Stoppt das Morden, stoppt den Krieg – Im Kongo wie in Palästina

Von Jona Everdeen, Dezember 2023

Während die Welt über den brutalen genozidalen Krieg Israels gegen die Palästinenser_Innen in Gaza spricht und der Krieg in der Ukraine gleichzeitig immer mehr aus dem Rampenlicht verschwindet, redet niemand darüber, dass ein anderer Konflikt, der in der Vergangenheit Schauplatz von zigtausend, wenn nicht gar millionenfachem Morden war, wieder ausgebrochen ist. Die Rede ist vom Kongo und vor allem dessen östlicher Provinz Nord-Kivu. Der Konflikt hat seine Wurzeln im Kolonialismus und für sein erneutes Aufflammen ist sehr maßgeblich der Imperialismus mitverantwortlich. Der Kongo gehört zu den ärmsten der armen Halbkolonien in Afrika und während der Imperialismus ganz aktiv dafür verantwortlich ist, dass die politische Lage dort sehr instabil ist und Konflikte darum kaum befriedet werden können, interessiert das Schicksal der dort lebenden Menschen in den imperialistischen Zentren niemanden.

Von der Kolonie zur Halbkolonie

Der Kongo ist wohl eins der brutalsten Beispiele dafür, wie Kolonialismus und Imperialismus ein Land zerstören können. Der immense Reichtum des Landes an verschiedensten Bodenschätzen spielte dabei eine maßgebliche Rolle, und war bislang stets mehr Fluch als Segen.

So war das Land bereits Opfer einer der brutalsten Kolonialherrschaften unter dem belgischen König Leopold, welcher durch seine private Kolonialmiliz massenhaft Menschen massakrieren und verstümmeln ließ, wenn sie nicht die von ihm geforderten absurd hohen Mengen an Kautschuk lieferten. Doch auch nach der Unabhängigkeit wurde es nicht besser, so sorgten vor allem Belgien und die USA dafür, dass die „Unabhängigkeit“ nach ihren Vorstellungen ablief, ließen den fortschrittlichen Führer der kongolesischen Befreiungsbewegung, Patrice Lumumba, ermorden und unterstützten Joseph Mobutu dabei, eine brutale und extrem korrupte Diktatur aufzubauen. Unter Mobutu ging der komplette Reichtum des Landes an europäische Mächte und eine kleine nationale herrschende Klasse, während das Land verarmte und die Infrastruktur verfiel. Grund für die Unterstützung Mobutus war neben der Garantie, dass europäische Konzerne die Rohstoffminen weiter nutzen konnten, auch, dass Mobutu die Rolle des imperialistischen Gendarms in Zentralafrika einnahm und versuchte, den Einfluss der Sowjetunion in der Region klein zu halten. Aus einer Kolonie, erst des Königs dann des belgischen Staates, war eine Halbkolonie des westlichen Blocks geworden.

Der Kongokrieg – Die Rückkehr eines vergessenen Grauens?

Der jüngst wieder ausgebrochene Konflikt ist Folge der Kongokriege, welche am Ende der Mobutu Diktatur das Land in neuen Schrecken versetzten. Der 2.Kongokrieg, auch „Afrikanischer Weltkrieg“ genannt, zwischen 1998 und 2003 gilt als einer der brutalsten Kriege seit dem 2.Weltkrieg und es wird geschätzt, dass insgesamt rund 6 Millionen Menschen dem Konflikt zum Opfer fielen.

Ein Auslöser für den Krieg war der entsetzliche Genozid im benachbarten Ruanda, wo sich die Tutsi und die Hutu, zwei Volksgruppen, die von den belgischen Kolonialbehörden gegeneinander ausgespielt wurden und seitdem verfeindet waren, extrem brutale Kämpfe lieferten. Diese fanden ihren schrecklichen Höhepunkt im ruandischen Genozid 1994, wo innerhalb von hundert Tagen bis zu eine Millionen Tutsi ermordet wurden. Nach dem Rückzug der Hutu-Milizen ins östliche Kongo, marschierte Ruanda dort ein und es kam dabei zu einer jahrelangen gewalttätigen Eskalation. Den ruandischen Truppen, sowie ihren Verbündeten aus Burundi, Uganda und verschiedenen Milizen gelang es, rund die Hälfte des Kongo zu erobern und teils gewaltsam zu plündern.

Nach dem zunächst vielversprechenden Friedensprozess in den 00er Jahren fand der Konflikt jedoch nie wirklich eine dauerhafte Lösung. Während der Kongo und Ruanda sich in Diplomatie versuchten, führten Hutu-, Tutsi- und andere Milizen immer wieder Kämpfe, vor allem in der Nord-Kivu Provinz. Vor nun etwa zwei Monaten stieß die Tutsi-Miliz „M23“ vor und eroberte mehrere Städte. Aus Angst vor einem neuen großen Krieg ergriffen hunderttausende die Flucht. Vorausgegangen waren dieser Offensive brutale Morde an Angehörigen des Tutsi Volkes im Ostkongo, teilweise wohl durch Unterstützung oder mindestens wohlwollende nicht-Einmischung der kongolesischen Sicherheitskräfte. Der Kongo wiederum wirft Ruanda vor, M23 aktiv zu unterstützen und an den Angriffen in Nord-Kivu beteiligt zu sein und wies den ruandischen Botschafter aus.

Während in der Region die Angst vor einem neuen Kongokrieg wächst, interessiert sich im Westen fast niemand für die dortige Situation. Für westliche Konzerne hat es schließlich keinen Unterschied gemacht, ob mit Ruanda verbündete Milizen oder die kongolesische Regierung ihnen von brutal ausgepressten Arbeiter_Innen, häufig Kindern, gefördertes Gold, Coltan und Kobalt zu Spottpreisen zur Verfügung stellen.

Ringen um Rohstoffe – Wie sich die Weltlage auf den Kongo auswirkt

Was jedoch EU und USA Sorgen bereiten dürfte, ist der zunehmende Einfluss Chinas im Kongo. Während nämlich die westlichen Imperialisten nicht nur beim Kongokrieg einfach zusahen, wie das Land im Chaos versank, solange die Rohstoffe weiter ausgeführt wurden, investiert seit geraumer Zeit China darin, die kaputte und teils kaum vorhandene Infrastruktur des Landes wieder auf- bzw. auszubauen. Dies veranlasst in jüngerer Vergangenheit immer größere Teile der sich inzwischen demokratisch präsentierenden kongolesischen Bourgeoisie dazu, sich stärker hin zu China zu orientieren, welches den Kongo scheinbar zum ersten Mal auf Augenhöhe behandelt und bessere Preise für die Rohstoffe anzubieten scheint. Dass es China in Wahrheit nicht um Hilfe geht, sondern eben darum, selbst ein größeres Stück vom kongolesischen Kuchen abzubekommen, sollte jedem klar sein. Dabei spielt vor allem eine Ressource heute eine Schlüsselrolle: Kobalt. Ähnlich wie in den 00er Jahren bei Coltan findet auch die weltweite Kobaltproduktion zum Großteil im Kongo statt.

Kobalt ist dabei besonders zentral für die als „Grüne Lösung für den Verkehrssektor“ verkauften E-Autos, welche in Wahrheit nicht grün, sondern blutig sind. China, welches versucht, den USA die Vorreiterrolle im Kampf um die neuesten Technologien abzunehmen, braucht dieses Kobalt sowie auch das Coltan aus dem Kongo und fährt entsprechend dessen klassische Strategie: „Wir sind eure Freunde, wir bauen für euch Infrastruktur, dafür kriegen wir eure Rohstoffe. Vom Westen kriegt ihr weniger.“ Ein Deal, den zahlreiche halbkoloniale Regierungen gerne annehmen.

Doch auch wenn die Ausbeutungsbedingungen des chinesischen Imperialismus tatsächlich etwas besser sein können als die Belgiens, Frankreichs oder der USA, ändert das nichts daran, dass auch das imperialistische China den Kongo ausbeuten will, dass es sich um die Kongoles_Innen nicht kümmert, dass es ihm egal ist, ob Kobalt und Coltan unter widrigsten Arbeitsbedingungen von Kindern abgebaut werden, solange die Ressourcen nur in den Fabriken von Shenzen landen statt in denen von Detroit oder Duisburg.

Wenn jedoch tatsächlich der Kongo mehr und mehr von einer Halbkolonie des Westens zu einer Halbkolonie Chinas wird, dann kann es sein, dass der Westen ein aktives Interesse daran gewinnt, das Land noch weiter zu destabilisieren, auch wenn das zum Preis hunderttausender weiterer Toter geschieht. Fakt ist jedenfalls, die Leittragenden im Kampf um Rohstoffe werden weiterhin die kongolesischen Arbeiter_Innen, Bäuer_Innen, Jugendliche und Kinder sein.

Only one Solution – Revolution

Der Kongo ist kein Einzelfall, im Gegenteil: Der absolute Großteil der Konflikte in afrikanischen Ländern haben ihren Ursprung maßgeblich im Kolonialismus und werden heute durch den Imperialismus entweder direkt geschürt oder zumindest einmal begünstigt werden.

Für die Ausplünderung von Ressourcen sowie den Ausbau ihrer geopolitischen Stellung ist imperialistischen Mächten jedes Mittel recht, ganz gleich ob Schuldenfalle, Destabilisierung oder militärische Interventionen. Dabei kann auch der Wechsel der imperialistischen Macht keine Lösung sein, da diese China/Russland, auch wenn sie sich gerne als antiimperialistisch darstellen, selber imperialistische Politik betreiben.

Die einzige wirkliche Lösung ist der Bruch mit dem Imperialismus und der eigenen Bourgeoisie, die mit diesem kooperiert, durch ein Bündnis aus Arbeiter_Innen, kleinen bis mittleren Bäuer_Innen und einfachen Soldat_Innen, das eine sozialistische Revolution durchführt und die Produktionsmittel unter seiner Kontrolle verstaatlicht. Nur so können die Menschen im Kongo von den Ressourcen ihres Landes profitieren, in dem sie die Kontrolle über diese an sich reißen! Indem sie internationale Konzerne, ob nun belgische, französische, US-amerikanische oder chinesische, aus dem Land werfen und die Vasallen der Imperialisten verjagen! Dafür braucht es auch einen Zusammenschluss der Arbeiter_Innen über Volksgrenzen und über Staatsgrenzen hinweg. Die Arbeiter_Innen, Bäuer_Innen und Jugendlichen müssen für die einzige echte Lösung der Krise und das einzige dauerhafte Ende der Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen: Für eine sozialistische Föderation der Völker Afrikas!




Filmkritik: Die Barbarei von Panem – Oder: Was passiert, wenn wir verlieren?

Von Jona Everdeen, Dezember 2023

Es sorgte für einigen Spaß als bekannt wurde, dass Teile des neue „Tribute von Panem“ Prequel ausgerechnet in Duisburg gedreht werden sollten. Es wurde gewitzelt, dass die ökonomisch schwächelnde Industriestadt im Ruhrgebiet den post-apokalyptischen Vibe sehr gut treffe.

Doch was ist das wirklich für eine Welt, in der Jugendliche zur Teilnahme an den tödlichen Hungerspielen gezwungen werden und wo die große Mehrheit der Menschen in den Distrikten im Elend versinkt, während eine kleine Gruppe von Menschen im Kapitol ein selbst für große Teile der aktuellen Bourgeoisie schwer vorstellbares Luxusleben führt?

Und was hat diese dystopische Gesellschaft mit unserer Welt zu tun? Könnte Panem, wenn es dumm läuft, irgendwann ein sehr realer Schrecken sein?

Die Klassenstruktur von Panem

Der Staat Panem besteht aus 12 Distrikten und einer Hauptstadt, dem Kapitol. In den Distrikten findet jeweils voneinander getrennt die Produktion verschiedener Güter statt (z.B. Holz, Textilien, elektronische Geräte), während vom Kapitol aus der Staat verwaltet wird.

Die Produktion in den größtenteils sehr armen Distrikten dient in erster Linie der Versorgung des Kapitols.

Die Menschen in den Distrikten sind dabei keine Sklav_Innen des Kapitols. Sklav_Innen sind lediglich die „Avoxe“, Bedienstete im Kapitol selbst, denen die Zunge herausgeschnitten wurde, damit sie sich nicht verbal verständigen können. Sie sind keine Leibeigenen im Sinne eines Feudalsystems, die für ihre Herren Frondienste verrichten und Abgaben leisten müssen, aber sonst für den Eigenbedarf produzieren. Und sie sind auch keine Arbeiter_Innen, die Arbeit verkaufen.

Genauso sind die Menschen im Kapitol auch keine Sklavenhalter_Innen, wobei die Gesellschaft des Kapitols einer antiken Stadtgesellschaft durchaus ähnlich ist, keine Feudalherren und keine Kapitalist_Innen, die ihre Stellung in erster Linie durch den Privatbesitz an Produktionsmitteln inne haben. Der Hauptwiderspruch dieser Gesellschaft ist eben der zwischen Kapitol und Distrikten und beruht letztendlich auf roher, kaum verhüllter, staatlicher Gewalt. Während die Menschen in den Distrikten schuften müssen, extrem prekären Lebensbedingungen ausgesetzt sind und auch noch jedes Jahr zwei Jugendliche aus jedem Distrikt zum Sterben in die Arena der Hungerspiele schicken müssen, lebt es sich im Kapitol in Saus und Braus.

Das Kapitol presst, um diesen Lebensstil finanzieren zu können, auf brutalste Art und Weise die Distrikte aus, wobei die Hungerspiele eigentlich nur die Spitze des Eisbergs sind. Weigern sich Menschen, die Schwerstarbeit zu leisten oder können sie schlicht die Liefermengen an das Kapitol nicht erfüllen, kommt es zu meist völlig willkürlichen Auspeitschungen und Hinrichtungen und somit extremster Repression durch die als „Friedenswächter“ bezeichnete Armee des Kapitols.

Diese Armee setzt sich aus verschuldeten Bürger_Innen des Kapitols oder Menschen aus dem etwas privilegierten Distrikt 2 zusammen.

Soziale Mobilität gibt es zwar in der Armee im beschränkten Maße. Aber als Kapitolbewohner_In klassische Distriktbewohner_In zu werden oder andersherum ist hingegen quasi ausgeschlossen und auch von einem Distrikt in den anderen zu „wechseln“, kann man zumindest nicht regulär.

Auch die Sieger_Innen der Hungerspiele nehmen in dieser Gesellschaft nur begrenzt eine Sonderrolle ein: Sie werden zwar im Kapitol zu einer Art Popstars und erhalten genug Geld um sich und ihren Familien ein sorgloses Leben zu ermöglichen, sie bleiben jedoch weiterhin Distriktbewohner_Innen.

Kann Panem Realität werden?

„Sozialismus oder Barbarei“, diese Mahnung Rosa Luxemburgs ist in der marxistischen Linken allseits bekannt und bedeutet, dass, sollte es uns nicht gelingen, die gesellschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus auf revolutionärem Weg zu lösen, zwangsläufig dieses System an den Widersprüchen untergehen und die Gesellschaft in eine Barbarei stürzen müsse.

Was jedoch diese Barbarei genau bedeutet, ist dabei bewusst offengehalten. Zum einen wird damit die Entbändigung der kapitalistischen Gewalt im Faschismus beschreiben. Es geht dabei aber auch um eine apokalyptische nach-kapitalistische Welt. Man kann diese natürlich nicht vorhersehen, aber sich bestimmte Szenarien ausmalen, woraus einige kulturelle Genres entstanden sind.

Die erste Option können wir im Film „I Am Legend“ sehen oder auch bei manchen Klimagruppen hören. Hier gibt es die Vorstellung, dass nach einer großen Katastrophe wie Krieg, dem eskalierenden Klimawandel oder einer Pandemie die Menschheit als Spezies schlicht verschwindet.

Deutlich öfter und auch irgendwie überzeugender tauchen Visionen einer heftigen Dezimierung aber nicht Auslöschung der Menschheit auf, die dann ihr Dasein unter prekärsten, vormodernen Verhältnissen fristen muss, wie in Teilen der Fallout-Reihe oder Metro 2033. Die dritte Option ist jene von Tribute von Panem: Der Errichtung einer neuen Klassengesellschaft auf den Trümmern der alten. Einer Gesellschaft in der nicht mehr das kapitalistische Wertgesetz herrscht aber auch kein zentraler, rätedemokratischer Plan.

Wenn man sich aber auf diese wilde Spekulation einlässt, scheint eine Gesellschaft in der es einer privilegierten, technologisch überlegenen, Minderheit gelingt, eine neue Ordnung in ihrem Interesse zu erschaffen und die Gesellschaftsmehrheit unter Androhung und Anwendung exzessiver Gewalt dazu zu zwingen, für sie zu arbeiten, durchaus nicht unrealistisch.

Auch in einem weiteren post-apokalyptischen Universum sehen wir ein Beispiel für eine solche Gesellschaft, allerdings in ihrer Frühphase: Negans Saviors aus The Walking Dead.

Diese bilden letztendlich eine Gruppe aus Menschen die, von einem gut gesicherten Hauptquartier aus agierend, mit Waffengewalt andere Gruppen von Menschen dazu zwingen für sich zu arbeiten und Produkte, zum Beispiel Lebensmittel, als Tribut zu zahlen. Sollten diese nicht im geforderten Maße liefern, ist die Strafe meist die Erschießung eines Mitglieds der Gemeinschaft.

In Tribute von Panem wird nicht genauer erwähnt, wie die dortige Gesellschaft ursprünglich entstanden ist, jedoch ist ein ähnlicher Ursprung der Räuberei durch das Kapitol, die sich dann über die Jahrzehnte institutionalisiert zu einer Art Staat weiterentwickelt haben könnte, durchaus realistisch.

Tatsächlich sehen wir ja bereits jetzt, wie an verschiedenen Orten von Superreichen „Weltuntergangs-Resorts“ gebaut werden. Orte, an denen diese auch nach einem Zusammenbruch des kapitalistischen Weltsystems weiterhin ein privilegiertes Leben führen können, so zum Beispiel in Tirol oder in Neuseeland. Die meisten dieser Luxusbunker sind allerdings bisher recht klein konzipiert. Die abgeschottete und als autark geplante Stadt Neom in Saudi-Arabien, die bis 2030 gebaut werden soll, erinnert hingegen in ihrer futuristischen Konzeption schon sehr erschreckend an das Kapitol.

Wenn die Gesellschaft an der Unzahl von unlösbaren Krisen zerfällt, sind solche abgeschottete Rückzugsräume logische Notwendigkeit für die herrschende Klasse. Dann braucht es nur noch die Duisburger Arbeiter_Innen zur Versorgung des Luxuslebens! Und wenn die Gesellschaft sich schlussendlich das Luxusgut Moral und Menschlichkeit nicht mehr leisten kann, sind faschistische Ideologien zu Legitimierung und solche brutale „Spiele“ wie die Hungerspiele zur Stabilisierung der Gesellschaft auch nicht mehr weit.

Vergesst nicht, wer der wahre Feind ist!

Wenn wir also nicht wollen, dass unsere Enkel in Hungerspielen gegeneinander antreten müssen und in einer von schrecklichen Kriegen und einer eskalierten Klimakatastrophe verheerten Welt ihr Leben damit verbringen müssen, zu ackern, damit die Enkelkinder unserer Bosse weiter in Saus und Braus leben können, müssen wir jetzt etwas tun!

Deshalb müssen wir jetzt kämpfen, es wagen den Hunger nach Gerechtigkeit ein für alle Mal zu stillen und eine Welt zu erbauen, in der wir für immer frei von Ausbeutung und Unterdrückung leben können!

Vergessen wir nicht, wer der wahre Feind ist! Das sind nicht unsere Klassengenoss_Innen in anderen Ländern oder aus anderen Distrikten, nicht Menschen, die hierher vor Krieg und Elend fliehen, und nicht unsere Arbeitskolleg_Innen mit denen wir, zumindest laut unseren Bossen, um unsere Arbeitsplätze in Konkurrenz stehen müssen – Der wahre Feind sind die kapitalistischen Ausbeuter_Innen, die durch ihren Reichtum an Produktionmitteln bestimmen wie diese Gesellschaft funktioniert und ihre Privilegien im Zweifel auch nutzen würden, in einer post-apokalyptischen barbarischen Klassengesellschaft weiterhin die Herren zu bleiben! Nur eine Gesellschaft, die auf Solidarität, Demokratie und Gerechtigkeit fußt, kann überhaupt erst Krieg und Klimakatastrophe für immer verhindern!




Care-Arbeit: Eine unsichtbare Form patriarchaler Gewalt?

Von Erik Likedeeler, November 2023

Im Zuge des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen wollen wir uns nicht nur die offensichtlichen Formen von patriarchaler Gewalt anschauen, sondern auch das Verhalten, das erst auf den zweiten Blick als Gewalt erkennbar ist. Beispielsweise kann der lebenslange Zwang zur Care-Arbeit, unter dem proletarische Frauen stehen, als eine Form der Gewalt betrachtet werden – genauso wie sämtliche Strategien, die Männer anwenden, um sich vor dieser Arbeit zu drücken. In diesem Artikel wollen wir uns anschauen, welches Verhalten in Bezug auf Care-Arbeit in heteronormativen Beziehungen, Ehen und Familien vorherrschend ist und welche schädlichen Folgen das mit sich bringen kann.

Wer trägt die Verantwortung im Haushalt?

Wenn Frauen ihren Partnern mitteilen, dass diese zu wenig im Haushalt arbeiten, bekommen sie häufig folgende Antwort: „Du hättest mich einfach fragen müssen.“ Doch wenn jemand erwartet, dass man ihm Aufgaben überträgt, dann weigert er sich, seinen Teil der Planung und Verantwortung zu übernehmen.

Denn das Organisieren von Care-Arbeit, auch Mental Load genannt, ist bereits ein Vollzeit-Job. Es ist keine gerechte Aufteilung gewährleistet, wenn eine Person die gesamte Planung macht und die Arbeit selbst dann auch nochmal 50/50 aufgeteilt wird. In seinem eigenen Haushalt „hilft“ man nicht – man macht einfach seine Aufgaben.

Das Wegschieben der Verantwortung zeigt sich zum Beispiel dann, wenn Männer nur mit Schlüssel und Handy aus dem Haus gehen, während Frauen in ihrer Tasche alles mitschleppen, was sie selbst, der Mann, das Baby oder der Hund potentiell brauchen könnten. Männer machen sich gern darüber lustig, dass Frauen so „kompliziert“ seien und alles tausend Mal überdenken würden. Die Wahrheit ist: Frauen sind dazu gezwungen, gedanklich alle möglichen Katastrophen durchzuspielen, weil sie die Verantwortung für so vieles tragen müssen und Männer sich keine Mühe machen, ihnen diese Last abzunehmen.

Zudem zeigt sich die Tendenz, dass Männer das überschätzen, was sie im Haushalt tun. Viele von ihnen glauben, sie würden mehr machen als das, was sie eigentlich leisten. Sie nehmen den Haushalt als gleichberechtigt aufgeteilt wahr, doch das können nur die wenigsten Frauen bestätigen.

Emotionale Arbeit ist Care-Arbeit

Teil der Care-Arbeit ist auch die emotionale Arbeit, also alle unsichtbaren Aufgaben, die mit Rücksicht, Einfühlung und Empathie zu tun haben. Dazu gehören zum Beispiel Streitschlichten, ein Geschenk besorgen, einen Ausflug organisieren, bei Problemen zuhören, ein Zimmer schön dekorieren, eine Massage geben oder jemanden trösten.

Emotionale Arbeit lässt sich schwer messen und vergleichen, weil sie nicht wie Care-Arbeit in einer bestimmten Zeit geleistet wird, sondern immer im Hintergrund existiert. Wenn man sich über fehlende emotionale Arbeit beschwert, fühlt man sich schnell, als würde man übertreiben, da es ja nur um „kleine Dinge“ geht, die man halt mal „aus Nettigkeit“ macht.

Die Feststellung, dass es häufig Frauen sind, die diese Aufgaben übernehmen, wird von Männern oft so gekontert, dass ja niemand Frauen dazu zwingen würde, emotionale Arbeit zu leisten, dass sie das quasi freiwillig machen würden und einfach damit aufhören könnten.

Aber ist es nicht ein erschreckender Gedanke, dass manche Männer lieber in einer Welt ohne intime Gespräche und Geburtstagskuchen leben würden, als sich selbst darum zu kümmern?

Antrainierte Zuständigkeit

Ob man sich für bestimmte Aufgaben zuständig fühlt oder nicht, hängt natürlich nicht mit irgendwelchen Körperteilen, Hormonen oder angeborenen Fähigkeiten zusammen, sondern damit, ob einem vermittelt wird, dass man für eine Aufgabe zuständig ist.

Es gibt den sogenannten Priming-Effekt: Wenn wir einen bekannten Gegenstand sehen, wird unser Gehirn geprimet, also darauf vorbereitet, ihn schneller zu erkennen, weil eine Verbindung zwischen dem Gegenstand und unserem Gedächtnis hergestellt wird. Ein Gegenstand, den wir schon mal gesehen und benutzt haben, ist uns vertraut und wir können ihn schneller erkennen. Wir haben ein mentales Bild davon in unserem Gedächtnis eingespeichert und das Gehirn benötigt weniger Zeit, um Informationen darüber zu verarbeiten.

Das führt uns zur sogenannten Affordanz-Auffassung: So wird es genannt, wenn wir eine Situation wahrnehmen und darin eine Aufgabe erkennen, die erledigt werden muss. Bei Jungs und Männern bildet sich durch die Sozialisation ein unerfahrener Blick auf Haushaltsgegenstände und Care-Arbeit heraus. Eine Ratlosigkeit, aber auch die Unfähigkeit, zu erkennen, dass man gerade etwas machen sollte – häufig in Kombination mit dem arroganten Glauben, dass es ja gar nicht sein könnte, dass man etwas nicht auf den ersten Blick erfasst.

Wenn man im gemeinsamen Haushalt einen vollen Wäschekorb sieht, reicht es also nicht, zu denken: „Ah, ein Wäschekorb“. Sondern es muss der Gedanke einsetzen: „Ich sollte die Wäsche waschen, am besten gleich heute.“

Unterschiedliche Standards oder ästhetische Arbeit?

Leider haben Männer sich zahlreiche Strategien und Ausreden angeeignet, um in ihrer  Bequemlichkeit auszuharren. Diese zu entlarven ist ein wichtiger Schritt, um sie zur Verantwortung ziehen zu können.

Ein beliebter Trick, um sich aus der Care-Arbeit herauszuwinden, ist es, unterschiedliche Standards vorzutäuschen. Wer kennt es nicht?  Männern ist es halt einfach „nicht so wichtig“, dass das Bett alle paar Wochen bezogen wird oder der Abfluss gereinigt wird. Sie haben halt „nicht so hohe Standards“. Aber wieso kann es Männern eigentlich egal sein, wenn sie in einem Drecksloch hausen?

Das liegt zum Beispiel daran, dass sie für diese Nachlässigkeiten nicht befürchten müssen, gesellschaftlich abgestraft zu werden. Frauen hingegen müssen viel öfter erleben, dass vorwurfsvolle Kommentare zur unordentlichen Wohnung an sie gerichtet werden. Scham und Schuld bleiben an ihnen hängen.

Denn spätestens seit der bürgerlichen Revolution gehört auch die ästhetische Arbeit zum weiblichen Rollenbild. Der Haushalt soll nicht nur praktisch geführt werden, sondern auch repräsentativ. Als „Angel in the House“ hat die Frau nicht nur essbare Mahlzeiten zu kochen, sondern liebevoll zubereitete Menüs. Sie soll nicht nur kurz den Boden fegen, sondern schicke Teppiche besorgen und diese aufwändig reinigen.

In den letzten Jahren ist auch noch die Anforderung des „nachhaltigen Konsums“ obendrauf gekommen, denn auch dieser ist mit weiblich konnotierter Care-Arbeit verbunden: Hauptsächlich Frauen waschen Stoffwindeln, stecken Zeit und Energie in die Auswahl der „richtigen“ Produkte, um eine pflanzliche Ernährung zu gewährleisten oder Dinge selbst herzustellen, die man einfach fertig kaufen könnte.

Inkompetenz ist kein Zufall

Eine weitere Strategie ist die Weaponized Incompetence oder auch strategisch eingesetzte Inkompetenz. Diese liegt vor, wenn jemand die Tatsache, dass er eine Aufgabe im Haushalt nicht beherrscht, als Ausrede benutzt, um sie jemand anderen machen zu lassen. Oder auch, Dinge gar nicht erst zu lernen, weil sie ja sowieso jemand anders übernimmt und man es eh nur falsch machen würde.

Diese Weigerung, dazuzulernen, kommt Frauen teuer zu stehen: Sie verbringen durchschnittlich 3 Stunden pro Woche damit, Arbeiten noch einmal auszuführen, die eigentlich ihrem Partner zugeteilt waren. Das Gespräch, in dem man Männern mitteilen muss, dass sie nicht gut genug waren, ist oft anstrengender, als die Arbeit selbst zu machen.

Als Paternal Underperformance wird es bezeichnet, wenn Männer, insbesondere Väter, Aufgaben absichtlich in den Sand setzen, einfach nur, damit sie beim nächsten Mal nicht mehr danach gefragt werden. Gern stellen sie sich als ein Opfer ihrer eigenen Sozialisation dar, weil sie nie beigebracht bekommen haben, wie man einen Backofen anschaltet oder den Boden wischt.

Der „Idiot Dad“ ist zu einer richtigen Kulturtechnik geworden. Aber ist es nicht eigentlich erbärmlich, wenn Frauen ihren Ehemann als ein „zusätzliches Kind“ bezeichnen, oder wenn Väter so tun, als wüssten sie nicht, wann ihr Kind Geburtstag hat oder wie man es wickelt?

Kein lustiges Klischee, sondern Gewalt

In diesem Verhalten kann man wirklich nur dann Unterhaltungswert sehen, wenn man nicht selbst darunter leidet und sämtliche Fehler ausbaden muss. Es handelt sich bei dieser Arbeitsverweigerung nicht um eine sympathische, gemütliche Faulheit oder Entspanntheit, sondern um psychische Gewalt. Die bittere Realität zeigt sich anhand einer Studie aus den USA, wo 21% der Männer ihre Frau verlassen, wenn diese schwerkrank ist. Umgekehrt sind es nur 3% der Frauen.

Außerdem hat die sich ständig wiederholenden Aufgaben Einfluss auf die geistige und körperliche Gesundheit. Personen mit repetitiven Aufgaben neigen stärker zu geistiger und körperlicher Ermüdung. Außerdem können Stress und Angstzustände sich verstärken. Ein Mangel an Abwechslung führt zu Langeweile, Unruhe und Unzufriedenheit. Es ist ein sich selbst verstärkender Prozess aus Leistungsabfall und Erschöpfung. Ebenso kann der ausgeübte Druck, der Rolle als Mutter oder Hausfrau zu entsprechen, eine explizit ausgeübte Form der psychischen Gewalt sein.

Care-Arbeit ist ein Skill!

Natürlich darf der Diskus über Care-Arbeit nicht damit enden, dass diese einfach nur als nervig, unnütze und überflüssig abgewertet wird. Nicht jede Care-Arbeit ist intellektuell einfach. Auch im Haushalt gibt es komplizierte Aufgaben, wie zum Beispiel Feiertage planen oder im Supermarkt Preise vergleichen und ausrechnen, ob das Geld bis zum Ende des Monats reicht. 

Zudem birgt Care-Arbeit einige Gefahren: Als Pfleger_In hebt man teils schwerere Gewichte als auf der Baustelle und setzt sich multiresistenten Keimen aus. Beim Putzen kommt man mit toxischen Substanzen in Berührung, die zu Atemproblemen, Hirnschäden und Krebs führen können – doch auch körperliche Folgen von Care-Arbeit werden kaum anerkannt.

Natürlich kann man den Haushalt jetzt immer noch nervig finden. Aber noch nerviger ist es, wenn man ihn komplett allein machen muss – und wenn man als zickig und nörgelnd abgestempelt wird, nur weil man Beteiligung einfordert. Denn ausschließlich im Haushalt gilt man als pingelig, überkorrekt oder hat einen „Fimmel“, wenn man ihn richtig macht und sich Mühe gibt. Bei allen anderen Themen von Technik bis Finanzen hingegen gilt Genauigkeit als ein nützlicher Skill.

Weiblich kategorisierte Arbeit darf hingegen niemals als Skill gelten, der gelernt werden muss – sonst müsst ja als nächstes die Anerkennung erfolgen. Nach wie vor gilt Wissen über Care-Arbeit nicht als richtiges Wissen, so wie auch das ganze Thema als „Frauenthema“ gilt, welches mit „richtiger“ Politik nichts zu tun hätte.

Der unabhängige Mann: Ein Mythos

Dabei ist es Care-Arbeit, welche die gesamte Gesellschaft am Laufen hält. Immer noch hält sich die gesellschaftliche Vorstellung eines unabhängigen männlichen Künstlers, Wissenschaftlers, Herrschers oder Sportlers. Ein self-made Millionär, ein einsames Genie. Was unsichtbar bleibt, ist, dass all diese männlichen „Helden“, egal ob Berthold Brecht oder Karl Marx, im Hintergrund Frauen hatten, die ihre Termine verwaltet haben, ihre Entwürfe Korrektur gelesen haben und ihnen das Klo geputzt haben, teilweise auch für wichtige Erkenntnisse in ihren Werken verantwortlich waren und dafür nie Anerkennung bekommen haben.

Care-Arbeit und Mental Load hindern Frauen daran, eigene Arbeiten zu veröffentlichen. Das hat sich während der Corona-Lockdowns verstärkt gezeigt, als die wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Frauen um 30% zurückgingen.

Warum ist Care-Arbeit überhaupt privatisiert?

Diese strikte Rollenaufteilung ist natürlich kein Zufall, genauso wenig, wie sie sich auf irgendeine steinzeitliche Jäger_Innen-Sammler_Innen-Gesellschaft zurückführen lässt. Vielmehr liegt die Ursache in der Klassengesellschaft. In marxistischen Theorien wird Care-Arbeit auch als Reproduktionsarbeit bezeichnet, denn sie dient dazu, die Arbeiter_Innen wieder fit für einen weiteren Arbeitstag zu machen.

Bei der Reproduktionsarbeit wird allerdings kein Mehrwert erzeugt, den Kapitalist_Innen für sich selbst einstreichen könnten. Weil sie also kein Interesse daran haben, die Kosten für die Care-Arbeit zu tragen, wird diese in die Privathaushalte ausgelagert. Um diesen Zwang zu festigen, bildete sich die bürgerliche Kleinfamilie heraus, bestehend aus den Kindern, der Mutter als Zuständige für den Haushalt und dem Vater als Familienoberhaupt.

Wenn Frauen durch sozialen Druck und Gewalt eine feste Zuständigkeit dafür aufgedrückt wird, bedeutet das im Umkehrschluss, dass Männer mehr Lohnarbeit leisten können, was den Kapitalist_Innen mehr Gewinn gibt. Sozialleistungen werden insbesondere in wirtschaftlichen Krisen gekürzt, um Frauen im Privathaushalt die Kosten tragen zu lassen. Gleichzeitig verdienen Frauen durch diese Doppelbelastung meist weniger und sind somit vom Einkommen ihres Partners abhängig.

Aus der Care-Arbeit herauskaufen können sich nur bürgerliche Frauen, welche für diese Aufgaben proletarische Frauen anstellen. So sind die Global Care Chains entstanden, bei denen z.B. osteuropäische Frauen nach Westeuropa kommen, um unter miserablen Arbeitsbedingungen und für einen Hungerlohn Care-Arbeit für andere verrichten.

Die bürgerliche Familie abschaffen!

Unsere Vorstellung davon, wie Care-Arbeit gerecht aufgeteilt werden kann, sieht völlig anders aus. Natürlich ist es wichtig, dass Männer lernen, endlich ihren Anteil zu übernehmen, aber am Ende bleiben wir damit immer noch von ihrer individuellen Motivation abhängig.

Damit das nicht so bleibt, müssen wir die bürgerliche Familie abschaffen und die Care-Arbeit vergesellschaften. Durch den Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung und die Einführung von gemeinsamen Wäschereien und Kantinen können wir der Isolation entgegenwirken. Auch eine massive Investition in das Gesundheitssystem ist nötig, um die Angehörigen von pflegebedürftigen Menschen zu entlasten.

Diese Vergesellschaftung kann nur durch eine soziale Revolution erreicht werden. Die Kontrolle über Lohn und Arbeitsbedingungen muss bei den Arbeiter_Innen liegen, welche diese Beschlüsse in Räten umsetzen. Nur so ist es möglich, sich von dem ausbeuterischen und gewaltvollen System der privatisierten Care-Arbeit zu verabschieden.




Toxische Beziehung? Nein, psychische Gewalt!

Von Leonie Schmidt, November 2023

Heute ist der 25.11., der Tag gegen patriarchale Gewalt. Und während auch heute wieder viel über körperliche Gewalttaten bis hin zu Femiziden gesprochen wird, bleibt psychische Gewalt eher im Dunkeln zurück. Und das obwohl den Schlägen, Tritten und Messerstichen oftmals Verbote, Verhöhungen und Drohungen zuvorkommen (BMFSJ 2014: 91f). Auch wird psychische Gewalt oft unter das Deckmäntelchen der „toxischen Beziehung“ gesteckt. Das passiert auch in linken Kreisen, wenn feministische Gruppen Dinge verlauten lassen wie: „Uns liegt kein Tätervorwurf vor, nur der Vorwurf einer toxischen Beziehung.“ Warum ist das aber so gefährlich? Im folgenden Beitrag wollen wir herausarbeiten, warum der Begriff der toxischen Beziehung die Machtverhältnisse verschleiert und Täter davor schützt, zur Verantwortung gezogen zu werden.

Laut einer Studie des BMFSJ ist in Deutschland ca. jede 5. Frau Opfer psychischer Gewalt in einer bestehenden Paarbeziehung (2014: 207). Eine andere Studie führte zu dem Ergebnis, dass 42 % der befragten Frauen im Erwachsenenalter bereits unter psychischer Gewalt litten (Schröttle & Müller 2004: 7). Hierbei ist natürlich anzumerken, dass die Dunkelziffer höher sein dürfte, denn viele Betroffene erkennen oftmals nicht die Gewalt, die ihnen angetan wird, oder trauen sich nicht, diese auszusprechen. 87,5 % der Frauen, die „lediglich“ psychischer Gewalt in Form von Drohungen ausgesetzt waren, ohne darauffolgend auch noch körperliche Gewalt zu erleben, gaben an, dass sie das als belastend empfinden und unter erheblichen psychischen Beschwerden leiden würden (BMFSJ 2014: 24). Psychische Gewalt ist also alles andere als harmlos. Was aber genau wird unter psychische Gewalt gezählt? Bei der erwähnten Studie wurde das unter den folgenden Begriffen zusammengefasst: Extreme Eifersucht, Kontrolle & Dominanz, verbale Aggressionen & Drohungen, Demütigungen, sexuelle Übergriffigkeiten und ökonomische Kontrolle. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass der Täter der Betroffenen den Kontakt zu Freund_Innen verbietet, finanzielle Ausgaben überwacht oder einschränkt, verbietet, was die Betroffenen anziehen dürfen, Drohungen ausspricht, die Betroffenen beleidigt, als dumm bezeichnet, vor anderen runtermacht, ihre Anwesenheit komplett ignoriert und nicht auf sie reagiert oder auch explizit einfordert, dass die Betroffene ihrer Geschlechterrolle als Hausfrau oder Mutter nachkommen solle. Es gibt natürlich noch viele weitere Beispiele, mit denen man unzählige Seiten füllen könnte. Wichtig ist aber noch, dass das Ganze natürlich im Ausmaß variieren kann und es nicht alles Genannte auf einmal auftreten muss und die verschiedenen Formen auch abwechselnd auftreten können.

Toxische Beziehung? Was soll das überhaupt sein?

Seit das Modewort „toxisch“ einen Einzug in unseren Sprachgebrauch gefunden hat, hören wir es ständig, so auch, wenn beschrieben werden soll, dass eine Beziehung vor allem verbale Gewalt beinhaltet. Aber die „toxische Beziehung“ ist überhaupt kein Fachbegriff, und so ist es schwierig, näher zu definieren, was das alles konkret beinhalten soll. Jedoch wird das Wort „toxische Beziehung“ oftmals gleichbedeutend mit psychischer Gewalt verwendet. Allerdings wird es noch mit einer zusätzlichen Bedeutung versehen, und zwar: Es gibt nicht einen Haupttäter, sondern beide Parteien sind irgendwie einfach „toxisch“ füreinander und das Zusammenspiel aus ihrem Verhalten führt zu diesem explosiven, giftigen Gebräu. Wir wollen an dieser Stelle nicht leugnen, dass es diese Konstellationen auch gibt. Jedoch dürfte die Mehrheit der Fälle einen zumeist männlichen Haupttäter haben und der Begriff der „toxischen Beziehung“ macht aus einem gesamtgesellschaftlichen strukturellen Problem ein individuelles. Studien kommen zwar immer wieder zu unterschiedlichen Ergebnissen, ob die Haupttäter_Innen psychischer Gewalt nun Männer oder Frauen sind, aber Verzerrungen basieren oftmals ebenso auf Geschlechterrollen, insofern, dass Frauen in ihrer Sozialisierung eher lernen, Fehler einzugestehen, oder eher etwas als psychische Gewalt kategorisieren, als Männer das tun. So spricht das BMFSJ in einer Pressemitteilung von 2023 davon, dass 80,1% der Betroffenen von Partnerschaftsgewalt im Jahr 2022 weiblich sind, während 78,3 % der verdächtigten Täter männlich sind. Offensichtlich kann es auch an dieser Stelle zu Verzerrungen kommen, denn diese Zahlen basieren auf den kriminalstatistischen Auswertungen des Bundeskriminalamts, und viele Fälle, insbesondere psychischer Gewalt, werden natürlich nicht gemeldet, teilweise auch, weil sie nach deutschem Recht keine Straftat darstellen.

Weswegen entsteht (psychische) Gewalt in Partnerschaftsbeziehungen?

Um uns der Antwort zu nähern, warum wir von mehrheitlich männlichen Tätern ausgehen, gilt es, sich anzuschauen, weswegen (psychische) Gewalt überhaupt entsteht. Beziehungsgewalt basiert nämlich auf einem ungleichen Machtverhältnis, denn all die vorher beschrieben Formen der psychischen Gewalt zielen darauf ab, dass sich die betroffene Person (weiterhin) unterordnet. Macht in zwischenmenschlichen Beziehungen ist aber nichts, was einfach in einem Vakuum entsteht, genauso wie der Anspruch, Macht ausüben zu dürfen. Denn häusliche Gewalt findet im Rahmen der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung statt, welche als Institution elementar für das Fortbestehen des Kapitalismus ist.

Während die bürgerliche Familie in der herrschenden Klasse eine andere Funktion hat, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, übernimmt sie in der Arbeiter_Innenklasse wesentliche Aufgaben zur Reproduktion der Klasse selbst und somit letztendlich auch des Kapitalismus. Denn hier findet die Reproduktion der Ware Arbeitskraft statt, was alle Tätigkeiten meint, die notwendig sind, damit die Arbeitenden am nächsten Tag wieder am Arbeitsplatz erscheinen und ihrer Arbeit nachgehen können. Darunter zählt also Kochen, Putzen, Wäsche waschen, aber auch emotionale Sorgearbeit. Auch die Erziehung von Kindern fällt mit unter diese Kategorie, damit sich so die Arbeiter_Innenklasse als Ganzes neu reproduzieren kann.

Um eine für das Kapital so günstig wie mögliche Reproduktion durchzusetzen, wird diese ins Private gedrängt. Die Arbeiten werden vor allem von Frauen unentlohnt verrichtet. Dies bildet die Basis für reaktionäre Rollenbilder, so dass diese ihrerseits stetig zur Reproduktion der geschlechtlichen Arbeitsteilung beitragen. Das beginnt schon im Kleinkindalter durch Sozialisierung und erstreckt sich über das ganze Leben.

Die Familie existierte aber nicht schon immer, sondern entwickelte sich über die Klassengesellschaften zur heutigen Form hin, und die konkrete Ausprägung heutzutage ist von der jeweiligen Gesellschaftsverfassung abhängig. Im Allgemeinen gilt der Mann als Ernährer der Familie, wohingegen die Frau als Hausfrau tätig wird. Das ist natürlich ein Ideal, was besonders für die Arbeiter_Innenklasse schwer zu erreichen ist, jedoch zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs zumindest für die bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen ansatzweise etabliert werden kann. Zugleich wird sowohl mit der Expansion des Kapitalismus wie auch in der Krise die ökonomische Basis der lohnabhängigen Familie massiv unterhöhlt.

Die Krise der Familie bildet die strukturelle Grundlage der Gewalt gegen Frauen in der Arbeiter_Innenklasse innerhalb von Familien oder partnerschaftlichen Beziehungen, welche der Familie ähneln. Denn durch diese hat der Mann das Problem, dass er der Rollenerwartung als Ernährer der Familie nicht mehr nachkommen kann, während die Frauen einerseits in die Lohnarbeit gezwungen werden und andererseits aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor, in welchem sie oft tätig sind, nicht die Möglichkeit haben, dem Täter zu entfliehen. Dieses widersprüchliche Verhältnis zwischen Idealbild, Geschlechterrolle und Notwendigkeit der Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht im Rahmen des Kapitalismus aufzulösen und sorgt letzten Endes in seiner Unabdingbarkeit und Perspektivlosigkeit auch dafür, dass die extremste Form der häuslichen Gewalt, der Femizid, zu Tage tritt.

Hinzukommt, dass aggressives Verhalten in der männlichen Sozialisation und im männlichen Rollenbild nicht geahndet, sondern eher bestärkt wird. Kontrolle und Eifersucht werden gar als romantisch angesehen, Vorschreiben der Kleidung als Sorge um die Sicherheit, eine nichtarbeitende Hausfrau haben zu wollen als „provider mindset“, usw.

Betroffene wehren sich – und werden selbst zu Täter_Innen?!

Manche Betroffene, welche nicht aus der gewaltvollen Situation fliehen können und Tag ein Tag aus missbräuchlichem Verhalten ausgesetzt sind, haben irgendwann genug und beginnen sich zu wehren, denn es gibt immer eine Grenze hinsichtlich dessen, was eine Person ertragen kann. Das wird auch als reactive abuse bezeichnet. Die Bezeichnung ist aber eigentlich eher ungenau, da es sich in diesem Moment viel mehr um eine Art Selbstverteidigung handelt, da die Betroffenen durch die andauernde Gewalt in einen „Fliehen oder Kämpfen“-Modus gebracht werden. Diese Reaktion auf konstante Gewaltausübung wird vom Täter aber genutzt, um eine Täter-Opfer-Umkehr durchzuführen oder auch um den Begriff der toxischen Beziehung zu verwenden. Denn immerhin hat die betroffene Person sich ja jetzt auch mal falsch verhalten. Hier zeigt sich auch wieder, was wir gesamtgesellschaftlich als Bild von dem „perfekten Opfer“ haben. Das „perfekte Opfer“ soll stillsitzen, ertragen, schüchtern und am Boden zerstört sein, damit die Gesellschaft ihr wirklich Glauben schenken kann. Wenn sie dann aber nach monate- oder jahrelanger psychischer Gewalt anfängt, nicht alles hinzunehmen, hat sie jegliche Chance darauf vertan, dass zumindest anerkannt wird, dass es sich wirklich um ein missbräuchliches Verhältnis handelt. Hier wird eben auch der Begriff der „toxischen Beziehung“ zum Mittel für den Täter, um sich aus der Verantwortung zu ziehen. Denn der Begriff kann schließlich beschreiben, dass es sich nicht um Missbrauch, sondern um ein gegenseitiges falsches Verhalten handelt.

Es heißt psychische Gewalt!

Als Marxist_Innen dürften wir die Augen nicht davor verschließen, dass Beziehungsgewalt, auch wenn sie so vermeintlich unsichtbar daherkommt wie psychische Gewalt, ein patriarchal geprägtes Phänomen ist. Da es sich um kein individuelles Problem handelt, sollten Begriffe wie „toxische Beziehung“, die diesen Missbrauch verharmlosen und Täter-Opfer-Umkehr begünstigen, zwingend hinterfragt und geprüft werden. Um Beziehungsgewalt also zu beenden, müssen wir den Kapitalismus mitsamt seinen patriarchalen Strukturen überwinden. Aber es gilt selbstverständlich, im Hier und Jetzt anzusetzen, weswegen wir den massiven Ausbau von Beratungsstellen und Unterkünften für Betroffene von partnerschaftlicher und/oder häuslicher Gewalt fordern. Diese sollen bezahlt werden durch die Gewinne der Kapitalist_Innen und der Enteignung ihrer Betriebe. Des Weiteren setzen wir uns ebenso für massive Investitionen in den Gesundheitssektor ein, damit es genügend Therapiemöglichkeiten gibt. Natürlich braucht es auch massive Aufklärungskampagnen in den Gewerkschaften und Organisationen der Arbeiter_Innenklasse und Jugend. Ebenso relevant ist die Vergesellschaftung der Hausarbeit, um einen Grundstein zu legen, das gesellschaftliche Zusammenleben zu transformieren. Einerseits würde das die Isolation aufheben, in der partnerschaftliche und häusliche Gewalt oftmals erst möglich wird, und andererseits wäre es ein wichtiger Schritt, dem Ideal der bürgerlichen Familie und somit den Geschlechterrollen an den Kragen zu gehen.

Quellen:

BMFSJ (2014): Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen. Eine sekundäranalytische Auswertung zur Differenzierung von Schweregraden, Mustern, Risikofaktoren und Unterstützung nach erlebter Gewalt,
https://www.bmfsfj.de/resource/blob/93968/f832e76ee67a623b4d0cdfd3ea952897/gewalt-paarbeziehung-langfassung-data.pdf.

BMFSJ (2023): Häusliche Gewalt im Jahr 2022: Opferzahl um 8,5 Prozent gestiegen – Dunkelfeld wird stärker ausgeleuchtet,
https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/haeusliche-gewalt-im-jahr-2022-opferzahl-um-8-5-prozent-gestiegen-dunkelfeld-wird-staerker-ausgeleuchtet-228400.

Laderer, Ashley (2022): If you’ve ever lashed out against your abuser, it doesn’t make you abusive — here’s why, https://www.insider.com/guides/health/sex-relationships/reactive-abuse.

Schröttle, M. & Müller, U. (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland,
https://www.bmfsfj.de/resource/blob/84316/10574a0dff2039e15a9d3dd6f9eb2dff/kurzfassung-gewalt-frauen-data.pdf




Warum Feminizide kein Zufall sind: Die Rolle von Staat und Kapital

von Martin Suchanek, November 2023, zuerst erschienen in der Neue Internationale der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Für das Jahr 2022 meldete die UN so viele Femizide wie seit 20 Jahren nicht, und das obwohl die Tötungsdelikte im Allgemeinen international zurückgingen. 50.000 oder mehr Femizide registrieren internationale Organisationen und Forschungsinstitute jährlich – und dies umfasst nur jene Morde, die in Partnerschaften oder durch Verwandte verübt wurden, und auch nur jene Länder, die gesonderte Statistiken überhaupt erstellen. Doch schon diesen Zahlen zufolge werden weltweit täglich mehr als 135 Frauen getötet. In Deutschland fällt jeden dritten Tag eine Frau oder ein Mädchen diesem Verbrechen zum Opfer.

Wir sprechen von Feminiziden, wenn es sich um geschlechtsbezogene Morde handelt, welche mit der Durchsetzung privatkapitalistischer, neokolonialer oder staatlicher Interessen verbunden sind und von Femiziden, wenn diese innerhalbe einer partnerschaftlichen, intimen oder verwandtschaftlichen Beziehung auftreten. Dabei ist der Täter in der Regel männlich, steht zum Opfer in einer persönlichen Beziehung. Er will seine Tat nicht öffentlich zur Schau stellen, sondern hofft vielmehr, der Strafverfolgung zu entkommen. Phänomene wie Ehrenmorde, die in der Regel dieser Form von Femiziden zugerechnet werden, stellen in gewisser Hinsicht ein Übergangsphänomen dar, als die Täter keineswegs Partner des Opfers sein müssen und ein, wenn auch tradierter Zweck verfolgt wird, nämlich die „Ehre“ der Familie auch öffentlich wiederherzustellen. Darüber hinaus verfolgt das aber keinen ökonomischen oder herrschaftlichen Anspruch.

Mord als Botschaft

Zu Feminiziden, die mit direkt ökonomischen Interessen verbunden sind, gehören beispielsweise Gewalt und Ermordung von Frauen im Zuge von Frauenhandel und Zwangsprostitution. Frauen oder trans Personen wird Gewalt bis zum Feminizid angetan, um ein Zeichen zu setzen: Wer sich gegen Verschleppung und Versklavung wehrt, muss damit rechnen, getötet zu werden. Der Mord ist also eine Botschaft an weitere potentielle Opfer, die für einen ökonomischen Zweck gefügig gemacht werden sollen – die Bereicherung des Zuhälters, anderer Krimineller und illegaler Geschäftemacher_Innen, die daraus Profit schlagen und die Prostitution und den Frauenhandel kontrollieren. Es gehört damit zum Zweck dieser Feminizide, dass die Täter als zuordenbare Gruppe anderen bekannt sind. Die Einschüchterung anderer funktioniert schließlich nur, wenn potentielle Opfer wissen, wer über sie Macht ausübt und durchsetzen kann.

Diese betrifft auch weitere Kapitaloperationen. So dienen Feminizide beispielsweise auch als Mittel zur Aneignung von Land indigener oder agrarischer Gemeinden durch das Agrobusiness oder extraktive Unternehmen in Lateinamerika oder Afrika. Vergewaltigungen oder Mord an Frauen sollen in diesen Fällen der Gemeinde, den zu Vertreibenden vor Augen führen, dass jeder Widerstand mit äußerst brutaler Gewalt niedergeschlagen wird. Die Täter führen so den Unterdrücken ihre Ohnmacht vor, knüpfen an einer patriarchalen Rollenverteilung an, indem sie auch den männlichen Mitgliedern des Dorfes oder der indigenen Gemeinde deutlich machen, dass sie nicht einmal in der Lage sind, „ihre“ Frauen zu schützen. Diese Form des Feminizids weist eine lange, koloniale Geschichte auf, die sich heute in neokolonialer und imperialistischer Ausbeutung fortsetzt. Mögen die Täter auch gedungene Mörder sein, so agieren sie nicht auf eigene Rechnung, sondern im Auftrag einer bestimmten Kapital- und Unternehmensgruppe, eines Grundbesitzers, eines multinationalen Konzerns oder von deren Mittelsmännern.

Weniger direkt, aber nichtsdestotrotz auf die Durchsetzung einer sozialen und ökonomischen Stellung bezogen sind Feminizide durch kriminelle Gangs, beispielsweise wenn es um die Kontrolle eines Stadtviertels geht. Diese verfolgen damit einen wirtschaftlichen Zweck. Der öffentliche Mord dient der Abschreckung.

Eine weitere Form des öffentlichen Feminizids stellt die Zunahme von Hexenmorden in einigen Ländern Afrikas und Indien dar. Um sich das Eigentum einer zumeist älteren, verwitweten Frau anzueignen, wird diese der Hexerei beschuldigt und mit dem Tod bestraft. Das Eigentum der Frau (z. B. Grund und Boden) geht nach der Tat an jüngere Angehörige oder an lokale Unternehmer über. Auch in diesem Fall erfolgt der Feminizid öffentlich, als Resultat einer (illegalen) Anklage, die von einem reaktionären Mob getragen wird.

Bei all diesen Formen ist nicht nur eine enge Verbindung zu Geschäfts- und Kapitalinteressen feststellbar, sondern oft auch zu staatlichen Institutionen wie der Polizei – sei es, indem diese selbst in unterdrückten Gemeinden ihre Stellung durch Mord zu unterstreichen suchen oder Feminizide an Marginalisierten, Sexarbeiter_Innen, trans Personen oder schwarzen und migrantischen Menschen nicht oder nur am Rande verfolgen.

Darüber hinaus finden wir indirekte oder direkte Formen staatlich sanktionierter Feminizide. Dazu gehören entweder durch reaktionäre, oft religiöse Institutionen und Kräfte forcierte öffentliche Tötungen von Frauen – z. B. Steinigung durch islamistische Mobs, aber auch Hexenverbrennungen, die von evangelikalen Fundamentalisten oder Hinduchauvinisten ermutigt werden. Andere Formen bilden Vergewaltigungen und Feminizide an national oder religiös unterdrückten Frauen. In bestimmten Fällen kann die Todesstrafe ein Feminizid sein, z. B. eine öffentliche Steinigung. In all diesen Fällen findet die Tat offen und öffentlich statt. Die Täter bilden eine reaktionäre, aggressive und mörderische Masse oder eine jubelnde Menge bei einer staatlich inszenierten Hinrichtung.

In diesen Fällen bildet der Feminizid ein Element zur Sicherung von Herrschaft, sei es, um durch die Mobilisierung einer kleinbürgerlichen Masse die politischen und gesellschaftlichen Gegner_Innen einzuschüchtern und eine erzreaktionäre politisches Kraft an die Macht zu bringen oder ein bestehendes Regime durch ritualisierten Mord zu festigen. Die sicherlich brutalste und extremste Form stellen dabei Vergewaltigung, Folter und Frauenmord als gezielt eingesetzte Mittel im Krieg und Bürger_Innenkrieg dar.

Die Verknüpfung mit Kapitalinteressen und staatlichen Institutionen erklärt auch, warum zu diesen viel weniger verlässliche Zahlen vorliegen. Deren Veröffentlichung ist selbst oft erst das Resultat von Kämpfen und durch Bewegungen erzwungenen öffentlichen Untersuchungen. Dass diese Frauenmorde überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein gelangen, als solche „anerkannt“ werden müssen, verdeutlicht, wie hartnäckig gerade der Feminizid politisch tabuisiert wird.

Folgerungen und Programm

Der Kampf gegen Femizide, Feminizide und deren Ursachen stellt eindeutig eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen Frauenunterdrückung weltweit dar. Zweifellos bildet dabei der Kampf um die Ächtung dieser Morde, was in vielen Ländern schon mit dem um die öffentliche Anerkennung ihrer Existenz beginnt, einen unerlässlichen Ausgangspunkt. Femizide müssen in ihrer gesamten Dimension oft überhaupt erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und das heißt vor allem auch der Arbeiter_Innenklasse gerückt werden. Damit verbunden stellt auch der Kampf um die effektive Verfolgung dieser Straftaten einen wichtigen Bezugspunkt dar.

Vom Standpunkt der Arbeiter_Innenklasse geht es dabei jedoch nicht um möglichst drakonische Strafsysteme, wohl aber darum, dass Täter nicht straflos davonkommen dürfen oder bei sexistischer und rassistischer Polizei und Gerichten recht milde Behandlung finden. Daher treten wir dafür ein, dass Untersuchungen von Femiziden unter Kontrolle von Frauenorganisation durchgeführt, Richter_Innen von Frauen, also potentiellen Opfern, gewählt werden und mindestens die Hälfte aus Frauen besteht. Zugleich muss sichergestellt werden, dass vor allem Frauen aus der Arbeiter_Innenklasse, der Bäuer_Innenschaft, von rassistisch und national Unterdrückten voll repräsentiert sind.

Nicht weniger wichtig ist der Schutz möglicher Opfer und die Prävention. Dazu gehören dringende Sofortmaßnahmen wie der massive Ausbau von möglichen Schutz- und Rückzugsräumen für Frauen, deren Kinder und für geschlechtlich Unterdrückte, die vom Staat finanziert und unter Kontrolle von Frauenorganisationen selbstverwaltet betrieben werden.

Diese Forderungen dienen letztlich den Frauen aller Klassen, vor allem aber natürlich jenen aus der Arbeiter_Innenklasse und der Bäuer_Innenschaft.

Der Kampf gegen Femizide muss darüber hinaus aber auch mit dem zur Sicherung der Reproduktion der Arbeiter_Innenklasse und Unterdrückter, von Indigenen oder Minderheiten gemeinsam mit Ersteren verbunden werden. Die zunehmende Verarmung und Verelendung breiter Schichten, die Ausbreitung von Arbeitsbedingungen und Löhnen, die die Existenz immer weniger sichern, bedeuten, dass der Kampf gegen Femizide wie überhaupt gegen jede Form der häuslichen Gewalt eng verbunden werden muss mit dem gegen Armutslöhne, informelle und Kontraktarbeit, Tagelöhnerei und die Zerschlagung sozialer Sicherungssysteme. Daher fordern wir Mindestlöhne, die die Existenz sichern und an die Inflation angepasst werden; die Abschaffung aller informellen und prekären Beschäftigung und ihre Umwandlung in tariflich gesicherte, von den Gewerkschaften und Arbeiter_Innenkomitees kontrollierte; Arbeitslosen-, Krankengeld und Renten in der Höhe des Mindestlohns; ein Programm öffentlicher, gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, das den massiven Ausbau von Kitas, Schulen, öffentlichen Betreuungseinrichtungen, Krankenhäusern, der Altenpflege, von Kantinen und anderen Einrichtungen zur Vergesellschaftung der Hausarbeit inkludiert.

Diese Forderungen richten sich gegen das Kapital als Klasse und stehen grundsätzlich im Interesse aller Unterdrückten, unabhängig von ihrem Geschlecht. Dennoch wäre es mechanisch und naiv, dass die proletarischen Männer in ihre Gesamtheit automatisch auf ihre Privilegien verzichten oder sexistische Verhaltens- und Denkweisen, die eng mit ihrer Geschlechterrolle verbunden sind, ablegen würden. Die proletarischen Frauen müssen daher das Recht haben, innerhalb der Arbeiter_Innenbewegung eigene Treffen zu organisieren, um den Kampf voranzutreiben und männlichen Chauvinismus zu bekämpfen. Sie müssen eine proletarische Frauenbewegung aufbauen, um so Rückständigkeit und Chauvinismus zu bekämpfen, aber auch die Führung im Kampf um die Befreiung der Frauen aller unterdrückten Schichten einzunehmen.

Diese vier Punkte bezogen sich vor allem auf den Kampf gegen intime und verwandtschaftliche Femizide und ihre gesellschaftlichen Ursachen. Wie wir gerade aus den beiden letzten Kapiteln ersehen, sind sie eng mit dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung verbunden. Dies trifft ebenso auf den Kampf gegen Feminizide im Herrschaft- und Kapitalinteresse zu.

Da hier die Auftraggeber der Morde oft auch ökonomische Interessen verfolgen, steht der Kampf auch hier im engen Zusammenhang mit der Frage nach Kontrolle ökonomischer Ressourcen und des Eigentums.

Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie bei der zweiten Form der Feminizide eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung. Um solchen Kräften entgegentreten zu können, bedarf es einer organisierten, von Massen oder Massenorganisationen getragenen Selbstverteidigung, letztlich des Aufbaus von bewaffneten Milizen der Arbeiter_Innen und Unterdrückten.

Die Verhinderung des Feminizids erfordert den Aufbau von Organen der Gegenmacht – und wirft somit die Machtfrage selbst auf. Dies betrifft letztlich auch die Frage der Sicherung der Reproduktionsbedingungen der Gesamtklasse wie der Enteignung von Kapital oder großer, illegaler Geschäftemacher, die systematisch in Frauenmorde verwickelt sind. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern, können Reformen im Interesse der Arbeiter_Innenklasse nur eine vorübergehende Besserung schaffen. Um Banden der Großgrundbesitzer, rechtspopulistischer oder protofaschistischer Kräfte das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.




HAMAS = ISIS ?!

von Felix Ruga, November 2023

„Hamas ist ISIS, und genauso wie ISIS vernichtet wurde, wird auch die Hamas vernichtet.“

Dieses Zitat stammt von Benjamin Netanjahu auf einem Treffen am 12. Oktober mit dem US-Außenminister Blinken. Das Narrativ, die Hamas sei das gleiche wie der IS (Islamischer Staat; im Englischen meist ISIS = Islamic State of Iraq and Syria), wurde damit schon früh in die Welt gesetzt und dabei auch von vielen westlichen Spitzenpolitiker_Innen aufgenommen. Und irgendwie erscheint es auch erstmal nachvollziehbar, wenn man den Horizont sehr schmal wählt: Gemessen an den Taten am 7. Oktober sind beides brutale, paramilitärische islamistische Organisationen. Damit ist die Auseinandersetzung mit der Hamas schnell abgeschlossen und die Taktik klar: Militärische Zerstörung sei nicht nur legitim, sondern der einzige Weg. Das stellt auch bis heute ein wichtiges Element in der Legitimierung der laufenden israelischen Bodenoffensive, der Einebnung Gazas und zehntausend Getöteten dar.

Jedoch ist diese Gleichstellung so unangemessen, dass sich sogar diverse bürgerliche Zeitungen zu Wort gemeldet haben, die sonst nicht unbedingt einen antiimperialistischen Ruf haben, wie die Washington Post oder das TIME-Magazine. Tenor ist, dass bezüglich ihrer sozialen, politischen und religiösen Rolle die beiden Organisation deutliche Unterschiede aufweisen. Hierbei würden wir zustimmen und dieser Artikel soll zu dieser Differenzierung betragen. Wir machen das zum einen, weil dieser Irrtum eine mächtige Waffe gegen die palästinensische Widerstandsbewegung ist, weil diese momentan mit der Hamas praktisch gleichgesetzt oder zumindest immer in die Nähe gerückt wird. Ein differenzierter Blick auf die Hamas und ihre Geschichte ermöglicht so erst überhaupt eine klare Differenzierung innerhalb des palästinensischen Widerstands. Zum anderen kann so auch eine wirklich fortschrittliche Perspektive entstehen, wie wir den Islamismus in der Region zurückdrängen können. So viel schon mal voraus: Genozid und Einebnung Gazas helfen nicht.

Hamas is not ISIS

Zunächst erstmal ein paar Worte zum IS: Er gehört zum salafistisch-takfirischen Zweig des Islamismus. Das bedeutet, dass hierbei eine extrem autoritäre Auslegung der religiösen Regeln bewaffnet durchgesetzt werden. Das bedeutet nicht nur, dass hier nicht die geringste Hoffnung auf jegliche Toleranz von Abweichung besteht, wie das Nichttragen von Hijabs oder Hören westlicher Musik, sondern dass selbst andere Muslime als Abtrünnige betrachtet und verfolgt werden. Politische Vision des IS ist eine transnationale Bewegung, die eine „Umma“ bildet, also eine Gemeinschaft von muslimischen Gläubigen, die zum „Islamischen Staat“ werden sollen. Vor Ort entspricht seine Rolle auch eher denen von „fremden Invasoren“. Der Ursprung des IS liegt in abgehalfterten irakischen Militärs, die mit dem Blick auf den syrischen Bürgerkrieg gen Westen gezogen sind, um dort mitzumischen. Sie haben sich auch nicht vorwiegend aus den eingenommenen Gegenden rekrutiert, sondern radikalisieren und mobilisieren über Kampagnen im Ausland und im Internet.

Vergleichen wir das nun mit der Hamas. Vorweg sollte gesagt werden, dass wir hier keine vollständige Geschichte der Hamas nachzeichnen können, auch wenn diese recht aufschlussreich ist. Wir empfehlen hierzu den Artikel „Eine kurze Geschichte der Hamas“ von Marx21. Aber schon aus ihren Ursprüngen lässt sich einiges ablesen: Ursprünglich ging die Hamas auf den palästinensischen Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft zurück, die zum Ziele der religiösen Bildung und sozialen Wohlfahrt gegründet wurde. Hierin steckt schon eher eine Idee der „Islamisierung von Unten“ im Gegensatz zum IS. In sozialen Fragen ist die Hamas zwar religiös-konservativ, aber lange nicht so rigide wie der IS. Wirklich relevant wurde die Hamas jedoch erst, nachdem alle anderen große Kräfte im palästinensischen Widerstand ihren politischen Bankrott erklärt haben. Zum einen wäre da der säkulare Panarabismus, der im Sechstagekrieg 1967 eine schwere militärische Niederlage erlitten hat und damit in eine Krise geriet.

Zum anderen der Verrat der palästinensischen Linken aufgrund ihrer Etappentheorie, die die sozialistische Umwälzung der nationalen Befreiung hintenanstellt und die Unabhängigkeit der zuvor sehr schlagfertigen palästinensischen Arbeiter_Innenbewegung zugunsten einer Unterordnung unter der palästinensischen Bourgeoisie aufgegeben hat. Nach der ersten Intifada und den Verhandlungen in Oslo 1993 hat sich die Fatah mit der Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde in ein System integriert, das als verlängerter Arm der Besatzung in der Westbank gilt. Hier wurde ein Polizeistaat aufgebaut, der jeglichen Widerstand unterdrückt. Deswegen wird die Fatah weitestgehend als korrupte Verräter_Innen angesehen. Diese Prozesse sind nicht nur isoliert in Palästina passiert, sondern ähnlich in der gesamten Region: Säkulare und stalinistische Kräfte, die ehemals stark waren, haben es nicht geschafft, die Region gegen den Einfluss des Imperialismus zu verteidigen, weshalb sich ab den 90ern der politische Islam immer mehr als Alternative formierte, worunter auch der Aufstieg des IS nach dem Irakkrieg fällt. Teilweise geschah das mit vorheriger Unterstützung des Westens. So wurde zunächst auch die Hamas als Konkurrenz zur Linken von Israel geschont und damit begünstigt.

Die Hamas fokussierte sich zunehmend darauf, sich als „die militantesten“ innerhalb der Befreiungsbewegung darzustellen. Dies wirkte, denn auch nach Oslo ging die israelische Unterdrückung ungebremst weiter und viele Palästinenser_Innen verlangten nach militantem Widerstand. Hierdurch hat sich die Hamas immer mehr in der palästinensischen Gesellschaft verankert. Es ist nicht bloß eine außenstehende paramilitärische Kraft, sondern übernimmt viele gesellschaftliche Aufgaben. Letztendlich speist sich die Hamas aus der Verzweiflung des palästinensischen Volks, was sie auch bewusst nutzen.

Ihre Argumentation bezog sich zunehmend auf die Losungen der nationalen Befreiung, die sie mit islamistischen Ideen verbindet. Hierin zeigt sich jedoch eine durch und durch reaktionäre, antisemitische Utopie: Palästina solle zwar befreit werden, aber hin zu einer islamischen, religiös-konservativen Gesellschaft. In ihrer Gründungscharta erklären sie „die Juden“ zu ihren Feind_Innen und dass für diese kein Platz in der Region sei. Hierbei wird auch keine antisemitische Verschwörungstheorie ausgelassen, wenn es heißt, dass die Jüd_Innen für so ziemlich jedes Übel in der Welt verantwortlich seien.

Die Hamas nahm 2006 an den allgemeinen palästinensischen Wahlen teil, jedoch mit einem Wahlprogramm, das sich in der Sprache etwas mehr an die restliche palästinensische Widerstandsbewegung anpasste, indem es mehr zum Kampf gegen den israelischen Staat und nicht mehr explizit gegen Jüd_Innen aufrief. Dabei grenzte sich die Hamas jedoch nicht vom Antisemitismus ab, was sie auch nie überzeugend tat, sondern ihn eher manchmal taktisch zurückstellt. Sie gewannen die Wahlen und kurz darauf die Oberhand in Gaza, welches aber zum Freiluftgefängnis unter der letztendlichen Kontrolle Israels umgebaut wurde. In Gaza ist die Hamas integraler Bestandteil der Gesellschaft, indem sie die Verwaltung, Sozialsysteme und öffentliche Ordnung organisiert, auch wenn sie immer mehr an Beliebtheit verlor und die Massenproteste gegen sie immer wieder brutal niedergeschlagen hat. Die Hamas lässt sich dabei von anderen Reaktionären unter Druck setzen, indem sie sich von der Unterstützung einiger islamischen Länder abhängig macht und von noch rechteren Gruppen wie dem „Islamischen Dschihad“ herausgefordert wird.

Welche Perspektive?

Das offensichtliche zuerst: Fortschrittliche Kräfte sollten weder die Ideologie, das politische Programm noch die Kampfmethoden der Hamas supporten. Verbunden mit der undemokratischen und elitären Ausrichtung auf den Kampf einiger Tausend Milizionäre sowie der wachsendem Strategielosigkeit, führte das zum sinnlosen Massaker an hilflosen israelischen Zivilist_Innen, was nicht nur menschlich schockierend und militärisch sinnlos war, sondern auch die Reihen im israelischen Staat geschlossen und die Bevölkerung dahinter weitestgehend geeint hat. Dies ermöglicht es dem israelischen Staat, seinen brutalen Angriff auf das Freiluftgefängnis Gaza als „legitime Selbstverteidigung“ darzustellen.

Dennoch sollten wir nicht auf die Erzählung reinfallen, dass Frieden in die Region einkehren würde, sobald die Hamas zerschlagen ist, vor allem wenn dabei von der zivilen Bevölkerung so große Opfer abverlangt werden. Denn wie bereits skizziert: Der gesellschaftliche Nährboden der Hamas ist die Verzweiflung und der legitime Widerstandswille des palästinensischen Volkes sowie das politische Versagen der palästinensischen Linken und der Fatah.

Die einzige Lösung ist es, Freiheit, Gerechtigkeit und eine Zukunft für die Palästinenser_Innen zu erkämpfen. Das Programm der Hamas ist dazu nicht in der Lage und wir müssen sie deshalb politisch aus dem Widerstand verdrängen, unter anderem indem wir eine sozialistische Perspektive aufzeigen. Das bedeutet: In Gaza muss man den Widerstand gegen den Genozid unterstützen, ohne dabei Kritik zurückzustellen. In der Westbank und der Diaspora plädieren wir für Massenmobilisierungen, Streiks und Intifada. In benachbarten Ländern brauchen wir eigene Mobilisierungen und den Bruch mit der Pseudosolidarität aller Erdogans, Assads und Khomeinis. Im Westen müssen wir die Waffenlieferungen blockieren und unsere demokratischen Rechte verteidigen. In Israel braucht die Linke unseren Support und wir müssen die Risse zwischen israelischen Arbeiter_Innen und dem Zionismus weiter vertiefen. Hierbei kann ein Moment der permanenten Revolution entstehen, dass die Perspektive aufmacht zu einer fortschrittlichen Lösung des Nahostkonflikts: Im gemeinsamen Kampf eint sich die palästinensischen und israelischen Arbeiter_Innenbewegungen hin zu einem gemeinsamen, säkularen, multiethnischen und sozialistischen Staat. Das ist der einzige Weg zum Frieden in der Region.




TRANS DAY OF REMEMBRANCE

November 2023

Der Transgender Day of Remembrance (TDoR), deutsch „Tag der Erinnerung an die Opfer von Trans*feindlichkeit“, ist ein jährlich am 20. November stattfindender Gedenktag, an dem transgender Opfer transphober Gewalttaten gedacht und auf diese Problematik aufmerksam gemacht wird.

2022 wurden 327 trans Menschen ermordet. 65% davon BIPOC – 48% Sex Arbeiter*innen – 95% trans-feminin – 36% in Europa ermordeten waren migrantisch – 25% wurden Zuhause ermordet.

LILI ELBE

TW! Suizid Gedanken, Homophobie

Lili Elbe (1882-1931) war eine dänische Malerin der Landschafts- und Architekturmalerei. Sie studierte an der Königlich Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen, wo sie Gerda Gottlieb kennenlernte. Die beiden verliebten sich und heirateten kurz darauf. 1912 zogen sie gemeinsam nach Paris, um ihre queeren Identitäten offener ausleben zu können. Dabei stand Lili Elbe auch Modell für die „Femme Fatale“ Portraits ihrer Ehefrau. Im Jahr 1930 plante Lili Elbe, sich das Leben zu nehmen, weil sie es nicht mehr ertrug, mit ihrer Geschlechtsdysphorie zu leben. Doch als sie von dem bekannten deutschen Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld erfuhr, entschied sie sich dagegen. Sie begab sich nach Berlin in das Institut für Sexualwissenschaften und wurde eine der ersten Personen, die die Möglichkeit zu geschlechtsangleichenden Operationen bekamen. Da die Operationen damals noch selten und experimentell waren, wurde sie international in den Medien bekannt. Dieser Aufmerksamkeit stand Lili Elbe kritisch gegenüber: „Ich kämpfe gegen die Voreingenommenheit des Spießbürgers, der in mir ein Phänomen, eine Abnormität sucht. Wie ich jetzt bin, so bin ich eine ganz gewöhnliche Frau.“Aufgrund der Transition wurde die Ehe zwischen Gerda Gottlieb und Lili Elbe vom dänischen König aufgelöst.

Diesen Zwang zur Scheidung gab es auch im deutschen Transsexuellengesetz noch bis ins Jahr 2009. Lili begann daraufhin eine Beziehung mit dem Kunsthändler Claude Dejeune, mit dem sie sich auch Kinder wünschte. In einem Zeitraum von 2 Jahren wurden 4 Operationen an Lili Elbe durchgeführt, zunächst in Berlin, später in der Dresdner Frauenklinik. Nach der vierten Operation, vermutlich einer Uterustransplantation, kam es zu einer Infektion, an der Lili Elbe verstarb. Ihre Autobiographie „Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Eine Lebensbeichte“ erschien 1931 in deutscher Übersetzung.

BRIANNA GHEY

TW! Mord, Hassverbrechen, Transphobie

Brianna Ghey wurde am 7. November 2006 geboren. Gemeinsam mit ihrer Mutter (Esther Ghey) Und ihrer Schwester, lebte sie in Culcheth, Warrington, einer Kleinstadt im Nordwesten Englands. Dort besuchte Brianna Ghey die Birchwood High School. Mit 14 Jahren outete sich Brianna Ghey als Trans. Ihre Mutter unterstützte sie sehr bei ihrer Transition. Nach ihrem Coming-Out wurde Brianna Ghey als @gingerpuppyx ziemlich aktiv auf TikTok, wo sie regelmäßig Videos postete. In der Schule musste Brianna Ghey leider sehr viel transphobes Mobbing erfahren. Nach angaben ihrer Freund*Innen lief es sogar darauf hinaus, dass sie öfter von mehreren Leuten verprügelt wurde.

Am 11. Februar 23, einem Samstag-Nachmittag, ging die 16 jährige Brianna Ghey alleine im Culcheth Linear Park (ein Park in ihrer Heimatstadt) spazieren. Diesen Park verließ sie nie wieder lebend. Um 15.13 Uhr wurde der Rettungsdienst gerufen. Vorbeigehende Passant*Innen hatten den leblosen Körper von Brianna Ghey mit einer Menge brutaler Stichwunden auf einem Weg im Park aufgefunden. Zwei 15-jährige Verdächtige, ein Junge und ein Mädchen, wurden einen Tag später von der Polizei verhaftet. Die Polizei erklärte diesen brutalen Mord zunächst nicht als Hassverbrechen. Nach Ihrem Tod wurde Brianna Ghey von der Presse und anderen öffentlichen Medien misgendert und gedeadnamed, (also Ihr alter Name genannt, den sie nicht mehr benutzt.) Das ist extrem respektlos und transfeindlich. Tausende Personen kommentierten nach Brianna Gheys Tod ihre TikToks und zeigten Solidarität. Ihr TikTok Account wurde allerdings inzwischen schon von TikTok gelöscht. Trotzdem gibt es immer noch einige Fan-Accounts, im Gedenken an Brianna Ghey. Auch wir wollen uns heute an Brianna erinnern!

RITA HESTER

TW! Mord, Hassverbrechen, Transphobie

Rita Hester war eine afro-amerikanische trans Frau aus Boston. Sie war als kontakfreudig, glamourös und Performerin in Kabaretts und Bars in Boston bekannt. Sie war außerdem als Prostituierte unter dem Namen Naomi tätig. Eine Bekannte erzählt von Rita: „Wann immer sie bei Jacques [einer Bar in Downtown Boston] eintraf, wurde ihre Anwesenheit von allen bemerkt. Sie war so elegant und so schön sie doch war, so versuchte sie nicht, andere schlechter aussehen zu lassen.“ Am 28 November 1998 wurde Rita mit mindestens 20 Messerstichen ermordet, sie wurde nur 34 Jahre alt. Das Motiv des Angriffs ist bisher ungeklärt, Ritas Schwester meint aber das am Vorabend zwei Männer, welche Rita kannten ihr mit nach Hause gefolgt sind. Auffällig ist auch, dass keine von Ritas Wertsachen gestohlen wurden und wie brutal der Angriff war, es liegt also nahe das es sich um Hassverbrechen mit transphoben Hintergrund handelt. Als Reaktion auf Ritas Mord wurde am 4. Dezember eine Mahnwache veranstaltet, zu der 250 Menschen kamen. Trotzdem gab es wenig Reaktion von den amerikanischen Nachrichten und dem Staat. Im darauffolgenden Jahr gründete die trans Aktivistin Gwendolyn Ann Smith das Internetprojekt „Remembering Our Dead“ woraus der internationale Transgender Day of Remembrance entstand. Jedes Jahr am 20. November erinnern wir an Rita Hester und alle anderen ermordeten und verstorbenen trans Menschen.

MARTHA P. JOHNSON

TW! Polizeigewalt, Rassismus, sexualisierte Gewalt, Transphobie, Homophobie

Martha P. Johnson (1945-1992) war eine der bekanntesten Aktivist*innen im Gay Rights Movement der 1960er-70er, Drag Queen und Mitbegründerin der Street Transvestite Action Revolutionaries (STAR), einem Hilfsnetzwerk. Mit 18 zog Jonson aus Elizabeth, New Jersey nach New York, um dort ihre Identität als Drag Queen auszuleben (der Begriff transgender wurde erst nach ihrem Tod weithin bekannt). Selbst dort konnte sie als Genderrollen durchbrechende, Schwarze Person durch heftige Diskriminierung kaum Arbeit finden und sah sich gezwungen, neben den Shows als Drag Queen auch durch Prostitution Geld zu verdienen. Wie viele andere queere und gerade nicht Weiße Menschen wurde sie also an den Rand der Gesellschaft gedrängt, ausgebeutet und dann dafür auch noch durch die Polizei kriminalisiert, die sie unzählige Male verhaftete. Bei den Stonewall Riots (Auftständen) im Juni 1969 entlud sich die Wut der queren Community und ihrer Unterstützer*innen gegen die Polizei und den Staat der sie so unterdrückte. Johnson nahm in den folgenden Protesten eine führende Rolle ein und konnte so – mit vielen anderen – einen Kampf für queere Rechte in den USA und weltweit anfachen. Johnson erinnert uns, dass dieser Kampf weitergehen muss: “No pride for some of us without liberation for all of us.” (“Kein Pride für einige von uns ohne Befreiung für uns alle.”)

Amelio Robles Ávila

Amelio Robles Ávila war ein trans Mann der in der mexikanischen Revolution gekämpft hat. Er wurde im Jahr 1889 geboren und lebte seit er 24 Jahre alt war bis zu seinem Tod als Mann. Er starb mit 95 Jahren und wurde als Amelia Robles Ávila begraben, seine männliche Identität wurde jedoch von der Regierung akzeptiert. Er kämpfte in der mexikanischen Revolution auf der Seite der sozialistischen Zapatistas bis zum Aufstand der Konstitutionalisten in 1923, bei dem er half gegen diese zu kämpfen, welche aber letztenendes ihre demokratische (aber nicht sozialistische) Verfassung durchsetzten konnten. Er heiratete Ángela Torres nach seiner Zeit bei den Zapatistas und adoptierte später eine Tochter mit ihr. Er war dafür bekannt seine Identität als Mann sehr zu beschützen und bedrohte oft Menschen, die seine Identität auffliegen lassen wollten, mit seiner Pistole, jedoch akzeptierten die meisten Menschen in seinem Umfeld ihn von allein. Er selbst benutzte oft beide Versionen seines Namens und seiner Pronomen und wird heutzutage sowohl als männlicher Held und kämpferische Frau erinnert. Er wurde auch zu einem Vorbild für queere Menschen, seine Uniform ist nun eine Inspiration für Drag Shows in denen Soldaten verkörpert werden. Nach seinem Tod veröffentlichte einer seiner Verwandten einen Text:

„Sein Name war Amelio Robles, geweihter Oberst, vergesst seinen Namen nicht, bringt Blumen an sein verlassenes Grab.”

Erinnern heißt kämpfen!

  • Organisierte Selbstverteidigung von LGBTIAQ+-Menschen gegen jegliche queerfeindliche Übergriffe, auch gemeinsam mit anderen unterdrückten Gruppen und der Arbeiter_Innenbewegung!

  • Das Recht auf medizinische Geschlechtsangleichung an die soziale Geschlechtsidentität – kostenfrei und ohne unnötigen bürokratischen Akt!

  • Reproduktionsarbeit muss vergesellschaftet werden und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung beendet werden!



TV-L: Warum unsere Lehrkräfte streiken!

November 2023

1. Warum unterstützen wir Streiks?

Wir befinden uns gerade mitten im Tarifkampf für einen neuen Tarifvertrag der Länder (kurz: TV-L). Konkret geht es um insgesamt 2,5 Millionen Beschäftigte, die 10,5 % Prozent mehr Gehalt und mindestens 500 € mehr fordern. Und was geht mich das an? Eine ganze Menge! Klar ist, dass zugegebenermaßen Streiks jeglicher Art, nicht so der Ort sind, an dem sich Jugendliche super wohl fühlen. Lauter alte Menschen ziehen mit bunten Westen und nervigen Trillerpfeifen durch die Innenstadt und wenn’s ganz doof kommt, fährt dann auch noch kein ÖPNV, die Krankenhäuser sind dicht, der Müll wird nicht abgeholt oder Geschäfte sind geschlossen. Doch genau hier zeigt sich, die reale Macht, die Streiks entfalten können: Da das Fortlaufen der kapitalistischen Produktionsweise darauf beruht, dass sich die Kapitalist_innen gesellschaftlich geschaffenen Mehrwert privat aneignen, wird sie durch Streiks dort getroffen, wo es ihr am meisten weh tut – bei den Profiten. Wenn eine ganze Belegschaft also kollektiv nicht zu Arbeit geht, können die Kapitalist_innen auch keinen Mehrwert abschöpfen und das wird sich sehr schnell negativ auf ihre Profite auswirken, sodass sie gezwungen sind, auf die Forderungen der Streikenden einzugehen. Deshalb haben die organisierte Arbeiter_innenklasse und ihre Streiks eine so wichtige Rolle, wenn es darum geht, das kapitalistische System aus den Angeln zu heben. Ob zum Beispiel im Kampf gegen den Klimawandel durch mehr Geld, bessere Arbeitsbedingungen und ein ausgebautes Schienennetz bei der Bahn oder gegen den Umbau unserer Krankenhäuser zu Wirtschaftsunternehmen in der Pflege. Ebenso wurden bedeutende historische Errungenschaften wie das Frauenwahlrecht oder das Ende des Ersten Weltkrieges durch Streiks durchgesetzt. Auch wenn die meisten Streiks nicht unmittelbar das kapitalistische System als Ganzes in Frage stellen, lässt doch jede durchgesetzte Streikforderung das klassenkämpferische Bewusstsein der Arbeiter_innenklasse anwachsen und ist ein Etappensieg im Kampf unserer Klasse gegen das Kapital. Ob bei der Bahn, in der Pflege oder bei den Angestellten der Länder: Jeder Streik verdient unsere vollste Solidarität!

2. Worum geht’s beim TV-L?

Die Anzahl der Beschäftigten, deren monatliche Löhne durch den Tarifvertrag der Länder geregelt werden, ist mit 2,5 Millionen ziemlich beachtlich. Das sind so viele Menschen wie in München, Leipzig und Dortmund zusammen wohnen! Dazu zählen vor allem Lehrer_innen und Erzieher_innen, aber auch viele Verwaltungsangestellte, Sozialarbeiter_innen, Bauingineur_innen, Schulpsycholog_innen, Stadtplaner_innen, Systemtechniker_innen, Baumpfleger_innen, Hausmeister_innen usw. – alle Beschäftigten, die bei den Behörden und Institutionen des jeweiligen Bundeslandes angestellt sind. Leider zählen auch die Bullen dazu, die wir natürlich nicht als Teil der Arbeiter_innenklasse, sondern als Prügelknechte des bürgerlichen Staates betrachten. Wir treten für den Ausschluss ihrer Gewerkschaften aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) ein und solidarisieren uns nicht mit ihren Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen, um uns zu schlagen und festzunehmen. So wie viele Bullen sind leider auch viele Lehrer_innen und andere Landesbeschäftigte Beamt_innen und dürfen aufgrund des restriktiven deutschen Streikrechts nicht selbst auf die Straße gehen, um für ihre Forderungen zu kämpfen.

In einem Tarifvertrag werden zwischen Arbeitgeber_innen und Gewerkschaften die Rechte und Pflichten der Beschäftigten und der Arbeitgeber_innen festgeschrieben und bieten für die Arbeiter_innen die Möglichkeit, Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen vertraglich festzuschreiben. Die Forderung mit denen nun die Gewerkschaften ver.di, die GEW und der Deutsche Beamtenbund für einen neuen TV-L in den Kampf ziehen sind 10,5 Prozent mehr Gehalt für alle. Und da 10,5 % mehr bei den niedrigen Einkommensgruppen nicht so viel ist, fordern sie mindestens 500 Euro mehr. Angesichts einer allgemeinen Teuerungsrate von 14% in den letzten 2 Jahren liegt diese vorsichtige Forderung aber sogar noch unter dem, wie die anstrengende Arbeit der Landesbeschäftigten täglich entwertet wird. Außerdem sollen die studentischen Beschäftigen an den Universitäten, die aktuell in vielen Bundesländern vollkommen wild bezahlt oder nicht-bezahlt werden, auch in den Tarifvertrag mit eingegliedert werden. Der Arbeitgeberverband der Länder (TdL) hat jedoch bereits in der ersten Verhandlungsrunde gesagt, dass er alle Forderungen komplett überzogen findet und angesichts „leerer Kassen“ keine Möglichkeit sieht, diese umzusetzen. Wenn wir uns ansehen, dass der deutsche Staat jedoch ein mehrere Milliarden hohes Steuerplus erwartet und 100 Milliarden in die Bundeswehr steckt, wird klar, dass das einfach nur eine dreiste Lüge ist. Vielmehr ist die Ampelregierung einfach nicht dazu bereit, mehr Geld in Bildung, Erziehung und andere öffentliche Aufgaben zu stecken. Die Blockadehaltung der TdL ist Teil des gigantischen Sparprogrammes, mit dem in der sozialen Daseinsvorsorge gekürzt werden soll, um die gesparten Milliarden in Aufrüstung und Unternehmenssubvention zu stecken. So verkörpert der Haushaltsentwurf der Ampel für 2024 einen fetten Sozialkahlschlag, den wir so seit der Agenda 2010 nicht mehr gesehen haben. Konkret geht es darum in Bildung, Obdachlosenhilfe, Sozialer Arbeit, Humanitärer Hilfe, Katastrophenschutz, Bundesfreiwilligendienst, Prävention gegen sexuelle Gewalt, BAföG und Hilfe für Menschen mit Behinderung mehrere Milliarden wegzukürzen, um diese in Bundeswehr und die Unterstützung von Unternehmen („Wachstumsförderungsgesetz“) zu stecken. Die Landesbeschäftigten müssen also erkennen, dass sie mit ihrem Kampf für einen TV-L gegen diese brutale Umverteilung öffentlicher Gelder vorgehen können!

3. Warum betrifft das uns Schüler_innen?

Wie oben schon erwähnt, betrifft uns eigentlich jeder Streik, denn erfolgreiche Streiks sind auch wieder motivierend für andere Berufsbranchen und heben das Bewusstsein der Klasse im Allgemeinen. Doch gerade beim TV-L geht es konkret um die Frage, wie viel Geld in die Rüstung und viel in die Schulen gesteckt wird. Ob kaputte Schulgebäude, stinkende Schulklos, mehr Klassenarbeiten, gestresste Lehrer_innen oder ständiger Unterrichtsausfall: die aktuelle Bildungskrise hängt davon ab, wie viel Geld der Staat für die Schulen auf den Tisch legt. Somit sind wir zwar nicht direkt durch den TV-L betroffen, da wir kein Geld fürs Lernen erhalten. Jedoch betrifft uns sein Ergebnis indirekt sehr stark, denn ein starker Abschluss bedeutet eine feste Zusicherung von mehr Geld im Bildungssystem, mit dem strukturelle Probleme wie der Personalmangel angegangen werden können. Ein starker TV-L bedeutet, die Umverteilungsplänen der Ampel mit den Mitteln des Klassenkampfes ein Stück weit aufzuhalten. Wenn am 28.11. also unsere Lehrer_innen für den TV-L streiken, heißt das nicht nur Schulausfall, sondern das heißt, dass sie unsere vollste Unterstützung bei ihrem Kampf brauchen. Auch wenn Frau Schmanz ungerechte Noten gibt und Herr Weiß den langweiligsten Unterricht der Welt macht – in diesem Kampf stehen wir an ihrer Seite, denn ihr Kampf ist auch der unsere. Jede Schwäche in ihrer Mobilisierung wird den Arbeitgeberverband nur dazu ermutigen, ein schlechteres Ergebnis und damit weniger Geld im Bildungssystem durchzusetzen.

4. Wie können wir die Streiks für den TV-L unterstützen?

Am 28.11. werden bundesweit die angestellten Lehrer_innen streiken. Meistens gibt es am Streiktag selbst einen Streikposten vor dem Schultor. Dort kann man vor Ort mit den streikenden Lehrer_innen reden, wie wir sie unterstützen können. Wenn sie korrekt sind, nehmen sie uns vielleicht auch direkt mit auf die Streikdemo oder machen daraus eine Politik-Exkursion. Oder ihr geht einfach selbst hin, wenn der Unterricht wegen des Streiks komplett ausfallen sollte. Ihr könnt auch ein kleines Flugblatt schreiben, dass ihr die Idee cool findet, und allen Lehrer_innen ins Fach legen. Auch das motiviert sie und hilft ihnen vielleicht auch bei Konflikten mit der Schulleitung, die Streiks meistens gar nicht toll findet. Auf einer Vollversammlung oder Sitzung der Schüler_innenvertretung kann eine gemeinsame Erklärung verabschiedet werden, dass der Streik von uns Schüler_innen unterstützt wird. Wichtig ist, dass ihr gleich loslegt, denn der 28.11. ist nicht mehr weit entfernt.

Da wir uns jedoch mit unseren Lehrer_innen als gleichberechtigte Partner_innen im Kampf gegen die geplanten Angriffe auf das Bildungssystem verstehen, ist es wichtig, dass wir nicht nur die Forderungen der Gewerkschaften unterstützen, sondern auch eigene Ideen aufwerfen, um die Probleme anzugehen, die uns täglich in der Schule betreffen. Wir fordern deshalb zum Lehrer_innenstreik auch die Bildung einer Beschwerdestelle gegen Diskriminierung an jeder Schule. Diese muss unabhängig von der Schulleitung sein und gemeinsam von wähl- und abwählbaren Schüler_innen und Lehrkräften kontrolliert werden. Dafür brauchen wir an jeder Schule eine Art Antidiskriminierungs-Awarenessteam, das jederzeit ansprechbar ist und in dem auch von Diskriminierung betroffene Menschen selbst dabei sind. Es muss möglich sein, dort auch anonym eine Beschwerde über diskriminierendes Verhalten an der Schule einzureichen. Außerdem braucht die Beschwerdestelle eigene Befugnisse, um auch selbst gegen die Diskriminierung aktiv werden zu können. Das ist keine ferne Zukunftsmusik, sondern wir können gleich morgen damit beginnen, diskriminierenden Strukturen an unseren Schulen den Kampf anzusagen!

5. Wie geht es nach dem 28.11. weiter mit dem TV-L?

Leider verstehen sich die Führungen der Gewerkschaften in Deutschland nicht als Anführer_innen im Klassenkampf, sondern eher als Co-Verwaltung des kapitalistischen Systems. Das haben wir beispielsweise daran gesehen, dass sie keine großen Kampfmobilisierungen gegen die Corona-Krise, die Klimakrise oder die Aufrüstungspolitik organisiert, sondern stattdessen den Burgfrieden mit dem deutschen Kapital gesucht haben. Es ist also zu erwarten, dass sie nicht die volle Stärke ihrer Basis mobilisieren werden, dort wo sie schwach aufgestellt sind großangelegte Kampagnen zur Mitgliedergewinnung starten und dann ausgehend vom Vollstreik die Urabstimmung zum unbefristeten Erzwingungsstreik einleiten. Das bräuchte es aber, denn die einzelnen Nadelstiche der aktuellen Streikpolitik von ver.di und GEW tun dem Arbeitgeberband nicht weh, sodass dieser wahrscheinlich, wie schon zuvor beim Tarifvertrag Öffentlicher Dienst (TV-ÖD), mit einem schlechten Abschluss mit schlappen 5,5 % Lohnerhöhung rechnet. Dass die Gewerkschaftsführungen nicht gewillt sind, sich mit voller Stärke in den Kampf zu werfen, zeigt sich schon daran, dass gar nicht geplant ist, dass alle Beschäftigtengruppen am selben Tag streiken. Stattdessen streiken alle Berufsgruppen total vereinzelt, heute die Erzieher_innen, übermorgen die Lehrer_innen. Diese Taktik freut allein die Arbeitgeber. Dass die Beschäftigten auf diese Vereinzelung eigentlich keine Lust haben, hat am 17.10. eindrucksvoll eine Streikversammlung der Berliner Lehrer_innen gezeigt, bei der die absolute Mehrheit für eine Zusammenlegung der Streiktage gestimmt hat. Ähnlich hat sich auch das ver.di-Aktionskomitee der FU Berlin positioniert. Dieses klare Stimmungsbild wurde jedoch von der Bürokratie übergangen. Dieses undemokratische Verständnis von Gewerkschaftspolitik zeigt uns, dass es in allen Betrieben und Einrichtungen Streikkomitees brauch, die über wähl- und abwählbare Delegierte selber entscheiden, welche konkreten Kampfhandlungen als nächstes unternommen werden und wie die nächsten Streiktage aussehen. Ferner dürfen nicht die Gewerkschaftsbürokrat_innen entscheiden, ob ein Angebot der Arbeitgeberseite angenommen wird, sondern nur die Streikenden selbst!




Wie können wir Antisemitismus beenden?

Von Felix Ruga, November 2023

Heute ist der 9.11. und damit der Tag, an dem man sich an die mörderischen antisemitischen Pogrome in Deutschland vor 85 Jahre erinnert. Die Hoffnung, dass die Gesellschaft aus der Shoah gelernt hat und der Antisemitismus überwunden ist, hat sich mitnichten erfüllt: Davidsterne an Hauswänden jüdischer Bewohner_Innen, Brandanschläge auf Synagogen, der antisemitische Angriff in Dagestan, rechtsextreme Angriffe auf KZ-Gedenkstätten, ein weltweiter Aufstieg der extremen bis faschistischen Rechten, Rekordzahlen für die Freien Wähler nach dem Aiwanger-Skandal, blinde Flecken des Staates auf Nazi-Strukturen in und um ihn herum, die Schuldzuweisung und Attacken auf jüdische Menschen für die Taten Israels, das Silencen jüdischer Menschen, die gegen das Unrecht des Israelsischen Staates eintreten.

In diesem Artikel wollen wir runterbrechen, wie wir uns den Antisemitismus und die Möglichkeit dessen Überwindung erklären. Wegen der Komplexität wird das nicht vollständig möglich sein, aber wir können euch noch weitere Texte empfehlen.

Was ist Antisemitismus?

Antisemitismus ist zunächst erst einmal Rassismus gegen Jüd_Innen und trägt damit auch viele Eigenschaften, die auch sonstige Formen rassistischer Unterdrückung haben: Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft als „die Anderen“, konstruierte Vorurteile, systemische Unterdrückung durch Entrechtung, Unsichtbarmachung oder Mystifizierung der Geschichte und kultureller Eigenheiten, um nur einige Aspekte zu nennen. Aber gleichzeitig ist der Antisemitismus auch eine besondere Form des Rassismus. Während beispielsweise der Rassismus meist von einer Art kulturellen Überlegenheit der „weißen Herrenrasse“ ausgeht, um Überausbeutung und Versklavung zu rechtfertigen, wird im Antisemitismus von einer Bedrohung der „weißen Herrenrasse“ durch angebliche „Weltherrschaftspläne der Juden“ ausgegangen. Anti-jüdische Pogrome, Massenmord und Verschwörungstheorien waren und sind die schrecklichen Konsequenzen dieser Ideologie. Die Geschichte des Antisemitismus ist mit der von Vertreibung und Unterdrückung geprägten, vielfältigen jüdischen Geschichte verbunden, auf die an dieser Stelle jedoch nicht tiefer eingegangen werden kann.

Rolle im Kapitalismus

Es gab auch schon lange vor der Entstehung des Kapitalismus antijüdischen Hass, aber wir wollen uns hier besonders auf die Funktion des Antisemitismus im Kapitalismus beziehen. Er versucht nämlich, der abstrakten Gewalt des Kapitalismus ein konkretes und angreifbares Ziel zu geben. Denn das Besondere am Kapitalismus ist, dass sich seine Logik durch eine stumme Rationalität durchsetzt. Konkurrenz und Krisen existieren ohne den Willen von irgendwem. Die herrschende Klasse lenkt die Gesellschaft zwar, muss sich aber selbst an die Gesetze der Warenproduktion halten und kann sich im Zweifelsfall auch auf diese „Alternativlosigkeiten“ zurückziehen. Alle anderen spüren diese Gewalt an der eigenen Haut und es ist nur schwer auszuhalten, wenn man den eigenen Frust nicht wirklich adressieren kann, weil man entweder den Kapitalismus als unveränderlich akzeptiert, Klassenkampf verunmöglicht wird oder weil man selbst vom eigenen, wenn auch meist kleinen, Kapital lebt.

Deswegen ist der Drang nach einer antisemitischen Auflösung dieser Frustration, vor allem innerhalb des Kleinbürgertums, in Krisenzeiten und nach großen Niederlagen der Arbeiter_Innenbewegung besonders groß. Der Antisemitismus gibt der kapitalistischen Gewalt ein Gesicht, indem das mittelalterliche Zerrbild des „wuchernden Juden“ mit allem identifiziert wird, was man für „schlecht“ am Kapitalismus erklärt. Dabei wird jedoch der Kapitalismus nicht als Ganzes kritisiert, denn man muss nur den „guten, deutschen“ Kapitalismus vom „Schlechten“ befreien. Damit wird ein Aufstand auf ein Ersatzobjekt gerichtet. In der Shoah hat sich gezeigt, dass die Gesellschaft von einem Volk zu „befreien“, im Endeffekt bedeutet, dieses auszulöschen.

Es gibt Ideologien, die nicht konkret Jüd_Innen angreifen, aber ebenfalls imaginieren, dass eine kleine Gruppe die eigentlich gesunde kapitalistische Gesellschaft verdirbt. Diesen Mechanismus findet man in Verschwörungsideologien wieder. Das muss nicht automatisch Antisemitismus sein, ist aber dennoch gefährlich und hat fast immer eine offene Flanke dazu.

Und was ist mit Israel?

Reden wir also nun über den Elefanten im Raum. Denn schaut man sich die „Debatte“ in Deutschland an, scheint der israelbezogene Antisemitismus zu dominieren. Der häufigste Vorwurf ist wohl, dass Palästinenser_Innen und Antiimps mit ihrer Kritik am Staate Israel getarnt ihrem Antisemitismus Luft verschaffen würden, weil das weniger sozial geächtet ist. Diese „Kritik“ ist bloße Unterstellung und wird in der Regel komplett entkoppelt von den tatsächlichen Verhältnissen im Nahen Osten, von der Siedlungspolitik Israels und der Unterdrückung der Palästinenser_Innen. Solcherlei Vorwürfe weisen wir entschieden zurück.

Israelbezogener Antisemitismus existiert jedoch sehr wohl. Zum Beispiel dann, wenn die Brutalität Israels als etwas „jüdisches“ oder Israel als Zentrum einer Weltverschwörung dargestellt wird, aber auch dann, wenn „die Jüd_Innen“ mit Israel identifiziert werden, zum Beispiel indem sich Jüd_Innen für israelische Politik rechtfertigen sollen oder, in den schlimmsten Fällen, angegriffen oder ermordet werden.

Aber auch wenn der imperialistische deutsche Staat denkt, er könne sich von der historischen Schuld gegenüber den Jüd_Innen befreien, indem er kritikloser Verfechter Israels ist, trägt das etwas Antisemitisches in sich, denn das setzt den Zionismus mit den Jüd_Innen gleich und macht all jene von ihnen unsichtbar, die sich nicht mit der zionistischen Ideologie identifizieren können. Werden dann auch noch linke Jüd_Innen für ihre Positionen als antisemitisch kriminalisiert, kann es wirklich absurd werden.

Wie wollen wir dagegen kämpfen?

Das offensichtlichste zuerst: Wir dürfen nicht auf den rassistischen Versuch reinfallen, den Antisemitismus als „importiert“ darzustellen. Antisemitische Position werden zwar in manchen islamistisch geprägten Ländern offen verbreitet, aber auch in Deutschland hat es eine tiefgreifende und kollektive Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus nie gegeben, denn das würde eine Kritik des Kapitalismus, des Mitläufertums, der Schuldabwehr und so weiter voraussetzen.

Viele Beispiele und Statistiken zeigen: Der Antisemitismus blieb immer integraler Bestandteil der deutschen Gesellschaft und kommt meist von rechts. Antisemitismus ist aber nicht ausschließlich ein Problem des „falschen Weltbildes“, sondern ein Produkt von sozialen Strukturen und damit heute der kapitalistischen Produktionsweise. Radikal gegen Antisemitismus zu sein, bedeutet auch radikal antikapitalistisch zu sein, denn radikal heißt, das Problem an der Wurzel anzupacken. Antisemitismus zu bekämpfen, bedeutet auch, dem Nationalismus seine Grundlage zu entziehen und das deutsche Kapital als unseren größten Feind zu betrachten. Dafür brauchen wir ein antikapitalistisches Programm, das uns Jugendlichen einen Weg aufzeigt, wie wir unseren Kampf gegen Rassismus, Rechtsruck und Nationalismus zu einem Kampf für eine befreite Gesellschaft ausweiten können. Um die kapitalistische Produktionsweise durch eine neue ersetzen zu können, gilt es dabei, die Arbeiter_Innenklasse für unsere Ziele zu gewinnen. Antisemitischen Vorurteilen müssen wir dabei auf schärfste kritisieren und bekämpfen.

Wenn wir uns nicht gegen Antisemitismus organisieren, werden wir den Kapitalismus nicht abschaffen können und andersherum wird Antisemitismus immer weiter existieren, solange ihn die kapitalistische Produktionsweise anfeuert. Im Rahmen dessen müssen wir im Hier und Jetzt Forderungen aufstellen, die Antisemitismus entgegenwirken und die Widersprüche mit dem Kapitalismus zuspitzen. Dazu gehört die Verteidigung des Rechts auf die freie Ausübung von Religion und Kultur. Ebenso müssen wir das Recht auf Schutz gegenüber Angriffen auf jüdische Einrichtungen und Menschen einfordern und antirassistische Selbstverteidigungsstrukturen organisieren. Auch kann kein kapitalistischer Nationalstaat vollständigen Schutz gegenüber Antisemitismus gewähren. In Israel müssen wir deshalb für die Beendigung der Besatzung und eine sozialistische Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes eintreten, damit die dort ansässige Bevölkerung Ruhe und Frieden finden kann. Lasst uns den rechten Pseudokämpfen gegen Antisemitismus eine revolutionäre antikapitalistische Perspektive auf der Grundlage einer marxistischen Analyse entgegensetzen, damit sich die Shoah niemals wiederholt!




106 Jahre: Die Oktoberrevolution und wie sie verraten wurde

Alexander Breitkopf, November 2023

Heute vor 106 Jahren fand im damaligen Russland die Oktoberrevolution statt und brachte die Gründung der Sowjetunion mit sich. Es war der große Sieg des Sozialismus, auf den rund 70 Jahre später mit dem Fall der Sowjetunion seine große Niederlage folgte. Wie kam es dazu, dass das bislang größte sozialistische Projekt der Weltgeschichte so krachend scheiterte? Lag es an der gierigen Natur des Menschen? Am inhärent autoritären Charakter des Staates? War es einfach Pech?

Aller Anfang ist schwer

Die Sowjetunion wurde gegründet als Arbeiter_Innenstaat und diesen Charakter hat sie bis ’91 nie ganz verloren. Die bedeutende Mehrheit der Produktionsmittel verblieb in der Hand des Staates, der Außenhandel blieb ebenfalls unter seiner Kontrolle, und statt dem Chaos des freien Marktes herrschte Planwirtschaft. Nichtsdestotrotz bedeutet das nicht, dass die Entscheidungen der Regierung auch im Interesse unserer Klasse waren. Im Gegensatz zum Kapitalismus, der sich auf die sich bereits im Feudalismus entwickelnden kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen stützen konnte, mussten diese für den Sozialismus erst entstehen. Da die Durchsetzung der neuen Ordnung gegenüber der alten an die Entwicklung der Produktivkräfte geknüpft ist, ist ihr Sieg auch immer zu bedeutenden Teilen eine ökonomische Frage – die neue Wirtschaftsweise, die Produktivkräfte mehr als die anderen fördert, gewinnt auf dem Weltmarkt. Eine ökonomische Vormachtstellung zementiert den Sieg des wirtschaftlichen Systems. Die Wirtschaft der Sowjetunion war jedoch nach einigen guten Jahrzehnten von Stagnation geprägt, und da die imperialistischen Staaten nicht kampflos kleinbeigeben, bedeutet Stillstand Rückschritt. Viel stärker als im Kapitalismus ist die Wirtschaft im Arbeiter_Innenstaat durch Entscheidungen des Staates bestimmt und bedarf einer korrekten Verwaltung. In diesem Sinne ist ein ökonomisches Versagen auch ein politisches (auch wenn die ökonomischen Grundlagen selbstverständlich eine bedeutende Rolle spielen).

Dass die Sowjetunion sich nicht auf dem besten Weg zum Kommunismus befand, lässt sich jedoch auch direkt an ihrer politischen Struktur beobachten. Der Staat nimmt im Sozialismus den Charakter eines Halbstaates unter der Kontrolle der Räte an, der die Bedingungen seiner eigenen Auflösung bereits in sich trägt. Anfangs noch benötigt als Struktur, die die Konterrevolution zurückhält und die Massen zur politischen Teilhabe befähigt, verliert er seine Notwendigkeit, je näher der Kommunismus kommt, und wird kleiner, bis er verschwindet. Das Gegenteil war in der Sowjetunion der Fall: Diese wurde geprägt von einem immer größeren und repressiveren bürokratischen Apparat, dessen Mitglieder ihre Stellung gegenüber den durchschnittlichen Arbeiter_Innen immer weiter zu verbessern wussten. Demokratische Strukturen waren Mangelware, die Identifikation der Arbeiter_Innen mit „ihrem“ Staat schwand zusehends – politische Emanzipation der Klasse sieht anders aus.

Der Aufstieg der Bürokratie

Wie kam es zu dieser Verkehrung der sozialistischen Ideen in ihr Gegenteil? Zentraler Faktor des Niedergangs der Sowjetunion waren die ökonomischen Voraussetzungen, die ihr geboten waren. Das zaristische Russland war bis auf wenige Ausnahmen wie St. Petersburg oder Moskau weit davon entfernt, kapitalistisches Zentrum zu sein, es hatte die Reste des Feudalismus nicht einmal vollständig abgeschüttelt. Diese Tatsache wurde durch den auf die Revolution folgenden Bürger_Innenkrieg noch verschärft, sodass Armut und Mangel herrschten. Dieser Tatsache sollte mittels der „Neuen ökonomischen Politik“, die in begrenztem Maße marktwirtschaftliche Elemente einführte, entgegen getreten werden. Dies geschah nicht ohne Erfolg – die Sowjetunion machte rasche Fortschritte in Richtung des Zieles, ökonomisch die imperialistischen Industriestaaten einzuholen. Zugleich ermöglichte dieser Aufschwung aber auch die Herausbildung einer privilegierten Schicht, und es wuchs ein bürokratischer Apparat heran, um zwischen diesen Gegensätzen zu schlichten. In Trotzkis Worten: „Wenn die Waren knapp sind, müssen die Käufer Schlange stehen. Wenn die Schlange sehr lang wird, muss ein Polizist für Ordnung sorgen.“ Diese Tatsachen waren ein Stück weit unvermeidbar. Der Kapitalismus löst sich nicht mit dem Hissen der ersten Sowjetflagge in Luft auf, seine Strukturen verschwinden nicht von heute auf morgen, und auf diese in begrenzten Maße zurückzugreifen ist in der Übergangszeit zwischen den Systemen auch für die perfekteste revolutionäre Partei unvermeidbar.

Stalins neuer „Sozialismus“

Im speziellen Fall der Sowjetunion entwickelten diese bürokratischen Organe jedoch mit ihrem Anwachsen auch ihre eigenen Interessen, namentlich den eigenen Machtausbau, und sie fanden sich in der Lage, diese auch durchzusetzen. Dies wurde dadurch begünstigt, dass, ebenfalls im Zuge des Bürger_Innenkrieges, führende Köpfe der Abrieter_Innenbewegung gestorben und andere ein Misstrauen gegenüber den Massen entwickelt hatten – die langen, konfliktreichen Jahre ließen viele müde und niedergeschlagen zurück. Gespiegelt wurde dies in einer gewissen Gleichgültigkeit der Massen an der Politik der Führung – der „Wille zur Massenorganisierung“ war an beiden Enden beschädigt. Besonders hilfreich bei der Festigung der Durchsetzung der bürokratischen Macht waren dabei zudem zwei politische Maßnahmen, die im Zuge des Bürger_Innenkrieges getroffen worden waren: Das Verbot von Oppositionsparteien sowie das Verbot von Fraktionen innerhalb der revolutionären Partei. Eigentlich als temporäre Maßnahme für die besonders zugespitzten Verhältnisse gedacht, waren diese nun willkommenes Mittel für die Kleinhaltung von Opposition von innen und außen auch in Friedenszeiten. Es kam zu einer Entmachtung der Partei und zu einer Zentralisierung der Kontrolle im Staat im bürokratischen Apparat unter der Führung von Stalin.

Dessen Theorie des „Sozialismus in einem Land“ wurde zur Staatsdoktrin, und das war den Massen durchaus nicht schwer zu verkaufen: Eine Reihe von Niederlagen, beispielsweise das Ausbleiben der Revolution in Deutschland, hatten den Glauben in eine Weltrevolution erodiert. Das bedeutete aber auch eine Abkehr vom Internationalismus: Friedliche Koexistenz mit den imperialistischen Staaten wurde gepredigt & beispielsweise mit dem Beitritt in den „Völkerbund“ auch praktisch umgesetzt. Arbeiter_Innenkämpfe wurden nur da unterstützt, wo es den eigenen Interessen diente, in Spanien setzten sich stalinistische Kräfte sogar direkt gegen sozialistische Forderungen ein. Unter sowjetischer Führung setzte sich diese Politik auch in der Kommunistischen Internationale durch.

Sozialismus im Schneckentempo

Im Grunde ist es zu viel des Lobs, den „Sozialismus in einem Land“ überhaupt als Theorie zu bezeichnen. Sie wurde nirgends in vollständiger Form formuliert, im Grunde erfüllte sie nur den Zweck, die tagesaktuelle Politik Stalins im Nachhinein zu rechtfertigen. Bucharin selbst (!!) fasste seinerzeit den „Sozialismus in einem Land“ mit den Worten zusammen. „Wir können den Sozialismus selbst auf dieser armseligen technischen Grundlage aufbauen, das Wachsen des Sozialismus wird viel, viel langsamer gehen, wir werden im Schneckentempo dahinkriechen, und doch werden wir an diesem Sozialismus bauen, ja ihn gänzlich errichten.“ Kurze Zeit später wurde proklamiert, man müsse „in verhältnismäßig minimaler historischer Frist“ die kapitalistischen Staaten ein- und überholen. Mal war die Sowjetunion schon sozialistisch, mal nicht, mal gab es noch Klassen, mal nicht. Besonders deutlich werden diese Widersprüchlichkeiten am Schicksal des Kulakentums, des kleinbürgerlichen Bäuer_Innentums, das erst lange Jahre unter der Parole „Bereichert euch!“ heranwachsen durfte, bis die Führung merkte, dass sie den Karren „im Schneckentempo“ gegen die Wand fuhr. Als Gegenmaßnahme wurde aufs Gaspedal gedrückt, und die überhastete Enteignung der Kulaken hatte fatale Folgen für Produktion wie Menschen gleichermaßen. Dass jede Theorie an der Praxis geprüft und, wo nötig, revidiert werden muss, ist klar, aber eine „Theorie“, die ohne ersichtlichen Grund erst A und dann B hervorbringt, ist offensichtlich von klaffenden Lücken durchzogen.

Der Niedergang und Fall der Sowjetunion haben historisch belegt, dass die Idee des Sozialismus in einem Lande nicht funktionstüchtig ist. Es hätte einer erneuten, politischen Revolution bedurft, um den Weg in Richtung Kommunismus erneut einzuschlagen, einer Redemokratisierung in Form der Wiedereinführung von Rätemacht und demokratischen Zentralismus, einer Wiederbesinnung auf den internationalistischen Charakter der Arbeiter_Innenbewegung, auch auf die Gefahr hin, in Konflikt mit den imperialistischen Staaten zu treten. Statt aus der Not eine Tugend zu machen, gilt es heute, mit den Lehren aus der Oktoberrevolution dafür zu kämpfen, dass der nächsten sozialistischen Revolution ein besseres Schicksal vergönnt ist.