Was ist eigentlich antimuslimischer Rassismus und woher kommt er?

Von Dilara Lorin und Stephie Murcatto, April/Mai 2024, Revolution Zeitung 2/2024

„Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse!“

Dass die rechtsextreme AfD-Abgeordnete Alice Weidel diesen Satz im Bundestag gesagt hat, ist noch gar nicht so lange her. Lehrer:innen, die deine Hijab tragenden Mitschüler:innen verbal angreifen und fragen, ob sie dazu gezwungen wurden und das Kopftuch wieder abnehmen sollen, bis hin zu Sprüchen wie „Na bekommt dein Gehirn darunter noch Luft“. Oder die Wohnungssuche, bei der Vermieter:innen einen Lukas einem Hamid vorziehen, obwohl beide die gleichen Unterlagen vorlegen, was zu offener Diskriminierung und Benachteiligung führt und auf dem Arbeitsmarkt nicht anders aussieht. Dies sind nur Bruchstücke des antimuslimischen Rassismus, mit dem viele Menschen tagtäglich konfrontiert sind. Dabei hat sich die Lage in Deutschland seit dem 7. Oktober 2023 verschlechtert, indem alle Muslim:innen unter Generalverdacht gestellt werden. Vize-Kanzler Robert Habeck fordert in einer Ansprache alle Muslim:innen dazu auf, sich zum 7. Oktober zu verhalten und Israel als Staat anzuerkennen. Würde dem nicht Folge geleistet, könnten sie Gefahr laufen, ihren Aufenthaltstitel zu verlieren. Der Generalverdacht, der von allen Seiten der deutschen Politik kommt, ist ein Schlag ins Gesicht der 5,3 – 5,6 Millionen in Deutschland lebenden Muslimen (ungefähr 6,4 – 6,7 Prozent der deutschen Bevölkerung). Doch was ist antimuslimischer Rassismus und woher kommt er? Um dies zu verstehen, müssen wir uns zuerst anschauen, was Rassismus ist:

Was ist Rassismus?

Eines ist klar: Rassismus ist kein Produkt der „menschlichen Natur“ und auch nicht Ausdruck einer „tief verwurzelten Angst vor dem Fremden“. Vielmehr ist Rassismus eng mit der Entstehung bürgerlich-imperialistischer Nationalstaaten verbunden. In einer Zeit, in der der Kapitalismus einen Weltmarkt schuf und die Nationalstaaten neue Märkte erschließen mussten, wuchs aufgrund der kolonialen Ausbeutung das Bedürfnis nach Erklärungen, die die „Unzivilisiertheit“ dieser Menschen konstatierten und sie damit zu ewigen „Dienern des weißen Mannes“ machten. Damit war der Boden bereitet für die pseudowissenschaftliche Erklärung ihrer „Minderwertigkeit“ durch den Rassenbegriff. Rassismus übersteigt jedoch bloße sprachliche oder kulturelle Kategorisierungen und nutzt phänotypische Merkmale wie zum Beispiel Hautfarbe und Kopfform, um Menschen in vermeintlich feste Gruppen einzuteilen. Der Rassenbegriff diente als effizientes Werkzeug für bürokratische Grenzziehungen und demagogische Mobilisierung. Der Rassismus ermöglicht auch die Zuteilung unterschiedlicher Rechte je nach Zugehörigkeit zu einer „rückständigen“ oder „zivilisierten“ Nation oder Nationalität. Damit wird die ethnische Zugehörigkeit zu einem imperialistischen „Staatsvolk“ positiv und die zu allen anderen negativ bewertet, was zu einer Abwertung der Angehörigen unterdrückter Nationen führt. Rassismus ist tief in unserem gegenwärtigen Herrschaftssystem verankert. Die materielle Basis des Rassismus‘ in der Arbeiterklasse ist die massenhafte Überausbeutung in den Halbkolonien, die einem Teil der Arbeiterklasse in den imperialistischen Ländern einen gewissen Wohlstand zu garantieren scheint.

Was zeichnet antimuslimischen Rassismus aus?

Dabei handelt es sich um eine Form des Rassismus, der sich nicht nur gegen religiöse Sympathien und Praktiken richtet, sondern gleichzeitig Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft rassifiziert und dem Islam zuordnet. Antimuslimischer Rassismus und Islamophobie machen den:die „Muslim:in“ zu einer unveränderlichen Sache, sodass Menschen verschiedener Nationalitäten und sogar Glaubensrichtungen als „muslimisch“ charakterisiert werden. Somit trifft antimuslimischer Rassismus nicht nur Muslim:innen sondern auch diejenigen, die scheinbar „muslimisch“ aussehen oder Menschen sind, die aus einem Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung stammen. Dabei hat der antimuslimische Rassismus einen ähnlichen Zweck wie der Rassismus: Spaltung der Arbeiter:innenklasse und herausentwickeln einer prekären Schicht dieser, Trennung des Arbeitsmarktes und Legitimation von Kriegen und imperialistischen Interessen. Durch die Spaltung der Arbeiter:innenklasse wird einerseits eine einheitliche Masse der Ausgebeuteten verhindert und andererseits können jene Arbeiter:innen besser ausgebeutet werden, die aufgrund ihrer Rassifizierung nicht die gleichen Rechte erhalten. Die Verbindung der Diskriminierung von Arbeitsmigrant:innen mit ihrer rassistischen Brandmarkung als „Muslimin:innen“ stellt diese als „Gefahr“ für „zivilisierte“ Gesellschaften dar. Diese Charakterisierung wird zunehmend von Rechtsextremen aufgegriffen und mit Verschwörungsideologien verknüpft. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte „Islamisierung des Abendlandes“, wegen der angeblich muslimische Einwanderung stattfindet, um die weiße Bevölkerung zu marginalisieren. So soll die Abschottung und Rückführung von Geflüchteten besser gelingen. Letztendlich sind alle Formen von Islamophobie und antimuslimischem Rassismus rassistische Ideologien, die der Unterdrückung von eingewanderten und geflüchteten Arbeiter:innen dienen sowie einen ideologischen Deckmantel für „humanitäre“ Interventionen in Halbkolonien oder die Unterstützung des zionistischen Staates rechtfertigen.

Wie ist der antimuslimische Rassismus entstanden?

In den letzten Jahren hat sich der Rassismus gegen Muslim:innen und die Islamophobie erheblich verändert, wodurch dem antimuslimischen Rassismus ein anderer Charakter verliehen wurde. Seit den 2000er Jahren können wir erkennen, dass der antimuslimische Rassismus eine dominierende Form des Rassismus in den imperialistischen Ländern eingenommen hat. Dies hat seine Ursache in verschiedenen historischen Entwicklungen. Eine davon ist der Zusammenbruch der Sowjetunion, der die Weltlage schlagartig verändert und die USA dazu veranlasst hat, die Welt neu ordnen zu wollen, um ihre Hegemonie und ihre Machtansprüche zu sichern. In den USA wurden in dieser Zeit immer mehr Bücher und Publikationen veröffentlicht, die Wege und Strategien für die Hegemonie der USA skizzieren. Dabei wurden vor allem andere imperialistische Länder wie China und Russland als Rivalen dargestellt und Strategien veröffentlicht, die verhindern sollten, dass diese Länder die Hegemonie der USA angreifen können. Eines dieser rassistischen Bücher war Huntingtons Clash of Civilisations (Kampf der Kulturen), das auch den „Islam“ als einen Imperialismus beschrieb, der sich zu einem globalen Rivalen entwickeln könnte, und das voller rassistischer Ideologie war. Dabei ist der Islam weder eine wirtschaftliche Einheit noch eine Nation oder eine Föderation von Nationen. Er ist kein Rivale um die Weltmacht. Aber er eignet sich gut als globaler Feind, der sowohl intern als auch extern ist. Nach den Angriffen am 11. September 2001 wird diese Ideologie dann genutzt, um den sogenannten „war on terror“ zu legitimieren und dutzende imperialistische Kriege wie in Afghanistan, auf vermeintlich muslimische Länder im Mittleren Osten, aber auch überall in der Welt zu legitimieren. Außerdem bietet es nicht nur eine ideologische Rechtfertigung für die Destabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens, sondern auch für die polizeiliche Überwachung und Stigmatisierung der muslimischen Bevölkerung. Dafür mussten der „Islam“ und der „Islamismus“ als einheitliches Gebilde konstruiert werden, um somit einen homogenen, gefährlichen und barbarischen Feind zu kreieren, dessen Anhänger:innen zu einer rückständigen Kultur gehören, die nicht in die moderne, demokratische Gesellschaft integrierbar ist. Dass im Islam selbst unterschiedliche Schulen und Glaubensauslegungen vorherrschen, beispielweise Unterschiede zwischen Schiiten und Sunniten, spielt dabei gar keine Rolle. Dabei wird oft von allem Islam als Islamismus gesprochen, ohne zwischen echtem Islamismus (politischem Islam) und dem Islam als bloßer Religion zu unterscheiden. So werden die in Deutschland stattfindenden Pro-Palästina-Demonstrationen von Robert Habeck als islamistisch bezeichnet, obwohl es sich bei den Organisatoren größtenteils um säkulare, linke Organisationen handelt.

Situation von Muslim:innen

Insgesamt gehört die Mehrheit der Muslim:innen in der EU zu den prekären Teilen der Arbeiter:innenklasse: So ist die Arbeitslosenquote unter türkischen Arbeiter:innen in Deutschland oder unter pakistanischen und bangladeschischen Arbeiter:innen in Großbritannien um 15 bis 40 Prozent höher als im nationalen Durchschnitt; man kann also sagen, dass die Arbeitslosenquote unter Migrant:innen und Muslim:innen (soweit getrennte Daten vorliegen) wesentlich höher ist als im nationalen Durchschnitt. Dadurch wird deutlich, dass Muslim:innen systematischer Unterdrückung, Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt sind, was als Folge Ghettoisierung mit sich bringt.

Auf dem Arbeitsmarkt und in der Schule erleben Migrant:innen und Muslim:innen alltägliche Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund ihrer Herkunft und Religion, auch wenn es in vielen Ländern oberflächliche Antidiskriminierungsgesetze gibt, die nicht verhindern, dass z. B. die Arbeitssuche für Migrant:innen mit Kopftuch wesentlich schwieriger ist als für weiße Frauen ohne Kopftuch. Auch in der Schule ist es für Schüler:innen aufgrund ihrer sozialen Lage schwieriger, akademische Erfolge zu erzielen, was insgesamt dazu führt, dass Muslim:innen (und Migrant:innen insgesamt) tendenziell in schlechter bezahlten Sektoren arbeiten als weiße Arbeiter:innen.

Wir wollen im zweiten Teil der Artikelreihe zu antimuslimischem Rassismus genauer darauf eingehen, was wir tun können, um dagegen anzukämpfen. Welche Forderungen sollten wir im Kampf aufstellen? Wieso ist der Kampf für Religionsfreiheit für alle wichtig? Seid gespannt.




Gegen Pistorius’ „freiwillige“ Wehrpflicht: Die Herrschenden wollen Krieg, wir wollen eine Zukunft!

von Pippine Garterbelt, Juni 2024

Boris Pistorius (Bundesminister der Verteidigung, SPD) warnt vor einem nahenden russischen Angriff auf die NATO und stellte daher am Mittwoch, dem 12.06.2024, seine Pläne für ein neues Wehrdienstmodell vor. Diese Pläne sehen vor, dass in Zukunft alle Jugendlichen nach ihrem 18. Geburtstag einen Online-Musterungsbogen von der Bundeswehr zugesendet bekommen. Männer zwischen 18 und 25 Jahren sind dann nach diesem Gesetz verpflichtet, diesen Bogen auszufüllen und zurückzusenden. Wenn man dann im Zuge dessen genügend Motivation und Kriegstauglichkeit zeigt, wird man verpflichtend zur Musterung eingeladen, also einer Untersuchung zur Eignung zum Wehrdienst. Dass man dann schlussendlich zum Dienst an der Waffe verpflichtet wird, lehnt Pistorius noch ab. Frauen wird dieser Bogen auch zugesendet. Sie sollen jedoch nicht verpflichtet sein, diesen Musterungsbogen auszufüllen und wieder zurückzusenden. Das alles entspricht einer ersten Stufe wieder zurück zur Wehrpflicht, das heißt: der massenhaften Mobilmachung von Arbeiter:innen und Jugendlichen, um als Soldat:innen für die Interessen der Herrschenden zu morden – und zu sterben.

Also jetzt doch?

Denn am Ende des Tages sind es wir, die Jugend, die ihr Leben gefährden und für die Herrschenden in den Krieg ziehen und mörderische Konflikte in ihren Namen bestreiten müssen. Mit dem neuen Wehrdienstmodell möchte die SPD jährlich 40.000 bis 50.000 neue Soldaten rekrutieren. Dies sei notwendig, um einen Krieg gegen Russland zu bestehen, sagt Pistorius. Er vermutet einen Angriff Russlands bereits im Jahr 2029. Bis dahin möchte er die Zahl der Reservist:innen auf 460.000 erhöhen – also mehr als verdoppeln. Betont wird, dass das Modell keine neue Wehrpflicht sein soll, sondern auf Freiwilligkeit basieren soll. Netterweise wirst du in dem Musterungsbogen, zu dessen Ausfüllen du gezwungen wirst, nämlich auch gefragt, ob du überhaupt Interesse an der Bundeswehr hast. Bekommst du eine Einladung zur Musterung, ist die zwar deine Pflicht, aber hey, wenigstens wirst du mit einem Kreuzchen mal nach deiner Meinung gefragt. Parteien wie die CDU/CSU, SPD und AfD positionieren sich klar für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht. So schreibt die CDU/CSU in ihrem neuesten Grundsatzprogramm: „Wir werden die Aussetzung der Wehrpflicht schrittweise zurücknehmen […] Das Bekenntnis zur Wehrpflicht ist ein wichtiges Bekenntnis zur Stärkung der Bundeswehr.“ Die Pläne der SPD sind als vorbereitende Maßnahmen für eine langsame Wiedereinführung der Wehrpflicht einzuordnen. SPD, FDP und Grüne betonen die Wichtigkeit der Freiwilligkeit beim Wehrdienst und schaffen Anreize, sich noch länger als die vorgesehenen 6 Monate zu verpflichten. Um sich die Bereitwilligkeit der Jugend zu erkaufen, packt die SPD die Kostenübernahme für einen (mittlerweile extrem teuren) Führerschein oder eine berufliche Ausbildung obendrauf. Besonders gefährdet sind Schulabgänger:innen und Jugendliche aus sozialschwachen Hintergründen, aus ihrer finanziellen Not heraus in den Wehrdienst gelockt zu werden. Die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages (SPD) Eva Högl begrüßt die Pläne ihres Parteikollegen und setzt, ebenso wie CDU-Politiker Johann Wadephul, noch einen obendrauf: Unter dem Deckmantel der Gendergerechtigkeit fordern sie die Pflicht für Männer und Frauen. So sagt die SPD-Politikerin dazu: „Es ist nicht mehr zeitgemäß, nur junge Männer anzusprechen. In die Bundeswehr gehören alle Geschlechter, auch Frauen wollen ihren Beitrag leisten.“ – Um auch Frauen verpflichten zu können, müsste eine Änderung im Grundgesetz vorgenommen werden, die dies legitimiert. Währenddessen hetzt die BILD-Zeitung munter gegen die Jugend: „Pistorius plant neuen Wehrdienst: Ist unsere Jugend zu weich für die Bundeswehr?“ und schreibt weiter: Die heutigen Jugendlichen „können doch nur Hafermilch trinken, TikTok-Videos glotzen und gendern.“ Pseudowissenschaftlich versucht der Artikel, die Verweichlichung der Jugend zu beweisen. Im Interview mit der BILD soll die Zuständige für die Werbung der Bundeswehr Sabine Castenow dazu gesagt haben: „Klar ist, dass die Generation Z völlig anders tickt als ihre Vorgängergenerationen. Sie ist einerseits sehr behütet aufgewachsen und die Eltern sind enge und wichtige Berater ihrer Kinder.“ Das klingt rhetorisch sehr nach der autoritären und völkischen Erziehungspädagogik, in der Kinder von Anfang an gefühlskalt und streng für Gefolgsamkeit in Krieg und harter Arbeit erzogen werden sollen. Während die jahrelange Debatte über die Wiedereinführung der Wehrpflicht aus dem Bundestag nun bittere Realität zu werden scheint, trifft dies in der Jugend auf wenig Zustimmung. Laut Umfragen sind nur 16% der Jugendlichen für die Wehrpflicht. Das ist kaum verwunderlich. Denn es sind am Ende nicht die Politiker:innen im Bundestag, die an der Front für die Verteidigung des Kapitals sterben sollen, obwohl sie behaupten, wir alle müssten uns für unsere Demokratie in den Schützengraben werfen. Stattdessen sind es wir Arbeiter:innen und Jugendlichen, die morden sollen, während die Reichen durch die Kriege noch reicher werden und der bürgerliche Staat seine geostrategischen Interessen verfolgen kann.

Denn tatsächlich: Mit der dringenden Stärkung des deutschen Militärs streben die Regierungsparteien an, sich auf verstärkte weltweite Konfrontationen unter den imperialistischen Blöcken vorzubereiten, was gemeinhin als „Zeitenwende“ bezeichnet wird. Die Abschaffung des Wehrdienstes 2011 wurde zwar durch gesellschaftlichen Protest begleitet, aber in erster Linie war sie eine Sparmaßnahme während der Wirtschaftskrise und eine politische Entscheidung zur Neuausrichtung der Bundeswehr, indem ein Fokus auf eine deutlich kleinere, aber gut ausgebildete Berufsarmee gesetzt wurde. Das war damals auch gut für die Weltlage zugeschnitten, denn die Kriegseinsätze der Bundeswehr in Halbkolonien wie Afghanistan, Kosovo oder im Libanon waren keineswegs Materialschlachten ebenbürtiger Kriegsparteien wie in den Weltkriegen, sondern glichen einem unterdrückerischen Polizeieinsatz im Ausland. Daher brauchte man eher wenige Soldat:innen, die dafür in der Lage waren, die hochtechnologischen Kriegsgeräte zu bedienen oder einzelne Ziele anzugreifen. Auf der anderen Seite ist der russische Angriff auf die durch die NATO aufgerüstete Ukraine seit vielen Jahrzehnten der erste Krieg, der ganz anders abläuft: Hunderte Kilometer lange Feindeslinien mit schweren Verteidigungsanlagen, ständigem Artilleriebeschuss und zehntausenden Toten auf beiden Seiten. Hier wird der Krieg dadurch entschieden, wer sowohl die größere (Kriegs-)Industrie als auch wehrfähige Bevölkerung hat, um länger eine Massenarmee mit Hunderttausenden Soldat:innen zu unterhalten. Und da sich im Zuge von politischen und wirtschaftlichen Krisen der Konflikt zwischen den imperialistischen Blöcken eher noch verschärfen dürfte, will die Bundesregierung für genau so einen Krieg die Bundeswehr zu einer Massenarmee umstellen, um so die Arbeiter:innen und Jugendlichen für ihre Interessen in Stellung zu bringen. Aber nicht, wenn wir das verhindern können!

Für eine internationale Jugendbewegung gegen Krieg und Krise!

Die Reaktion des westlichen Imperialismus, auf immer stärkere Aufrüstung und Wehrdienst-Rekrutierung zu pochen, ist also nur logisch. Logisch für uns muss daher sein, dass die Interessen der Herrschenden nicht unsere sind! Wir können uns nicht auf den Staat verlassen, wenn es um die Sicherung unserer Zukunft geht. Wir müssen also eine unabhängige, internationale Bewegung der Jugend und Arbeiter:innen gegen Krieg und Aufrüstung aufbauen. Gewerkschaften und traditionelle Arbeiter:innenorganisationen sollten dabei unsere Bündnispartner sein. Nur durch Aktionen des Klassenkampfes in internationaler Absprache können wir die Spirale der Aufrüstung und der aggressiven „Verteidigung“ durchbrechen und das kapitalistische System angreifen, das Kriege und Krisen verursacht. Jugendliche müssen sich gegen Aufrüstung und für soziale Verbesserungen organisieren, sowohl lokal als auch international.

Dabei setzen wir uns für folgende Forderungen ein:

  • Nein zur Wehrpflicht und dem neuen Wehrdienstmodell der SPD unter dem Deckmantel der Freiwilligkeit! Wir wollen kein Kanonenfutter sein!
  • 100 Milliarden für Soziales, Bildung und die Jugend und nicht für die Bundeswehr! Gegen jede Aufrüstung aller imperialistischen Nationen, ob Russland oder Deutschland!
  • Bundeswehr raus aus den Schulen! Kein Werben für’s Sterben!
  • Für den Aufbau einer Schüler:innengewerkschaft, die unsere Interessen gemeinsam mit der Arbeiter:innenklasse vertritt und durchsetzt!
  • Für eine Antikriegsbewegung international! Nur die Arbeiter:innen können den Konflikt lösen.
  • Für eine revolutionäre Jugendinternationale! Die Jugend braucht eine unabhängige und internationale Vertretung.



UEFA-EM 2024: Fußtritte gegen demokratische Rechte

von Bruno Tesch, ursprünglich erschienen in der Neuen Internationale 283 der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Juni 2024

Am 14. Juni beginnt die Fußballeuropameisterschaft (EM 2024) der Männermannschaften und endet einen Monat später. Sie wird dieses Mal In Deutschland an 10 Spielstätten ausgetragen. Das rein sportliche Spektakel wird jedoch von innen- und weltpolitischer Krisenhaftigkeit und Unsicherheit in Beschlag genommen. Regierungen nutzen solche Großveranstaltungen, die massenhafte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, gerne, um sich gleichzeitig im Licht erfolgreicher Nationalteams zu sonnen und währenddessen bspw. unpopuläre Gesetze zu installieren. Diesmal wird die Öffentlichkeit jedoch bereits im Vorwege hellhörig durch Pläne der deutschen Bundesregierung, die EM als Vorwand für verschärfte politische Repression zu projektieren.

Ausbau des EU-Sicherheitsapparats

Die Vorbereitungen zur Großveranstaltung laufen auf Hochtouren und auch die Bundespolizei bereitet sich sehr gründlich darauf vor. „Die Sicherheit der Fußball-EM bei uns im Land hat höchste Priorität. Alle Sicherheitsbehörden bereiten sich hochprofessionell vor. An allen Spielorten und überall, wo sich viele Menschen bewegen, gilt: Die Polizei wird hohe Präsenz zeigen. Dafür bin ich den Landespolizeien und unserer Bundespolizei sehr dankbar“, so Bundesinnenministerin Nancy Faeser.

„Dabei intensivieren wir die Maßnahmen auf allen Verkehrswegen für die Sicherheit der Fußballfans und Reisenden. In Zügen und Bahnhöfen wird die Bundespolizei die Präsenz erhöhen“. Alle Maßnahmen wären eng mit den Polizeien der Länder, Grenzpolizeien der deutschen Anrainerstaaten, Eisenbahnverkehrsunternehmen, Flughafenbetreiber:innen und relevanten Sicherheits- und Ordnungspartner:innen abgestimmt.

Die Bundespolizeidirektion Koblenz wird hier an insgesamt neun Grenzübertrittsorten zu Frankreich, Luxemburg und Belgien die Reisebewegungen überwachen. Von dort aus erfolgen gemeinsame Streifen mit der Bundespolizeiinspektion Saarbrücken und den Kolleginnen und Kollegen der französischen Police aux Frontières (Grenzpolizei) sowie des Service National de la Police Ferroviaire (französische Bahnpolizei). Außerdem gibt es für Schwerpunkteinsätze ein gemeinsames Kommissariat.

Mit Frankreich sind etwa gemeinsame Polizeieinheiten und Streifen im grenzüberschreitenden Bahnverkehr geplant. Die Ministerin hob hervor, dass auch bei der Abwehr hybrider Bedrohungen und beim Schutz vor Terrorismus eng mit Frankreich zusammengearbeitet wird.

Regierungsoffziell heißt es: Im Fokus stehen der Schutz vor Islamist:innen und anderen Extremist:innen, vor Hooligans und weiteren Gewalttäter:innen sowie die Sicherheit der Netze.

Diese Konzeption wird ergänzt durch eine stärkere Kooperation des Staatsapparats auch auf Länderebene. So hat etwa der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul für die Fußball-Europameisterschaft erhöhte Sicherheitsmaßnahmen angekündigt. Teil des Konzepts: Urlaubssperre für Polizist:innen und ein internationales Polizeizentrum in Neuss. Teil dieser Aufrüstungspläne ist auch ein besserer Datenaustausch zwischen Behörden. Die derzeitige Kommunikation sei unter anderem aus Datenschutzgründen eingeschränkt und wichtige Informationen dürften nicht weitergegeben werden. Um dem entgegenzuwirken, seien Reuls Ansicht nach verbesserte Instrumente wie die umstrittene Vorratsdatenspeicherung erforderlich. So wird die Fußball-EM zum „zivilen“ Test für weitere staatliche Überwachung.

Staatsräson im DGB: die Gewerkschaft der Polizei (GdP)

Als spezielle Scharfmacher:innen für Hass und Hetze erweisen sich wieder einmal die Spitzen der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Der Bezirksvorsitzende für Bundespolizei und Zoll, Andreas Roßkopf, meinte: Im Visier der Kontrollen stünden vor allem „die Fangruppierungen, gewaltbereite Hooligans, aber natürlich auch – islamistische Vereinigungen“.

„Und da brauchen wir – und haben auch – die Hinweise aus nationaler und internationaler Zusammenarbeit.“ Mit dieser besonderen Belastung zur EM habe man aber bereits gerechnet und sei vorbereitet.

Da muss dann sogar der Anschlag in einem „befreundeten“ Land auf eine Moskauer Konzerthalle Ende März 2024 herhalten, der mutmaßlich von ukrainischen Nationalist:innen verübt worden ist, ebenso wie ein Posting einer islamistischen Gruppierung in den sozialen Medien, das plakativ drei EM-Spielorte als Anschlagsziele nennt, um den aufgefahrenen Sicherheitsapparat zu verteidigen.

Ein Hintergedanke der sicherheitspolitischen Kooperation ist nicht zuletzt das imperialistische Interesse der Bundesrepublik, ihre Führungsposition in der Europäischen Union zu stärken und auch die noch nicht kriegstüchtige eigene Bevölkerung an die angebliche Notwendigkeit von polizeilicher Präsenz und finanziellen Opfern für Aufrüstung zu gewöhnen. Sie kann sich der stetigen Unterstützung durch staatslammfromme DGB-Gewerkschaften dabei sicher sein.

Die Positionierung der GdP verdeutlicht außerdem einmal mehr, dass die Polizeigewerkschaft im DGB nichts verloren hat. Gewerkschafter:innen, die gegen Spaltung und Repression am Arbeitsplatz, gegen Rassismus, Überwachungsstaat und Militarisierung kämpfen, brauchen keine Interessensvertretung des Staatsapparates in den eigenen Reihen, sondern müssen für den Ausschluss der GdP aus dem DGB eintreten.

Repression und Rassismus

Selbstverständlich ist diese Sicherheitslawine nicht erst in Erwartung einer solchen Veranstaltung überstürzt losgetreten worden. Dieses Paket reiht sich vielmehr als strategisches Kalkül der herrschenden Klasse ein, das eine rassistische Politik mit repressiven Maßnahmen gegen linkere Opposition verbindet. Die Asylgesetzgebung der bürgerlichen „Mitte“ passt nahtlos mit der Erstickung von Solidaritätsbekundungen für die palästinensische Bevölkerung zusammen, die in die Ecke „terroristischer Bedrohung“ gestellt werden. Die Verschärfung des Strafrechts beinhaltet auch eine Neudefinition von Gewalt, die Vollzugsmaßnahmen wie Abschiebung und Zwangsexmatrikulation unmittelbarer und auf höherer Eskalationsstufe spüren lässt.

Die EM nahm Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) dankbar als Steilvorlage auf und forderte rasche Konsequenzen für Gewalttäter:innen. Er teilte der Zeitung „Bild am Sonntag“ mit, auch Hooligans und Krawalltourist:innen würden sich auf den Weg nach Deutschland machen. Wenn Straftaten begangen würden, sollte dort, wo es möglich sei, die Strafe auf dem Fuße folgen.

Kritik

Es erhebt sich aber auch Kritik im bürgerlich-liberalen Lager gegen den Sicherheitshype. So moniert bspw. der Deutsche Anwaltsverein drei problematische Überwachungstechnologien, die nun auf keinen Fall etabliert oder weiter ausgeweitet werden dürften. Dazu gehören Staatstrojaner, die Zugriffe auf PCs legitimieren, durchgängiger Einsatz biometrischer Gesichtserkennungsprozeduren sowie anlasslose Vorratsdatenspeicherung. Zu den Eckpunkten des Sicherheitskatalogs zählt neben den genannten Pfeilern auch Präventionsarbeit durch die Unterstützung von Fanprojekten, z. B. durch das Fanbetreuungsprogramm „Fans welcome“.

Für die Polizei und den Staat stehen die Fangruppen selbst im Visier der verschärften Überwachung. Gegen diese, gegen die Kommerzialisierung des Sports, die bei den Großveranstaltungen besonders krass und überteuert hervortritt, gegen die verordnete Fankultur sollten sie sich organisiert zur Wehr zu setzen. Viele Fangruppen aus den Vereinen haben durch ihre bundesweit organisierten Proteste gegen die Machenschaften des DFL Deutsche Fußball Liga e. V. und Mauscheleien hinter ihrem Rücken mit zweifelhaften sportfremden Investor:innen nicht nur Erfolg gehabt, sondern auch bewiesen, dass sie als organisierte Kraft Kapitalkraken widerstehen können.

Diese Gruppen sind auch an den jeweiligen Spielorten stark vertreten. Sie könnten dabei die Kritik an der Kommerzialisierung der Veranstaltungen bis zum Public Viewing mit der am Überwachungswahn verbinden. Sie müssten sich dazu aber sowohl mit gewerkschaftlichen Organisationen abseits von GdP und Deutscher Polizeigewerkschaft (DPolG) wie auch mit internationalen Fanverbänden verbinden, Kontrollen und Einreisebeschränkungen entgegentreten. Statt der Polizei könnten die Fanclubs eigenständige Ordner:innendienste organisieren und so für einen geregelten Ablauf der Veranstaltungen sorgen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund überlässt es leider „seiner Fachvertretung“, der GdP, sich mit dem Thema Staatsaufrüstung im Namen der Sicherheit aller zu beschäftigen und klassenfeindlich hervorzutun.

  • Keine Grenzkontrollen!
  • Keine migrant:innenfeindliche Repression!
  • Keine Legitimierung von Überwachungseinrichtungen!
  • Nein zu allen Strafgesetz- und Sicherheitsverschärfungen!
  • Keine Mittel und Personal für polizeiliche Aufrüstung!
  • GdP raus aus dem DGB!
  • Organisierung von Sicherheitsvorkehrungen und Gegenwehr gegen staatliche Kontroll- und  Einreisewillkür durch internationale Fangruppierungen und Gewerkschaften!



EU-Wahl 2024: Wählt links, aber organisiert den Kampf für ein sozialistisches Europa!

Gemeinsame internationale Resolution von REVOLUTION, Juni 2024

Auch wenn es für die meisten von uns kaum im Alltag präsent ist: Die vielen Wahlplakate erinnern uns daran, dass alle fünf Jahre mal wieder ein neues EU-Parlament gewählt werden muss. Dieses Jahr dürfen auch wir Jugendliche über 16 ran, aber die Zeichen stehen auf Rechtsruck. Laut den aktuellen Prognosen werden die größten Stimmengewinne in fast allen Ländern an rechtspopulistische Parteien gehen. Gleichzeitig hat die EU auch ohne rechtspopulistische Mehrheit erst kürzlich durch die sogenannte GEAS-Reform das Asylrecht für Einzelpersonen faktisch abgeschafft, Abschiebungen erleichtert und wochenlange Inhaftierungen von Geflüchteten legalisiert. Während jede:r vierte Jugendliche in der EU in Armut lebt, nutzt sie den Krieg in der Ukraine, um allen Schein vom angeblichen „Friedensprojekt Europa“ endlich in die Tonne zu treten und fleißig aufzurüsten. Es geht schnell in so einer Situation die Hoffnung zu verlieren. Warum sollten wir als Kommunist:innen also überhaupt wählen gehen? Und wo sollten wir unser Kreuzchen machen?

Wahlboykott ist Unsinn!

Zuallererst müssen wir uns klar machen, dass Wahlen nur selten wirklich Veränderung bringen und ganz sicher nicht den Kapitalismus stürzen können. Die Hoffnung, dass wir den Kommunismus herbeiwählen können, wird immer enttäuscht werden. Da der bürgerliche Nationalstaat als Organisationsstruktur entstanden ist, um die Herrschaft des Bürgertums abzusichern, wird sich die herrschende Klasse auch nicht mit ihren eigenen Mitteln entwaffnen lassen. Wenn politische Mehrheiten entstehen, die es dem Kapital zu brenzlich werden lassen, kann es immer noch auf Militärputsche, faschistische Mobs oder Spardiktate zurückgreifen, um parlamentarisch gewählte unliebsame Akteure oder Reformen in die Knie zu zwingen. Unser Verhältnis zu bürgerlichen Wahlen ist deshalb ein taktisches.

Im Falle des EU-Parlamentes ist die Situation noch absurder, da dieses im politischen System der EU nur eine sehr begrenzte Macht hat. So ist es nicht mit einem normalen gesetzgebenden Parlament wie dem Bundestag oder dem Nationalrat zu verwechseln, da es weder eigene Gesetze initiieren kann noch die EU-Kommission direkt wählt. Doch auch wenn das EU Parlament keine wirkliche Macht hat, können Linke es als Bühne nutzen, um auf Missstände aufmerksam zu machen oder um Korruption und Lobbyarbeit zu bekämpfen. Ebenso gilt es, den Massen, die Illusionen in dieses Parlament haben, aufzuzeigen, dass sie eine wirkliche Verbesserung ihrer Lebenssituation schon selbst erkämpfen müssen. Wir nutzen das Parlament als eine historische Errungenschaft für uns und zeigen gleichzeitig durch den praktischen Kampf auf, dass die Möglichkeiten zu parlamentarischen Reformen, die die herrschende Klasse einschränken, sehr gering sind. Es bleibt unsere Aufgabe praktisch zu zeigen, wo die Grenzen der bürgerlichen Demokratie liegen und dass nur eine sozialistische Revolution der Arbeiter:innen in der Lage ist, den Kapitalismus zu stürzen und seinen Krisen ein Ende zu setzen. Deshalb nutzt die politisierte Stimmung rund um die EU-Wahl in euren Schulen, die Podiumsdiskussionen, Jugendwahlen, Politikstunden etc. aber auch eure Wahlstimme, um die Illusionen einer „Friedens-EU“ zu zerstören und den Kampf gegen Asylrechtsverschärfungen, Rechtspopulismus, Umweltverschmutzung, Massenarmut und Militarisierung zu organisieren.

Die EU wird von der eigenständigen imperialistischen Macht zur Juniorpartnerin der USA!

Die EU ist mit dem Versprechen angetreten, das vom Weltkrieg zerrüttete Europa friedlich und sozial zu vereinigen und genoss deshalb lange eine große Popularität in weiten Teilen Europas. Doch davon ist angesichts von Krieg, Spardiktaten, Brexit, Rassismus, Umweltzerstörung und Inflation kaum noch was übriggeblieben. Uns überrascht dies nicht, denn eine Einigung Europas ist auf kapitalistischer Grundlage unmöglich. Als Marxist:innen ist uns klar, dass eine politische Einigung Europas nicht ohne ökonomische Grundlage erfolgen kann. Doch eine gemeinsame ökonomische Grundlage konnte sich aufgrund der verschärften Konkurrenz zwischen den einzelnen Nationalstaaten angesichts ihrer widersprüchlichen Interessen nicht herausbilden. Lange hat die Idee eines immer enger zusammenwachsenden Europas, das sich als eigene imperialistische Macht neben den USA, Russland, China etabliert, die verschiedenen Staaten der EU zusammengeschweißt und bei der Stange gehalten. Es fehlt der EU an einem integrierenden strategischen Projekt, das die auseinanderdriftenden Fliehkräfte der Einzelstaaten zusammenhalten kann. Dafür hat die EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen bei der letzten EU-Wahl einen Green New Deal versprochen, der mithilfe massiver Subventionen die Kapitale der führenden EU-Staaten auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger machen sollte (mit „green“ hatte das leider nicht so viel zu tun). Doch der Krieg in der Ukraine und die Wirtschaftskrise haben diesem Projekt einen Strich durch die Rechnung gemacht und die Widersprüche zwischen den einzelnen EU-Staaten verstärkt.

So sind die exportorientierten Kernstaaten der EU – Deutschland und Frankreich – durch den Zusammenbruch der weltweiten Lieferketten im Zuge der Corona-Pandemie aber auch durch die Sanktionspolitik im Zuge des Ukraine-Krieges stark angeschlagen. Die relative Unabhängigkeit der EU gegenüber den USA hat nur so lange funktioniert, wie ihre Produktionsketten nach China ausgedehnt werden konnten und billige Rohstoffe aus Russland flossen. Durch die verschärfte Blockbildung und die Sanktionen musste die EU ihre relative Unabhängigkeit aufgeben und sich den USA als „Juniorpartner“ unterordnen. Das von deutschem und französischem Kapital vorangetriebene Projekt einer eigenständigen imperialistischen EU-Macht wurde damit weitestgehend beerdigt. Ähnliche Interessen in geringerem Maße verfolgt der erweiterte Kern der EU aus Italien, Spanien, den BeNeLux-Staaten und Österreich. Südeuropa (Griechenland, Malta, Zypern, Portugal) hat dagegen auf der EU-Bühne kaum was zu sagen. Allen voran das deutsche Kapital hat seinen Arsch aus der Wirtschaftskrise 2007/2008 gerettet, indem es die Kosten der Krise Südeuropa durch brutale Sparprogramme und die Entmachtung ihrer gewählten Regierungen aufgedrückt hat. Südeuropa wurde damit vollständig und gewaltvoll untergeordnet und gefügig gemacht. Bekannt für ihre EU-kritische Haltung sind vor allem die Staaten Osteuropas wie zB. Polen oder Ungarn. Osteuropa aber insbesondere das Baltikum versucht seine Stellung in der EU dadurch auszubauen, dass sie als Partner der USA und enger NATO-Verbündeter ihre Interessen durchsetzen.

Wenn wir uns die aktuellen Wahlplakate anschauen, wird ganz deutlich: Der EU, und allen voran den Staaten, die die EU dominieren, fehlt es an einem integrativen Projekt, dass diese auseinanderdriftenden Tendenzen zusammenhalten kann. Die Folge dessen ist eine Zersplitterung im bürgerlichen Parteienlage, da die verschiedenen nationalen Kapitalfraktionen nach strategischer Orientierung suchen. Außerdem bedeutet dies, dass die Mitgliedsstaaten nun verstärkt auf ihre eigene Aufrüstung setzen, um eine eigenständigere Rolle zu spielen. Für uns in Deutschland und Österreich bedeutet das Kürzungswellen in unseren Schulen und Unis, um die massiven Aufrüstungsprogramme zu finanzieren und Debatten um die Wiedereinführung der Wehrpflicht.

Der Rechtsruck in der EU ist nicht die Ursache der Krise, sondern ist ein Ausdruck dessen!

In den Sonntagsreden vieler EU-Abgeordnete hören wir, dass sich Europa gegen die wachsende Macht der Rechtspopulist:innen verteidigen müsse. So weit so richtig. Allerdings tun diese Reden häufig so, als ob in der EU eigentlich alles tutti wäre, nur die Rechtspopulist:innen versuchen in die paradiesische EU einzudringen und wollen alles kaputt machen. Für uns Jugendliche ist die EU jedoch kein Dreamland, sondern bedeutet Militarisierung, Rassismus und Neoliberalismus. Außerdem sind die Rechtspopulist:innen nicht vom Himmel gefallen, sondern sie sind ein Produkt ebendieser Krise der EU und der zunehmenden Unzufriedenheit mit ihr in Teilen des Kapitals und des Kleinbürger:innentums. Wie wir eben aufgezeigt haben, hat die Krise der EU ihre Ursache in der kapitalistischen Krise selbst und nicht im wachsenden Rechtspopulismus. Dieser macht sich die Krise jedoch zunutze, um die Unzufriedenen und Abgehängten angesichts eines Mangels an einer linken Alternative hinter sich zu versammeln.

In Österreich haben wir die Situation, dass die rechtsextreme FPÖ in allen Umfragen auf Platz 1 liegt. Zwar kommen die Stimmen zu großen Teilen von der ÖVP, trotzdem bedeutet das weiterhin eine rechte parlamentarische Mehrheit und eine Stärkung der organisierten Rechten. Die AfD erreicht selbst in der U-16-Wahl in Brandenburg Spitzenwerte von 38 Prozent! Laut aktuellen Prognosen wird vermutlich jede vierte Stimme in Europa an rechtspopulistische Parteien gehen. Diese massiven Stimmenzuwächse verteilen sich jedoch auf die „Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer“ (zu deren stärkster Kraft die Partei von Italiens Ministerpräsidentin Meloni gehört) und „Identität und Demokratie“ (zu der auch AfD und FPÖ gehören). Wo sich beide Fraktionen in ihrem Rassismus einig sind, so uneinig sind sie sich in der Positionierung gegenüber dem Krieg in der Ukraine. Die „Konservativen und Reformer“ scheinen dabei die meisten Stimmenzuwächse zu erwarten und unterscheiden sich außenpolitisch nicht wesentlich von der herrschenden EU-Linie.

Doch auch die anderen europäischen Fraktionen sind von einem Rechtsruck geprägt. So versuchen die Europäische Volkspartei (CDU/CSU, ÖVP) und die Liberalen ihre Stimmenverluste an die Rechtspopulist:innen dadurch auszugleichen, in dem sie sich als stärkere Verfechter:innen der Festung Europa zu präsentieren versuchen. Doch auch die Grünen und Sozialdemokraten (SPD, SPÖ) stimmen in den Chor aus Abschottung, Krieg, Militarisierung und Aufrüstung ein. Einig sind sie sich ohnehin alle darin, dass man im Falle des genozidalen Kriegs in Gaza an der Seite Israels stehen müsse. Dabei hat die österreichische SPÖ doch dieses Jahr das erste mal seit langem wieder einen Parteiobmann, der sich positiv auf den Marxismus und die Arbeiter:innenbewegung bezieht? Der Linksruck, den manche damit herbeigesehnt haben, blieb leider aus. Vielmehr gehen die abgehobenen Streitigkeiten weiter. Die um einiges rechteren Landeshauptläute schießen regelmäßig gegen Babler, damit er ja nicht vergisst, dass die Sozialdemokratie schon lange nicht mehr auf die kleinen Leute schaut. In Deutschland hat sich der Rechtsruck auch in der Linkspartei ausgedrückt. So hat sich das „Bündnis Sarah Wagenknecht“ von der Partei abgespalten und hofft mit rechteren Positionen zur Migration und gegen den angeblichen „Genderwahn“ Wähler:innen von der AfD zurückzuholen. Ihr wirtschaftspolitisches Programm wird in den Medien häufig als links bezeichnet, steht jedoch in erster Linie nur für eine ein wenig sozialere Marktwirtschaft, welche angesichts der aktuellen Krise ein utopisches Modell zu sein scheint.

Wählt die Europäische Linke, aber organisiert den Widerstand!

Wir rufen euch zur Wahl der Europäischen Linken (Linkspartei, KPÖ) auf. So finden wir mit ihren Forderungen nach einem Stopp der Privatisierungen und Kürzungswellen an unseren Schulen und Unis, einem EU-weiten Mindetslohn, einem Stopp der Aufrüstungsspirale und legalen und sicheren Fluchtwege in die EU noch die größte Übereinstimmung. Während die Linkspartei in Deutschland überhaupt darum kämpfen muss, ins Parlament einzuziehen zu dürfen, hat die KPÖ in Österreich dieses Jahr mehrere Erfolge einfahren können. Allen voran die Wahl in Salzburg, wo sie über 20% geschafft haben, aber auch für die EU-Wahlen stehen ihre Chancen gut. Die Parteien der Europäischen Linken eint die Idee von einem sozialeren Europa. Doch wie diese Forderungen genau umgesetzt werden sollen, insbesondere wenn sie auf den erbitterten Widerstand der herrschende Klasse stoßen werden – darüber schweigt die Fraktion. Doch dennoch vereint sie die Illusionen und Hoffnungen der fortschrittlichsten Teile der europäischen Arbeiter:innenklasse, der Gewerkschaften, der Klimabewegung auf sich. Mit diesen müssen wir brechen und den Massen aufzeigen, dass – wie oben schon näher erläutert – nur auf revolutionärem antikapitalistischen Wege eine soziale, friedliche, antirassistische und ökologische Vereinigung Europas unter kooperativer sozialistischer Planung der Produktion möglich ist.

Doch dafür dürfen wir nicht die kommunistischen Besserwisser:innen am Gartenzaun sein. Unsere Aufgabe ist es die richtigen Forderungen der Europäischen Linken zu unterstützen und im gemeinsamen Kampf aufzuzeigen, dass diese nicht auf parlamentarischem Wege und nur eingebettet in ein revolutionäres Programm durchgesetzt und verteidigt werden können. Die Basis und Wähler:innen dieser reformistischen Parteien müssen wir dazu auffordern, ihre Führung auf die Probe zu stellen und von ihnen einen tatsächlichen Kampf für ihre Forderungen einzufordern. Unsere Aufgabe ist es, Teil dieses Kampfes zu sein, das reformistische Bewusstsein in der Klasse zu brechen und ihn anhand unseres Programms auch zum Erfolg zu führen.

Die Wahl von irgendwelchen „linken Kleinstparteien“ wie DKP, MLPD, MERA25, SGP oder auch der Letzten Generation lehnen wir ab. Während DKP und MLPD versuchen aus dem Friedhof der Untoten des Steinzeitstalinismus auszubrechen, versucht sich die vom ehemaligen griechischen Finanzminister Varoufakis gegründete MERA25 als einzige palästinasolidarische Partei zu präsentieren. Sie alle eint jedoch, dass sie keinerlei Rückhalt in irgendwelchen Teilen der Arbeiter:innenklasse besitzen. Ihre Wahl hat keinerlei Einfluss auf das Bewusstsein der Klasse, sodass wir die Klasse auch nicht erreichen, wenn wir unser Kreuz für ihre zusammengekleisterten, reformistischen und sektiererischen Wahlprogramme machen.

In einer Zeit in der Wirtschaftskrisen und Genozide zu unserem Alltag gehören, braucht es massenhaften und organisierten Widerstand in unseren Schulen und Unis. Einen Zettel in eine Box werfen kann dabei maximal eine Nebenbeschäftigung sein.




EU-Wahlen: AfD raus aus unseren Schulen!

Von Sani Meier, April 2024

Alle Jahre wieder der gleiche Zirkus: Bald stehen Bundestags-, Landtags- oder wie jetzt die EU-Wahl an und schon fühlen sich Schulen dazu verpflichtet, ihren Schüler:innen alle zur Wahl stehenden Parteien persönlich vorzustellen. In den meisten Fällen werden Podiumsdiskussionen mit deren Vertreter:innen organisiert. Dabei ist es ganz egal, wie transphob oder rassistisch deren Inhalte sind, denn „es ist ja alles von der Demokratie gedeckt“.

Aber bei der AfD sind sich große Teile der Gesellschaft momentan nicht mehr so sicher: Nachdem Geheimtreffen mit Kapitalist:innen und Rechtsextremen aufgedeckt wurden, die eine „Remigration“ von nicht-deutschen Menschen geplant hatten, sind Hunderttausende gegen sie auf die Straße gegangen. Bestimmt waren auch viele von euch dabei. Wozu sollten wir der AfD also in unseren Schulen eine Bühne geben?

Unsere Schulen sind die Orte, an denen wir uns jahrelang fünf Tage pro Woche aufhalten müssen. Hier entstehen Freund:innenschaften, Fähigkeiten und Entscheidungen, die sich auf den Rest unseres Lebens auswirken. Deshalb ist es so wichtig, dass sich alle Schüler:innen wohl fühlen und in einem sicheren Rahmen lernen können. Dass das nicht der Realität entspricht, ist klar. Umso wichtiger ist es, dass wir denen, die mit ihrer Politik unsere Mitschüler:innen angreifen, keinen Raum geben.

Was will die AfD eigentlich?

Lasst uns gemeinsam einen Blick in das Wahlprogramm der AfD für die Europawahlen 2024 werfen:

  • Der Islam als „Gefahr für Europa“ sei „mit den europäischen Grundprinzipien von Recht, Freiheit und Demokratie nicht in Einklang zu bringen“. Deshalb müsse die Zuwanderung „massiv beschränkt“ werden – auch mithilfe der „Errichtung physischer Barrieren“ an den EU-Außengrenzen.
  • Die gleichgeschlechtliche Ehe wird abgelehnt: „Wir unterstützen es, wenn Menschen traditionelle Geschlechterrollen leben.“
  • Das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche soll weitestgehend eingeschränkt werden bis auf „absolute Ausnahmen“ – etwa aus medizinischen Gründen oder bei Vergewaltigungen.
  • „Wir teilen die irrationale CO2-Hysterie nicht, die unsere Gesellschaft, Kultur und Lebensweise strukturell zerstört.“ Das Klima habe sich „seit dem Bestehen der Erde“ stets gewandelt. „Die jetzigen klimatischen Veränderungen ordnen sich vollkommen normal in diese Wechsel ein.“

Alleine von diesen Auszügen wird einem schon schlecht. Muslimische Menschen seien undemokratisch und würden angeblich nicht zu Europa passen. Deshalb wolle man die EU-Außengrenzen, an denen schon jetzt Tausende ertrinken und in Lagern inhaftiert sind, noch stärker abriegeln.

Wie sicher fühlen sich wohl muslimische und/oder geflüchtete Mitschüler:innen, wenn das öffentlich an unserer Schule propagiert wird? Noch dazu sollen alle „traditionelle Geschlechterrollen leben“, also entweder als Mann oder als Frau, aber bitte nicht in gleichgeschlechtlichen Ehen. Alle queeren Schüler:innen haben hier keinen Platz.

Zu guter Letzt leugnen sie auch noch den menschengemachten Klimawandel und stellen sich gegen politische Maßnahmen, um diesen aufzuhalten. Alle Bemühungen der FFF-Bewegung werden mit Füßen getreten und unsere Zukunft auf einem lebenswerten Planeten wird weggeworfen.

Den Rassismus und Sexismus der AfD können wir selbst erkennen und brauchen dafür keine öffentliche Podiumsdiskussion, bei der sich ihre Vertreter:innen inszenieren können.

Gerade wir jungen Menschen und Erstwähler:innen sind die Zielgruppe der AfD und die ersten Erfolge sehen wir bereits. Die Partei produziert gezielt Content auf den Social Media Plattformen, die wir nutzen. Ihre Videos werden von allen Parteien auf TikTok am häufigsten aufgerufen.

Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung zeigt, dass die Altersgruppe 16-22 die AfD für „am ehesten geeignet“ hält, „um die anstehenden Probleme in Europa zu lösen“. Dieser Plan darf nicht aufgehen und es ist unsere Aufgabe, uns gemeinsam der AfD in den Weg zu stellen!

Was können wir gegen die AfD an unserer Schule tun?

Vernetzen!

Zuerst ist es wichtig, dass wir mit unseren Mitschüler:innen über die Einladung der Schule an die AfD sprechen und erklären, warum das ein Problem ist. Gerne könnt ihr dafür diesen Artikel und die oben genannten Auszüge aus dem Wahlprogramm nutzen. Vielen ist noch nicht bewusst, wie konkret Menschen, mit denen wir täglich zusammen lernen, dadurch diskriminiert werden.

Die Angriffe der AfD treffen nicht nur unsere Mitschüler:innen, sondern auch unsere Lehrkräfte, die nicht in deren Bild passen. Auch sie können potentielle Verbündete sein. Wenn es noch keine Struktur an der Schule gibt, um sich gemeinsam politisch zu organisieren, ist es höchste Zeit dafür, eine zu gründen, z.B. in Form eines Schulkomitees.

Forderungen aufstellen!

Wenn wir es geschafft haben, einen Teil unserer Mitschüler:innen davon zu überzeugen, dass die AfD unbedingt wieder ausgeladen werden muss, ist es Zeit, diese Forderung festzuhalten. Leider werden Schulen selbst dann keine diskriminierungsfreien Räume, wenn diese Forderung erreicht ist.

Es ist ein guter Zeitpunkt, um gemeinsam zu überlegen, was sich noch an der Schule ändern muss: Geschlechtsneutrale Toiletten? Geschichtsbücher, in denen der Kolonialismus weder beschönigt noch geleugnet wird? Fortschrittlicher Sexualkundeunterricht? Antidiskriminierungsstellen? Sprecht gemeinsam über eure Erfahrungen, tauscht euch aus und entscheidet gemeinsam, was ihr von der Schulleitung fordern wollt – Hauptsache, es läuft demokratisch.

Spread the News!

Sobald ihr eure Liste mit Forderungen abgestimmt habt, ist es Zeit, sie öffentlich zu machen. Macht daraus einen kleinen Flyer, druckt ihn im Copyshop aus und verteilt ihn morgens vor der ersten Stunde oder in der Pause vor der Schule. Auch wenn es vielleicht Überwindung kostet, sind Flyer eine super Möglichkeit, um mit Schüler:innen ins Gespräch zu kommen.

Habt ihr eine Schulzeitung? Dann ab zur Redaktion und darum bitten, eure Forderungen abzudrucken. Auch ein Instagram-Account eures Komitees kann helfen, euch an der Schule bekannt zu machen. Wichtig ist, die Schüler:innenvertretung mit ins Boot zu holen. Stellt sicher, dass sie von eurer Aktion mitbekommt und sie unterstützt.

Druck aufbauen!

Wenn eure Mitschüler:innen euch und eure Forderungen auf dem Schirm haben, ist es Zeit, ihnen Nachdruck zu verleihen. Einen Flyer kann die Schulleitung vielleicht ignorieren, eine Kundgebung direkt vor dem Schultor nicht.

Dazu muss lediglich eine Person die Kundgebung anmelden. Lasst euch dabei nicht von Lehrkräften oder anderen Leuten einschüchtern – Versammlungsfreiheit ist euer gutes Recht. So lange die Kundgebung angemeldet und behördlich genehmigt ist, kann sie euch niemand verbieten.

Ladet alle eure Freund:innen (auch von anderen Schulen), Mitschüler:innen, Lehrkräfte und sonstige interessierte Menschen ein, daran teilzunehmen und eure Forderungen zu unterschreiben. Auf der Kundgebung könnt ihr in einer Rede erklären, wie es zu der Aktion gekommen ist, warum ihr der AfD keinen Raum an der Schule geben wollt und welche Forderungen ihr gemeinsam an die Schulleitung stellt.

Besonders gut ist es, wenn ihr vorher der Lokalpresse Bescheid gegeben habt und vor Ort über euch berichtet wird. In Berlin haben wir es auf diesem Weg bereits geschafft, dass die AfD an einer Schule wieder ausgeladen wurde.

Egal wie eure Aktion ausgeht – wichtig ist, dass wir einfordern, über unsere Schule und deren Alltag selbst zu bestimmen. Bleibt auf jeden Fall vernetzt und schließt euch mit Schüler:innen anderer Schulen zusammen. Je mehr wir sind, desto mehr Druck können wir aufbauen. Falls ihr bei der Organisation Hilfe braucht oder Fragen habt, schreibt uns jederzeit an und wir unterstützen euch.

Für sichere Schulen unter demokratischer Kontrolle der Schüler:innen und Lehrer:innen! Kein Raum für Sexismus, Rassismus  und Antisemitismus – kein Raum der AfD!




Eurovision Song Contest 2024 – United by Genocide?

von Leonie Schmidt, Mai 2024, zuerst veröffentlicht in der Infomail 1254 der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Gestern Abend fand in Malmö das Finale des 68. Eurovision Song Contest unter dem Motto „United by Music“ statt. Überschattet war es, völlig zu Recht, von verschiedenen Protesten gegen die Teilnahme Israels und Boykottaufrufen. In den letzten Jahren hat sich das Schauen des ESCs besonders bei einem jüngeren und queeren Publikum zu einem festen kulturellen Bestandteil gemausert. Jährlich schalten für das Finale um die 162 Mio. Menschen weltweit ein. In diesem Artikel wollen wir die verschiedenen Aktionen, Vorfälle und Proteste näher beleuchten und auch auf die kulturelle Bedeutung des ESC eingehen.

Der ESC ist nicht unpolitisch!

Die erste Frage, die sich stellt, ist für viele sicher erst einmal, warum Israel überhaupt beim ESC teilnehmen darf. Immerhin liegt es nicht in Europa und begeht gerade einen Genozid in Gaza. Das lässt sich damit erklären, dass es Teil der Europäische Rundfunkunion (EBU) ist. Tatsächlich sind nicht nur europäische Staaten und ihre Sender vertreten, jedoch ist Israel historisch gesehen das erste Land, was außerhalb der EU liegt und beim ESC antrat. Allerdings könnte man ja meinen, dass die EBU Kriegsverbrechen sanktioniert, immerhin wurde Russland nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine auch ausgeschlossen. Doch diese Doppelmoral erklärt die EBU mit dem Verhältnis des russischen und israelischen Senders zu ihrer jeweiligen Regierung. Beim israelischen Sender KAN bestünden keine Verletzungen der Werte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Seltsam in Anbetracht der Tatsache, dass auf X (vormals Twitter) Videos kursieren, auf denen zu sehen ist, wie der Sender KAN seinen Namen auf Panzergranaten schreiben lässt, die dann nach Gaza geschickt werden. So scheint es sich ja doch um eine kriegstreiberische Rundfunkanstalt zu handeln.

Vor allem aber möchte sich die EBU darauf ausruhen, dass der ESC unpolitisch sei. Das gelte selbstverständlich auch für die israelische Kandidatin Eden Golan, die ihren ESC-Song „October Rain“ in „Hurricane“ abändern musste. Doch beugen wollte sich Israel anfangs nicht direkt, ursprünglich wollte es die Teilnahme absagen, wenn das Lied abgeändert werden müsste. Letztendlich trat Golan doch an, zu symbolisch sei der Auftritt beim ESC. Doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen: Es handelt sich immer noch um dasselbe Lied, welches inspiriert ist von den Folgen des Angriffs der Hamas für die Israelis im Oktober 2023 und in diesem Kontext auch als Propaganda für den Krieg in Gaza gegen die Palästinenser:innen verstanden werden muss. Interessanterweise gibt es im Allgemeinen gerade in Israel eine Welle an Propagandasongs von jungen Künstler:innen, vornehmlich aus dem Bereich Hip-Hop, die den Krieg in Gaza und auch den Genozid glorifizieren und so IDF-Soldat:innen und die gesamte Bevölkerung bei der Fahnenstange halten sollen. Ein Beispiel ist der Song „Harbu Darbu“ von Ness und Stilla, die Zeilen wie „Wait for it to rain on you, whores. Every bad person comes for his punishment in the end“ (Deutsch: „Wartet, bis es auf euch regnet, Huren. Jeder schlechte Mensch kommt am Ende für seine Strafe auf“) beinhalten. Das Lied von Eden Golan ist zwar sicher nicht derart vulgär und gewaltverherrlichend, doch es muss dennoch als Inszenierung der Opferrolle des israelischen Staats verstanden werden. Schließlich ist es ein sehr emotionales Lied, was den Anschein erweckt, dass nicht gerade 35 Tausend Palästinenser:innen in Gaza durch die Hand des israelischen Militärs ermordet worden wären, zumal Eden Golan bereits angekündigt hat, nach ihrem ESC-Auftritt der IDF beizutreten.

Der diesjährige ESC wurde im Übrigen auch von einer israelischen Firma massiv gesponsert: Moroccanoil. Die Haarpflegeprodukte, die sie produziert, werden auch teilweise in besetzten palästinensischen Gebieten hergestellt. Sie profitiert also direkt von der Apartheid, und indem sie Teil des ESCs ist, erhält sie mehr Reichweite, Kredibilität und kann so noch mehr Produkte verkaufen.

Es ist auch nicht das erste Mal, dass Israel die Teilnahme beim ESC nutzt, um sich und seine Apartheid gegenüber Palästina in ein besseres Licht zu rücken. 2019 konnte es sich bereits als unfassbar queerfreundliches Land inszenieren, was, wie wir in diesem Artikel näher ausgeführt haben, nicht der Realität entspricht. Auch der US-amerikanische Sender CNN bestätigt die Softpower, die durch die Teilnahme am ESC aufgebaut werden kann, besonders für Länder, die Menschenrechtsverletzungen begehen. Der israelische Staatspräsident Jitzchak Herzog unterstreicht ebenso die Beweggründe, die hinter der Teilnahme stecken, wie die Times of Israel berichtete: Eine Teilnahme Israels an dem Wettbewerb sei wichtig für das Land und auch ein Statement. Es gebe Juden-/Jüdinnenhasser:innen, die versuchten, Israel von jeder Bühne zu vertreiben. Selbstverständlich geht es hier nicht wirklich um Antisemitismus, aber mit dieser Behauptung kann sich Israel eben wieder besser als Staat inszenieren, der ein Recht darauf hat, sich gegen Angriffe zur Wehr zu setzen, um seine proimperialistischen Absichten zu verschleiern. Den Beweis für diese These lieferte Israel gleich selbst: Während Eden Golan schmerzerfüllt in Malmö ihre Ballade trällerte, bombardierte die IDF den Gazastreifen, schoss auf einen Krankenwagen, der gerade verletzte Palästinenser:innen transportierte.

Der ESC ist also alles andere als unpolitisch. Auch wenn man sich das Abstimmungsverhalten der Vergangenheit anschaut, offenbart sich, dass „politische Spannungen“ keinen unwichtigen Einfluss haben und selten Punkte an Länder gehen, mit denen das jeweilige Land aus politischen oder kulturellen Gründen im Zwist bzw. in Konkurrenz steht. Beispielsweise erhielt Großbritannien 2021 0 Punkte sowohl von der Jury als auch Zuschauer:innen als Reaktion auf den Brexit.  Auch hinsichtlich des europäischen Imperialismus stellt es keinen unwichtigen Aspekt dar. Immerhin wurde der ESC 1956 gegründet, um die Einheit der teilnehmenden Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg zu fördern. Dahinter steht auch die Idee eines vereinten Europas als Wertegemeinschaft, welches dieselben (imperialistischen) Interessen vertritt. Genau genommen sind das natürlich die der imperialistischen Kernzentren Deutschland und Frankreich, auch wenn ihre Macht innerhalb der EU und des imperialistischen Weltsystems am Bröckeln ist. In dem Fall des diesjährigen ESC sollte daher ganz klar unterstrichen werden, dass der europäische Imperialismus hinter Israel steht. Selbstverständlich fördert der ESC auch nationalistische Gefühle durch die Konkurrenz der verschiedenen Länder und Identifikation mit der „eigenen“ künstlerischen Vertretung. In den letzten Jahren wurde das von einem queeren Publikum vermehrt aufgebrochen: Dadurch, dass offen queere Personen antreten und die Show seit jeher extravagant ist, empfinden viele auch abseits von nationalistischen Gefühlen Spaß an der Show.

Kein Sieg für Israel

Gewonnen hat Nemo, Vertretung der Schweiz, mit einem Lied über their Nichtbinarität. Dabei waren die Jurypunkte entscheidend. Zusätzlich tritt Nemo auch offen für einen Waffenstillstand in Gaza ein. Bei der Übergabe der Auszeichnung sprach sich they unkonkret für Frieden aus.

Israel hat trotz des Versuchs, viele Leute zu motivieren, für Golan zu stimmen, nicht gewonnen. Immerhin. Der 5. Platz jedoch wurde ihr sicher. Interessanterweise waren die Jurypunkte dabei nicht entscheidend, auch wenn sich Deutschland und Israel gegenseitig damit beschenkten. Stattdessen waren es die Televotes der Zuschauenden, die alle zusammengerechnet werden. Israel erhielt hier 328 Stimmen, 12 Punkte kamen unter anderem aus Deutschland. Wären also nur diese ausschlaggebend, hätte Israel tatsächlich gewonnen. Im Kontext der Boykottaufrufe ist es zwar nicht allzu verwunderlich, immerhin haben so Zionist:innen mehr Macht gehabt, wenn Fans, die für Palästina sind, gar nicht erst abstimmen. An diesem Ergebnis zeigt sich aber auch, wie gut die Propagandamasche und die Opferrolle ankommen. Aber es hätte eigentlich gar nicht so weit kommen dürfen, dass der Apartheidstaat Israel solch einen Auftritt hinlegen darf, um die Sympathien des TV-Publikums zu erheischen.

Gegenstimmen von Künstler:innen

Vor dem diesjährigen ESC hatten sich 2.000 Künstler:innen aus Schweden, Finnland und Island gegen eine Teilnahme Israels ausgesprochen. Auch hat die schwedische Gewinnerin des ESC 2023 Loreen verkündet, dass sie nicht Eden Golan den Preis überreichen würde, hätte diese gewonnen. Statt die vermeintliche politische Neutralität des ESC hinzunehmen, haben außerdem einige Künstler:innen, die am ESC teilnehmen (sollten), sich gegen die unkommentierte Teilnahme Israels ausgesprochen. Während einer Pressekonferenz zeigten sich Bambi Thug, Irlands Kandidat:in, Joost Klein, niederländischer Kandidat und Marina Satti, Griechenlands Vertreterin wenig begeistert von Eden Golans Statements gegenüber der Presse. Des Weiteren unterzeichneten einige von ihnen einen offenen Brief, der für Frieden, einen Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln plädiert und Israel als Apartheidstaat bezeichnet. Nemo, Sieger:in des ESC für die Schweiz, unterschrieb diesen ebenfalls. Auch der vormalige schwedisch-palästinensische ESC-Gewinner von 2011, Eric Saade, setzte ein Statement, indem er bei der Eröffnung des Halbfinales eine Kufiya um sein Handgelenk geschlungen trug. Auf Instagram teilte er mit, dass die EBU seinen Auftritt nicht geteilt hatte, er aber keinesfalls schweigen wolle, wenn Kinder abgeschlachtet werden, unabhängig davon, wer die Täter:innen seien. Politische Statements und Palästinafahnen wurden von Seiten der EBU untersagt, das Tragen der Kufiya kann dabei allerdings als Grauzone interpretiert werden. Auch Bambi Thug trug sie während eines Presseinterviews, they durfte aber nicht mit Körperbemalung in mittelalterlicher-keltischer Schrift auftreten, die Freiheit für Palästina und Waffenruhe fordert. Die portugiesische Vertreterin Iolanda zeigte ihre Palästinanägel in Kufiyamuster beim Finale, bisher ohne weitere Konsequenzen, außer, dass ihre Performance nicht auf Youtube hochgeladen wurde wie alle anderen Songs, sondern stattdessen ihr Auftritt vom Halbfinale. Auch die italienische Vertreterin Angelina Mango setzte laut X ein Zeichen, indem sie bei der Flaggenparade absichtlich die italienische Flagge so mit ihrem Kleid kombinierte, dass es wie eine Palästinafahne aussah.

Konsequenzen scheint es aktuell für Joost Klein zu geben. Dieser wurde ausgeschlossen, wenig ist jedoch bisher bekannt. Nachdem er von der israelischen Delegation massiv bedrängt wurde, die seine toten Eltern, wegen welchen er überhaupt erst am ESC teilnehmen wollte, verhöhnte, wurde nun spekuliert, dass er deswegen verbal ausfällig geworden sei. Es wurden polizeiliche Ermittlungen eingeleitet und der niederländische Broadcaster des Eurovision Song Contest, AVROTROS, schildert den Vorfall wie folgt: Nach seinem Auftritt habe Joost mehrfach zu verstehen gegeben, dass er nicht gefilmt werden möchte. Dem wurde von nicht nachgegangen, trotz Wiederholung von Joosts Bitte. Daraufhin habe er sich in bedrohlicher Gestik auf die Kamera einer schwedischen Kamerafrau zubewegt, mehr sei jedoch nicht passiert. AVROTROS weigerte sich danach, die niederländischen Punkte zu übermitteln, und bezeichnet den Ausschluss von Joost Klein als völlig überzogen.

Es drängt sich jedenfalls das Gefühl auf, dass hier mit allen Mitteln versucht wird, die Künstler:innen, die sich kritisch zur Teilnahme Israels äußern, unter Druck zu setzen und ihnen notfalls die Plattform zu entziehen. Und das, während es der israelischen Delegation erlaubt bleibt, in sozialen Medien zu teilen, dass in ihrer Nähe kein/e Antisemit:in atmen dürfen solle, und Bambi Thugs Nichtbinarität durch den Kommentator des israelischen Übertragungssenders im Halbfinale durch den Dreck zu ziehen (seltsam, Israel ist wohl doch nicht so queerfreundlich?). Letzteres wird übrigens von der EBU mittlerweile als Regelverstoß gewertet. Er ist scheinbar jedoch nicht gravierend genug für eine Disqualifikation. Es häufen sich außerdem auch Berichte von kritischen Journalist:innen und anderen Teilnehmenden, die aussagen, dass sie von der israelischen Delegation ungefragt gefilmt, beleidigt und bedroht wurden.

Manipulation beim ESC?

Einen weiteren wichtigen Punkt stellen die Vorwürfe gegen verschiedene Aspekte des Wettbewerbs dar. Auf X (vormals Twitter) wurde geteilt, die EBU habe die Buhrufe des Publikums bei Eden Golans Auftritt im Halbfinale mit Applaus ersetzt. Obwohl im Stadion in Malmö die ablehnende Haltung klar zu hören war und auch durch Handyaufnahmen nachzuprüfen ist, schien es im Stream ganz anders: Hier erntete sie stattdessen tosenden Applaus. Auch der deutsche Vertreter für den ESC aus dem Jahr 2021, Jendrik, kritisierte diese Praxis auf X. Beim Finale selbst waren die Buhrufe zumindest deutlich zu hören und wurden auch vom deutschen Kommentator der Übertragung, Thorsten Schorn, aufgegriffen. Aber auch hier zeigen die Aufnahmen aus dem Stadion eine ganz andere Geräuschkulisse als die, die vor dem Fernseher ankam. Eine solche Manipulation der Reaktion von Zuschauer:innen ist nicht hinnehmbar und wird zu einem politischen Akt, auch wenn es im Namen des vermeintlich Unpolitischen durchgesetzt wird.

Die Abstimmungen für die Teilnahme am Finale haben ebenso Spekulationen nach sich gezogen. So veröffentlichte der italienische Broadcaster aufgrund von technischen Fehlern die Abstimmungsergebnisse, was eigentlich nicht erlaubt ist. Zuschauenden fiel auf, dass diese für Israel ungewöhnlich hoch seien. Auch das Televoting im Finale verwirrte einige – so hätten die Zuschauenden aus Irland 10 Punkte für Israel verteilt. Gerade in Anbetracht der irischen Kolonialgeschichte und des offenen Supports vieler Ir:innen für Palästina wirkt das doch ein bisschen seltsam. Natürlich gibt es nicht nur in Israel Zionist:innen, die für dieses Land abstimmen würden, daher muss nicht gleich von einer Manipulation ausgegangen werden. Jedoch gab es auch in der Vergangenheit Untersuchungen, das letzte Mal nach dem ESC 2022, aufgrund von „Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe“. Aufzuklären ist das durch Spekulationen jedenfalls nicht, stattdessen sollten die Abstimmungsergebnisse offengelegt und von Arbeiter:innenorganen überwacht und ausgewertet werden, um eine bessere Transparenz gewährleisten zu können.

Proteste

Doch auch außerhalb der Arena in Malmö kam es zu massiven Protesten. Auch die Sektion Arbetarmakt der LFI war vor Ort. Laut schwedischer Polizei strömten dabei in den vergangenen Tagen bis zu zwanzigtausend Menschen durch die Straßen bei Demonstrationen in der schwedischen Stadt, darunter auch Klimaaktivistin Greta Thunberg. Sie bezeichneten den ESC als Genocide Song Contest, forderten ein freies Palästina und einen sofortigen Waffenstillstand. Des Weiteren forderten sie den Boycott des ESC, als Teil der BDS-Kampagne im Bereich des kulturellen Boykotts. Durch den Aufschwung der Palästinasolidaritätsbewegung im Rahmen der weltweiten Unibesetzungen wurde auch dem Gegenprotest gegen den ESC eine besondere Aufmerksamkeit zuteil und viele Leute gingen auf die Straße.

Daneben gab es in anderen Ländern Aktionen. So schalteten belgische Gewerkschaften beim Halbfinale am Ende und Anfang der Übertragung eine Texttafel, die #Ceasefirenow und #StopGenocide beinhalteten. Das war nicht abgesprochen mit dem Sender, der in Belgien den ESC übertrug, jedoch ist das auch scheinbar nicht nötig.

Perspektive

Die belgische Gewerkschaft kann man sich jedenfalls definitiv in dieser Hinsicht zum Vorbild nehmen. Genau solche Aktionen wären unter anderem notwendig, um eine noch größere Öffentlichkeit zu schaffen für den Genozid in Gaza, die Vorkommnisse und Zensur beim ESC sowie Doppelmoral bezüglich der israelischen Teilnahme. Dafür müssten sich die Gewerkschaften in der Unterhaltungsbranche der teilnehmenden Länder und die Arbeiter:innen dieser zusammentun, könnten auch zusammen mit den Künstler:innen die Plattform des ESC nutzen, um ein Zeichen zu setzen und die israelische Teilnahme zu blockieren, wenn die EBU hier schon mit zweierlei Maß messen will. Im Zusammenhang mit gewerkschaftlicher Aktion kann auch die Boykottkampagne sinnvoll sein. Ebenso wäre natürlich auch eine komplette Bestreikung des ESCs oder die Besetzung der Arena in Malmö eine Möglichkeit gewesen.

Grundsätzlich müssen die Strukturen des ESCs transformiert werden. Die höheren Tiere der EBU haben bewiesen, dass sie durch ungerechtfertigte Entscheidungen, Ausschlüsse und Zensur alles versuchen, den Protest verstummen zu lassen. Ein solcher Song Contest, der fair und für Künstler:innen ein sicherer Ort ist, während imperialistische Staaten keine Plattform für die Legitimierung ihrer Kriegsverbrechen erhalten, kann nur durch Rätestrukturen von Arbeiter:innen, Zuschauenden und Künstler:innen gewährleistet werden! Zusätzlich kann man sich überlegen, ob die Zentrierung um die Herkunft der antretenden Künstler:innen abgeschafft werden kann. Aber erstmal ist klar: Der ESC darf nicht zum Propagandamittel für den Genozid werden! Take back the ESC! Oder um es mit den Worten von Bambie Thug zu sagen: „Fuck the EBU, we are what the Eurovision is!“ (Deutsch: „Scheißt auf die EBU! Wir sind die Eurovision!“)




Berliner Polizei löst Palästinakongress auf – Meinungsfreiheit wird zur Farce

von Martin Suchanek, zuerst erschienen in der Infomail 1251 der Gruppe Arbeiter:innenmacht, April 2024

Einschränkungen demokratischer Rechte gehören mittlerweile zum Normalzustand der „Demokratie“. Die von Merkel und Scholz zur Staatsräson erklärte „bedingungslose Solidarität“ mit Israel verträgt sich offenkundig schlecht mit der Meinungsfreiheit.

Diese kam am 12. April unter die Räder wie selten zuvor in Berlin, einer Stadt, die durchaus auf eine lange Geschichte polizeilicher Gewalt und Willkür zurückblicken kann.

Doch während sich Repression „normalerweise“ auf Demonstrationen, Besetzungen, Blockaden, Akte zivilen Ungehorsams oder das Aufbegehren prekär Beschäftigter konzentriert, galt der Anschlag auf die Meinungsfreiheit diesmal einer Saalveranstaltung, einer demokratisch organisierten Konferenz, dem Palästinakongress.

Staatsräson

Dieser richtet sich nämlich direkt gegen die zur Staatsräson er- und verklärte Solidarität mit Israel, auch wenn dieser Staat gerade rund 40.000 Menschen durch Bombardements und Bodentruppen getötet hat, weit über eine Million Menschen in Gaza vertrieben wurden und akut Hunderttausende vom Hunger bedroht sind. Mit tödlichem Ernst halten die deutsche Regierung wie die bürgerliche Opposition und die faktisch gleichgeschalteten Medien an der Fiktion fest, dass Israel keinen genozidalen Angriffskrieg führe, sondern sein „Recht auf Selbstverteidigung“ ausübe. Und damit nicht genug, Deutschland unterstützt den Krieg nicht nur politisch, diplomatisch, sondern auch militärisch. Allein im Jahr 2023 haben sich die Rüstungsexporte verzehnfacht.

Dieser Krieg wird folgerichtig auch im Inneren weitergeführt. Damit soll einerseits die Schuld des deutschen Imperialismus am Holocaust ideologisch entsorgt werden, andererseits verfolgt der deutsche Staat damit handfeste ökonomische und vor allem geostrategische Interessen.

So gerät schon die Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit zur quasi kriminellen Betätigung. Seit Wochen wird in den Medien, von reaktionären wie „demokratischen“ Stimmungsmacher:innen, nach dem Verbot der Veranstaltung gerufen. Nachdem das rechtlich nicht ging, wurde tagelang gefordert und gedroht, was am 12. April von der Polizei durchgezogen wurde. Berlins rechtskonservativer Bürgermeister Wegner hatte schon lange ein „rigoroses Einschreiten“ beim „kleinsten Verdacht“ gesetzwidriger Aussagen angekündet. Im Klartext heißt das nichts anderes als die angedrohte Kriminalisierung jeder offenen Kritik am Staat Israel und seiner rassistischen Grundlagen, jeder Solidarisierung mit Palästina, jedes Antizionismus und jedes Eintretens für die demokratischen Rechte des palästinensischen Volkes, insbesondere dessen auf nationale Selbstbestimmung.

Provokation

Daher begann der Tag schon mit abstrusen und absurden Schikanen. Die Brandschutzverordnung und das Bauamt wurden bemüht, um einen Vorwand zu finden, nur 250 Personen in die für 600 Menschen ausgelegten Räumlichkeiten zu lassen. Hunderte Menschen konnten daher an der Veranstaltung erst gar nicht teilnehmen. Zudem zog die Polizei den gesamten Prozess des Einlassens der Teilnehmer:innen über Stunden hin. Während hunderten Menschen mit Eintrittskarten der Zutritt von der Obrigkeit verwehrt wurde, schleuste die Polizei – unter frecher Missachtung des Hausrechtes der Veranstalter:innen – prozionistische, hetzerische Journalist:innen von Welt und Co. ein. Darüber hinaus machten die Cops die massive Präsenz uniformierter und aller möglichen Polizist:innen in Zivil zur Bedingung, dass die Veranstaltung überhaupt beginnen konnte.

Trotz all dieser Schikanen, Provokationen und polizeistaatlicher Mittel, von denen Putin und Erdogan, Netanjahu und Biden, aber auch Meloni und Macron noch einiges lernen könnten, begann der Kongress.

Rede von Habh Jamal

In einer ergreifenden Rede entlarvte Hebh Jamal die Lügen, aber auch die Kooperation der Unterdrücker:innen weltweit, eine Kooperation, die keine Verschwörung ist, sondern die das gemeinsame Interesse der herrschenden Klassen an einer imperialistischen Ordnung deutlich macht, die auf Ausbeutung und Unterdrückung basiert. Vor allem machte sie deutlich, dass eine Konferenz, die die Verbrechen der Nakba, die Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser:innen verdeutlicht und die Komplizenschaft des deutschen Imperialismus hervorhebt, auch einen Akt des Widerstandes darstellt.

Denn in der Anklage gegen diese Politik, die die Konferenz schon im Vorfeld erhob, liegt notwendig und untrennbar ein Durchbrechen des Schweigens, ein Moment der Solidarisierung, die zur Aktion, zum Handeln drängt, zur Vertiefung und besseren Koordinierung unserer Bewegung.

Das wollen die deutsche Regierung sowie das gesamte politische Establishment, ob nun Ampelkoalition oder Unionsparteien, ja selbst die AfD und Teile der Linkspartei verhindern. Die Berliner Polizei rückte mit gut 900 Einsatzkräften an, um diesen politischen Auftrag umzusetzen. Und sie tat es.

That’s what imperialist „democracy“ looks like

Die Videobotschaft von Salman Abu Sitta, über den der deutsche Staat wegen seines Engagements ein Einreiseverbot verhängt hatte, wurde schon nach wenigen Minuten und ohne ersichtlichen Grund von der Polizei gestoppt. Dafür wurden schließlich gegenüber der Anwältin der Veranstalter:innen mehrere, einander widersprechende, selbst nach bürgerlichem Recht überaus fragwürdige Gründe geliefert. So erklärte die Polizei einmal, dass die Rede Passagen enthalten könnte, die volksverhetzerisch sein könnten. Dies würde geprüft werden. Frei nach dem Motto „Viel hilft viel“ hieß es später, dass Salman Abu Sitta ein politisches Betätigungsverbot in Deutschland habe. Seit wann und woher, wussten die Polizeikräfte ebenso wenig zu erklären wie die Frage, ob das Abspielen einer Videobotschaft überhaupt darunter falle. Doch wer braucht schon Gründe, wenn er das Gewaltmonopol auf seiner Seite hat? Und um gleich alle Unklarheiten aus der Welt zu schaffen, dass hier das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit mit Füßen getreten wird, wurde der Kongress auch gleich für Samstag und Sonntag samt sämtlicher Nachfolgeveranstaltungen verboten.

Die Polizei konnte den Kongress sprengen und auflösen. Doch sie wird uns weder zum Schweigen bringen noch wird sie ihr Ziel erreichen, unsere Bewegung, die wächst und stärker wird, zu zerstören.

Im Gegenteil. Die willkürliche Auflösung des Kongresses und der Anschlag auf die Meinungsfreiheit offenbaren nicht nur den repressiven Charakter der Polizei. Sie verdeutlichen auch den antidemokratischen Charakter der deutschen Regierungspolitik. Und sie zeigen die enge Verbindung von imperialistische Politik und der monopolisierten öffentlichen Meinung. Denn neben der Repression stehen wir auch einer orchestrierten Hetze und Verleumdung samt einer massiven Welle antipalästinensischen, antimuslimischen und antiarabischen Rassismus’ entgegen.

Dass die deutschen Medien auch gegen Genoss:innen der Gruppe Arbeiter:innenmacht und von REVOLUTION hetzen, zeigt unserer Meinung nach nur, dass wir etwas richtig gemacht haben. Wir wollen aber nicht vergessen, dass das deutsche Establishment in den letzten Wochen auch seine antisemitische Seite zeigt, wenn sie antizionistische Juden und Jüdinnen, vor allem die Genoss:innen der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“, öffentlich diffamiert und die Berliner Sparkasse ihr Vereinkonto sperrt. Vor allem aber dürfen wir nicht vergessen, dass es vor allem unsere palästinensischen Genoss:innen sind, die auf das Brutalste angegriffen, deren Vereine und Organisationen bedroht und kriminalisiert werden und über denen das Damoklesschwert der Abschiebung hängt, während zugleich ihre Freund:innen und Angehörigen sterben oder vertrieben werden.

Heute, am 12. April 2024, haben die Wegners und Giffeys, die Scholz’ und Baerbocks unseren Kongress auflösen können. Sie verfügen über die Machtmittel, dies zu tun. Doch sie mögen sich ihres „Erfolges“, ihres „Sieges“ über unsere demokratischen Rechte nicht zu sicher sein – und gewiss werden sie sich nicht zu lange darüber erfreuen. Auch wenn sie vermochten, unseren Kongress aufzulösen, so wurde er – und dies ist ein Stück Ironie der Geschichte – weltweit bekannter. Vor allem hat die Repression weit mehr Menschen den  reaktionären, antidemokratischen Charakter des deutschen Kapitalismus vor Augen geführt, als es unsere Reden, Beiträge, Diskussionen, Beschlüsse allein vermocht hätten. Gerade der deutsche Imperialismus hat sich über Jahrzehnte das Image aufgebaut, vergleichsweise „demokratisch“ und „wertebasiert“ zu sein. Diese selbstgefällige Lüge entlarvt er gerade selbst.

Wir werden dafür sorgen, dass sie ihm im Halse steckenbleibt. Sie können einen Kongress verbieten, unseren Widerstand, Kampfeswillen, unsere Entschlossenheit werden sie nicht brechen. Denn wir kämpfen im Gegensatz zu ihnen für eine gerechte Sache, für Freiheit und Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes, für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung.




Erste Hilfe bei Antisemitismusvorwurf

Von Felix Ruga, März 2023

„Du weißt schon, dass das gerade ziemlich antisemitisch von dir war?“

Eine Antwort, die fast alle antiimperialistisch eingestellten Linken irgendwann schon mal ertragen mussten, während sie mit Freund:innen, in der Familie oder der Schule mit irgendwem diskutiert haben, praktisch immer im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Und da muss man erstmal schlucken: Antisemitismus ist einer der heftigsten Vorwürfe, die man in politischen Debatten überhaupt bekommen kann. Sofort blitzen Bilder von schäumenden Wutreden, Videos und Tweets gegen jüdische Weltverschwörungen, marschierenden Nazis oder gar Vernichtungslagern auf. Für einen selbst ist es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass man Antisemitismus nicht im Entferntesten gutheißen kann oder damit irgendwas zu tun haben will, es viel mehr in der antifaschistischen Praxis aktiv bekämpft. Trotzdem steht man jetzt da und muss sich auf einmal gegen so einen Vorwurf rechtfertigen. Ärger, Frust, Angst steigen auf und, vor allem wenn man damit nicht gerechnet hat, kann man eigentlich gar nicht so recht glauben, was gerade passiert ist. Wie sollte man also damit umgehen?

Zunächst auf jeden Fall erstmal durchatmen und sich nicht direkt einschüchtern lassen. Es hilft, sich ins Bewusstsein zu rufen, dass gerade die Heftigkeit des Antisemitismusvorwurfs der Hintergrund ist, warum er politisch missbraucht wird, beziehungsweise mittlerweile so definiert ist, dass man ihn leichtfertig missbrauchen kann. Man sollte dabei auf einer fortschrittlichen Definition beharren: Antisemitismus bedeutet Rassismus gegen Jüd:innen, also Diskriminierung, Unsichtbarmachung, Entrechtung, physische und verbale Angriffe und so weiter. Speziell am Antisemitismus ist die herbeikonstruierte „jüdische Verschwörung“, mit der angeblich die Gesellschaft zersetzt werden würde. Mehr könnt ihr dazu in unserem Artikel „Wie können wir Antisemitismus beenden?“ lesen. Es gibt aber auch eine gegenläufige Definition, und zwar die sogenannte IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus, die sich vor allem in westlichen Staaten verbreitet. Hierbei werden bestimmte Aussagen oder Formen von Kritik gegenüber Israel als antisemitisch festgehalten. Hierbei floss auch der sogenannte 3D-Test ein: Antisemitismus sei es dann, wenn man Israel dämonisiert, delegitimiert oder Doppelstandards anlegt.

Das Problem hierbei: Diese Aussagen können zwar auch aus antisemitischen Beweggründen getroffen werden, aber insgesamt ist die ganze Definition so schwammig, dass sie auch gegen absolut legitime Kritik oder einer Solidarisierung mit dem palästinensischen Widerstand verwendet werden. Diese Antisemitismus-Definition ist eine extrem wichtige Waffe für reaktionäre Kräfte in der ideologischen Auseinandersetzung rund um den Nahostkonflikt, weil der Antisemitismusvorwurf so heftige Reaktionen hervorruft oder der bürgerliche Staat damit seine Angriffe auf demokratische Rechte oder die militärische Unterstützung Israels verteidigen kann. Die IHRA-Arbeitsdefinition ist also abzulehnen.

Deswegen sollte man, wenn ein Vorwurf dieser Definition folgt, dies erstmal zurückweisen und klarmachen, dass das so erstmal eine Unterstellung ist und es argumentativ abwehren, indem man bei der Sache bleibt. Aber natürlich ist auch klar: Antisemitische Vorurteile gehören ähnlich wie andere Formen des Rassismus‘ zur bürgerlichen Ideologie. Niemand kann in dieser Gesellschaft aufwachsen, ohne zumindest Bruchstücke rassistischen, sexistischen oder sonst wie diskriminierenden Denkens verinnerlicht zu haben. Das ist keine Entschuldigung, sich nicht zu reflektieren, sondern gerade der Ansatz dazu. Deswegen sollte man mit sich und zusammen mit den Genossis Reflexionsräume über die eigenen diskriminierenden Anteile ermöglichen, auch wenn man sich dafür erstmal schämt. Aber, wie bereits gesagt, ist in aller Regel der Antisemitismusvorwurf aufgrund von Palästinasolidarität tatsächlich eine bloße Unterstellung und wird nicht selten leichtfertig rausgehauen. Hier kann es helfen, direkt einige gute Antworten parat zu haben, die ich jetzt anhand von 3 beispielhaften Zitaten durchgehen würde.

„Kufiyas wurden auch von Attentätern getragen, dann solidarisiert man sich mit Antisemiten.“

Kufiyas sind sehr weit verbreitet im arabischen Raum und stehen seit dem Nahostkonflikt zumeist für die Solidarisierung mit dem palästinensischen Befreiungskampf. Wir haben hier auch einen eigenen Artikel zu der Geschichte der Kufiya geschrieben. Diese Argumentation, man würde sich mit irgendwem gemein machen, weil man bestimmte Symbolik verwendet, lässt sich auf alles Mögliche übertragen: Die Palästinafahne, bestimmte Parolen, Früchte, teilweise schon überhaupt die Forderung nach einem freien Palästina. Manchmal wird das verbunden mit der Aufforderung, wenn dann doch bitte eigene Symbolik des palästinensischen Widerstands zu verwenden, die nur von linken Kräften verwendet wird. Das ist letztendlich aber ein Versuch, Spaltungslinien innerhalb des Widerstands aufzumachen und folgt einer Logik von Kollektivschuld. Es ist gerade eine Stärke der Solidaritätsbewegung, dass sie bekannte Symbole und Parolen hat. Aufgabe muss es sein, diese mit fortschrittlichem Inhalt zu füllen. Und unsere Solidarität zu zeigen, indem wir sie verbreiten. Alles andere isoliert uns nur. Hat das Gegenüber ein Verständnis für soziale Bewegung, müsste dies einleuchten. Ansonsten müsste man eher darüber gehen, wie auch Symbole unliebsamer Bewegungen medial geframet werden und dass Kollektivschuld in diesem Kontext Unsinn ist.

„Vor 2000 Jahren wurden die Juden dort vertrieben und wenn du ihnen die Rückkehr nicht zugestehst, dann hast du offensichtlich was gegen sie!“

Es kann zwar ganz interessant sein, über die Geschichte der Region zu sprechen und was auch davor und danach dort passiert ist und was die Geschichte des europäischen und arabischen Judentums angeht. Aber es kann gut sein, dass die andere Person einen damit aufs Glatteis führt im Sinne von: „Wenn du die Völkerwanderung der letzten 3000 Jahre nicht nachzeichnen kannst, solltest du besser nichts zum Nahostkonflikt sagen.“ Davon sollte man sich nicht einschüchtern lassen. Klar, irgendwo beginnt die Geschichte und man kann immer weiter zurückgehen und lernt dadurch immer mehr über den Konflikt. Aber zum einen sollte Unerfahrenheit nicht zum Ausschluss aus Debatten führen, zum anderen ist der Konflikt heute sehr präsent und man kann und muss dementsprechend auch im Hier und Jetzt Lösungen finden, diskutieren und erkämpfen. Dementsprechend kann man nicht ein irgendwie historisch konstruiertes Recht hernehmen, um die Vertreibung durch Siedler:innen oder die Besatzung Palästinas und damit sehr reales Leid zu rechtfertigen. Sowieso sollte man aber für offene Grenzen einstehen und das bedeutet auch, dafür einzutreten, dass Jüd:innen ein freies Leben in der Region führen können – aber Palästinenser:innen eben auch.

„Free palestine bedeutet, man will alle Juden ermorden!“ oder „Weil Israel der Schutzraum der Juden ist, ist Antizionismus gleich Antisemitismus.“

In beiden Fällen wird impliziert, dass es unmöglich ist, dass die arabische zusammen mit der jüdischen Bevölkerung im Nahen Osten in Frieden leben kann und es daher absolut notwendig sei, einen militarisierten und unterdrückerischen israelischen Nationalstaat zu haben. In einer Argumentation dagegen könnte man beispielsweise darauf eingehen, inwiefern Antisemitismus und Rassismus aus dem Kapitalismus entstehen und dementsprechend in einem revolutionären Kampf auch wieder aufgelöst werden können. Oder dass Israel als Schutzraum in Wahrheit eine Farce ist und Israel eigentlich einer der gefährlichsten Orte für Jüd:innen überhaupt ist und man sich dementsprechend fragen muss, wie man diesen Status Quo auflöst. So oder so sind solche Argumente ganz oft nach dem Schema „wenn du A sagst, kannst du in den engen Grenzen meines politischen Bewusstseins nur B sagen“ gestrickt und dem sollte man entschlossen widersprechen: Eine andere Welt ist möglich und erreichbar, denn so, wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehen.




Wahlen Türkei: Erdoğan verliert!

von Dilara Lorin, April 2024, zuerst erschienen in der Arbeiter:innenmacht Infomail 1250

Die Kommunalwahlen in der Türkei vom 31. März endeten mit einem Sieg der CHP als stärkste Kraft, während die AKP eine Niederlage hinnehmen musste. Von insgesamt 81 Bürgermeisterämtern errangen die CHP 31 und die AKP 24. Die CHP gewann auch in den fünf größten Städten des Landes, darunter Istanbul, Ankara und Izmir. Nach Wahlerfolgen in diesen Städten äußerte Erdoğan einst: „Wer Istanbul und Ankara gewinnt, hat das Land in der Hand.“ Heute, einige Kommunalwahlperioden später, hat sich die Situation jedoch geändert und der „Große Mann am Bosporus“ hat an Macht verloren. Dabei kommt der Erfolg der CHP für viele Menschen unerwartet.

Nur wenige Monate, nachdem Erdoğan am 28. Mai zum Präsidenten des Landes gewählt wurde, scheint seine Popularität zu schwanken und das Volk scheint ihn und die aktuelle Politik abzustrafen. Insbesondere der wiederholte Erfolg von Ekrem İmamoğlu (CHP) in Istanbul, mit einem größeren prozentualen Abstand als davor, hat die Unbesiegbarkeit der AKP erschüttert.

Unmut in der Bevölkerung

Die wirtschaftliche Lage hat sich in den letzten Jahren kaum erholt. Die Coronapandemie, das Erdbeben vom 6. Februar im letzten Jahr, die globale Wirtschaftskrise und der Einbruch der Baubranche in der Türkei sowie die fatale Wirtschaftspolitik und Instabilität Erdoğans haben dazu beigetragen. Im Februar belief sich die Inflationsrate auf 67 %. Grundnahrungsmittel sind für einen Großteil der Arbeiter:innen kaum noch erschwinglich.

Die anhaltend schlechte Wirtschaftslage in der Türkei trifft insbesondere die Mittelschicht und führt zu einer verstärkten Prekarisierung von Arbeiter:innen und Arbeitslosen. Während des Wahlkampfes spricht Erdoğan in seinen Reden von einer starken Wirtschaft und einer positiven Zukunftsaussicht. Allerdings wird bei genauerer Betrachtung der Zahlen eine Tendenz immer deutlicher: Die Armut nimmt mit jedem Monat zu. Der aktuelle Mindestlohn von 17.000 TL (487 Euro) liegt bereits unter der Armutsgrenze von 20.098 TL für eine vierköpfige Familie. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein/e Alleinverdiener:in aufgrund der seit fünf Jahren steigenden Kosten für Nahrungsmittel nicht mehr in der Lage ist, eine Familie zu ernähren.

Der Anteil der Menschen, die unter der Hungers- und Armutsschwelle leben müssen, ist im März, im Monat der Kommunalwahlen, um 5,9 % bzw. 11 % angestiegen. Dabei stellt die Hungerschwelle die Minimumausgaben für Lebensmittel einer vierköpfigen Familie dar, wenn diese sich ausgewogen ernähren soll; die Armutsschwelle ist eine Kennzahl, welche die Minimalausgaben einer vierköpfigen Familie beschreibt. Diese alarmierende Nachricht wurde im März von der Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Birlesik Kamu-is Konfederasyonu veröffentlicht. Eine wichtige Wählerbasis für Erdoğan und die AKP waren unter anderem auch Rentner:innen, deren Lage sich ebenfalls verschlechtert hat. Laut der Gewerkschaft DISK liegt die Durchschnittsrente bei einem Sechstel im Vergleich zu den Renten in den zentraleuropäischen Ländern. Im Vergleich zum Mindestlohn war die Rente in der Türkei im Jahr 2002 noch um 22 % höher. Im Jahr 2023 lag sie jedoch etwa 26 % darunter.

Aber auch die Konkurrenz von rechtskonservativer Seite führte zur Niederlage der AKP. Die Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei), die in der Vergangenheit vor allem den religiösen Teil der Bevölkerung, der sich aufgrund der wirtschaftlichen Misere zunehmend von der AKP abwandte, für sich gewinnen konnte, erhielt 6 % der Stimmen und gewann die Wahlen in den Städten Yozgat und Sanliurfa. Dabei war die Yeniden Refah Partisi bei den Präsidentschaftswahlen noch Teil von Erdoğans „Volksallianz“, entschied sich bei diesen Wahlen jedoch, eigene Kandidat:innen aufzustellen, nachdem in Gesprächen mit der AKP anscheinend keine Kompromisse gefunden wurden. Auch Kandidat:innen, die aus der AKP ausgetreten sind oder auf deren Listen keinen Platz erhalten haben, lassen sich auf denen der YRP wiederfinden. Somit ist es nicht verwunderlich, dass enttäuschte Wähler:innen der AKP zur YRP übergehen, wenn sie nicht die CHP wählen. Dabei ist es auch die YRP gewesen, die unter anderem im Parlament die AKP und ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel anprangerte und dadurch auch viele Stimmen gewann, die sich aus islamischer Hinsicht mit dem palästinensischen Volk solidarisieren.

DEM – ein Jubelschrei der Kurd:innen wird laut

Die DEM-Partei (Die Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie), welche vor Dezember 2023 noch HEDEP (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker), davor HDP (Demokratische Partei der Völker) hieß, gewann vor allem in den kurdischen Provinzen. Dabei konnten in 10 Bezirken Bürgermeisterämter geholt werden, wobei sie dadurch zur viertstärksten Kraft des Landes wurde. In über 65 Landkreisen, Bezirken und Gemeinden konnte sich DEM als die stärkste Kraft etablieren. Eine große Freude breitete sich vor allem in den kurdischen Gebieten über den Sieg aus, der trotz erzwungener Umbenennung der Partei, starker Repressionen, Haftstrafen, Einschüchterungen und Verbotsverfahren zu einer Stärkung und Ausweitung der Stimmen für sie geführt hat.

In Manisa, Mersin und Izmir sowie in vielen Bezirken Istanbuls und anderen Orten hat die DEM-Partei keine Kandidat:innen aufgestellt, nachdem Gespräche mit der CHP bezüglich der Wahl geführt wurden. Diese Orte sind vor allem diejenigen, in denen die CHP stärker vertreten ist. Die Politik der „kleinen Helferin“ ist für die DEM-Partei fatal, da sie der CHP in diesen Gebieten ihre Wähler:innenschaft überlässt. Es war schließlich auch die CHP, die die AKP bei der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten unterstützte, um viele von ihnen, einschließlich des Co-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas, ins Gefängnis zu brachte.

Ein Wolf im Schafspelz: CHP

Die Liste der Unterstützung der Unterdrückung des kurdischen Volkes seitens der CHP ist lang und geht weit in die Geschichte der Türkei zurück. Aufgrund ihrer nationalistischen und bürgerlichen Ausrichtung kann diese Partei keineswegs als progressiv eingestuft werden.

Obwohl es verständlich ist, dass viele Menschen und Arbeiter:innen in der Nacht vom 31.03. auf den 01.04.2024 auf den Straßen waren und die Niederlage der AKP gefeiert haben, so sollte der Sieg der CHP für linke und revolutionäre Kräfte kein Grund zur Freude sein. Die CHP ist bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 durch rassistische und hetzerische Kommentare und Forderungen gegenüber geflüchteten Menschen und Asylbewerber:innen aufgefallen, wobei sie Erdoğan mit der Forderung nach sofortiger Ausweisung von drei Millionen Menschen sogar rechts zu überholen versucht hat.

Im Wahlprogramm für die Kommunalwahlen 2024 wird unter anderem festgehalten, dass Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr von Geflüchteten und Asylbewerber:innen in enger Zusammenarbeit mit „zuverlässigen“ NGOs vorangetrieben werden sollen. Die Stimmungsmache zeigt Folgen: Täglich werden Geflüchtete auf der Straße angegriffen, und diese Taten enden tragischerweise oft in Mord. Die indirekte Wahlunterstützung in einigen Orten, welche die DEM-Partei als linke Opposition der CHP geleistet hat, indem sie keine eigenen Kandidat:innen aufstellen ließ, ist zu kritisieren und zeigt selbst den kleinbürgerlichen Charakter der Politik der DEM.

Aktuelle Erhebungen in Wan und anderen Städten – ein erster Erfolg

Im Vergleich zu den Kommunalwahlen 2019, bei denen die HDP 65 Kommunen gewinnen konnte, konnte sich die DEM behaupten. Nach den Erfolgen vor 5 Jahren wurden jedoch in 48 Kommunen die Bürgermeister:innen von der Regierung abgesetzt und durch AKP-nahe Verwalter:innen ersetzt und dadurch staatlich zwangsverwaltet.

Auch in diesem Jahr wurde der Erfolg der DEM-Partei in den kurdischen Provinzen schon am 2. April seitens der Regierung in Frage gestellt. Schon während der Wahl wurden Wahlbetrug und Wahlfälschung angewandt. Dabei berichtete die DEM noch am selben Tag, dass bis zu 46.000 Staatbedienstete – darunter vor allem Polizist:innen und Soldat:innen – in den kurdischen Gebieten ihre Stimme abgegeben hatten, obwohl diese nicht aus diesen Orten stammen, sondern dahin transferiert wurden, um die Stimmabgabe zu Gunsten der Regierung zu beeinflussen.

Am Morgen des 2. April folgte dann der erste Schlag der Regierung gegen die DEM. In Wan (türkisch: Van) wurde nicht dem gewählten DEM-Politiker Abdullah Zeydan (55 %), sondern dem AKP-Kandidaten Abdulahat Arvas, welcher lediglich 25 % der Stimmen für sich gewinnen konnte, die Ernennungsurkunde überreicht. Zeydan wurden auf Anordnung der türkischen Regierung die Bürgerrechte entzogen, die er erst im vergangenen Jahr wiedererlangt hatte, nachdem er 2016 als HDP-Abgeordneter verhaftet worden war und fünf Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Wan ist die Provinz, in der die DEM in allen Bezirken die Mehrheit errungen hat, was noch deutlicher macht, dass seit diesem bürokratischen und undemokratischen Akt der AKP die Menschen auf die Straße gehen, um dagegen zu protestieren.

Die DEM-Partei rief richtigerweise kurzerhand zu Protesten auf und erklärte in ihrer Pressemitteilung, dass Respekt vor den Wähler:innen eingefordert werden soll. Der Co-Vorsitzende der DEM-Partei erklärte in einer Ansprache in Wan: „Wan ist das Herz Kurdistans und die Menschen in Wan haben zu Newroz, bei den Wahlen und heute hier auf diesem Platz deutlich gemacht, dass die Forderung der Kurdinnen und Kurden nach Freiheit und Demokratie nicht mit Gewalt und Zwangsverwaltung unterdrückt werden kann. Seit zwei Wahlperioden werden unsere Rathäuser von Treuhänder:innen zwangsverwaltet und jetzt soll ein weiteres Mal der Willen der Bevölkerung mit einem politischen und juristischen Komplott ausgeschaltet werden. Das werden wir nicht zulassen. Dieser Putsch wird keinen Erfolg haben, wenn wir trotz Repression, Knüppeln und Tränengas weiter zusammenhalten. Wir werden die von uns gewonnenen 14 Rathäuser in der Provinz Wan verteidigen.“ Am selben Tag fand eine Sondersitzung des Vorstands der Partei statt, welcher auch der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu beiwohnte. Straßenbarrikaden wurden errichtet und Tausende Menschen folgten diesem Aufruf. Die Geschäfte in Wan blieben größtenteils geschlossen. Der Staat reagiert mit massiver Gewalt und Repression und stürmt das Parteigebäude der DEM. Doch der Protest weitete sich rasch aus: Weitere Städte, darunter Colemêrg (türkisch: Hakkari), Gever (Yüksekova) und Amed (Diyarbakir) schlossen sich dem Ausstand an.

Die Ausweitung der Proteste und der Druck, den sie auf die Regierung ausübten, hatten Erfolg: Noch am Mittwoch, dem 3. April, entschied der Hohe Wahlausschuss, welche zuvor den Kandidaten der AKP zugelassen hatte, über den Einspruch der Partei DEM und beschloss, den Wahlsieger Zeydan anzuerkennen.

Ein Funke ist entfacht

Die Proteste zeigen, dass sich das kurdische Volk seiner Stärke in diesem Land bewusst ist. Sie zeigen aber auch die Schwäche der AKP und ihren mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung. Denn als die Regierung 2016 nach den Kommunalwahlen in den mehrheitlich kurdischen Kommunen die Bürgermeister:innen absetzte und durch eigene Kandidat:innen zwangsverwalten ließ, brachen ebenfalls starke Proteste aus, die jedoch blutig niedergeschlagen wurden. Über die Städte des stärksten Widerstandes wurden Ausgangssperren verhängt, Journalist:innen der Zutritt verweigert und mehr als 200 Menschen ermordet. Der Versuch, den gewählten Bürgermeister der DEM in Wan abzusetzen, ist daher ein Versuch der Demonstration der Unterdrückung und Repressionsmaschinerie. Dass dies innerhalb eines Tages wieder zurückgenommen wurde, zeigt aber auch die Angst vor einer Ausweitung der Proteste und davor, dass der Funke des Aufbegehrens weitere Gebiete erfassen und sich auch über ganz Kurdistan ausbreiten könnte. Dabei sollten die Proteste nicht stehenbleiben, denn die nächsten Wahlen sind erst in 4 Jahren. In der Zwischenzeit kann der Staat trotzdem seine repressiven und unterdrückerischen Handlungen ausüben. Denn eines muss klar sein: kein Vertrauen in staatliche Strukturen!

Die DEM-Partei kann dabei eine tragende Rolle einnehmen und hat als Massenpartei auch die Aufgabe, die aktuellen Proteste auszuweiten. Aufgabe von reformistischen, aber auch radikalen kleinbürgerlichen Parteien ist es dabei nicht, lediglich in Parlamenten und anderen Gremien Sitzplätze zu gewinnen, sondern den Raum der Wahl zu nutzen, um Bewegungen und Forderungen publik zu machen. Sie muss Vorreiterin der aktuellen Proteste sein und diese weiter über das ganze Land ausweiten.

Dabei muss sie aber vor allem versuchen, die Unterstützung der türkischen, progressiven Teile der Arbeiter:innenklasse wieder für sich zu gewinnen, denn die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung hat in den letzten Wahlen stagniert. Gegen die Krisen, die Armut und Unterdrückung müssen Gewerkschaften unter Druck gesetzt werden, um landesweit für ein Sofortprogramm gegen die Preissteigerungen, für einen Mindestlohn und Mindestrenten, die die Lebenshaltung decken, und für eine automatische Anpassung dieser an die Inflation zu kämpfen. Dies muss von Ausschüssen der Gewerkschaften und Lohnabhängigen kontrolliert werden.

Um dieses Ziel umzusetzen, sind politische Massenstreiks (bis hin zum Generalstreik) sowie massive Demonstrationen notwendig, die von lokalen Aktionskomitees organisiert und kontrolliert werden. Gegen die Repression und Provokationen durch Staat und Rechte müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden.

Es kann letztendlich nur eine starke Bewegung der Unterdrückten und Arbeiter:innen gegen die zukünftigen  Komplotte der Regierung, die Wirtschaftskrise, Unterdrückung und Armut vorgehen. Um solch eine Bewegung aufzubauen, welche auch in den wirtschaftlich stärkeren Städten im Westen des Landes die Arbeiter:innen und Unterdrückten für sich gewinnt, müssen die DEM und andere linke Parteien und Organisationen anfangen, vermehrt Basisstrukturen in den Städten, an Unis und in Betrieben aufzubauen. Auch die Basis der CHP muss angesprochen werden, um die Politik der Partei zu entlarven, welche mittels Rassismus versucht, die Bevölkerung zu spalten, und deren nationalistische Ausrichtung keine Lösungen bieten kann. Vor allem aber müssen die Gewerkschaften in den Kampf gezogen werden – ihnen kommt eine Schlüsselrolle bei einer wirklichen Konfrontation mit der Regierung zu.

Es braucht außerdem Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten- und Arbeiter:innen, die die Parteigebäude, Rathäuser etc., die von der DEM gewonnen wurden, gegen Repression verteidigen. Die Türkei sitzt schon lange auf einem absteigenden Ast und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung den Druck von Armut, Hunger und Rassismus nicht mehr aushalten kann. Aufflammende Bewegungen gegen die Regierung dürfen aber keine Hoffnung in die CHP vorheucheln und müssen die Unterdrückten des Landes mit den Arbeiter:innen vereinen. Dies kann letztlich nur eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Programms vorantreiben.




Irland und der Verrat des Befreiungskampfes

von Urs Hecker, April 2024

Die Woche nach Ostern hat in Deutschland eigentlich keine größere Bedeutung. In Irland allerdings ist kaum eine Zeit im Jahr so politisch aufgeladen wie die Osterwoche, kein Wunder, denn der Osteraufstand 1916 und die auf ihn folgenden Kriege sind wahrscheinlich die prägenden Momente der modernen irischen Geschichte.

In diesem Text wollen wir uns mit dem Ablauf dieser auseinandersetzen, nicht (nur) aus reinem historischen Interesse, sondern weil wir der Meinung sind dass gerade aus dem irischen Befreiungskampf viele wichtige Lehren für den antiimperialistischen Kampf heute gewonnen werden können.

Historische Situation vor dem Osteraufstand

Irland hat eine lange Geschichte von Besatzung, Unterdrückung und Kolonialisierung. Aber auch des Widerstands gegen diese. Vor dem Osteraufstand war Irland bereits über 700 Jahre durch England besetzt. In ganz Irland siedelte sich ein englisch/normannischer Landadel an, der so gut wie alles Land besaß und es in seinem Interesse regierte. Da die Ir:innen ihre Ausbeutung und Unterdrückung jedoch nicht einfach hinnahmen kam es in regelmäßigen Abständen zu blutigen Aufständen. Um Irland zu befrieden, setzte die britische Krone auf Siedlungskolonialismus (sog. Plantations). Erfolgreich war dabei jedoch nur die Plantation of Ulster. Im heutigen Nordirland wurden die lokalen Clans enteignet und vertrieben, auf ihrem Land wurden schottische Siedler:innen angesiedelt. Diese waren besonders treu zur Krone und hatten anders als die katholischen Ir:innen protestantischen Glauben. Während die Mehrheit der Schott:innen auch katholisch war und Irland näher stand als England, waren die sog. Ulster Scots zum Protestantismus konvertiert in der Hoffnung so ihre nationale Unterdrückung in Folge des gescheiterteten Jakobitenaufstands zu überwinden, der zur gewaltsamen Vertreibung der Schott:innen aus den Highlands und Zerschlagung der schottischen Kultur geführt hatte. Dieser Versuch gelang: Aus Unterdrückten wurden Unterdrücker im Dienst ihrer vormaligen Schlächter.

Als der aufsteigende Kapitalismus nationalistisches Bewusstsein in ganz Europa verbreitete häuften sich die Aufstände, seit 1798 gab es ungefähr einen pro Generation.  Neben der Aufstände war das 19. Jahrhundert aber vor allem durch Hungersnot, Genozid und Emigration geprägt. Die große Hungersnot konnte nur entstehen da die Ir:innen, welche nur wenig Land hatten, Kartoffeln anbauen mussten um sich zu versorgen. Die größten Landflächen wurden zum Export von Weizen genutzt. Die britische Regierung stoppte diese Exporte selbst dann nicht, als Millionen von Ir:innen den Hungertod starben.  Auch heute ist die Bevölkerung Irlands immer noch kleiner als vor der Hungersnot.

Die fehlgeschlagenen Aufstände führten dazu, dass sich ein auf Reformen gestütztes Bewusstsein durchsetzte: Die sog. „Home-Rule“ Bewegung. Ihr Ziel war es dass Irland einige Zugeständnisse aus London erhielt und die irische Bourgeoise ihr eigenes Parlament in Dublin gründen könne. Dass dies alles als Teil von Großbritannien geschehen müsse wurde nicht in Frage gestellt. Die Protestant:innen im Norden sahen durch die Home Rule Bewegung ihr Privilegien bedroht und gründeten als erstes bewaffnete Organisationen um diese zur verteidigen. Ihre Massenbasis bestand aus Kleinbürger:innen und der Arbeiter:innenaristrokratie des Nordens. Als Antwort darauf und aus Selbstverteidigung gründeten irische Nationalist:innen selbst bewaffnete Milizen, die Irish-Volunteers. Die Mehrheit dieser und vor allem ihre Führung gehörten der reformistischen Home-Rule Bewegung an. Es war also kein Zufall als sich zum Ausbruch des ersten Weltkriegs die Irish Volunteers freiwillig für die britische Armee meldeten. Die Führung erhoffte sich so Londons „guten Willen“ zu verdienen.

Irischer Republikanismus

Eine Minderheit der irischen Nationalist:innen war allerdings radikaler. Der sog. Irische Nationalismus setzte sich aus Radikalliberalen, Sozialist:innen und anderen fortschrittlicheren Nationalist:innen zusammen. Ihr Ziel war eine gesamt irische Republik unabhännig von Großbritannien. Folglich lehnten sie auch den Beitritt in die britische Armee scharf ab. Während einigen Republikaner:innen eine sozialistische Republik vorschwärmte, war die Mehrheit klar für einen bürgerlichen Staat, welcher ein paar soziale Reformen mittragen sollte.
Organisiert waren die Republikaner:innen in der Geheimorganisation Irish Republican Brotherhood (IRB), der Partei Sinn Fein und in der Frauenorganisation Cumann na mBan.

Osteraufstand und Befreiungskampf der IRA

Nach 2 Jahren Weltkrieg entschied die IRB, dass der Zeitpunkt zum Aufstand gekommen war. Am Ostermontag 1916 besetzten sie mit kleineren Gruppen von Irish Volunteers prestigeträchtige und militärstrategisch wichtige Gebäude in Dublin. Im Hauptpostamt wurde die irische Republik proklamiert und die Anführer der IRB erklärten sich zur provisorischen Regierung dieser. Diese neue Republik stellte im Sinne der Proklamation einen fortschrittlichen bürgerlichen Staat dar. Das Wahlrecht für Frauen wurde betont und die Freiheit aller Religionsgemeinschaften, ein proletarischer Standpunkt fehlte allerdings. Dennoch waren Sozialist:innen am Osteraufstand beteiligt. Allen Voran: James Connolly ein ehemaliger Gewerkschafter aus Schottland welcher Teil der provisorischen Regierung wurde. 
Die britische Regierung reagierte erbarmungslos auf den Aufstand. Die Armee marschierte in Dublin ein und für den Rest der Osterwoche herrschte Krieg in der Stadt. Als die britische Armee durch Artilleriebeschuss begann die Stadt zu zerstören und die Situation der aufständischen ausweglos schien ergaben sich diese. Ihre Hoffnung, dass sich der Aufstand auf die breite Bevölkerung ausbreiten würde hatte sich zunächst nicht erfüllt.  
Bis auf Eamon de Valera, welcher amerikanische Staatsbürgerschaft besaß wurden alle Unterzeichner der Proklamation zu Tode verurteilt und hingerichtet.

Durch unermüdliche Propagandaarbeit, allen voran von der Frauenorganisation Cumann na mBan, wendete sich aber nun das Bewusstsein in Irland. Immer mehr Menschen wandten sich von der Home Rule ab und unterstützen den Unabhängigkeitskampf. Dies zeigte sich auch bei den Wahlen zum britischen Unterhaus  im Dezember 1918. 76 der 106 irischen Sitze wurden von der republikanischen Partei Sinn Fein gewonnen, der Republikanismus war zur Mehrheitsideologie geworden. Die Abgeordneten von Sinn Fein erkannten das britische Parlament nicht an, im Januar 1919 gründeten sie ein irisches Parlament (Dail) und erklärten die Unabhängigkeit. Großbritannien erkannte diese nicht an und der Befreiungskrieg brach aus. Die Irish Volunteers wurden umformiert zur irisch-republikanischen-Armee (IRA) welche offiziell dem Dail unterstand. Die IRA führte von nun an einen Guerillakrieg für die Befreiung Irlands. Großbritannien regierte mit Terror und Mord und ließ ehemalige Soldaten des ersten Weltkriegs als paramilitärische Todesschwadronen auf die Zivilbevölkerung los.

Vertrag und Verrat

Es entsteht eine Patt-Situation, die Besatzungsmacht kann die Guerillas nicht besiegen, diese können aber auch nicht eigenmächtig die Besatzungsmacht vertreiben.
Deswegen schlägt die britische Regierung 1921 einen Friedensvertrag vor.
Irland soll ein „Freistaat“ werden der weiter der britischen Krone untersteht, aber hohe Autonomie besitzt. Der Norden Irlands soll nicht Teil des Freistaats werden.
Letztendlich werden durch den Vertrag alle Ziele des Osteraufstands und des republikanischen Kampfes verraten. Es wir keine unabhängige irische Republik geben, der Norden bleibt direkt von Großbritannien kontrolliert, in ihm wird sich die Unterdrückung der Ir:innen sogar verschärfen. Die Situation der irischen Arbeiter:innen und armen Bäuer:innen verbessert sich kaum.

Verständlicher und richtiger Weise reagiert die republikanische Basis den Vertrag empört ab. Für die irischen Massen gab es nichts zu gewinnen. In einer parteiinternen Abstimmung stimmt die Mehrheit der Sinn Fein Mitglieder gegen den Vertrag. 
Aber der Dail, das irische Parlament lässt sich davon nicht aufhalten. Er stimmt dem Vertrag zu, der Verrat der irischen Bourgeoisie am Befreiungskampf ist perfekt. Sie wählt vermeintliche  Autonomie über dem Kampf für echte Unabhängigkeit.

Bürgerkrieg und Konterrevolution

Die Basis rebelliert gegen den Verrat. Der linke Flügel der Republikaner:innen und der große Teil der IRA lehnen sich gegen das Parlament auf. Es bricht ein Bürgerkrieg aus. 
Der neu entstandene Freistaat wird dabei von Großbritannien militärisch unterstützt.  Dadurch gelingt es ihm die IRA zurückzudrängen und letztendlich zu besiegen. Viele republikanische Anführerinnen werden in dieser Zeit von ihren ehemaligen Mitstreitern ermordet.
Nach der Niederlage der IRA geben auch die meisten Republikaner:innen die Republik auf und akzeptieren den Freistaat. Nur eine kleine Minderheit verbleibt in Sinn Fein, die sich weiterhin weigert die Legitimität des Freistaats anzuerkennen.
Der Sieg des Freistaats war faktisch der Sieg der Konterrevolution.
Die Ir:innen wurden demobilisiert und die Unterordnung unter den Imperialismus wurde akzeptiert. Der Freistaat selbst wurde zu einem der rückständigsten und reaktionärsten Staaten in Europa. Republikaner:innen wurden verfolgt und jedes fortschrittliche Bewusstsein wurde an den Rand gedrängt. Es entstand eine erzkatholische Hegemonie, die sehr sexistisch war und in den Ir:innen selbst reaktionäres Bewusstsein festigte. Der Freistaat war entsprechend auch sehr arbeiter:innenfeindlich und kooperierte im Norden zusammen mit Großbritannien gegen die Republikaner:innen.
Jedes Ziel des Befreiungskampfes wurde verraten Irland blieb politisch und wirtschaftliche vom Imperialismus abhängig.

Fazit

Aber worin lagen die Gründe des Verrats und der Niederlage und welche Lehren können wir heute für den antiimperialistischen Kampf daraus ziehen?

Was auffällt ist, dass es im damaligen Irland keine große Arbeiter:innenorganisationen und -parteien gab, die in den nationalen Befreiungskampf intervenierten. Es gab zwar sehr prominente Sozialist:innen an der Spitze der republikanischen Bewegung wie James Connolly, aber der Republikanismus ist keine sozialistische Strömung sondern eine „fortschrittliche“ bürgerlich nationalistische. Die Sozialist:innen im irischen Befreiungskampf gründeten keine unabhängigen Organisationen für das revolutionäre Proletariat sondern ordneten sich diesen „fortschrittlichen“ Teilen der Bourgeoisie unter. Das stellte sich als fataler Fehler heraus. Durch das Unterordnen unter die Bourgeoisie in der gleichen Partei (Sinn Fein) war es den Sozialist:innen nicht möglich effektiv gegen den Verrat ebendieser anzukämpfen und dem Freistaat etwas entgegenzusetzen. Außerdem konnte es ohne proletarische Organisationen auch keinen Weg zum Aufbau echter Doppelmacht geben. Das Parlament konnte den Kampf verraten, da es das einzige Organ mit Regierungsanspruch war und so in der Lage war den Kampf zu führen. Hätte die Arbeiter:innenklasse eigene Organe, wie Räte, geschaffen und sich dabei mit dem armen Bäuer:innen gegen die britischen Landbesitzer:innen verbündet, hätte es die Chance gegeben den Kampf weiter zu führen und ihn von einem Kampf für einen bürgerlichen Nationalstaat in eine sozialistische Revolution wandeln. 
Nur so hätte Irlands Unabhängigkeit verwirklicht werden können. Im nationalen Befreiungskampf wird die Bourgeosie immer, sobald sie ein für sich tragbares Ergebnis erzielt hat, den Kampf verraten. Denn sie hat immer noch kapitalistische Interessen, ihre Existenz beruht immer noch auf der Ausbeutung der Arbeiter:innen, sie muss sich immer noch dem Weltmarkt unterwerfen und sie ist in Kolonien und Halbkolonien oft so schwach, dass sie ihre Herrschaft auf Kollaboration mit den imperialistischen Staaten stützen muss. Nur die Arbeiter:innenklasse ist in der Lage den Kampf gegen den Imperialismus und für Unabhängigkeit zum Ziel zu führen, indem sie Imperialismus und Kapitalismus selbst aus dem Weg räumt.

Das heißt aber nicht, dass wir bürgerliche Bewegungen im antiimperialistischen Kampf einfach ignorieren können, oder dass wir uns nicht mit ihnen als Teil des Kampfes solidarisch zeigen. Oft haben sie nämlich noch die organisatorische und ideologische Führung dieser Kämpfe inne. Würden wir sie einfach ignorieren und uns komplett abspalten, könnten wir kaum Zugang zu den Massen der Arbeiter:innen und armen Bäuer:innen erhalten. Wir würden ihnen so erst Recht die Führung im Kampf überlassen. Um den Befreiungskampf also zum Sieg zu führen, müssen wir eine antiimperialistische Einheitsfront bei organisatorischer Unabhängigkeit mit den bürgerlichen, antiimperialistischen Kräften bilden. Das ist jedoch nicht mit einer Volksfront zu verwechseln, welche die Interessen der Arbeiter:innen denen der Bourgeiosie unterordnet. Gleichzeitig bezieht sich die antiimperialistische Einheitsfront auf konkrete gemeinsame Aktionen und spezifische Abkommen, die den Kampf gegen den Imperialismus vorantreiben. Nur so können wir die Ausgebeuteten und Unterdrückten davon überzeugen, dass die revolutionäre Arbeiter:innenklasse die einzige Kraft ist, die ihre vollständige Befreiung verwirklichen kann.
können wir die Ausgebeuteten und Unterdrückten davon überzeugen, dass die revolutionäre Arbiter:innenklasse die einzige Kraft ist, die ihre vollständige Befreiung.