenbewegung, sich mit den
Mobilisierungen und Kämpfen der Arbeiter_Innen zu verbinden.

Nieder mit Bolsonaro!

In diesem Zusammenhang sehen wir die Notwendigkeit, den Kampf mit
dem Aufbau einer Einheitsfront gegen die Regierung Bolsonaro, den
rechten Flügel und die Angriffe der Bosse voranzutreiben. Die
Bewegung müsste für drastische Maßnahmen zur Bekämpfung der
Pandemie und gegen die Versuche der Bosse, die Arbeiter_Innen für
die Krise zahlen zu lassen, kämpfen. Aber eine solche Einheit wird
nur erreicht werden, wenn der Kampf für die Rechte der Frauen, gegen
Gewalt im Haus und in der Öffentlichkeit und gegen Femizide ein
zentraler Teil dieser Auseinandersetzung wird, der die Frauen der
Arbeiter_Innenklasse an die Spitze der Frauenbewegung sowie des
breiteren Kampfes der Arbeiter_Innenbewegung gegen den
brasilianischen Kapitalismus bringt.

Versuche, eine Einheitsfront aufzubauen, sind bereits im Gange mit
der Autokorso-Kampagne, die Impfstoffe für alle und die
Amtsenthebung Bolsonaros fordert. Aber Autokorsos allein können
diese Ziele nicht erreichen. Wir müssen mehr Autokorsos und
Straßendemonstrationen organisieren, mit dem klaren Ziel, einen
Generalstreik auszurufen, der ein Ende der Regierung Bolsonaro
fordert.

Trotz der Untätigkeit der Führung der linken Parteien darf die
Einheitsfront niemals vor echten militanten Aktionen gegen die
Regierung zurückschrecken und muss die bewusstesten und
kämpferischsten Schichten der sozial Unterdrückten zusammen mit den
militanten Teilen der Gewerkschaftsbasis und der Linken einbeziehen.

  • Für einen Generalstreik!
  • Nieder mit Bolsonaro!
  • Für eine Regierung der Arbeiter_Innen und Bauern/Bäuerinnen!



Russland: Der Fall Nawalny und das Regime Putin

Robert Teller, Infomail 1140, 22. Februar 2021

zuerst veröffentlicht unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/02/22/russland-der-fall-nawalny-und-das-regime-putin/

Am 20. Februar schloss der bislang letzte Akt der juristischen Farce um Alexei Nawalny, der Galionsfigur der russischen Opposition. Das Moskauer Babuschkinskij-Gericht wies die Berufung gegen seine Verurteilung zu rund 3,5 Jahren Lagerhaft ab. Im selben Gerichtssaal wurde auch die Strafe von umgerechnet 9.500 Euro wegen Diffamierung eines Kriegsveteranen bestätigt.

Zu 3,5 Jahren Haft war Nawalny schon Anfang Februar verurteilt worden. Das Berufsgericht bestätigte dies, auch wenn die Strafdauer um einige Wochen reduziert wurde.

Überraschend kamen weder die Festnahme Nawalnys am Moskauer Flughafen am 17. Januar, die von der russischen Regierung im Voraus angekündigt war, noch das Urteil, das offensichtlich darauf ausgerichtet ist, die Galionsfigur der bürgerlichen, prowestlichen Opposition gegen Putin zumindest bis zur nächsten Präsidentschaftswahl aus dem Verkehr zu ziehen – sei es durch Anschläge, sein Exil oder eben jederzeit durch willfährige Richter_Innen verlängerte Haft.

Die Begründung der Justiz wirft ein bezeichnendes Licht auf das System Putin. Nawalny hätte, so das Urteil, gegen Bewährungsauflagen verstoßen, die sich aus früheren Strafverfahren ergeben hätten. Als er knapp der Vergiftung – mutmaßlich durch Agent_Innen des russischen Staates – entgangen war, wurde er in Berlin behandelt. Einige Zeit war er komatös. Während dieser Zeit, so das Gericht, hätte er sich nicht an die Bewährungsauflagen gehalten, zu denen u. a. eine zweiwöchentliche Meldung bei den russischen Behörden gehört.

Das Skandalurteil stellt alles andere als einen Einzelfall dar. Russische Oppositionelle – ganz zu schweigen von Angehörigen unterdrückter Nationalitäten oder von regimekritischen Linken – sind seit Jahren solchen Formen staatlicher Unterdrückung ausgesetzt, die selbst nur einen Teil des Herrschaftssystems Putins darstellen.

Tatsächlich trifft die politische Repression Linke im Allgemeinen härter als bürgerliche Rival_Innen. Vor einem Jahr wurde im sog. „Network Case“ eine Gruppe antifaschistischer Aktivist_Innen in der Stadt Penza zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Urteile stützten sich auf erzwungene Geständnisse. Ende Dezember wurde Sergei Udalzow, ein führendes Mitglied der Parteienkoalition „Linksfront“, der bereits eine viereinhalbjährige Haftstrafe wegen seiner Beteiligung an den Protesten 2012 abgesessen hat, verhaftet und wegen einer nicht genehmigten Protestaktion zu 10 Tagen Haft verurteilt.

Massenproteste

Der entscheidende Unterschied zu den unzähligen Fällen politischer Repression, inklusive Skandalurteilen, langjähriger Haft wegen der Ausübung demokratischer Rechte, liegt aber in Folgendem: Über lange Jahre erzielten diese eine abschreckende Wirkung, weil sich das System Putin neben Repression und einer Monopolisierung der Medien auf eine gewisse soziale Stabilität im Inneren stützen konnte.

Diesmal ist es anders. Die Verhaftung und die Verurteilung Nawalnys lösten eine Welle von Massenprotesten im ganzen Land aus. Diese wurden zu den größten der vergangenen Jahre, mit etwa 15.000 Teilnehmer_Innen in Moskau und über 100.000 in 80 oder mehr Städten landesweit. Die Bedeutung der nicht genehmigten Demonstrationen lässt sich auch an der Anzahl verhafteter Demonstrant_Innen ablesen. Laut OVD-Info, einer russischen Menschenrechtsorganisation, wurden allein Mitte Januar mindestens 4.000 Teilnehmer_Innen festgenommen. Gegen viele wurden Strafverfahren eingeleitet oder in Schnellverfahren Geldstrafen oder Administrativhaft verhängt. Auf weiteren Demonstrationen am 31. Januar wurden erneut mindestens 5.600 Teilnehmer_Innen festgenommen. Menschen wurden nicht erst wegen der Teilnahme an Protesten verhaftet, sondern auch wegen des Teilens von nicht genehmigten Protestaufrufen auf Social Media. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, dass die Polizei ohne Anlass brutal gegen Demonstrant_Innen vorgeht. Auch einige linke Organisationen unterstützten die Proteste kritisch, also ohne dabei Nawalnys politischen Zielen Anerkennung zukommen zu lassen. Nach den Verhaftungen vom 23. und 31. Januar ruft Nawalnys Bewegung nun dazu auf, weitere Proteste zu unterlassen und sich stattdessen für die Duma-Wahlen im September bereitzuhalten.

Wie immer die weitere Mobilisierung verlaufen wird, so signalisiert die Bewegung doch eine bedeutende Veränderung der politischen Lage in Russland, die weit über die Frage der Freilassung von Nawalny hinausgeht. Angesichts der ökonomischen und politischen Probleme des russischen Imperialismus kann das Regime Putins selbst ins Wanken geraten. Nawalny und die bürgerlichen, prowestlichen Kräfte hoffen, aus dieser Lage Kapital schlagen zu können. Es ist kein Zufall, dass sie, anders als in früheren Jahren, die Kritik an Putin vor allem auf Korruptionsvorwürfe lenken, auf die Bereicherung durch ihn und seine Unterstützer_Innen. Eine eigens von Nawalny gegründete Antikorruptions-Stiftung veröffentlichte u. a. ein bekannt gewordenes Video über einen teuren Palast am Schwarzen Meer, der Putin zugeschrieben wird und dessen persönliche Bereicherung belegen soll. Mit diesen Enthüllungen versucht er zugleich, sozial heterogene Putin-Gegner_Innen, die von unzufriedenen Lohnabhängigen und Armen über städtische Mittelschichten und Aufsteiger_Innen bis zu unzufriedenen Kapitalist_Innen reichen, anzusprechen, die meinen, im System Putin zu kurz gekommen zu sein.

Nawalny und die rechtsliberale Opposition

Das darf aber nicht über seine politische Ausrichtung hinwegtäuschen. Die Korruptionsvorwürfe sind für Nawalny Mittel zum Zweck und haben darüber hinaus den Vorteil, dass er seine eigentlichen politischen, programmatischen Ziele in den Hintergrund treten lassen kann.

Nawalny ist ein Rechtsliberaler, der Russland vor Putin retten will. Er fand in der Vergangenheit an liberalen wie auch rechtsnationalistischen Gruppierungen und Organisationen Gefallen und hat – durchaus in Übereinstimmung mit Putins Ansichten – „russische Interessen“ gegenüber den demokratischen Ambitionen nichtrussischer Völker und Nationen verteidigt. Von seinen extrem rassistischen Sprüchen – so bezeichnete er 2007 die Menschen aus dem Kaukasus als „Kakerlaken“ – hat er sich zwar nicht distanziert, doch der Rassismusvorwurf scheint nun entweder mit der Zeit verblasst oder durch Märtyrertum getilgt zu sein. Seine rassistischen Ausfälle u. a. gegen Tschetschen_Innen zeigen, dass er der demokratische Weltverbesserer, als den ihn westliche Fans gerne sehen, nicht ist und nicht sein will. Nawalny präsentiert sich als ein Verbesserer der russischen Nation. Beschönigend bezeichnete er sich als „nationalistischen Demokraten“. Als solcher muss er mit Putin um die Gunst der Nation wetteifern und will nicht zurückfallen, wenn es gilt, die „Gefühle“ des Volkes zu bedienen.

Aktuell reduziert Nawalny alles Schlechte in Russland auf eine behauptete Korruptheit der Eliten. Damit knüpft er erstens an die Wahrnehmung vieler Menschen an, ihnen werde „alles geraubt“. Das stimmt zwar, aber die Korruption in Russland ist dabei eher ein Nebenaspekt gegenüber der  formell legalen Privatisierung von ehemaligem Volkseigentum nach der Restauration des Kapitalismus, die unter Putin fortgesetzt wurde. Politisch ist der bloße Korruptionsvorwurf im Übrigen vor allem demagogisch, weil Nawalny als bürgerlicher Populist natürlich nicht die politökonomischen Ursachen kritisiert, die sie hervorbringen, sondern letztlich selbst an die Futtertröge rankommen will.

Zweitens kritisiert Nawalny damit die Eigenschaft des russischen Systems, die Teilhabe sowohl des Volkes als auch von Teilen der herrschenden Klasse an der Gestaltung der politischer Macht zu beschneiden. Dies entspricht nicht seiner Vorstellung einer anständigen kapitalistischen Großmacht, die auf Augenhöhe mit anderen, v. a. westlichen, Großmächten agieren will und über entsprechende politische Strukturen verfügen sollte, in welchen vor allem auch die verschiedenen Teile der Bourgeoisie selbst demokratisch um die politische Vorherrschaft konkurrieren können. Der Zustand des russischen Staates passt in seinen Augen nicht recht zu einem imperialistischen Land, das zu neuem nationalen Selbstbewusstsein gelangt ist.

Und drittens macht ihn dieser Populismus auch für seine deutschen und westeuropäischen Unterstützer_Innen interessant, die die vorliegenden imperialistischen Konflikte mit Russland lieber als Auseinandersetzungen um „Demokratie und Rechtsstaat“ statt um Märkte und imperiale Einflusszonen verstanden haben wollen. Es handelt sich um solche, die insbesondere dort, wo unmittelbar deutsche Geschäftsinteressen in Frage stehen, auch weiterhin „vernünftig“ mit Russland zusammenarbeiten und gleichzeitig ein legitimes, gesittetes, freiheitlich-demokratisches politisches und militärisches Drohpotential schaffen und vergrößern wollen. Um Russlands Illegitimität Putin direkt in die Schuhe schieben zu können, ist es hilfreich, ein Gesicht der Legitimität vorzuführen, einen Anti-Putin. Nawalny reduziert die Ära Putin auf Korruption und Despotismus. Das reicht, um von den Vertreter_Innen des imperialistischen Deutschlands geadelt zu werden.

Nawalnys Politik drückt primär die Interessenlage nicht allzu großer Teile der Bourgeoisie und des städtischen Kleinbürger_Innentums aus, die von einer stärkeren Öffnung zum Westen mehr zu gewinnen als zu verlieren haben. Er findet, wie die Reichweite der Proteste zeigt, aber auch Anklang in der städtischen Jugend, unter Arbeiter_Innen und Mittelschichten, die entweder Illusionen in seine Version eines modernen, aufgeklärten Populismus hegen oder sich trotz Fehlens solcher Illusionen auf gemeinsame Ziele wie die Beseitigung politischer Verfolgung beziehen.

Nawalny konnte lange mit seinem Populismus einen eher beschränkten Kreis an Wähler_Innen und Unterstützer_Innen mobilisieren und diese Basis reichte bei weitem nicht aus, eine ernsthafte Bedrohung für Putin darzustellen. Dies könnte sich jedoch ändern. Bei Wahlen propagiert er die Taktik des sog. „Smart Voting“. Diese besteht darin, stets die aussichtsreichsten Putin feindlichen Kandidat_Innen zu unterstützen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit oder ihrem Programm. Bisher konnten Putins Leute oft tatsächlich deutliche Stimmenmehrheiten erzielen, was nicht in erster Linie manipulierten Wahlen zugeschrieben werden konnte, sondern auch mit der Zersplitterung und teilweisen Integration der Opposition ins Herrschaftssystem zu tun hatte. Mit seiner Wahltaktik versucht Nawalny gewissermaßen automatisch, alle Anti-Putin-Stimmen für sich zu beanspruchen. Zu den von ihm unterstützten Kandidat_Innen gehören gegebenenfalls auch Angehörige der „systemtreuen Opposition“ wie der KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation) oder der ultrarechten LDPR (Liberaldemokratische Partei Russlands).

Seine begrenzte Massenbasis und die nicht vorhandene Legitimation aus dem Staatsapparat heraus stellt bisher aber auch die Grenze der Figur Nawalny dar – und damit der möglichen Einflussnahme westlicher Mächte. Nawalny biederte sich diesen dadurch an, dass er abgesehen von dem Wunsch nach einer Öffnung zum Westen wesentliche außenpolitische Fragen – wie die der militärischen Interventionen, der Nahostpolitik usw. – offenließ oder mit unverbindlichen Phrasen beantwortete. Umgekehrt verteidigte er auch russische Interessen wie z. B. auf der Krim oder in der Ostukraine.

Auch wenn Nawalnys populistische Methode zu gewissen Wahlerfolgen führen und der Legitimität von Putins System Kratzer zufügen sollte, beinhaltet sie kein politisches Konzept für ein „Russland ohne Putin“. Nawalny mag für manche als authentische und mitreißende Oppositionsfigur erscheinen, weil er seit Jahren einen Gegenpol zu Putin bildet, sein persönliches Schicksal dabei hintenanstellt und sich nicht auf die begrenzten Möglichkeiten der „systemtreuen“ Parteien beschränkt. Letztlich ordnet er aber nicht nur sich selbst, sondern auch die Bewegung auf der Straße seiner Wahltaktik unter.

Nawalnys politisches Programm ist, soweit es überhaupt explizit formuliert wurde, reaktionär. Aber natürlich ist das längst nicht alles, was es über seine Verhaftung und die Protestbewegung zu sagen gibt. Die Verfolgung Nawalnys ist ein bewusster Akt eines bürgerlich-bonapartistischen Regimes, dessen politische Legitimität Risse bekommen hat. Dies spielt sich ab auf dem Boden einer Klassengesellschaft, einer imperialistischen Macht, die in einer wirtschaftlichen Krise steckt und ihre Interessen gegenüber imperialistischen Rival_Innen zu behaupten hat.

Ursprung des Konflikts mit Putin

Die Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen UdSSR hat aus den ehemals vergesellschafteten Industrien, vor allem im Energiesektor, privates Kapital entstehen lassen. Doch die neu entstandene bürgerliche Klasse, die Oligarchie, hatte als solche keine kontinuierliche Geschichte. Sie vermochte nicht, ein gemeinsames gesamtkapitalistisches Interesse zu verfolgen, vielmehr drohte ihre mehr oder minder ungezügelte Aneignung und Plünderung des Volksvermögens, die Wirtschaft zu ruinieren. Die Zukunft Russlands als kapitalistische Großmacht war in den 1990er Jahren ernsthaft in Frage gestellt. Das zeigte sich damals, als Kaugummi und McDonald’s das Land eroberten, es aber unter Jelzin zu zerfallen drohte. Nicht nur an der Peripherie, wo Völker und Nationen neue oder alte Ansprüche auf politische Eigenständigkeit stellten, war der Staat im Zerfall, sondern auch im Innern, wo Oligarch_Innen regionale Regierungen aus dem föderalen System herauskauften und dadurch zeigten, wie wenig „nationales Gesamtinteresse“ sie zu verfolgen beabsichtigten. Der desolate Zustand des politischen Überbaus spiegelte den inneren Zustand der Bourgeoisie wider, einer Klasse, die kein Bewusstsein dafür besaß, welche Herausforderung es bedeutet, sich in der globalen Konkurrenz zu behaupten.

Putin hat in den vergangenen 20 Jahren ein bonapartistisches Regime geschaffen, das sich durch starke zentralistische Machtstrukturen, ein Übergewicht des Sicherheitsapparates und mit diesem historisch verbundener Teile der Bourgeoisie auszeichnet. Putin setzte der drohenden Balkanisierung und Herabstufung Russlands zur Halbkolonie im Zuge der neoliberalen Schocktherapie der 1990er Jahre ein Ende und schuf einen politischen Überbau, mit dem Russland wieder als kapitalistische Großmacht auf der Weltbühne stehen kann. Dieses System funktioniert so, dass ein „nationales Gesamtinteresse“ nicht notwendigerweise durch die, sondern gegebenenfalls und häufig gegen oder über die Köpfe der Bourgeoisie hinweg zur Geltung kommen muss. Die Anerkennung Putins als Repräsentanten des „ideellen Gesamtkapitals“ durch die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie ist nicht ein Resultat, sondern eine Vorbedingung für die politische Repräsentation ihrer Interessen. Oligarch_Innen, die sich dem widersetzten, erhielten entsprechende Lektionen, wie etwa Chodorkowski 2004. Natürlich ist das nicht eine Abweichung von irgendeiner „Idealform“ bürgerlicher Demokratie, sondern ihre spezielle Form unter einer bestimmten historisch bedingten Klassenkonstellation. Der Konflikt, den Nawalny mit Putins Staatsapparat austrägt, ist letztlich ein Resultat der Art und Weise, wie das gesellschaftliche Eigentum der UdSSR privatisiert worden war. Putins „Partei von Räuber_Innen und Halunk_Innen“ entspricht einer Bourgeoisie mit genau diesen Eigenschaften.

Klassenkampf und imperialistische Konfliktlage

Der russische Imperialismus steht vor großen Herausforderungen. Abgesehen von der Rüstungsindustrie verfügt er nicht über starke Exportindustrien, mit denen er die Dominanz über andere Länder sichern kann. Die Extraprofite aus dem Export fossiler Energieträger ermöglichen zwar die Finanzierung des staatlichen Renten- und Gesundheitssystems, das gerade aufgrund der Prekarisierung weiter Teile der Bevölkerung bislang ein wichtiges integratives Element des bonapartistischen Systems darstellt. Die gefallenen Energiepreise gefährden aber das staatliche Distributionssystem und zwangen die Regierung 2018 zu einem historischen Angriff auf die Renten. 2020 brachen die Einnahmen aus dem Gasexport um 39 % und der Gesamtexport um 24 % ein. Der Öl- und Gasexport ist zudem natürlich Gegenstand imperialistischer Rivalität. Die europäischen Hauptabnehmer_Innen sind angesichts des globalen Überangebots an Energieträgern zu einem verstärkten Import aus Russland nur zu für sie vorteilhaften Bedingungen bereit, d. h. bei ihrer Beteiligung an dem dabei erzielten Extraprofit. Die genannten Aspekte beschreiben eine krisenhafte Entwicklung Russlands, die zu politischen Brüchen im Staatsapparat und Opposition innerhalb der herrschenden Klasse führen kann, und damit zu einer Zuspitzung der Verhältnisse. Sie wird zu sozialen Angriffen auf die Massen führen, die Widerstand notwendig machen.

Die schwierige ökonomische Lage geht zugleich mit einer menschenverachtenden Pandemie-Politik und dem weitgehenden Verzicht auf Einschränkungen der Wirtschaft einher – mit fatalen Folgen für die Gesundheit der Massen. Insgesamt hat das Land über 80.000 Tote zu beklagen.

Politische Schlussfolgerungen

Diese aktuelle wirtschaftliche Krise unterhöhlt die soziale Basis des politischen Herrschaftssystems Putins. Das betrifft die Masse der Lohnabhängigen, die Mittelschichten, aber auch die Superreichen und Kapitalist_Innen. Im System Putin überließen sie weitgehend der Staatsbürokratie mit einem bonapartistischen Führer die politische Macht. Im Gegenzug sicherte dieser massive Profite des Großkapitals und die Stabilität der Geschäfte.

Dieser grundlegende gesellschaftliche Krisenprozess bildet auch die Grundlage dafür, dass sich hinter Nawalny tatsächlich eine Massenbewegung formierten könnte, die Putin in Frage stellt. Das Regime ist sich dessen offenbar bewusst und sperrt daher den Oppositionsführer weg. Doch die Repression gegen Nawalny stellt dabei nur die Spitze des Eisbergs dar. Weit über zehntausend Menschen wurden in den letzten Monaten festgenommen, brutal angriffen und warten auf Verfahren.

Auch wenn Nawalny selbst ein bürgerlich-nationalistischer Reaktionär ist, dem Linke keinerlei politische Unterstützung zukommen lassen dürfen und dem gegenüber sich jegliche Illusionen in seine „demokratischen“ Absichten verbieten, so geht es bei seiner fadenscheinigen Aburteilung nicht primär um dessen Person oder Charakter.

Vielmehr geht es darum, dass das russische bürgerlich-bonapartistische Regime ein Exempel statuieren will, um jedes Aufbegehren, jede Opposition einzuschüchtern, um diese im Keim zu ersticken. Daher auch tausende weitere Festnahmen.

Die Arbeiter_Innenklasse und Revolutionär_Innen können und dürfen der staatlichen Repression nicht gleichgültig gegenüberstehen, weil die Durchsetzung dieser Urteile und willkürlichen Festnahmen die Staatsgewalt stärkt und sich nicht nur gegen Nawalny, sondern auch gegen jeden zukünftigen linken Widerstand, gegen jede Arbeiter_Innenaktion richtet.

Revolutionär_Innen müssen daher für Nawalnys Freilassung und die aller Festgenommen eintreten sowie die Einstellung aller Verfahren gegen diese fordern. Sofern Demonstrationen zu seiner Freilassung einen Massencharakter annehmen, sollten Linke auch an diesen Protesten teilnehmen und dort mit ihren eigenen Losungen und Bannern auftreten.

Außerdem wäre es falsch, eine politische Zuspitzung innerhalb des bürgerlichen Lagers links liegenzulassen. Die Auseinandersetzung unterstreicht, dass Putins Bonapartismus entgegen seinem äußeren Anschein zur Zeit ein politisch geschwächtes und instabiles Regime darstellt, das von Klassenkämpfen erschüttert werden kann. Die politische Schwäche der Arbeiter_Innenbewegung und die bonapartistische Herrschaftsform sind zwei Faktoren, die dazu beitragen, dass ein bürgerlicher Populist und Nationalist zur Ikone werden konnte, wie es auch in den Massenprotesten 2011/2012 der Fall war. Die Lösung der „demokratischen Frage“ liegt aber nicht in den Händen der liberalen Bourgeoisie, sondern der Arbeiter_Innenklasse. Sie braucht ihr eigenes Programm, das weder auf ein reformiertes Putin-Regime setzt, wie es die KPRF und die mit ihr verbundenen Gewerkschaften tun, noch auf ein besseres Russland unter einem Anti-Putin hofft. Die klassenkämpferische und radikale Linke muss vielmehr versuchen, die Lohnabhängigen aus dem Lager der Opposition politisch herauszubrechen, indem sie den Kampf für demokratische Rechte mit der sozialen Frage verbindet, mit dem Aufbau kampfstarker, vom Regime unabhängiger Gewerkschaften und sozialer Bewegungen sowie einer von Putin und Nawalny unabhängigen revolutionären Arbeiter_Innenpartei.




#freepablohasél – Warum der Spanische Staat es mit der Meinungsfreiheit nicht ganz so genau nimmt…

Von Christian Mayer

Am Dienstag, den 16.02.2021, wurde in der katalanischen Stadt Lleida der linke Rapper Pablo Hasél festgenommen, nachdem gegen ihn ein Haftbefehl wegen „Majestätsbeleidigung, Verunglimpfung der Verfassungsinstitutionen“ sowie angebliche „Terrorpropaganda“ erlassen wurde. Für einige Tweets, die er abgesetzt haben soll, in denen er u.a. die Guardia Civil für ihre Folterpraktiken kritisierte und den ehemaligen spanischen König Juan Carlos I. als Mafiaboss bezeichnete, soll er nun neun Monate im Knast sitzen.

Hintergrund

Hasél hat mit seiner Kritik nicht ganz unrecht, sowohl im Bezug auf die Folterpraktiken der Guardia Civil, die eine paramilitärische Gendarmerie-Einheit ist, als auch auf seine Kritik am spanischen ex-König Juan Carlos I.

Erstere
genannte Gruppierung ist vor allem durch ihr brutales Vorgehen im
spanischen Bürgerkrieg von 1936 – 1939 bekannt, in der sie als
willige Erfüllungsgehilf_Innen Franco die Widerstände niederschlug
(von Andalusien aus kommend über die Landesmitte bis in die
östlichen Provinzen Valencia und Katalonien sowie in den nördlichen
Provinzen Navarra, Baskenland, Asturien und Galicien). Neben der
tatkräftigen Unterstützung italienischer Bodentruppen und der
„Legion Condor“ der deutschen Wehrmacht war die Guardia Civil der
entscheidende militärische Faktor für Francos Siegeszug.

Später, während des spanischen Faschismus, war die Guardia Civil vor allem für den Terror gegenüber den Minderheiten in den „abtrünnigen“ Provinzen Katalonien, Baskenland und Galicien zuständig. Ihre Aufgabe in der Gegenwart besteht darin, Flüchtlinge in den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika abzuwehren, in der „Aufstands- und Terrorismusbekämpfung“, sowie in der allgemeinen „Grenzsicherung“ (sowohl an den Landesgrenzen wie auch an Flughäfen bzw. im Dienste von Frontex). Die von Hasél und anderen Gegner_Innen der Guardia Civil erhobenen Foltervorwürfe sind dabei nicht aus der Luft gegriffen, wie schon u.a. der EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) in verschiedenen Gerichtsurteilen bestätigt hat. Dass diese allerdings nicht weiter geahndet werden liegt daran, dass sich der Spanische Staat bis heute konsequent weigert, die Antifolterkonvention der EU zu unterschreiben und umzusetzen.

Meinungsfreiheit?

Vor dem kurz dargestellten Hintergrund ist es also wenig verwunderlich, dass die Policia National Pablo Hasél mit einem Großaufgebot auf dem Campus der Uni von Lleida festnehmen ließ, schließlich ist er ja „gefährlich“, zumindest für die Repressionsorgane des Spanischen Staates.

Gerade die absurden Gesetze gegen angebliche „Majestätsbeleidigung“ und die extrem harten „Anti-Terrorgesetze“, die vorwiegend vor dem Hintergrund des Konflikts mit der baskischen Organisation E.T.A. (Euskadi Ta Askatasuna – Baskenland und Freiheit) erlassen wurden, um in paranoider Art alles, was auch nur im Ansatz nach Unterstützung dieser Gruppierung aussah, zu verbieten und massenhaft baskische Linke zu kriminalisieren und einzusperren, spielen eine wichtige Rolle. Sie zeigen recht deutlich, dass es mit der Meinungsfreiheit in der viertgrößten Volkswirtschaft der EU nicht arg weit her ist. Die Verhaftung Haséls erfolgte dann unter dem begeisterten Jubel von pro-spanischen Aktivist_Innen der neurechten Partei „Vox“, die sich selbst in bester Tradition der „Falange Espanola“ sehen, also jener Partei, die unter Franco Staatspartei war.

Auch
im Bezug auf den ex-König Juan Carlos I. hat Hasél nicht unrecht,
da dieser Steuergelder im großen Stil veruntreut hat und durch einen
dubiosen Deal mit dem saudi-arabischen Königshaus für den Bau einer
Hochgeschwindigkeitsstrecke von Mekka nach Medina Bestechungsgelder
von seinem saudischen Amtskollegen in Höhe von Umgerechnet 100 Mio.
Euro annahm.

Das allein sorgte schon für einen medialen Aufschrei der selbst sonst so königstreuen PP (Partido Popular, Volkspartei und offizielle Nachfolgepartei der „Falange Espanola“(Francos Staatspartei)) dazu veranlasste, von eben jenem König abzurücken. Für Juan Carlos I. endete diese Angelegenheit schließlich neben ein paar anderen Gründen im Rücktritt von seinem Amt und der Übergabe an seinen Sohn, Felipe VI., der seit 2015 König ist. Doch damit nicht genug kam vor nicht allzu langer Zeit heraus, dass eben jener Felipe von seinem Vater als Erbe einer Tarnstiftung eingesetzt wurde, die den 100 Millionen-Deal verdecken sollte. Doch dem Sohn gefiel das gar nicht und er lehnte dieses Erbe öffentlichkeitswirksam ab.

Nebeneffekt:
Die spanische Antikorruptionsstaatsanwaltschaft darf sich seither mit
diesem Fall befassen. Ob der ex-König jedoch angeklagt wird, ist
mehr als fraglich, nicht nur wegen seines Alters, sondern weil man es
sich rein aus Imagegründen nicht leisten kann, ein ehemaliges
Staatsoberhaupt einzubuchten (auch wenn der König in erster Linie
rein repräsentative Aufgaben hat, wie etwa der deutsche
Bundespräsident).

Doch
zurück zu Hasél. Dass dieser nun für das Aussprechen von einer
simplen Tatsache eingeknastet werden soll, zeigt, dass die spanische
Justiz nicht nur wie die Justiz eines jeden bürgerlichen Staates
recht willkürlich vorgeht. Es geht viel mehr darum, eine weitere
linke, kritische Stimme verstummen zu lassen und soll damit die
gesamte spanische Linke einschüchtern.

Widerstand

Dass die Justiz in einem bürgerlichen Staat immer die Interessen der herrschenden Klasse vertritt und warum sie das tut, haben wir schon in anderen Artikeln dargelegt. Diese Klassenjustiz stützt aber nicht nur die bestehenden Eigentums- und Machtverhältnisse, sondern sorgt auch für eine härtere Bestrafung linker, kritischer Kräfte durch die gleichen Gesetze (in dem Sinne, dass Gesetze unterschiedlich ausgelegt werden können). Generell geht es darum linke, insbesondere antikapitalistische und antibürgerliche Kritik zu kriminalisieren, um die bürgerliche Ideologie aufrecht zu erhalten. So ist es nicht verwunderlich, dass Pablo Hasél 2014 schon einmal, für einen Song über die Grapo (Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre), zu 2 Jahren Haft verurteilt wurde. Spanien hat dafür sogar ein extra Gesetz „zur Sicherheit der Bürger“, im Volksmund auch „Knebel- und Maulkorbgesetz“ genannt. Im bürgerlichen Spanien gibt es einige Gründe, weshalb die Gesetze so extrem sind. Einerseits natürlich die allgemeine Klassenjustiz, hinzu kommt das Erbe, auch gesetzlich, der Franco-Diktatur, die nur durch seinen Tod und nicht durch einen Sturz des Faschismus beendet wurde. Im Falle des Spanischen Staates kommt hier allerdings dann noch hinzu, dass es es hier auch darum geht, die Einheit des Zentralstaates zu bewahren, und die Unabhängigkeitsbestrebungen z.B. im Baskenland und Katalonien zu unterdrücken. Dies zeigten nicht zuletzt die Ereignisse rund um das als „illegal“ eingestufte Unabhängigkeitsreferendum Kataloniens im Jahre 2017. Damals wurde mit brutalen Mitteln versucht, eben jenes Referendum zu verhindern, in dem z.B. Menschen, die an diesem Referendum teilnehmen wollten, von Einheiten der Policia National zusammengeschlagen und die Wahllokale teilweise gestürmt und verwüstet wurden.

Unsere
Position zur Unabhängigkeitsfrage wollen wir an dieser Stelle
nochmals kurz darstellen:

„Diese wirtschaftlich stärkste Region (Katalonien, Anm. d. Autors) des krisengeschüttelten Spanischen Staates führte im siebten Jahr der erbitterten Kürzungspolitik ein Referendum über die Abtrennung zur Errichtung eines unabhängigen Kataloniens durch. Trotz des Verbotes durch die staatlichen Repressionsorgane nahmen 2,3 Millionen Katalan_Innen am Referendum teil und stimmten mit ca. 80% für ein unabhängiges Katalonien. Obwohl REVOLUTION keine Illusionen in ein unabhängiges kapitalistisches Katalonien hat, stellen wir uns gegen die anti-katalonische und kleinbürgerliche Haltung der spanischen Linken und unterstützen das Selbstbestimmungsrecht der Katalan_Innen, welche insbesondere während der faschistischen Diktatur Francos brutal unterdrückt wurden. Wie in Schottland ist jedoch von der Abspaltung keine Verbesserung für die Arbeiter_Innenschaft zu erwarten, stattdessen treibt sie einen Keil zwischen die spanischen Werktätigen.“ (aus: http://onesolutionrevolution.de/revolution-und-die-nationale-frage/)

Trotzdem
ist der Widerstand, wie nun im Falle des Katalanen Hasél,
gerechtfertigt. Gerade, weil es nicht nur um die Unterdrückung von
nationalen Minderheiten geht, sondern auch um das grundlegende Recht
auf Meinungsfreiheit, sind die Proteste dieses Mal auf das ganze Land
verteilt. Selbst in der Hauptstadt Madrid, die sonst nicht unbedingt
dafür bekannt ist, sich mit der katalanischen Bewegung oder der von
anderen Minderheiten (Bask_Innen, Galicier_Innen) zu solidarisieren
gegen die reaktionäre Hetze seitens Vox und anderer Rechter, gingen
deshalb Menschen auf die Straße.

Das zeigt, dass es durchaus möglich ist, endlich die Spaltung der spanischen Linken nicht nur anhand der Frage von Minderheiten und deren Recht auf Selbstbestimmung, sondern auch anhand anderer Fragen, zu überwinden und den Kampf gegen den spanischen Staat und seine verbrecherischen Institutionen zu koordinieren und schlagkräftig werden zu lassen. Nichts desto trotz bleibt aber noch ein weiter Weg zu gehen, um dies zu verdeutlichen und die Notwendigkeit zu verdeutlichen eine neue, revolutionäre Organisation aufzubauen, die alle von Unterdrückung Betroffenen organisiert und den Kampf für demokratische Rechte (wie die freie, politische Meinungsäußerung) und gegen Sexismus, Patriarchat, Rassismus, nationale Unterdrückung und kapitalistische Ausbeutung, auf der Grundlage eines Programms, das den Weg hin zur Revolution zeigt, führt.




Bundesweiter Aktionstag am 26. Februar!!!!!11elf!!

Aufruf des Bündnis‘ #FürgerechteBildung

Für gerechte Bildung! Kein Schulbetrieb auf unserem Rücken!
Für Millionen Schüler:innen heißt Bildung seit Monaten vor allem Unsicherheit und Chaos.
Während der Staat Milliarden bereitstellt, um die Profite riesiger Unternehmen zu sichern,
unternimmt er nichts, um sichere und gerechte Bildung während der Corona-Pandemie sicher
zu stellen. Im Gegenteil: Erst blieben die Schulen mit völlig unzureichenden Vorkehrungen
offen, selbst als die Infektionszahlen in die Höhe schossen.
Als dann auf Online-Unterricht umgestellt wurde, geschah dies völlig unvorbereitet und ohne
einen Plan um soziale und ökonomische Ungleichheiten auszugleichen. In vielen
Bundesländern besuchen außerdem Abschlussklassen noch immer ohne ausreichende
Hygienevorkehrungen die Schule.
Die Prüfungen würden um jeden Preis stattfinden (so die Kultusminister:innen), damit spätere
Chef:innen uns mit vorhergenden Jahrgängen in ihrem Sinne vergleichen können.
Das obwohl die Pandemie für viele Schüler:innen eine noch stärkere Belastung als je zuvor
darstellt. Gerade durch das Wegfallen jeglichen Ausgleichs zur Schule, spitzt sich die
Situation für zahlreiche Haushalte weiter zu.
Nicht nur Schüler:innen sind belastet, sondern auch ihre Eltern. Ihnen wird abverlangt nicht
nur weiter arbeiten zu gehen, um die Profitwirtschaft am laufen zu halten, sondern
gleichzeitig noch ihre Kinder beim Homeschooling zu unterstützen. Dabei sind Frauen
besonders belastet.
Auch Lehrkräfte leiden unter der Situation, da sie Homeoffice und Kinderbetreuung unter
einen Hut bringen müssen.
Die jetzige Politik der Regierung gefährdet unser aller Gesundheit und macht unsere
Bildungschancen zu nichte!
Wir rufen deshalb alle Schüler:innen, Eltern, Lehrer:innen, sowie die Gewerkschaften, gerade
die GEW, und alle, die sich solidarisieren wollen auf, am TT. Februar aktiv zu werden!
Organisiert euch darüberhinaus an euren Schulen, sprecht eure Mitschüler:innen an, um diese
Forderungen an eure Schule zu tragen.
Zeigt euren Protest gegen die Corona-Schulpolitik der Regierung:In Form von zum Beispiel
Streiks, Kundgebungen und Plakaten!
Wir fordern:

• Bundesweite Durchschnittsabschlüsse
• bessere Hygienekonzepte
• Massive Investitionen in das Bildungssystem: mehr Personal, kleinere Klassen, mehr
Lernräume schaffen
• Flächendeckend Luftfilter in den Klassenzimmern

• soziale, finanzielle und psychische Unterstützung für Schüler:innen im Home-
Schooling

• kostenfreie digitale Ausstattung
• Kostenfreie Nachhilfe in den Stadteilen
• Sichere Lernräume für Schüler:innen, die zu Hause nicht lernen können
• Garantierte Übernahme von Auszubildenden
• Flächendeckende Rückkehr zu G9
• ein Schulsystem, in dem Schüler:innen wirklich mitentscheiden können.

Gemeinsam wollen wir unseren Landesregierungen und der Bundesregierung zeigen, dass wir
nicht unsere Gesundheit und die unserer Mitmenschen aufs Spiel setzen! Für gerechte
Bildung – Kein Schulbetrieb auf unserem Rücken!




#ZeroCovid – Stop the Curve!

Internationale Resolution von Revolution

Seitdem
die Pandemie ausgebrochen ist und eine allgemeine Krise sich
abzeichnet, sind die linken Massenorganisationen und auch große
Teile der radikalen Linken in einen Winterschlaf gefallen, aus dem
auch der Lärm von alles andere als schläfrigen Schwurbler_innen sie
nicht aufwecken konnte. Jetzt kommt eine Initiative von links, die es
wagt der Gesundheit zuliebe einen Finger an die Profite zu rühren
und innerhalb weniger Tage 80,000 Unterschriften zustande bringt.
Kein Wunder, dass das deutsche
Kapital am Rad dreht, wie stets im Duett mit Gewerkschaftsführungen
und bürgerlicher Presse. Aber auch innerhalb von Teilen der
radikalen Linken hat die Kampagne keinen guten Ruf, ihr Ziel sei
unrealistisch und dann wolle sie zu dessen Umsetzung auch noch einen
Polizeistaat installieren! Ist die Kampagne also überhaupt links?
Sind das vielleicht alles Faschisten? Und wenn nicht, wie sollten
sich junge Revolutionär_innen zu ihr verhalten? Was hat sie
überhaupt für die Jugend zu bedeuten, wie steht sie zu den Schulen?
Und wie könnte sie vielleicht sogar zum Sieg führen? Den
drängendsten Fragen wollen wir uns hier kurz annehmen.

Nochmal kurz Corona-Recap:

Also
Corona, das war ja diese Krankheit, die einen irgendwie umbringt,
wenn man z.B. Vorerkrankungen hat oder alt ist und dazu keinen
ausreichenden Zugang zu gesundheitlicher Versorgung bekommt. Weil die
Sterblichkeitsrate so in die Höhe geht, wenn das Gesundheitssystem
überlastet ist, ist die Pandemie nicht nur für uns Jugendliche und
die Arbeiter_innenklasse so eine Katastrophe, auch die Bourgeoisie
und die Regierungen haben ein Problem, wenn größere Teile der
Bevölkerung wegsterben. Der Ansatz von stumpfer „Herdenimmunität“,
der von Arschlöchern wie Trump oder Bolsonaro noch verfolgt wurde
und in beiden Ländern zu katastrophalen Zuständen geführt hat, ist
also im Allgemeinen für niemanden eine richtige Option. Die Politik,
die wir in Europa seit langem erleben, folgt daher dem Konzept
„flatten the curve“, d.h. durch halbherzige Maßnahmen wird das
Virus zwar nicht komplett eingedämmt, aber die Ausbreitung wird auf
ein lineares Wachstum verlangsamt, indem man die Reproduktionszahl
auf 1 oder knapp unter 1 bringt und damit auch knapp unter der
Kapazitätsgrenze des Gesundheitssystems verbleibt, man will sich
also irgendwie durchmauscheln bis durch Impfung und Genesene die
Bevölkerung hinreichend immunisiert ist. Der Twist fürs Kapital
dabei ist, dass die Maßnahmen, die dabei getroffen werden,
hauptsächlich auf die persönlichen Freiheiten und Rechte der
Menschen abzielen (private Kontaktbeschränkungen, Schließung von
Kultur- und sozialen Einrichtungen, …), jedoch die Produktion und
damit die Profite der großen Konzerne und Industrien weitgehend
unangetastet bleiben. Darin liegt aber auch ein Problem, weil die
kapitalistischen Regierungen in diesem ständigen Ringen über den
Grad der Maßnahmen niemals vollständige Kontrolle über das Virus
erlangen, wir sehen es aktuell sehr deutlich in der Debatte um die
Wiederöffnung der Schulen, eine Schwierigkeit die durch Faktoren wie
hoch infektiöse Virusmutationen natürlich weiter verschlimmert
wird. Und hier kommt nun ZeroCovid ins Spiel, eine Kampagne, die
ursprünglich zurückgeht auf eine Proposition einer Gruppe von
Wissenschaftler_innen aus „The Lancet“ (das ist so ein
kanonisches Medizinjournal aus Großbritannien).

Was
will ZeroCovid?

Die
hauptsächliche Message von ZC ist, dass die Infektionszahl, auf
nahezu 0 (zero) heruntergebracht werden muss, um die Pandemie in den
Griff zu bekommen, also eher ein „stop the curve“-Ansatz. ZC sagt
nun, wie auch viele andere vernünftige Menschen, die nicht gerade
einen Regierungsposten belegen, dass ein „Feierabendlockdown“,
bei dem die meisten acht Stunden ihres Tages zubringen wie eh und je,
dafür niemals ausreichen kann, und dass aus diesem Grunde auch für
einen kurzen Zeitraum die nicht-essentiellen Teile der Wirtschaft
geschlossen werden müssen.

Der
Lockdown soll darüberhinaus ein „solidarischer Lockdown“ sein,
in dem Sinne, dass ein Rettungspaket gefordert wird, nicht für
Banken und Konzerne, sondern für „die Menschen, die von den
Auswirkungen des Shutdowns besonders hart betroffen sind […] wie
Menschen mit niedrigen Einkommen, in beengten Wohnverhältnissen, in
einem gewalttätigen Umfeld, Obdachlose“. Ebenso soll massiv in den
Gesundheits- und Pflegebereich investiert werden und es wird
gefordert, dass die Impfstoffe „ein globales Gemeingut“ und der
„privaten Profiterzielung entzogen“ werden sollen.

Wichtig
ist, dass ZC, wenn auch nirgends das Wort „Kontrolle“ auftaucht,
dazusagt, „dass die Beschäftigten die Maßnahmen in den Betrieben
selber gestalten und gemeinsam durchsetzen” müssen und auch die
Gewerkschaften aufgefordert werden, “die erforderliche große und
gemeinsame Pause zu organisieren”. Wichtig ist das deshalb, weil es
die Frage aufwirft, wer das Subjekt der Veränderung sein soll,
vielmehr noch diese Frage gleich mit einem Klassenstandpunkt auf
Seiten der Arbeiter_innenklasse beantwortet. Dies schlägt sich auch
in einer letzten Forderung noch einmal nieder, in der sie die
Finanzierung aller Maßnahmen durch das Kapital fordern, in Form
einer “europaweiten Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen,
Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten
Einkommen.”

Was
ist von all dem zu halten?

Wie
schon angedeutet, ist der grundlegende Ansatz goldrichtig und es ist
sehr zu begrüßen, dass die Intiative auf so eine Popularität
stößt. Insbesondere der Bezug auf die Arbeiter_innenklasse stellt
einen qualitativen Unterschied dar zu anderen Petitionen und
moralischen Appellen. Mit all dem gesagt, müssen wir dennoch
bemerken, dass in dem Aufruf einiges schwammig bleibt, so wird nicht
klar unter welchen Umständen eine Kontrolle der Arbeiter_innen und
Jugend über die Maßnahmen gelingen kann, stattdessen wird eher der
Eindruck vermittelt, der Staat müsse nur mal daran erinnert werden,
dass es uns auch noch gibt und dann könne man ihm die Umsetzung
dieser Politik auch irgendwie überlassen. Das ist allerdings ein
Trugschluss, kann doch der Staat in einer Klassengesellschaft, in der
die ökonomische Macht, das Eigentum, bei einer einzelnen Klasse
liegt, unmöglich neutral über den Klassen stehen. Es gibt
darüberhinaus noch viele weitere Punkte, in denen wir uns natürlich
wünschen würden, dass der Aufruf klarer und weitreichender wäre,
wir wollen hier nur exemplarisch nennen, dass zwar der Schritt von
einer europaweiten Planung schon gut ist, allerdings die Kurve nur
global wirklich gestoppt werden kann, wir also international für
diese Maßnahmen kämpfen müssen, wie auch klar gesagt werden muss,
dass der Kampf gegen die Pandemie keine Abschottung Europas gegenüber
Flüchtenden bedeuten darf, die Grenzen müssen für Geflüchtete
vielmehr geöffnet werden, so coronakonform wie möglich
(Massentests, dezentrale Möglichkeiten zur Quarantäne, …).

Also
Pustekuchen?

Nee!
Gerade jetzt, wo die Gewerkschafts- und Parteiführungen unsere
Klasse so im Stich lassen, und die größeren Mobilisierung eher von
rechts kommen, ist unsere Aufgabe eine Antikrisenbewegung von links
aufzubauen. Und da dürfen wir bei einem so vielversprechenden
Ansatz, der auch noch in so entscheidenden Fragen in genau die
richtige Richtung geht, nicht meckernd am Rande stehen. Wir müssen
uns vielmehr in ZC dafür engagieren, dass all die angesprochenen
Punkte umgesetzt werden, die so notwendig sind für den Erfolg der
Kampagne. Es ist ein richtiger Schritt, dass neben dem reinen
Unterschriftensammeln im Netz in den letzten Wochen auch zaghaft
kleine Aktionen auf der Straße oder vor den Betrieben gestartet
wurden und in vielen Städten Ortsgruppen zur Koordinierung der
Proteste gegründet wurden. Revolutionär_innen sollten diesen
Tendenzen weiterführen und so die Klasse als Subjekt der Veränderung
mehr in den Vordergrund rücken, da nur aus einer wirklichen Bewegung
auch Kontrollorgane zur Umsetzung der Ziele hervorgehen können.
Lasst uns im Einklang mit dem Infektionsschutz Demos, Streiks und
Besetzungen organisieren! Wir fordern auch andere linke
Jugendorganisationen (solid, Young Struggle, SDAJ, Jugendantifas und
andere, ja ihr seid gemeint) auf, um ZC aktiv zu werden. Nur von
außen kritisieren reicht jetzt nicht, macht mit und tragt eure
Kritik aktiv mit rein! Die Zeiten sind vorbei, in denen wir es uns
leisten können jede unser eigenes Süppchen zu kochen! Und nebenbei,
das Argument Forderungen an den Staat seien ein NoGo können wir
nicht gelten lassen, bei FFF hat das auch niemanden gejuckt, wir
haben aber trotzdem noch einen ausführlicheren Artikel zu der Frage:
onesolutionrevolution.de/duerfen-linke-forderungen-an-den-staat-stellen-zerocovid/

Was
heißt ZeroCovid für Jugendliche?

Naja
Corona ist ja auch doof für uns, nicht nur für Oma und Opa, das
wird z.B. deutlich, wenn wir uns anschauen was das Krisenmanagement
in der Schule für eine Katastrophe ist, nicht nur für diejenigen,
die gerade Abi schreiben. Es macht daher auch für uns Sinn, für ein
bisschen Kontrolle über unsere Lebensrealitäten zu kämpfen. Wir
sollten daher in der Schul-AG bei ZC intervenieren, um dafür zu
sorgen, dass a) unsere Interessen in der Kampagne Gehöhr finden, wir
b) dadurch auch andere Jugendliche aufmerksam machen können und
c) Druck auf Kräfte wie die GEW aufzubauen auch zu Aktionen
aufzurufen.
Inhaltlich
sollten wir dabei Forderungen aufwerfen wie: Schulöffnungen nur
unter unseren Bedingungen: Mehr Räume, mehr Personal, kleinere
Klassen, Freistellung ohne Diskussion, Prüfungen und Noten nur zur
Verbesserung. Ausführlicher
findet ihr das auf unserer Homepage.


Gehen wir es also an,
der Kampf für eine bessere Welt und gegen die Corona-Leugner_innen
kann nur Erfolg haben, wenn wir auch greifbar Alternativen aufzeigen
können!