Stoppt den Krieg in der Ukraine!

Als Teil der internationalen Strömung für eine fünfte kommunistische Internationale unterstützen wir angesichts des Kriegs in der Ukraine das folgende Statement der “ Liga für die Fünfte Internationale“:

Die Liga für die Fünfte Internationale verurteilt den Angriff russischer Luft- und Landstreitkräfte auf die Ukraine sowie die Leugnung ihres Rechts auf Unabhängigkeit als souveräner Staat durch Wladimir Putin.

Seine Behauptung, er verteidige die Interessen der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine und die Sicherheit Russlands gegenüber der NATO, ist ein gigantischer Betrug. Nicht weniger betrügerisch sind jedoch die Behauptungen der NATO-Verbündeten, sie würden ausschließlich zur Verteidigung der Demokratie und der nationalen Souveränität handeln. Wie Putin verfolgen auch sie ihre eigenen imperialistischen Interessen. Kurz gesagt, die Invasion in der Ukraine ist in erster Linie ein zwischenimperialistischer Konflikt.

Putins brutales Vorgehen steht im Einklang mit dem Vorgehen der russischen Streitkräfte in Syrien zur Stabilisierung des mörderischen Assad-Regimes sowie der Ermordung von Oppositionellen und der Unterdrückung von Massenprotesten im eigenen Land und seiner Förderung rechtsextremer Parteien und autoritärer Regierungen in der EU. Kurz gesagt, es sind die Aktionen einer imperialistischen Macht, die im Konflikt mit den imperialistischen Mächten USA und EU steht.

Wir verurteilen auch die Rolle der NATO bei der Förderung dieser Krise, deren Wurzeln in der Erhaltung und Ausweitung dieses Bündnisses des Kalten Krieges nach dem Zusammenbruch der UdSSR und ihrem Vordringen bis an die Grenzen der Russischen Föderation unter Verletzung wiederholter mündlicher Zusicherungen an die aufeinanderfolgenden russischen Präsidenten liegen.

Darüber hinaus griff sie in die ursprünglich legitimen demokratischen Volksbewegungen gegen die korrupten Oligarchenregime in den verbleibenden Staaten des „nahen Auslands“ der Russischen Föderation ein. Ziel war es, die prorussischen durch antirussische Regime zu ersetzen, indem man sie in die sogenannten farbigen Revolutionen verwandelte. Dies musste früher oder später zu einem Rückschlag des russischen Imperialismus führen, sobald er sich stark genug fühlte.

Dies war die Strategie aller mit den USA verbündeten imperialistischen Großmächte. Washingtons Politik der Ablehnung der russischen Forderungen nach einer Garantie, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt, zielte jedoch auch auf die Bestrebungen Frankreichs und Deutschlands ab, eine größere wirtschaftliche und militärische Autonomie von der transatlantischen Supermacht zu erlangen. Sie sind nun die großen Verlierer:innen, da ihre diplomatische Lösung zunichtegemacht wurde und Deutschland gezwungen ist, die Inbetriebnahme der Nordstream-2-Gaspipeline auszusetzen.

Das Ziel bestand darin, sie innerhalb der NATO, die selbst ein als Schutz verherrlichtes amerikanisches Spektakel ist, unterzuordnen und zu zwingen, den von Washington diktierten und durchgesetzten Sanktionen zuzustimmen, wie ruinös dies auch für ihre eigenen Volkswirtschaften wäre.

Dass der NATO-Imperialismus dies unter der Flagge der Demokratie, der Menschenrechte und der Selbstbestimmung der Völker tut, war und ist eine grausame Täuschung. Eine solche stellt auch die Behauptung der Ukraine dar, sie verteidige lediglich ihr Recht auf Selbstbestimmung, denn seit 2014 kämpft sie dafür, den östlichen Regionen des Landes (und der Krim) das gleiche Recht zu verweigern, einschließlich des Rechts, ihre eigene Sprache zu verwenden und frei zu entscheiden, ob sie innerhalb der Grenzen eines Staates leben wollen oder nicht, der durch die Akzeptanz einer ethnisch westukrainischen nationalen Identität definiert ist.

Putins chauvinistisches Abenteuer hat US-Präsident Joe Biden und seinen NATO-Verbündeten den perfekten Vorwand geliefert, um die Hysterie des Kalten Krieges zu verstärken und die unverfrorenen sozialimperialistischen Kräfte innerhalb der weltweiten Arbeiter:innenbewegung zu ermutigen, sei es in den sozialdemokratischen und Labourparteien oder Gewerkschaftsbewegungen.

Ebenso sind alle Kräfte aus der stalinistischen Tradition, die Putins Handlungen entschuldigen und seine Forderungen nach einer „Einflusssphäre“ oder einer „Sicherheitszone“ rechtfertigen, weit davon entfernt, eine Politik zu verfolgen, die auf Internationalismus und Opposition gegen jeglichen Imperialismus beruht. Zu glauben, dass der Feind unseres Feindes unser Freund sein muss, ist der Gipfel der Torheit. In Wirklichkeit sind unsere einzigen Verbündeten die Arbeiter:innen in allen Ländern, die ihre eigenen Herrscher:innen bekämpfen und die Hand der Solidarität über die Frontlinien des Konflikts hinweg ausstrecken.

Der chinesische Imperialismus steht als globaler wirtschaftlicher und damit letztlich auch militärischer Rivale der USA wirtschaftlich mehrere Kategorien über Russland. Obamas, Trumps und Bidens Schwenk nach Asien und ihr „Putin ist der neue Hitler“-Narrativ in Europa haben China unweigerlich näher an Russland herangeführt. Dies ist jedoch nicht auf Xi Jinpings und Putins Herausforderungen für „unsere Werte“ zurückzuführen, sondern auf ihre wirtschaftliche und geostrategische Rivalität mit den USA. Pekings brutale und rassistische Verfolgung der Uigur:innen in Xinjiang und der Demokratieaktivist:innen in Hongkong ist eine Warnung, dass China es nicht zulassen wird, von den USA isoliert oder auf Sparflamme gehalten zu werden.

Aus all diesen Gründen müssen die Arbeiter:innenklasse und die fortschrittliche Bewegung in der ganzen Welt davon abgehalten werden, in diesem zwischenimperialistischen Konflikt Partei für eine Seite zu ergreifen. In den alten imperialistischen Kernländern ist die Behauptung, die Demokratie zu verteidigen, lediglich ein zynischer Trick, um das „Recht“ dieser Staaten zu verteidigen, die Welt auszuplündern. In Russland und China ist es ein Schritt zur Ablösung der alten Imperialist:innen und zur Unterwerfung der großen Mehrheit der Menschheit unter neue Machthaber:innen, die es neuen Milliardär:innen ermöglichen, auf Kosten ihrer eigenen Arbeiter:innen und der verarmten Mehrheit der Menschheit zu gedeihen.

Wesentlich für eine korrekte Haltung in dieser Frage ist Karl Liebknechts Losung aus dem Ersten Imperialistischen Krieg: Der Hauptfeind steht im eigenen Land, was für die USA, ihre NATO-Verbündeten sowie für Russland und China gleichermaßen gilt.

  • Sofortiger Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine! Anerkennung der ukrainischen Unabhängigkeit und Staatlichkeit durch Moskau!
  • Keine Unterstützung für westliche Wirtschaftssanktionen gegen Russland! Für Arbeiter:innenaktionen, um die Lieferungen von Waffen und Munition an alle Kriegstreiber:innen zu stoppen, solange die Aggression andauert!
  • Abzug aller NATO-Berater:innen aus der Ukraine und der Seestreitkräfte der Westmächte aus dem Schwarzen Meer!
  • Für das Recht der Regionen Donezk, Luhansk und Krim auf demokratische Selbstbestimmung, einschließlich der Optionen der Autonomie innerhalb der Ukraine, der Unabhängigkeit oder des Beitritts zu Russland!
  • Auflösung von NATO und Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit!
  • Stoppt den Marsch über einen neuen Kalten Krieg in Richtung eines globalen zwischenimperialistischen Krieges!
  • Für eine neue globale Bewegung gegen imperialistische Kriege und Aufrüstung und für die Umleitung der enormen technischen und wissenschaftlichen Ressourcen, die dafür aufgewendet werden, um die brennenden Probleme der Klimakatastrophe, der Armut, des Hungers und der Krankheiten zu lösen!
  • Für einen internationalen Zusammenschluss von Parteien der Arbeiter:innenklasse, die gegen Kapitalismus und Imperialismus und für den Sozialismus kämpfen – eine Fünfte Internationale, die die fortschrittliche Arbeit der ersten vier Internationalen fortsetzt.



Ukraine-Krise: Kommt der dritte Weltkrieg? 4 Fragen und 4 Antworten

Egal ob wir gerade die Zeitung aufschlagen, durch unseren News-Feed scrollen oder den Fernseher anmachen: Überall reden sie von den russischen Weltherrschaftsplänen, dem verrückten Diktator Putin und der russischen Aggression. Interessant ist dabei auch, dass es kaum eine Rolle spielt, welche politische Couleur das jeweilige Medium hat. Ob FAZ, Bild oder taz, alle sind sie sich einig: Der Westen muss Russland mal zeigen was ne Hake ist. Die nicht überhörbaren Schreie nach Krieg sind dabei sogar lauter als aus den Reihen der Bundesregierung, die sich im Vergleich zu den USA eher gemäßigt gibt. Wo wir uns einig sind: Die Gefahr eines militärischen Großkonfliktes mitten in Europa ist real! Wo wir anderer Meinung sind ist jedoch, wie es dazu kommt und was wir dagegen machen können…

  1. Worum geht es in dem Konflikt um die Ukraine?

Im Kern dreht sich der Konflikt zwischen den USA und der EU auf der einen und Russland auf der anderen Seite darum, ob die Ukraine in das westliche Militärbündnis NATO aufgenommen wird. Die NATO wurde kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als westlich-kapitalistische Militärallianz unter Führung der USA gegen die Sowjetunion gegründet. Auch wenn von den Sowjets im heutigen Russland nichts mehr übrig geblieben ist, bleibt die NATO weiterhin ein gegen Russland gerichtetes Militärbündnis. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ging das Game los, welches nationale Kapital, ob aus den USA, Deutschland, Frankreich oder Russland am meisten Einfluss in den ehemaligen Ostblockstaaten gewinnt. Die Integration in wirtschaftliche, politische oder militärische Bündnisse, ob NATO, EU oder OVKS stellt dabei nach wie vor ein wichtiges Mittel dar, um den eigenen Einfluss zu sichern. Und genau deshalb will Putin auf jeden Fall verhindern, dass die Ukraine, die jahrhundertelang unter russischem Einfluss stand, in das antirussische Bündnis direkt an der russischen Landesgrenze aufgenommen wird. Das würde zum Beispiel bedeuten, dass NATO-Truppen und Waffen an der Grenze von Russland stationiert werden könnten. Dass Staaten auf eine derartige Bedrohung noch nie freundlich reagiert haben, kann man sehen, wenn man sich daran erinnert, dass die USA mal fast einen Atomkrieg ausgelöst hätte, weil die Sowjetunion Raketenbasen in Kuba einrichten wollte.

Dabei startete die erste heiße Phase des Kampfes um die Ukraine damit, dass sich der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch im Zeichen einer wirtschaftlichen Krise dafür entschied, sich wirtschaftlich stärker an Russland auszurichten. Die USA und die EU begannen daraufhin in die Ukraine zu intervenieren, indem sie eine auf Rechtsextremist_innen und pro-westliche NGOs gestützte Protestbewegung finanzierten, die sich aufgrund der Wirtschaftskrise schnell zur Massenbewegung entwickelte und die Regierung Janukowitsch zu Fall brachte. Die neue Regierung begann schnell Verträge mit der EU abzuschließen, landwirtschaftliche Flächen an westliche Agrarkonzerne zu verkaufen, linke und pro-russische Kräfte brutal zu unterdrücken und zu versuchen ihre Machtansprüche auch im ethnisch russischen Osten der Ukraine durchzusetzen. Unterstützt von Putin regte sich Widerstand im Osten des Landes, welcher zur russischen Annexion der Halbinsel Krim und zur Gründung der sogenannten Donbass-Republiken führte.

Die aktuelle Zuspitzung der Lage an der russisch-ukrainischen Grenze lässt sich auf diesen Konflikt zurückführen. So begannen die NATO-Staaten in letzter Zeit wieder vermehrt mit Truppenübungen in den östlichen Mitgliedstaaten wie Lettland. Darauf reagierte auch Russland mit Verlagerungen seiner Streitkräfte nach Westen und Truppenübungen u.a. auf der Krim. Dieses Säbelrasseln schaukelt sich in den letzten Wochen nach und nach hoch und führte zu dieser brenzligen Situation jetzt, in der sich die NATO und Russland abwechselnd vorwerfen in den nächsten Tagen angreifen zu wollen.

Russland forderte von den USA und der EU Sicherheitsgarantien, also eine Zusicherung, dass die Ukraine nicht Teil der NATO wird. Das lehnen USA und EU jedoch kategorisch ab. Stattdessen haben sie Russland aber auch kein anderes Angebot gemacht, mit dem Putin irgendwie sein Gesicht wahren könnte. Da Putin innenpolitisch unter Druck steht, muss er irgendeinen Erfolg vorweisen, um sich weiterhin auf dem Thron halten zu können. Und genau das weiß die NATO auch und macht deshalb keine Angebote. Putin bleibt deshalb nichts anderes übrig, als immer mehr zu drohen, zuletzt sogar mit Atomwaffen! Genau weil es durch die innenpolitischen Spannungen in Russland und die Blockadehaltung des Westens für Putin keinen Exit aus dem Konflikt gibt, ist die Situation so gefährlich. Würde Russland tatsächlich in die Ukraine einmarschieren, wäre das für die USA und die EU nur von Vorteil. Warum? Weil sich das wirtschaftlich schwache Russland eh nicht leisten kann, die Ukraine dauerhaft zu besetzen und weil danach für lange lange Zeit keine pro-russische Regierung mehr in der Ukraine gewählt werden würde.

2. Ist Russland also das eigentliche Opfer?

Bei all dem könnte man jetzt auf die Idee kommen, dass Russland hier das eigentliche Opfer ist. Und sicher, Putin hat auch deutlich mehr zu verlieren als die westlichen Regierungen. Es ist klar eine aggressive Ausweitung der NATO und westlichen Einflusssphäre, aber was Russland hier verteidigt ist auch nichts anderes als die eigenen imperialistischen Interessen. Nicht das Leben oder die Rechte der russischen Arbeiter_Innen in der Ukraine wird hier verteidigt, wie Putin es oft für sich in Anspruch nimmt, sondern die Position Russlands auf der Weltkarte und die Möglichkeit für russische Oligarch_Innen (anstelle der westlichen) die Ukraine und andere vorherige Ostblockstaaten auszubeuten.

Anders als es verschiedene stalinistische Gruppen wie die SDAJ oder die DKP behaupten, ist der russische Imperialismus in unseren Augen kein bisschen besser als der deutsche oder der US-amerikanische Imperialismus. Russland unterstützt die Neue Rechte finanziell in Europa und unterdrückt die Linke, LGBTIA oder ethnische Minderheiten im eigenen Land mit massiver Repression. Im Kampf um die Einflusssphären auf der Welt steht der russische Imperialismus neben China, den USA und der EU jedoch am schlechtesten da. Da Russland wirtschaftlich schon lange nicht mehr mithalten kann, probiert es jetzt seinen schwindenden Einfluss militärisch wieder gut zu machen. Das sieht man auch daran, dass es immer aggressiver gegen Proteste in verbündeten Staaten wie Belarus oder zuletzt Kasachstan vorgegangen ist. Für uns heißt gegen den Krieg in der Ukraine zu sein also nicht an der Seite Russlands zu stehen, sondern vor allem die Kriegspläne unser eigenen Regierung zu entlarven und dagegen zu anzukämpfen!

3. Aber was will das deutsche Kapital denn eigentlich?

Das deutsche Kapital und somit auch die bürgerlichen Parteien Deutschlands sind bei der Frage nach dem Umgang mit diesem Konflikt deutlich gespaltener als es zum Beispiel in den USA der Fall ist. Das liegt vorrangig daran, dass deutsche Unternehmen viel in Russland investiert haben und fürchten, dass sie ihre Profite im Falle einer militärischen Konfrontation mit Putin verlieren könnten. Obwohl sich die Ampel-Koalition klar an der Seite der USA und der pro-westlichen ukrainischen Regierung positioniert, haben sie Waffenlieferungen an die Ukraine (obwohl das hier fast alle Zeitungen gefordert haben) klar abgelehnt. Von Wirtschaftssanktionen war zwar die Rede, allerdings sollte die russische Gaspipeline Nordstream2 dabei interessanterweise nicht angetastet werden. Hinzu kommt, dass die Energiepreise gerade steigen und Deutschland zunehmend abhängig wird, von den vergleichsweise günstigen Gasimporten aus Russland. Einige Industriesektoren würden unter einem Wegfallen dieses Erdgases sehr leiden, während sich für andere eine Aufschließung ukrainischer Ressourcen (besonders der großen und fruchtbaren landwirtschaftlichen Flächen) und Arbeitskräfte für den europäischen Markt sehr lohnen würde. So gespalten wie also die deutsche Wirtschaft in der Frage ist, sind es auch die Parteien. Dabei tuen sich die Grünen als ehemalige Friedenspartei ganz klar als offensivste Kriegstreiber hervor.

4. Was können wir also hier tun?

Wir wissen, dass dieser Krieg weder in unserem Interesse steht noch in dem der russischen oder ukrainischen Arbeiter_Innenklasse. Deswegen wäre es falsch sich auf die eine oder andere Seite zu stellen. Es muss unsere Aufgabe als Linke, Arbeiter_Innen und Revolutionär_Innen sein, die Unsinnigkeit der Kriegspropaganda aller Seiten zu entlarven. An Schulen, Unis und Betrieben, und zusammen mit den russischen und ukrainischen Diaspora-Communities müssen wir gegen den Krieg einstehen und gemeinsam Anti-Kriegs-Bündnisse gründen.

Dabei müssen wir auch die SPD und die Linkspartei dazu auffordern, eine Antikriegsposition einzunehmen. Während die SPD schon 1914 vor dem Ersten Weltkrieg gegen Russland zum Krieg aufgerufen hat, hetzt sie heute wieder lieber gegen Russland, anstatt sich gegen die Profitinteressen des deutschen Kapitals zu stellen. Auch die Linkspartei hat ihre Position für einen Austritt Deutschlands aus der NATO immer weiter aufgeweicht und machte zuletzt mit dem Vorschlag auf sich aufmerksam, Merkel solle aus dem Ruhestand zurückkehren und Frieden in der Ukraine stiften (WTF?). An den beiden Parteien kommen wir aber leider nicht vorbei, denn die Gewerkschaften als die größten Organisationen der deutschen Arbeiter_innenklasse sind mit ihnen organisch verbunden. Wenn wir die Gewerkschaften aber auf unserer Seite hätten, könnten diese mit politischen Streiks das ganze Land lahmlegen, bis der Krieg vorbei ist. Sie könnten Waffenlieferungen verhindern und ihre Verbindung mit US-amerikanischen, ukrainischen und russischen Gewerkschaften nutzen, um den Krieg in der Ukraine gegen einen Krieg gegen das Kapital umzuwandeln. Die Arbeiter_innen düfen die Waffen nicht aufeinander richten, sondern müssen sich zusammenschließen, um gemeinsam die Herrschaft von Krieg und Kapital zu beenden. Denn wie es Karl Liebknecht schon während des ersten Weltkrieges sagte „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“




Solidarität mit den Arbeiter_Innen und Jugendlichen in Kasachstan!

Artikel von der Gruppe Arbeiter_innenmacht zu den Protesten in Kasachstan

Seit Jahresbeginn erschüttern Massenproteste das Land. Sie begannen am Sonntag, den 2. Januar, in Schangaösen inmitten der westlichen Region Mangghystau, das das Zentrum der für die Wirtschaft des Lands entscheidenden Öl- und Gasindustrie bildet. Getragen wurden die Aktionen und die Bewegung von den Beschäftigten (und zehntausenden Arbeitslosen) dieser Industrie.

Bereits am 3. Januar wurde die gesamte Region Mangghystau von einem Generalstreik erfasst, der auch auf die Nachbarregion Atyrau übergriff. Innerhalb weniger Stunden und Tage inspirierten und entfachten sie Massenproteste in anderen städtischen Zentren  wie Almaty (ehemals Werny, danach Alma-Ata), der größten Stadt des Landes, und selbst in der neuen Hauptstadt Nur-Sultan (vormals Astana). Diese nahmen die Form lokaler spontaner Aufstände an.

Unmittelbar entzündet hat sich die Massenbewegung, die sich, ähnlich wie die Arabischen Revolutionen, rasch zu einem beginnenden Volksaufstand entwickelten, an der Erhöhung der Gaspreise zum Jahreswechsel, da deren bis dahin geltende Deckelung aufgehoben wurde. Die Ausgaben für Gas, das von der Mehrheit der Bevölkerung für Autos, Heizung und Kochen verwendet wird, verdoppelten sich praktisch über Nacht.

Die Bewegung entwickelt sich innerhalb kurzer Zeit von Streiks und Protesten gegen die drastischen Erhöhungen der Preise zu einer gegen die autoritäre kapitalistische Regierung. Von Beginn an spielten die Lohnabhängigen der zentralen Industrien eine Schlüsselrolle im Kampf, letztlich das soziale und ökonomische Rückgrat der Bewegung. So berichtet die Sozialistische Bewegung Kasachstans nicht nur sehr detailliert über die Ausweitung der Streikbewegung in einer Erklärung zur Lage im Lande (http://socialismkz.info/?p=26802; englische Übersetzung auf: https://anticapitalistresistance.org/russian-hands-off-kazakhstan/), sondern auch über eine Massenversammlung der ArbeiterInnen, wo erstmals die Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten erhoben wurde:

„In Schangaösen selbst formulierten die ArbeiterInnen auf ihrer unbefristeten Kundgebung neue Forderungen – den Rücktritt des derzeitigen Präsidenten und aller Nasarbajew-Beamten, die Wiederherstellung der Verfassung von 1993 und der damit verbundenen Freiheit, Parteien und Gewerkschaften zu gründen, die Freilassung der politischen Gefangenen und die Beendigung der Unterdrückung. Der Rat der Aksakals wurde als informelles Machtorgan eingerichtet.“ (ebda.)

Zuckerbrot und Peitsche

Die Staatsführung unter dem seit zwei Jahren amtierenden Präsidenten Tokajew reagierte auf die Protestbewegung mit Zuckerbrot und Peitsche, mit Zugeständnissen und brutaler Repression.

Um die Bevölkerung zu beschwichtigen, wurden die Erhöhungen der Gaspreise schon zurückgenommen. Außerdem traten die Regierung und bald danach auch der Vorsitzende des Sicherheitsrates, der ehemalige Präsident Nursultan Nasarbajew zurück. Diese Veränderungen sind jedoch rein kosmetischer Art. Nachdem der Regierungschef Askar Mamin abgedankt hat, werden die Amtsgeschäfte von dessen ehemaligem Stellvertreter  Alichan Smailow weitergeführt. Nasarbajew, der das Land rund 30 Jahre autokratisch regiert hat und weiter Vorsitzender der regierenden Partei Nur Otan (Licht des Vaterlandes) ist, die über eine Dreiviertelmehrheit im Parlament verfügt (76 von 98 Sitzen), trat zwar vom Amt des Vorsitzenden des Sicherheitsrates, einer Art Nebenpräsident, zurück. Diese Funktion übernahm nun jedoch auch sein Nachfolger Tokajew.

Vor allem aber reagierte der Präsident auf die anhaltenden Massenproteste, auf die Besetzung öffentlicher Gebäude und die drohende Entwicklung eines Aufstands zum Sturz der herrschenden Elite auch mit massiver Repression.

Die Proteste in Städten wie Almaty, die von Beginn an viel mehr den Charakter von Emeuten hatten, wurden brutal unterdrückt. Mehrere Dutzend Menschen wurden getötet. Die Regierung selbst spricht davon, dass bis zum 6. Januar 26 „bewaffnete Kriminelle“ liquidiert worden seien. Mehr als 3 000 wurden festgenommen, Tausende verletzt.

Damit gibt das Regime nicht nur selbst zu, dass es über Leichen geht, um seine Macht, seine „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen. Es tut auch, was alle kapitalistischen Regierungen, alle repressiven Regime anstellen, wenn ihre Macht gefährdet ist: Diffamierung der Massenbewegung als „Kriminelle“, „TerroristInnen“ und legitimiert damit die Verhängung des Ausnahmestandes (vorerst bis 19. Januar), den Einsatz von Schusswaffen gegen Protestierende, die Abschaltung von Messengerdiensten wie Signal und WhatsApp und von Internetseiten. Die sog. Antiterroreinsätze sollen laut Präsident Tokajew bis zur „kompletten Auslöschung der Kämpfer“ dauern. Um diese Operation auch mit aller Brutalität durchziehen zu können, ruft er die große imperialistische Schutzmacht Russland zu Hilfe. Und die kommt prompt mit 3000 SoldatInnen, die im Rahmen der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS) helfen sollen, die „verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherzustellen. Sie sollen Regierungsgebäude und kritische Infrastruktur schützen und haben auch das Recht, ihre Schusswaffen einzusetzen.

Ursachen der politischen Krise

Angesichts dieser Zusammenballung der Kräfte des Regimes, seines Staatsapparates und seiner Verbündeten droht eine brutale Unterdrückung der Massenbewegung. Dies wäre nicht das erste Mal in der Geschichte des Landes. Über Jahrzehnte regierte Nasarbajew mit eiserner Hand. Die politische Macht wurde faktisch bei einer kleinen Oligarchie konzentriert, die das Wirtschaftsleben des Landes kontrolliert, darunter die reichen Öl- und Gasfelder, große strategische, wichtige weitere Rohstoffvorkommen wie auch den Finanzsektor.

Seine Macht stützt das Regime auf die Kontrolle des Staatsapparates, die Staatspartei Nur Otan, die faktische Ausschaltung unabhängiger Medien und jeder nennenswerten Opposition. Selbst die sog. Kommunistische Partei wurde 2015 gerichtlich verboten.

Neben der Repression stützte sich die kasachische Pseudodemokratie aber auch jahrelang auf ein Wachstum der Wirtschaft. Der Öl- und Gasexport bildet bis heute ihr Rückgrat. Hinzu gesellt sich der Bergbau. Kasachstan ist mittlerweile der größte Uranproduzent der Welt und verfügt über weitere wichtige Rohstoffvorkommen (Mangan, Eisen, Chrom und Kohle).

Über Jahre expandierte die kasachische Ökonomie und galt als wenn auch autoritäres Wirtschaftswunderland unter den ehemaligen Sowjetrepubliken, was nicht nur den Ausbau wirtschaftlicher, politischer und militärischer Beziehungen zu Russland und China zur Folge hatte, sondern auch große westliche InvestorInnen gerade in der Öl- und Gasindustrie anzog (z. B. Exxon, ENI). Letztlich stellt das Land jedoch einen wichtigen halbkolonialen Verbündeten Russlands dar, das keinesfalls einen Sturz dieses Regimes zulassen kann.

Doch die globale Finanzkrise traf das Land schon recht hart, weil Kasachstan auch ein im Vergleich zu anderen halbkolonialen Ländern gewichtiges Finanzzentrum in Almaty hervorbrachte. 2014/15 machten sich jedoch vor allem die sinkenden Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt bemerkbar. Die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts brachen ein. Das Land macht im Grunde eine Phase der wirtschaftlichen Stagnation seit Mitte der 2010er Jahre durch, während der Pandemie und Krise schrumpfte das BIP.

Wie in vielen Ländern, deren Staatseinnahmen wesentlich aus Rohstoffexporten und der Grundrente stammen, ging die Entwicklung des kasachischen Kapitalismus mit einer extremen Form der sozialen Ungleichheit einher. Die aus der ehemaligen Staatsbürokratie stammende, neue Schicht von KapitalistInnen monopolisierte faktisch den Reichtum des Landes. Jahrelang ging diese Bereicherung jedoch auch mit Investitionen in andere Sektoren (z. B. Ausbau der Infrastruktur, von Verkehrswegen) einher und einer Alimentierung der Massen, deren Lebenshaltungskosten z. B. über die Deckelung der Gaspreise relativ gering gehalten wurden.

Doch seit Jahren wird dies für den kasachischen Kapitalismus immer schwieriger aufrechtzuerhalten. Die Herrschenden wollen keinen Cent an die Armen abgeben. Im Gegenteil, sie drängen im Chor mit westlichen WirtschaftsexpertInnen darauf, deren „Privilegien“ (!) zu streichen und die Wirtschaft weiter zu liberalisieren. Dafür versprechen sie Investitionen in der Öl- und Gasindustrie oder im Bergbau, um veraltete Anlagen zu erneuern oder neue Abbaustätten zu erschließen.

Besonders drastisch stellt sich daher die soziale Ungleichheit im Land gerade dort dar, wo der Reichtum geschaffen, produziert wird. Während sich die ChefInnen der kasachischen Energie- und Bergbauunternehmen und die Staatsführung regelrechte Paläste bauen lassen, schuften die Beschäftigten auf den Öl- und Gasfeldern – und das oft unter lebensgefährlichen Bedingungen. Viele warten oft monatelang auf ihre Löhne, zehntausende ArbeiterInnen in der Öl- und Gasindustrie sind mittlerweile arbeitslos.

Dass die Bewegung in den Regionen Westkasachstans ihren Ausgang in Form einer gigantischen Streikwelle nahm, ist kein Zufall. Schon 2011 kam es zu einer riesigen Streikwelle der ÖlarbeiterInnen, die blutig niedergeschlagen wurde. Dabei kamen Menschenrechtsorganisationen zufolge 70 Streikende ums Leben, 500 wurden zum Teil schwer verletzt. Doch trotz dieser extremen Repression hielten sich unabhängige, illegale oder halblegale Strukturen der ArbeiterInnenklasse in diesen Regionen. Aufgrund drohender Entlassungen, der Nichtauszahlung von Löhnen nahmen auch in den letzten Monaten des Jahres 2021 Streiks und Arbeitskämpfe in der Öl- und Gasindustrie zu.

Daraus erklären sich auch die Unterschiede zwischen der Bewegung in den industriellen Zentren in Westkasachstan, die von den Lohnabhängigen getragen werden und die sich des Streiks – und damit kollektiven Aktionen der ArbeiterInnenklasse – als Hauptkampfmittel bedienen, und an anderen Orten. Von größter Bedeutung ist jedoch, dass deren Forderungen mittlerweile längst über betriebliche und gewerkschaftliche Fragen hinausgegangen sind und auch einen politischen Charakter – Rücktritt des Präsidenten, Freilassung der politischen Gefangenen – angenommen haben.

Zum Teil schwappen diese auch in andere Regionen über. In anderen städtischen Zentren entwickelte sich die Bewegung viel stärker als eine Art Straßenaufstand, als Aufruhr  verarmter Schichten, von Jugendlichen, aber auch Lohnabhängigen, die aus ländlichen Regionen in die Zentren migrierten. Diese Wut und Empörung nimmt gerade, weil diese Schichten weniger organisiert sind, auch einen politisch unklareren, diffusen Charakter an. Dennoch ist diese Bewegung auch ein genuiner Ausdruck der Massenempörung gegen ein despotisches, autoritäres kapitalistisches Regime. Dass solche Emeuten auch mit Formen des Vanadalismus einhergehen, dass sich auch deklassierte, unpolitische Elemente oder gar staatliche ProvokateurInnen „anschließen“, ist nichts Ungewöhnliches für solche scheinbar spontanen, in Wirklichkeit jedoch sich schon lange vorbereitenden Eruptionen des Volkszorns. Entscheidend ist hier, ob diese Wut zu einer organisierten Kraft werden kann – und das hängt vor allem davon ab, ob die ArbeiterInnenklasse, allen voran die Öl- und GasarbeiterInnen, dieser eine politische Führung geben können.

Blutige Abrechnung droht

Die wirklichen „Kriminellen“ sind jedoch nicht auf den Straßen von Nur-Sultan oder anderen städtischen Zentren zu finden, sondern in Palästen der Reichen und BürokratInnen, in den Generalstäben der Armee und Repressionskräften, die eine blutige Abrechnung mit den Aufständischen und vor allem auch mit den streikenden und kämpfenden ArbeiterInnen vorbereiten.

Leute wie Nasarbajew und Tokajew haben sich längst entschieden, wie sie die Krise zu lösen gedenken. Der Präsident spricht von 20.000 „Banditen“, die auszumerzen gelte, Armee und Polizei wurde der Schießbefehl erteilt. Die Herrschenden wollen die Bewegung in Blut ertränken – und zwar nicht nur den Aufruhr in den Städten, sondern auch, ja vor allem die Streiks und Strukturen der ArbeiterInnenklasse in den Industrieregionen. Schließlich wissen sie nur zu gut, dass sich hier eine soziale Kraft, eine Klassenbewegung formiert, die ihnen wirklich gefährlich werden kann.

Die ArbeiterInnen der großen Industrieregionen und andere Schichten der Lohnabhängigen (z. B. TransportarbeiterInnen) können das Land lahmlegen. Sie können so auch die Repressionsmaschinerie zum Stoppen bringen – und möglicherweise auch untere Teile des Repressionsapparates, einfache SoldatInnen zum Wechsel der Seiten verlassen oder paralysieren. Auch diese Gefahr drängt das Regime zum Handeln und erklärt auch, warum es russische Truppen angefordert hat, deren bloße Anwesenheit auch die Disziplin potentiell „unsicherer“ kasachischer Repressionskräfte, von PolizistInnen oder SoldatInnen, sicherstellen soll.

Daher werden die nächsten Tage auch für die Bewegung von größter Bedeutung sein. Um die Repressionsmaschinerie zu stoppen, braucht es einen landesweiten Generalstreik. Dazu müssen wie in den Regionen der Öl- und Gasindustrie Vollversammlungen der Beschäftigten, aber auch in den Wohnvierteln organisiert und ArbeiterInnenkomitees gewählt werden, die den Kampf organisieren und zu einem Aktionsrat auf kommunaler, regionaler und landesweiter Ebene verbunden werden.

Angesichts der Repression müssen sie Selbstverteidigungsstrukturen bilden, die diesen Räten untergeordnet und in der Lage sind, die bisher unorganisierten Emeuten in Städten wie Nur-Sultan durch organisierte, in den Betrieben und Wohnvierteln verankerte Strukturen zu lenken.

Zugleich braucht es unter den einfachen SoldatInnen, den unteren Rängen der Polizei eine Agitation, sich dem Einsatz gegen die Bevölkerung zu verweigern, eigene Ausschüsse zu wählen und dem mörderischen Regime die Gefolgschaft aufzukünden. Die kasachischen und russischen Repressionskräfte müssen aus den Städten und ArbeiterInnenbezirken zurückgezogen werden. Die OVKS-Truppen sollen das Land verlassen, die Gefangenen der letzten Tage müssen auf freien Fuß gesetzt werden.

Ein solcher Generalstreik und eine Bewegung, die ihn stützt, würde zugleich unwillkürlich die Machtfrage in Kasachstan aufwerfen.

Das bedeutet auch, dass die Streik- und Massenbewegung und deren Koordinierungsorgane selbst zu einem alternativen Machtzentrum werden müssen, das das oligarchische Regime stürzen und durch eine ArbeiterInnenregierung ersetzen kann – eine Regierung, die nicht nur die despotische Pseudodemokratie abschafft, sondern auch die kapitalistische Klasse enteignet, in deren Interesse dieses Regime regiert. Dazu bedarf es der Enteignung der großen Industrie, der Öl- und Gasfelder, der Bergwerke, der Finanzinstitutionen unter ArbeiterInnenkontrolle und der Errichtung eines demokratischen Notplans zur Reorganisation der Wirtschaft und zur Sicherung der Grundbedürfnisse der Massen.

Nein zu jeder imperialistischen Einmischung! Internationale Solidarität jetzt!

Die Massenbewegung rückte Kasachstan auch ins Zentrum einer Weltöffentlichkeit, die die Verbrechen des Regimes Nasarbajew und seines Nachfolgers Tokajew über Jahrzehnte faktisch totgeschwiegen hatte. Was bedeutet schon die Unterdrückung und Ermordung von Streikenden, wenn dafür Profite reichlich in die Taschen, kasachischer, russischer, chinesischer, aber auch US-amerikanischer, italienischer, deutscher und britischer Konzerne fließen?

Das kasachische Regime mag demokratische Rechte verletzt, JournalistInnen und die Opposition unterdrückt haben – das wichtigste „Menschen“recht, das auf freien Handel und Wirtschafts„reformen“ brachte das Regime sehr zum Wohlgefallen aller ausländischen Mächte voran.

Natürlich war und ist Kasachstan vor allem eine Halbkolonie Russlands – zumal eine, die über Jahrzehnte nicht nur politisch eng verbunden war, sondern von deren Markt und Ressourcen der wirtschaftlich schwache russische Imperialismus sogar ökonomisch profitieren konnte. Hinzu kommen die Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der OVKS und die Bedeutung Baikonurs (in Südkasachstan) für die russische Raumfahrt. Darüber hinaus macht die geostrategische Lage des Landes es zu einem wichtigen Schild Russlands vor einer weiteren Destabilisierung in Zentralasien. Kein Wunder also, dass dieses voll in den Chor der „Terrorbekämpfung“ einstimmt und seinem Verbündeten beispringt.

Ironischerweise verfolgten und verfolgen aber nicht nur China, sondern auch die meisten westlichen imperialistischen Länder ein Interesse an der Stabilität Kasachstans – sei es zur Sicherung ihrer ökonomischen Interessen, ihrer Investitionen, aber auch zur Stabilisierung des Landes gegen „islamistischen Terror“. Der ehemalige britischer Regierungschef Blair fungierte gar über Jahre als Berater Nasarbajews im Umgang mit westlichen Medien, insbesondere für den Fall von Aufstandsbekämpfung. Außerdem kooperierte Kasachstan jahrelang bei der US/NATO-Besatzung Afghanistans.

Daher fallen die westlichen Stellungnahmen zur Lage in Kasachstan bisher vergleichsweise verhalten aus. So erklärte der US-Außenminister Antony Blinken in einem Gespräch mit dem kasachischen Amtskollegen Mukhtar Tleuberdi „die volle Unterstützung der Vereinigten Staaten für die verfassungsmäßigen Institutionen Kasachstans und die Medienfreiheit“. Aus der EU kommt wie oft der unverbindliche Aufruf zur „Mäßigung“ auf allen Seiten. Klarer ist hier schon der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft und dessen Vorsitzender Oliver Hermes, der gegenüber der Presse erklärte: „Eine schnelle Beruhigung der Lage ist unabdingbar, um weiteres Blutvergießen, eine Destabilisierung des Landes und damit auch eine Beschädigung des Wirtschafts- und Investitionsstandorts Kasachstan abzuwenden.“ (https://www.fr.de/politik/kasachstan-unruhen-tote-demonstration-gas-preise-proteste-flughafen-putin-russland-news-aktuell-zr-91219297.html) Über deutsche Waffenexporte im Wert von rund 60 Millionen, die im letzten Jahrzehnt an das Regime geliefert wurden und jetzt auch gegen die Massen eingesetzt werden, hüllen sich die Regierung und UnternehmerInnen in Schweigen.

Die relative Zurückhaltung des Westens lässt sich freilich nicht nur ökonomisch erklären. Sicherlich spielt dabei auch ein geostrategisches Tauschkalkül eine Rolle. Russland kann in Kasachstan die blutige Niederschlagung der Aufständischen unterstützen (und damit auch westliche InvestorInnen absichern). Zugleich verlangt man dafür ein „Entgegenkommen“ in der Ukraine oder wenigstens Stillschweigen zu deren weiterer Aufrüstung und Zurückhaltung bei einem möglichen NATO-unterstützten Angriffe der Ukraine auf die Donbass-Republiken.

Umso dringender ist es, dass die internationale ArbeiterInnenklasse und die Linke ihre Solidarität mit der Massenbewegung in Kasachstan auf die Straße tragen.

  • Nein zur Niederschlagung gegen die Massenbewegung! Sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes und aller Einschränkungen demokratischer Rechte! Freilassung aller politischen Gefangenen!
  • Nein zur russischen Intervention! Sofortiger Abzug aller OVKS-Truppen! Stopp aller Waffenliegerungen!
  • Internationale Solidarität mit der ArbeiterInnenklasse und Protestbewegung!



Wie die EU die Evakuierung afghanischer Geflüchteter sabotiert

von Florian Hiller

Was ist in Afghanistan passiert?

Nach 20 Jahren Besatzung durch die USA und ihre Verbündeten zogen am 29. Juni die letzten Kommandos der Bundeswehr aus Afghanistan ab. Nur einige Wochen später, am 16.08.21, verkündete die afghanische Regierung die endgültige Kapitulation und die „friedliche Machtübergabe“ an die islamistischen Taliban. Die erneute Machtübernahme durch die Taliban, die bereits von 1996 bis 2001 Afghanistan kontrollierten, bedeutet für viele Menschen grausame Zustände. Auch wenn die Taliban-Regierung sich zunächst friedlich gibt, ist zu befürchten, dass Zustände aus den 90er Jahren zurückkehren. Damals wurden Menschen gefoltert, Frauen grundsätzlich unter Hausarrest gestellt und Schulen für Mädchen geschlossen. Deshalb haben vor allem Frauen ein großes Interesse daran, das Land zu verlassen. Besonders gefährdet sind aber auch die Menschen, die während der Besatzung durch die USA und ihren Verbündeten für diese gearbeitet haben, wie zum Beispiel die Ortskräfte, die für die Bundeswehr arbeiteten.
Außerdem sind Menschenrechtsaktivist_Innen, Journalist_Innen, Frauenrechtler_Innen und viele weitere in Gefahr, die den Taliban gegenüber stehen.

Was hat die Bundesregierung für diese Menschen getan?

Am 26.8. endete der deutsche Evakuierungseinsatz am Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul. Laut Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer seien 5400 Menschen ausgeflogen worden. Darunter waren 231 Ortskräfte, was ziemlich wenig ist, wenn man bedenkt, dass laut Bundesregierung etwa 2500 Afghan_Innen für Deutschland gearbeitet haben. Natürlich gibt es auch Menschen, die trotz der Gefahr ihre Heimat nicht verlassen wollen. Aber trotzdem lässt sich sagen, dass diese „Evakuierung“ doch eher den eigenen Kräften diente und nicht wirklich der afghanischen Bevölkerung half. Eine weitere Maßnahme, die Außenminister Heiko Maas als super Aktion verkaufte, ist die Unterstützung der Nachbarländer durch Hilfszahlungen. Problematisch ist dabei vor allem die Rolle Pakistans. Die islamische Republik steht unter dem Verdacht, selbst die Taliban zu unterstützen. Die Nationale Widerstandsfront (NRF), bestehend aus afghanischen Pandschir-Kämpfer_Innen, wirft dem pakistanischen Militärgeheimdienst ISI vor, die Taliban dabei unterstützt zu haben, den letzten Bereich der noch Widerstand leistete, das Pandschir-Tal, zu erobern. Auch in der afghanischen Bevölkerung gibt es immer wieder Proteste gegen die Einmischung Pakistans, so auch nach der Eroberung des Pandschir-Tals, als Hunderte in Kabul auf die Straße gingen.
Würdelos, aber nicht überraschend, war die Reaktion von Armin Laschet. Während Menschen bei dem Versuch auf Flugzeuge zu springen, sterben, um irgendwie Afghanistan zu verlassen, fällt ihm nichts Besseres ein, als Deutschland zu versichern, „2015 darf sich nicht wiederholen“.

Und wie sieht es in der restlichen EU aus?

Auf jeden Fall nicht besser. Wieder einmal geht das Geschacher um die Geflüchteten los. Anstatt gemeinsam Menschen in Not zu helfen, wird sich abgeschottet oder die Situation nur für eigene politische Zwecke genutzt.
Nachdem eine größere Anzahl von Geflüchteten aus dem Irak und Afghanistan die polnische Grenze erreichte, rief Polens Präsident Andrzej Duda den Notstand an der Grenze aus. Daraufhin wurde Stacheldraht aufgebaut, Soldat_Innen positioniert und Hilfsorganisationen der Zutritt verweigert. Das führte unter anderem dazu, dass 32 afghanische Geflüchtete wochenlang in einem Wald im Grenzgebiet festsaßen. Vor sich polnische, hinter sich belarussische Soldat_Innen. In Österreich hat sich Kanzler Kurz sofort mit den Worten: „Das wird es unter meiner Kanzlerschaft nicht geben“ gegen jegliche Aufnahme von Geflüchteten ausgesprochen.
Hoffnung macht da nur die Reaktion breiter Teile der Gesellschaft. Umfragen belegen die große Bereitschaft der Bevölkerung in Deutschland, Geflüchtete aus Afghanistan aufzunehmen. Nach dem Meinungsforschungsinstitut „YouGov“ spricht sich eine Mehrheit von 63 Prozent dafür aus.
Außerdem kam es in den Wochen nach der Machtübernahme der Taliban weltweit zu Solidaritätskundgebungen, die die Aufnahme von Afghan_Innen forderten. In Berlin kamen am 28. August ca. 2500 Menschen zusammen.
Auch wir von REVOLUTION beteiligten uns bundesweit an den Aktionen und werfen dabei folgende Forderungen auf:

  • Sofortige und unbürokratische Evakuierung und Aufnahme all jener Menschen, die das Land verlassen wollen/müssen!
  • Offene Grenzen und volle Staatsbürger_Innenrechte für alle!
  • Nein zu Krieg und Besatzung, Stopp aller Waffenexporte!
  • Hoch die internationale Solidarität – Für den Aufbau einer internationalistischen Bewegung gegen Krieg, Besatzung und Fundamentalismus – für ein sozialistisches Afghanistan als Teil einer sozialistischen Räteföderation Nahost!



Kleine Geschichtsstunde: Die sozialistische Vergangenheit Afghanistans

von Romina Summ

Um die momentane Situation in Afghanistan einzuordnen, ist es wichtig, die Geschichte zu kennen. Nach der Koloni­alzeit unter britischer Vorherrschaft erlangte Afghanistan 1919 seine Unabhängigkeit. In den 1930er Jahren wurden nach und nach demokratische Rechte im damaligen kons­titutionellen Königreich eingeführt, wie Wahlrecht, Frau­enwahlrecht und Pressefreiheit. Dennoch war das Land von einer starken Bürokratie und Korruption geprägt und industriell völlig unterentwickelt. So gab es zum Beispiel eine Analphabetenrate von 90 Prozent. Erst 1973 wurde durch einen Putsch unter Daoud Khan die Republik Afgha­nistan ausgerufen, die bis 1978 bestand. Seine Ziele waren die Modernisierung und Alphabetisierung des Landes. Unter ihm gab es ein Einparteiensystem unter der Nationa­len Revolutionären Partei, der Einfluss der Sowjetunion auf das Land wurde ausgeweitet und die Monarchie wurde voll­ständig zurückgedrängt. Trotzdem blieb das System sehr bürokratisch und vollkommen kapitalistisch. Vieles, was Daoud sich vorgenommen hatte, wurde nicht erreicht und die Sicherung seines Regimes musste mit Gewalt durchge­setzt werden. Das Regime hat jeden Widerstand brutal nie­dergeschlagen. Getragen wurde Daouds Regime vor allem von den Offizieren im Militär, die von nationalistischen Ideen inspiriert waren. Die Kommunist_Innen waren damit höchst unzufrieden und organisierten den Widerstand. Am 1. Januar 1965 wurde die Demokratische Volkspartei Afghanistans gegründet, die erste kommunistische Partei Afghanistans. Die Partei wurde 1966 verboten und spaltete sich 1967 in zwei, sich oft feindlich gegenüberstehende Flü­gel. Diese hießen Khalq- und Parcham-Fraktion und hat­ten jeweils eigene Generalsekretäre und Politbüros. Diese waren sich uneinig, wie man die Macht erringen und den Staat aufbauen sollte: Khalq war für eine klassisch stalinis­tische Revolution von oben durch eine Kaderpartei und Par­cham für eine Revolution durch Volksfront aus patriotischen und antiimperialistischen Kräften. Schließlich wandten sie sich jedoch zusammen gegen das Regime. Am 28. April 1978 gelangte die DVPA durch die Saurrevolution an die Macht und rief die Demokratische Volksrepublik Afghanistan aus.

Daraufhin wurde die Demokratische Republik Afghanis­tan ausgerufen. Die stalinistische Bürokratie der Sowjet­union war über den Machtwechsel geteilter Meinung, da sie auch zum vorherigen Regime eine gute Beziehung pflegte. So unterstütze die Sowjetunion das neue Regime zunächst kritisch, was sich aber schnell normalisierte. Auch nach der Revolution hatte die Sowjetunion die wirtschaftliche und militärische Kontrolle, während die politische Kontrolle in Händen der DVPA lag. Aufgrund ihrer guten Beziehungen zur Sowjetunion und in die Armee hatten die Khalq, mit deren führenden Kopf Taraki an der Spitze, die absolute Vor­herrschaft in Partei und Staat.

Während dieser Zeit gab es zahlreiche soziale Refor­men: Agrarreform, Verbot von Zwangsehen, Religions­freiheit, Bekämpfung Analphabetismus, Recht auf Bildung für Frauen, Schulpflicht, Überwachung und Kontrolle der Moscheen, Industrialisierung, Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens. Ihr beabsichtigtes Ziel war es, das Land in kürzester Zeit zum Sozialismus zu bringen, zu mindestens sagten sie das. Dennoch fanden keine Enteignungen und keine Bildung von Arbeiter_Innen und Bäuer_Innenräten statt. Es waren im Grunde nur sehr linke bürgerliche Sozi­alreformen. Trotz fortschrittlichen Charakters fanden viele Reformen gerade bei der ländlichen Bevölkerung wenig Akzeptanz, was auf die fehlende Verankerung des Regimes im ländlichen Raum zurückzuführen ist. Dort wuchs der Widerstand unter den islamistischen Widerstandskämp­fern, den Mudschaheddin. Die Sowjetunion bot der Regie­rung dagegen bereits militärische Hilfe an, doch dazu kam es nicht, weil Tarakis Stellvertreter Amin an die Macht kam, und Taraki selbst ermorden ließ. Amin stellte sich gegen die gesamte Partei und nachdem sich Amin nun auch der USA zuwandt, ließ die Sowjetunion ihn ermorden und ersetzte ihn durch einen Anführer der Parcham. Die Khalq-domi­nierte Armee erkannte die neue Regierung nicht an und es kam zu Desertionen und Zusammenarbeiten zwischen Khal­qisten und den Mudschaheddin.

Welche Rolle spielte der Westen?

Aufgrund des Einflusses der Sow­jetunion auf Afghanistan hat der US-Auslandsgeheimdienst CIA mit dem pakistanischen Geheimdienst die Mud­schaheddin finanziell massiv unterstützt in der Hoffnung, dass diese das Land destabilisieren. Tatsächlich erhoben sie bald den Machtanspruch und 1979, nur ein Jahr nach der Ausrufung der Republik, marschierte die Sowjetunion ein. Die USA wollte die Hilfe für die Mudschaheddin mit allen ver­fügbaren Mitteln erweitern, zunächst unter dem demokra­tischen Präsidenten Carter und ab 1981 noch stärker unter dem Republikaner Reagan. Dazu gehörten die Finanzierung, Bewaffnung und die Ausbildung der Widerstandskämpfer.

Auch andere westliche Länder wie Großbritannien unter Thatcher fuhren Kurs gegen die Sowjetunion und beteilig­ten sich an verschiedenen Programmen. Viele westliche Staaten beteiligten sich in Form von medizinischer Hilfe an US-Programmen. Der blutige Krieg hielt bis 1989 an, kostete eine Millionen Afghan_Innen das Leben, trieb unzählige in die Flucht und mündete mit dem Rückzug der sowjetischen Armee in einem Bürger_Innenkrieg, in dem die islamisti­schen Kräfte die Oberhand gewinnen und die neue Regie­rung bilden. Vor der Unterstützung durch den Westen hat der Islamismus kaum eine Rolle in Afghanistan gespielt, 2001 kam der Einmarsch durch die NATO-Staaten wegen der islamistischen Regierung der Taliban. Also unterstützten sie die, die sie heute bekämpfen und die Afghan_Innen kennen seit über 40 Jahren nichts als Krieg.

Was können wir aus der Vergangenheit Afghanistanslernen?

Die afghanische Vergangen­heit zeigt uns, dass Interventio­nen und Unterstützung anderer Gruppen durch imperialistische Mächte nicht im Interesse der dortigen Bevölkerung und gar der „Demokratie“ geschehen. Sie verteidigen immer bloß ihr eigenes Interesse und das mit allen Mitteln, selbst wenn es bedeutet, dass man sich mit reaktionären Kräften gegen den gemeinsamen Feind verbündet. Das hat sich nicht nur in Afghanistan bei der Unterstützung der Mudschaheddin gezeigt, sondern auch zum Bespiel beim Abschlachten von Vietnames_Innen im Vietnamkrieg.

Wir dürfen daher als Kommunist_Innen den imperialistischen Staaten nicht vertrauen und dürfen nicht darauf hoffen, dass sie Verantwor­tung für ihr Handeln tragen werden. Nur eine proletarische, trotzkistische Arbeiter_innenbe­wegung ist in der Lage die unterdrückten Massen in den Halbkolonien aus den Fesseln der Imperia­list_Innen zu befreien.




Afghanistan: ein Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende?

5 Fragen und 5 Antworten

  1. Afghanistan, Was ist da los?,
  2. Wie ist die Situation von Jugendlichen vor Ort?
  3. War es ein Fehler die Bundeswehr abzuziehen?
  4. Was bedeutet die Herrschaft der Taliban und sollten wir sie gegen den Imperialismus unterstützen?
  5. Was können wir hier vor Ort tun?

1.: Afghanistan, was ist da los?

Nach 20 Jahren Besatzung durch die NATO-Militärkoalition ist nach deren Abzug aus Afghanistan innerhalb von nicht einmal zwei Monaten beinahe das gesamte Staatsgebiet wieder in die Hände der radikalislamischen Taliban gefallen. Die Taliban überfielen unmittelbar nach dem Abzug der NATO-Besatzungstruppen zunächst die Provinzhauptstädte und umzingelten schließlich die Hauptstadt Kabul, welche nahezu kampflos erobert werden konnte. Am 16.08. kapitulierte die von der NATO eingesetzte Marionettenregierung Afghanistans unter dem Präsidenten Ghani schließlich (der Hals über Kopf mit einem Heli voller Bargeld das Land verließ). Dies bedeutete faktisch die Machtübernahme durch die ursprünglich aus den Mudschahedin („Gotteskrieger“, welche btw von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan erst hochgerüstet und finanziert wurden) hervorgegangenen Taliban. Der Abzug der letzten verbliebenen Soldat_Innen der NATO-Mitgliedsstaaten und der klägliche Versuch der Evakuierung der Ortskräfte, also jener Afghan_Innen, welche für die Besatzungstruppen arbeiteten, stellte den Höhepunkt der Niederlage der USA und seiner Verbündeten im Afghanistankrieg dar. Allgemein gab es keinen nennenswerten Widerstand gegen den Vormarsch der Taliban und zur Verteidigung der afghanischen Regierung. Obwohl die Regierungstruppen während der 20 Jahre Besatzung gut ausgerüstet und ausgebildet worden sind und offiziell 300 000 Mann umfassten, während die Taliban gerade mal über schätzungsweise

70 000 Millizionäre verfügten, konnten Letztere bei Ihrem Vormarsch nicht einmal annähernd durch die Regierungsarmee aufgehalten werden. Der Grund hierfür liegt nicht darin, dass die Taliban angeblich über einen hohen Rückhalt in der Bevölkerung verfügten. Viel mehr sind die Korruption des Präsidenten Ghani und seiner Marionettenregierung, die zunehmend ausgebliebene Auszahlung des Solds an die afghanischen Soldat_Innen nach dem Abzug der NATO-Truppen, die Demoralisierung des afghanischen Militärs durch den Abzug der Besatzungsarmeen sowie nicht zuletzt die grundlegend schlechte Versorgungslage für die breite Bevölkerung als Gründe für den ausbleibenden Widerstand gegen die Taliban zu nennen. Nicht zuletzt sind während der Besatzung rund 250 000 AfghanInnen gestorben – hiervon rund 70 000 Angehörige der Sicherheitskräfte, 100 000 wirkliche oder vermeintliche Taliban und über 70 000 ZivilistInnen. Sieben der insgesamt rund 38 Millionen Afghan_Innen wurden zu Flüchtlingen, hiervon rund vier Millionen im eigenen Land. Die anderen drei Millionen flohen nach Pakistan, Iran oder weiter westwärts.

Es steht jetzt schon zweifellos fest, dass die nun angebrochene, erneute Herrschaft der Taliban, welche letztlich das Ergebnis von 20 Jahren erfolgloser Besatzung durch die westlichen imperialistischen Staaten darstellt, für den absoluten Großteil der Bevölkerung nur Verschlechterungen, aber keine Verbesserungen zu bieten hat. Die Rücknahme demokratischer Rechte sowie auch die zunehmende Unterdrückung von Frauen und LGBTIAQs zeigte sich bereits in der „Empfehlung“ vonseiten der Taliban-Administration an Frauen, aufgrund der Sicherheitslage zuhause zu bleiben wie auch in der brutalen Niederschlagung der spontanen Frauendemonstrationen gegen die Herrschaft der Taliban. [1]

2.: Wie ist die Situation von Jugendlichen vor Ort?

Auch und insbesondere für die Jugend in Afghanistan sieht die aktuelle Lage nicht viel besser aus. Während sie ebenfalls von der Einschränkung demokratischer Rechte betroffen ist und die Hälfte von ihnen, nämlich die Frauen, voraussichtlich zunehmend aus den Bildungseinrichtungen verdrängt wird, ist die Jugendarbeitslosigkeit mit offiziell 17% nach wie vor verhältnismäßig hoch [2]. Es ist damit zu rechnen, dass diese in Zukunft weiter ansteigen wird, da die afghanische Wirtschaft zum Großteil an Kapital- und Warenströme aus und in die Besatzerstaaten gekoppelt war. Vor allem aber wird die Unterdrückung der Jugendlichen, die Entmündigung und Ankettung an die Eltern (oder vielmehr den Vater), sich unter den Taliban weiter verschärfen. Besuch von Discos, Videospiele oder „westliche“ Musik? Fehlanzeige. Die Pädagogik, Möglichkeit zur Entfaltung der Persönlichkeit, das Kulturangebot uvm. werden unter der Herrschaft der feudalen Talibanbande ihrer rückwärtsgewandten Gesellschaftsvorstellung untergeordnet werden. Die bis dahin zumindest in den Großstädten gängige Lebensweise, Arbeitsmöglichkeiten auch für Frauen, Menschenrechte, das Versammlungsrecht und die Meinungsfreiheit gehören mit der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan der Vergangenheit an.

3.: War der Abzug der Bundeswehr ein Fehler?

Vor diesem Hintergrund könnte man schnell zu dem Schluss kommen, dass der Abzug der Bundeswehr und der NATO-Truppen aus Afghanistan ein Fehler war. Dieser Schein trügt jedoch, da er ausblendet, dass erst die Besatzung Afghanistans durch die Bundeswehr und ihrer Verbündeten ein verwüstetes Land und zigtausende zivile Opfer hinterlassen hat. Die politischen Verhältnisse in Afghanistan sind nicht zu verstehen, ohne die nicht enden wollende Kette der Einmischung anderer Staaten zu betrachten. Angefangen bei der kolonialen Ausbeutung, über die sowjetische Besatzung und der Finanzierung der Mudschahedin durch die USA, bis hin zur NATO-Invasion. Rund 80% der Bevölkerung gelten heute als arbeitslos oder unterbeschäftigt, 60% der Kinder leiden schon jetzt an Hunger und Unterernährung [3]. Der von der NATO-Militärkoalition geführte Krieg gegen Afghanistan war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Ziel war mitnichten die vorgegebene Demokratisierung und der Export von Menschenrechten, sondern hatte vielmehr die Verfolgung geostrategischer und ökonomischer Interessen zum Ziel. Wie schon im Kolonialismus tarnen die Besatzer ihre ökonomischen und militärischen Interessen unter dem Deckmantel des Kampfes für „Menschenrechte“ und „zivilisatorische Werte“. Die Form der Führung dieses ungleichen Krieges und der überstürzte Abzug, die bloße Ausplünderung des Landes und Verwüstung dessen, das Zurücklassen der Ortskräfte uvm. zeigen mehr als deutlich auf, dass Interventionen des imperialistischen Westens keine Lösung, sondern viel mehr die Ursache des Problems sind. Die Befreiung vom Joch der Unterdrückung können nur die unterdrückten Klassen Afghanistans selbst bewerkstelligen, in Kooperation und internationaler Solidarität mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten weltweit. Darüber reden wir in der fünften Frage noch genauer. Schon jetzt ist aber klar, dass wir auch weiterhin fest gegen alle imperialistischen Auslandseinsätze und Waffenexporte stehen!

  1. Was bedeutet die Herrschaft der Taliban? Sollten wir sie gegen den Imperialismus unterstützen?

Den Taliban schwebt die Errichtung eines theokratischen Gottesstaates, eines afghanischen Kalifats vor. Die Herrschaft der Taliban bedeutet in erster Linie eine Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für die breiten Massen, die Einschränkung demokratischer Rechte, Rücknahme von Frauenrechten, die Verbannung von Frauen aus der Öffentlichkeit und Verdrängung in die Reproduktionssphäre, die verschärfte Unterdrückung von Frauen, LGBTQIA+-Menschen, Jugendlichen und nationaler Minderheiten. Mädchenschulen werden voraussichtlich dichtgemacht, Frauen von der Teilhabe an Bildung nach und nach ausgeschlossen und ihnen wird vermutlich auch wieder verboten werden, die eigene Wohnung ohne männliche Begleitung zu verlassen. Die Verfolgung politischer Gegner, von Journalist_Innen und Menschenrechtsaktivist_Innen, Folter und Mord werden künftig zum repressiven Alltag der Afghan_Innen gehören. Durch die Sanktionen und die zu erwartende, weitestgehende Isolation Afghanistans wird sich die ohnehin schon miserable Versorgungslage für weite Teile der Bevölkerung aller Voraussicht nach massiv verschlechtern.

Alleine aus den bereits genannten Gründen wird klar, warum eine Unterstützung der Taliban gegen den Imperialismus im Sinne der antiimperialistischen Einheitsfront für uns ausgeschlossen ist. Hinzu kommt, dass alle Linken, SozialistInnen, MarxistInnen, AnarchistInnen usw. sich in Afghanistan fortan in der Illegalität organisieren müssen und von der verschärften Unterdrückung unter der Talibanherrschaft nicht verschont bleiben. Der Versuch, eine kommunistische Jugendorganisation und eine unabhängige Arbeiter_Innenpartei mit revolutionärem Programm aufzubauen, würde also zweifelsohne durch die Taliban mit allen Mitteln bekämpft werden, ein solcher Aufbau kann bestenfalls unter dem Vorzeichen der Illegalität stattfinden.

Weiterhin stehen die Taliban nicht für die Unabhängigkeit vom Imperialismus, sondern es zeigt sich viel mehr, dass diese offen für die Kooperation mit dem russischen, vor allem aber mit dem chinesischen Imperialismus sind. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in den anhaltenden diplomatischen Treffen der Taliban mit Vertreter_Innen Russlands und Chinas und der öffentlich verlautbarten Bereitschaft zur Anerkennung der Herrschaft der Taliban. Die Taliban werden versuchen, die Isolation durch den westlichen Imperialismus zu durchbrechen, indem diese sich zumindest die Gunst des russischen und chinesischen Imperialismus sichern wollen. Russland und China werden die Einladung, das durch den Abzug der NATO hinterlassene Machtvakuum in Afghanistan zu füllen, dankend annehmen. Schließlich verfolgen beide Staaten ihre eigenen geostrategischen und ökonomischen Interessen. Nicht zuletzt steht auch Pakistan weiterhin mehr oder weniger offen an der Seite der Taliban. Es gibt Berichte, wonach die Eroberung der bis zuletzt Widerstand leistenden Provinz des Pandschir-Tals durch die Taliban durch Angriffe der Luftwaffe Pakistans unterstützt wurde. Dass insbesondere der pakistanische Geheimdienst beste Verbindungen zu den Taliban unterhält und diese seit jeher finanziert und aufgebaut hat, ist kein Geheimnis. Hieran wird deutlich, dass auch Pakistan bei dem Kampf um die Neuordnung Afghanistans versucht, seinen Einfluss als Regionalmacht geltend zu machen. Für uns stellt sich daher gar nicht die Frage, ob wir die Taliban im Kampf gegen den Imperialismus unterstützen. In diesem Stellvertreterkonflikt zwischen den imperialistischen Blöcken kann die einzig richtige Position nur die Parteinahme für die Unabhängigkeit vom Imperialismus, für den Aufbau einer internationalen, antiimperialistischen Bewegung und für die Befreiung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten sein. Der Kampf gegen den Imperialismus kann also nicht mit den Taliban, sondern nur gegen diese erfolgreich geführt werden.

5. Was können wir hier vor Ort tun?

Für uns als revolutionäre Marxist_Innen ist klar, dass der Kampf gegen die Herrschaft der Taliban, der Kampf für demokratische Rechte und soziale Verbesserungen mit dem Kampf gegen den Imperialismus verknüpft werden muss. Weiterhin darf der Kampf für demokratische Rechte auch nicht vom Ziel der sozialistischen Revolution getrennt gesehen werden. Vielmehr kann eine solche Vorstellung von einer „demokratischen Etappe“ als strikt zu trennende Vorbedingung für die soziale Revolution nur den Besitzenden in Afghanistan und dem Imperialismus in die Hände spielen. Stattdessen müssen die Unterdrückten selbst die Macht ergreifen und die Erkämpfung demokratischer Rechte mit der Errichtung einer sozialistischen Räterepbulik verbinden – nicht nur in Afghanistan, sondern auch darüber hinaus.

In Afghanistan selbst müssen Revolutionär_Innen aktuell vor allem ums Überleben kämpfen und sich in der Illegalität organisieren. Es bedarf des Aufbaus von demokratisch kontrollierten Selbstverteidigungskomitees und einer im Untergrund gedruckten revolutionären Presse. Diese muss das afghanische Proletariat zu politischen Streiks gegen die Taliban-Regierung und zur Gründung von Betriebs-, Gemeinde- Soldatenräten aufrufen. Dabei gilt es auch die afghanische Exilbevölkerung, die Teil des Proletariats der umliegenden Länder ist, zu organisieren und in diesen Ländern mit Demonstrationen und Streiks für offene Grenzen und gegen jegliche militärische, wirtschaftliche und politische Unterstützung der Taliban-Regierung zu kämpfen.

Auch hier in Europa gilt es jetzt vor allem, politischen Druck aufzubauen und internationale Solidarität zu organisieren. Die Luftbrücke-Demonstrationen waren ein guter Ansatz, um die NATO-Mitgliedsstaaten in die Pflicht zu nehmen, unbürokratisch afghanische Geflüchtete aufzunehmen. Doch dabei allein darf es nicht bleiben. Wir Jugendlichen müssen gemeinsam mit der Arbeiter_Innenklasse eine internationale Bewegung aufbauen, welche nicht nur für legale Fluchtwege kämpft, sondern auch für die dezentrale Unterbringung, die Versorgung mit Arbeitsplätzen und Wohnungen, volle StaatsbürgerInnenrechte und offene Grenzen für alle, einen Stopp von Waffenexporten und aller Auslandseinsätze fordert. In Deutschland fällt uns dabei insbesondere die Aufgabe zu, Widerstand zu organisieren gegen die Beziehungen zwischen dem deutschen Kapital und den die Taliban unterstützenden Kräften wie Pakistan, das zu den fünf größten Handelspartnern des deutschen Imperialismus gehört. Ebenso wäre es denkbar, dass eine entstehende unabhängige Widerstandsbewegung von der deutschen und internationalen Arbeiter_Innenklasse Waffen oder andere materielle Unterstützung erhält.

Am Ende müssen wir uns revolutionär organisieren, eine internationale kommunistische Jugendorganisation und eine neue revolutionär-marxistische Internationale aufbauen, um den Imperialismus und Kapitalismus, aber mit diesen auch jede Form reaktionär-theokratischer Herrschaft hinwegzufegen.




Kein LNG-Terminal in Brunsbüttel!

Against Gas, Fracking& Colonialism: Revolution unterstützt den Global Action Day am 30.7.21! Auf gehts zu Ende Glände nach Brunsbüttel!

An dieser Stelle spiegeln wir einen Artikel, der zuerst von der Gruppe Arbeiter_innenmacht auf https://arbeiterinnenmacht.de/ veröffentlicht wurde.

Zum Wechsel vom Juli auf den August ruft Ende Gelände (EG) zu
Massenaktionen in Brunsbüttel auf. Der Protest richtet sich gegen ein
LNG-Terminal, welches sich im Planfeststellungsverfahren befindet.
Darüber hinaus richtet sich die Aktion allgemein gegen fossile Gase als
vermeintlich grüne Alternative zu Kohle und Erdöl. Am 31. Juli wird zu
einer Demonstration unter dem Motto  „Sauberes Gas? Dreckige Lüge! LNG
Terminal Brunsbüttel versenken!“ in Brunsbüttel aufgerufen.

Gas und globale Konkurrenz

Mit dem Ort an der Elbmündung und dem westlichen Ende des
Nord-Ostseekanals, den täglich hunderte Schiffe aus aller Welt
passieren, ist nicht nur der Wunschstandort für das LNG-Terminal (LNG =
Liquified Natural Gas; verflüssigtes Naturgas) von der Energiewirtschaft
strategisch günstig ausgesucht, sondern als Ort des Protestes auch für
Ende Gelände eine politisch interessante Wahl. Schließlich macht EG zu
Recht auf die globale Dimension des LNG-Terminals aufmerksam.

Diese wird nicht nur angesichts der Ausbeutung halbkolonialer Länder
zur Förderung von Öl und Gas deutlich, sondern auch, wenn wir unseren
Blick zunächst auf die Ostsee richten. Hier wird mit Nord-Stream 2 eine
weitere Erdgaspipeline die direkten Lieferkapazitäten von Russland nach
Deutschland und Zentraleuropa ausweiten, ganz ohne dabei die aus Sicht
des russischen Imperialismus politisch unliebsamen Gebiete der Ukraine
oder Polens zu passieren. Aber die Dimension ist freilich größer. Der
scharfe Kurs, die Sanktionsdrohungen der Trump-Regierung gegen
Nord-Stream 2 und daran Beteiligte war ein offener Ausdruck der globalen
Konkurrenz der USA gegenüber Russland. Denn: Die USA sind mittlerweile
Weltmeister in der Erdgasförderung dank dem besonders umweltschädlichen
Fracking-Verfahren. Dass rund die Hälfte des Erdgases für Deutschland
aus Russland kommt, störte den Trump-US-Imperialismus. Problem: Von den
USA nach Europa kann Gas nur per Schiff, energieaufwändig und teuer,
transportiert werden, und es braucht einen speziellen Hafen dafür – ein
LNG-Terminal. Der Druck der USA ging  dann letztlich auch so weit, dass
Bundesfinanzminister Scholz gar eine Milliarde Euro Förderung für ein
Terminal zusicherte, solange Nord-Stream 2 weitergebaut werden dürfe.

Die Abwahl Trumps und die Neuausrichtung der US-Außenpolitik unter
Joe Biden sorgte im Mai dann zu einem Absehen von weiteren
Sanktionsdrohungen – aus Interesse an einem besseren Verhältnis zu den
europäischen PartnerInnen, wie es hieß. Trotzdem hat die kleine Krise
bewiesen, dass die deutsche Energieversorgung, die im Falle von Erdöl
und -gas absolut importabhängig ist, zusehends schneller mal zwischen
die Fronten der Weltpolitik und der Konkurrenz zwischen Erdgas
exportierenden Staaten geraten kann. Während andere europäische Staaten,
wie zum Beispiel die Niederlande oder Frankreich, über eigene Kais für
Flüssiggastanker verfügen, fehlen solche in der deutschen
Energielandschaft.

Brückentechnologie?

Der Ausbau der Erdgasinfrastruktur, die im Falle Brunsbüttels
übrigens unter Beteiligung der deutschen Oiltanking GmbH und zweier
niederländischer Energiekonzerne in einem Joint Venture betrieben wird –
die internationalen Wirtschaftsinteressen lassen weiter grüßen – wird
aber nicht nur aus weltpolitischen Interessen heraus vorangetrieben. Vor
allem stellen Energiekonzerne und Politik ihn als unumgänglichen
Meilenstein auf dem Weg zur fossilfreien Energieerzeugung dar. Begründet
wird dies mit derzeit unzureichenden erneuerbaren Energien und der
vermeintlich besseren Umweltbilanz von Erdgas. Im Verbrennungsprozess
mag dies stimmen, da bei dem Hauptbestandteil Methan (CH4) auf vier
Wasserstoffatome nur ein Kohlenstoffatom kommt, ergo weniger
Kohlendioxid emittiert wird. Jedoch weisen Studien auch darauf hin, dass
im Förderungs- und Transportprozess des Erdgases zu einem gewissen
Prozentsatz Methan frei wird und in die Atmosphäre gelangt, wobei dieses
selbst zu den Treibhausgasen gehört und auf kurze Sicht (Stichwort 1,5
Grad-Ziel usw.) bei gleicher Menge um ein Vielfaches schädlicher wirkt
als CO2. Unterm Strich bleibt also, in der Verbrennung wie beim
Transport und im Fracking erst recht: Grünes Erdgas ist eine schmutzige
Lüge.

Völlig richtig weist EG außerdem darauf hin, dass der Erdgasausbau
einen negativen Reboundeffekt auf die eigentliche Energiewende hat. Wo
Kapital erst mal investiert ist, soll es sich  auch lohnen. Bis ein
nagelneuer LNG-Hafen abgeschrieben ist und sich das Kapital so weit
verwertet hat, dass ein Weiterbetrieb nicht mehr lohnt, dauert es
Jahrzehnte, die die Energiewende effektiv ausbremsen.

Das was an Erdgas als wirklicher Brücke hin zu einer echten
schnellstmöglichen Energiewende mit stabiler Energieversorgung aus
erneuerbarer Energie und gelöster Speicherproblematik notwendig wäre
(Pipelines, Gasspeicherkavernen), dafür ist die Infrastruktur längst da
und die Versorgung ausreichend. Der Ausbau geschieht somit aus rein
wirtschaftlichen Interessen der Energielobby heraus.

EG und das Programm

Demgegenüber fällt EG ins andere Extrem und fordert den sofortigen
Gasausstieg (wie auch den aus der Kohle). Nimmt man die Forderung beim
Wort, dann kann es durchaus sein, dass es schnell dunkel wird – und im
Winter auch kalt. Wenn wir EG ernst nehmen – und als zentrale, radikale
Kraft in der Umweltbewegung stellt sich die Bewegung selbst dar – nimmt
sie hier zumindest das Risiko eines Blackouts, der einer
fortschrittlichen Lösung der Klimakrise wohl kaum zuträglich sein
dürfte, in Kauf. Oder aber EG meint „sofort“ nicht im engen Sinn des
Wortes. Dann riecht die Forderung aber doch nach einer populistischen
Note, die in ihrer politischen Rezeptur anscheinend jenen Platz
einnimmt, an dem nach so vielen Jahren der Grubenbesetzung und des
Protests längst ein grundsätzliches, konkretes Programm der
antikapitalistischen Energiewende stehen könnte.

Angekommen, dass „schnellstmöglich“ die richtige und ernstzunehmende
Forderung wäre. Was heißt das? Im antikapitalistischen Verständnis:
alles, was Produktivkräfte und Technik so schnell wie möglich hergeben.
Wer aber bestimmt das? Die Frage danach, wer die Energiewende macht,
beantwortet EG regelmäßig mit „Handarbeit“. Das stimmt nicht mal für die
Tage, an denen Gruben besetzt werden und ein bisschen Leistung in
Kohlemeilern runtergefahren werden muss. An allen anderen Tagen bleibt
die Frage unbeantwortet. Das Feld (auf dem demnächst die Gastanks
stehen) wird Regierung und Konzernen überlassen, bei deren Wirken
vielleicht noch ein bisschen die GewerkschaftsbürokratInnen der IG BCE
mitspielen, die sich über Brunsbüttels neue Arbeitsplätze schon ganz
eifrig freuen.

ArbeiterInnenklasse

Und da treffen sich dann auch alle Genannten: von EG über Scholz und
German LNG bis IG BCE. Sie alle betrachten die, die in der Energiewende
Arbeitsplätze mal gewinnen und mal verlieren, als mehr oder minder
passives Objekt. Dabei wären doch die Beschäftigten des Energiesektors
mit ihrem technischen Know-how tatsächlich die Einzigen, die eine
Energiewende schnellstmöglich verwirklichen könnten, fernab von
Kapitalinteressen. Dabei wäre es auch noch möglich, dass  tausende Jobs
entstehen, weniger gearbeitet wird und trotzdem der Lohn gleich bleibt.
Kurz, die ArbeiterInnen in der Energiebranche müssten für einen
demokratischen, von ihnen kontrollierten Notfallplan zur Energiewende –
nicht zuletzt durch EG – gewonnen werden.

Eckpunkte dessen sollten sein:

  • Für die ökologischen Katastrophen ist die herrschende Klasse
    verantwortlich – daher soll sie für die Schäden aufkommen!
    Entschädigungslose Enteignung der Energie- und Transportindustrie unter
    ArbeiterInnenkontrolle! Nein zum LNG-Terminal – weder in der ökologisch
    sensiblen Marsch noch woanders in der BRD!
  • Für den schnellstmöglichen organisierten Ausstieg aus der
    fossilen Energiegewinnung und Einstieg in klimaneutrale Erzeugung im
    Rahmen eines Energieplans unter ArbeiterInnenkontrolle! Für einen
    solchen Plan auf europäischer und weltweiter Ebene, der Verkehr,
    Industrie, Haushalte, Strom- und Wärmegewinnung integriert!
  • Für eine Aufteilung der Arbeitszeit auf alle – für die
    30-Stundenwoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich! Für ein
    öffentliches Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten und
    dementsprechende Umschulung bei einer Bezahlung, die mindestens dem
    bisherigen Entgelt entspricht!
  • Weg mit dem Emissionsrechtehandel und der Subventionierung von
    „regenerativer Energie“! Den „blind“ wirkenden Marktmechanismen setzen
    wir das bewusste, planmäßige Eingreifen in die Produktion entgegen. Für
    die Förderung von Energie und Ressourcen sparenden Techniken, bezahlt
    vom Kapital!
  • Für ein globales Programm zur Wiederaufforstung von Wäldern, der
    Renaturierung von Mooren und zum Schutz des Bodens und der Meere als
    CO2-Senken! Entschädigungslose Enteignung von LandbesitzerInnen,
    nachhaltige Bewirtschaftung unter Kontrolle der ArbeiterInnen und
    Bauern/Bäuerinnen!
  • Für Forschung nach neuen Energien und zur Lösung der
    Speicherproblematik der erneuerbaren Energien (Power to Gas) unter
    ArbeiterInnenkontrolle und auf Kosten der Energiekonzerne!
  • Gegen die Spaltung zwischen Umweltbewegung und Beschäftigten in
    umweltgefährdenden Betrieben! Umschulung und neue Arbeitsplätze zu
    gleichen Löhnen und Arbeitsbedingungen! Gegen prekäre Beschäftigung in
    der Branche erneuerbarer Energien: gleiche Bedingungen für alle
    Beschäftigten in Windkraft-, Solarbetrieben wie für jene in Bergbau,
    AKWs und bei den Stromkonzernen!
  • Wenn die Energiewende schnellstmöglich passieren soll, braucht
    es eigene Kampfaktionen der Beschäftigten! IG BCE und ver.di: Brecht mit
    den Konzernen, die die Lebensgrundlage der Menschheit zugunsten des
    Profits zerstören! Für den politischen Massenstreik, der ein
    ökologisches Sofortprogramm der ArbeiterInnen selbst durchsetzt!



Fluchtursache: Klimawandel

Von Emilia Sommer

Spätestens seit dem Beginn von
FridaysForFuture und einer dadurch ausgelösten riesigen
Umweltbewegung sind die Gefahren des Klimawandels in aller Munde.
Während der globale Westen mit Maßnahmen wie Mülltrennung,
Bioprodukten, Plastikvermeidung, der Umstellung des individuellen
Konsums und großen Greenwashing-Kampagnen reagiert, sind die Folgen
der massiven Umweltzerstörung durch Großkonzerne im globalen Süden
schon jetzt spürbar. Durch ausgetrocknete Felder,
(Trink)wasserknappheit und massive Umweltkatastrophen, welche ganze
Landstriche unbewohnbar machten, mussten 2020 schon 26 Millionen
Menschen aufgrund klimatischer Veränderungen flüchten. Bis 2050
sind 200 Millionen Geflüchtete des menschengemachten Klimawandels
prognostiziert. Doch was genau verbindet Flucht, Klima und Rassismus?

Der Kapitalismus ist der Ursprung
dieser Problematiken, denn ein kapitalistisches System handelt
prinzipiell im Interesse der Wirtschaft und des Profits, nicht im
Interesse der Natur oder gar des Menschen. Um den Kapitalismus zu
erhalten, müssen immer mehr Profite generiert werden, um Kapital zu
vermehren, zu investieren und im internationalen Konkurrenzkampf zu
bestehen. Dafür werden nicht nur Arbeiter_Innen, sondern auch die
Natur und deren Ressourcen massiv ausgebeutet. Spätestens seitdem
sich einige kapitalistische Staaten wie unter anderem Deutschland
oder die USA zu imperialistischen Systemen weiterentwickelt haben,
beuten sie nicht nur innerhalb ihrer territorialen Gebiete aus,
sondern weiten dies vor allem auf den globalen Süden aus. Zwar gilt
der Kolonialismus schon seit einiger Zeit offiziell als beendet und
Staaten, die in der Vergangenheit Kolonien waren, sind formal
unabhängig, doch auch heute noch sind sie vor allem wirtschaftlich
extrem abhängig von imperialistischen Staaten, weswegen wir diese
Halbkolonien nennen.

Viele Imperialist_Innen haben ihre
Warenproduktion in Halbkolonien ausgelagert. Dies führt zum einen
dazu, dass die natürlichen Ressourcen wie Wasser und andere
Naturalien ohne Blick auf mögliche Folgen ausgeschöpft werden,
während die dortige Bevölkerung keinerlei Nutzen davonträgt. Zum
anderen werden vor allem diese halbkolonialen Staaten daran
gehindert, eine eigene Produktion und damit einhergehend eine eigene
Wirtschaft zu stemmen, welche sie unabhängig von
„Entwicklungshilfen“ und Co handlungs- und bestandsfähig machen
würde. Ihnen fehlt es schon jetzt an finanziellen Mitteln, um sich
vor Naturkatastrophen zu schützen und die Folgen derer abzufangen.
Betrachtet man nun Konzerne wie Nestlé, welcher nur eines von vielen
Beispielen ist, der durch Privatisierung des Wassers in vielen
Ländern Afrikas zu massiver Trinkwasserknappheit geführt hat, so
wird schnell klar, dass die Ressourcen der Halbkolonien für die
Versorgung imperialistischer Länder drauf gehen, ohne dass diese
Staaten selbstständig in der Lage sind, ausreichend Lebensgrundlage
für die dort lebende Bevölkerung zu schaffen.

Imperialist_Innen ziehen Nutzen aus den
viel günstigeren Produktionsbedingungen, den nicht-vorhandenen oder
liberaleren Umweltschutzgesetzen und der prekären Situationen der
Menschen vor Ort. Diese sind meist auf extrem unterbezahlte Jobs in
miserablen Arbeitsbedingungen angewiesen, wodurch Kapitalist_Innen
günstiger produzieren können, somit günstiger verkaufen bei
weniger Ausgaben (Löhne der Arbeiter_Innen), mehr Gewinne generieren
und damit dem Konkurrenzkampf standhalten und diesen weiter anfeuern.
Nur 63 Unternehmen verursachen 50 Prozent der weltweiten Emissionen.
Wenige zerstören also mit der Ausbeutung von Mensch und Natur die
Lebensgrundlage vieler. Kleinbäuer_Innen können die
ausgetrockneten Felder nicht mehr ausreichend bestellen, das
Trinkwasser reicht nicht aus und Naturkatastrophen machen immer mehr
Gebiete unbewohnbar, sodass ihnen irgendwann nur noch die Flucht als
letzter Ausweg bleibt.

Nachdem die Imperialist_Innen also
zuerst die Lebensgrundlage vieler Menschen durch ihre rassistische
Ausbeutung zerstört haben, reagiert die EU mit einer immer stärkeren
Abschottungspolitik an ihren Außengrenzen und geht für ihren Profit
buchstäblich über Leichen. Bereits in den ersten vier Monaten
dieses Jahres sind schätzungsweise 600 Menschen im Mittelmeer durch
unterlassene Seenotrettung ertrunken. Der Klimawandel und die damit
verbundene Notwendigkeit der Flucht können nicht innerhalb des
kapitalistischen Systems beendet werden, denn der Kapitalismus fußt
auf dem Konzept des freien Marktes, der Profitmaximierung und dem
oben genannte Konkurrenzkampf. Ohne all dies könnte er sich nicht
erhalten. Er muss also überwunden werden, um die Klimakatastrophe
abzuwenden und Fluchtursachen effektiv zu bekämpfen. Deshalb ist es
wichtig, die globalen Kämpfe gegen Umweltzerstörung, Krieg,
Abschiebung, Rassismus und Kapitalismus zu verbinden, denn so
unterschiedlich sie auch scheinen, sie alle haben ihren Ursprung im
kapitalistischen System. Doch dieser wird sich nicht von allein
überwinden, es braucht eine starke antikapitalistische Bewegung der
Arbeiter_Innen und der Jugend mit folgenden Forderungen:

  • Staatliche Investition in
    umweltfreundliche Technologien, Recycling und CO2-Neutralität,
    kontrolliert durch Selbstorganisationen der Arbeiter_Innenklasse wie
    Räte oder Gewerkschaften! Die Ziele des Pariser Klimaabkommens sind
    nicht ausreichend, sollten aber mindestens eingehalten werden!

  • Bezahlung aller Kosten für diese
    Maßnahmen durch Besteuerung der Kapitalist_Innen und Reichen!
  • Internationale Organisierung des
    Widerstands gegen die Umwelt- und Geflüchtetenpolitik der
    kapitalistischen Regierungen!
  • Fluchtursachen bekämpfen! Schluss
    mit der Ausbeutung von Halbkolonien! Imperialistische Staaten sollen
    für die Schäden bezahlen, die sie verursachen!
  • Offene Grenzen,
    Staatsbürger_Innenrechte für alle und sichere Fluchtrouten
    überall. Flucht ist kein Verbrechen!



Solidarität mit der Jugend in Sheikh Jarrah! Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!

Zuerst veröffentlicht unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/05/11/solidaritaet-mit-der-jugend-in-sheikh-jarrah-solidaritaet-mit-dem-palaestinensischen-widerstand/

Dilara Lorin, Martin Suchanek, Infomail 1149, 11. April 2021

Seit Montag, den 10. Mai, bombardiert die israelische Luftwaffe
Gaza. Mindestens 24 Menschen, darunter 9 Kinder, wurden nach Angaben
des palästinensischen Gesundheitsministeriums bis zum Morgen des 11.
Mai getötet, 109 wurden verletzt. Insgesamt flogen die israelischen
Streitkräfte 150 Angriffe.

Die Regierung Netanjahu und die Armeeführung präsentieren und
rechtfertigen die Bombardierungen einmal mehr als Akt der
Selbstverteidigung – und in ihrem Gefolge auch die westlichen
imperialistischen Schutzmächte und Verbündeten Israels. Die Aktion
wird als Reaktion auf den Abschuss von über 100 Raketen aus Gaza
dargestellt, als Vergeltung auf eine vorhergehende Aktion der Hamas
und des palästinensischen Widerstandes, die als „Terrorist_Innen“,
„Islamist_Innen“ oder blutrünstige „Antisemit_Innen“
diffamiert werden.

Kurzum, der ideologischen Rechtfertigung der zionistischen
Regierung wie ihrer westlichen Unterstützer_Innen gelten die
Palästinenser_Innen als Aggressor_Innen. Die Vergeltungsschläge
sollen bloß „verhältnismäßig“ bleiben und, so das
stillschweigende Kalkül, nach einigen Tagen verebben.

Verschwiegen wird, worum es im „Konflikt“ eigentlich geht,
worin seine Ursachen eigentlich bestehen. Dabei verdeutlicht der
Kampf gegen die Räumung palästinensischer Wohnungen und Häuser im
Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah exemplarisch, worum es sich
dreht: um die fortgesetzte, systematische Vertreibung und nationale
Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung. Ostjerusalem soll
die nächste Etappe der Vertreibung und Annexion durch den
zionistischen Staat darstellen – eine fortdauernde, die mit der
Gründung Israels und dessen Expansion untrennbar verbunden ist.

Sheikh Jarrah

Auch wenn mittlerweile die internationalen Medien voll sind mit
Berichten über Sheikh Jarrah, die Zusammenstöße von Polizei,
zionistischen, rechten Siedler_Innen und palästinensischen
Jugendlichen, so dienen diese wohl eher dem Einschwören auf die
israelische und westliche politische Linie denn der Information.

Es wird nicht erwähnt, dass der zionistische Staat seit seiner
Gründung unablässig fortfährt, Palästinenser_Innen aus ihren
Wohnungen und Häusern zu vertreiben und dadurch in die Flucht zu
zwingen. Es werden die ultraorthodoxen und rechten Gruppierungen
nicht erwähnt, die friedlich Fasten brechende oder protestierende
Palästinenser_Innen angreifen, sie aus ihren Häusern werfen und
tatkräftig von den staatstragenden Parteien hofiert und unterstützt
werden. Es wird beim Lob für Israels  Impfkampagne nicht
erwähnt, dass in den vom Staat besetzten israelischen Gebieten die
Bevölkerung nicht nur keinen Zugang zum Impfstoff erlangt, sondern
auch das gesamte Gesundheitssystem permanent vor dem Zusammenbruch
steht. Palästinenser_Innen sind faktisch Menschen zweiter Klasse.
Ihnen werden gleiche bürgerliche Rechte vorenthalten, Westbank und
Gaza werden immer mehr von der Außenwelt abgeschottet.

Die rechte Regierung Netanjahu setzt seit Jahren auf einen
aggressiveren Kurs der Vertreibung und der Annexion von Land in der
Westbank infolge des Siedlungsbaus. Unter der Administration Trump
und deren „The Deal of the Century“ wurde Jerusalem offiziell als
Hauptstadt Israels anerkannt, eine Einladung an die zionistische
Regierung, an Behörden und Gerichte sowie an rechte Siedler_Innen,
die Annexion Ostjerusalems voranzutreiben.

Was hat all dies mit Sheikh Jarrah zu tun?

Sheikh Jarrah ist ein Viertel in Ostjerusalem, welches auch nach 
1948, der Gründung des israelischen Staates, mehrheitlich von
Palästinenser_Innen bewohnt war, während im Westen mehrheitlich
israelische Staatsbürger_Innen wohnen und Palästinenser_Innen
diesen Teil der Stadt nicht einfach so betreten dürfen. Diese
Aufteilung und das Verbot für die palästinensische Bevölkerung
sind Teil einer bewussten Politik, die immer mehr versucht, den
Wohnraum und die Existenz von Palästinenser_Innen einzuschränken.
Zwischen 2004 bis 2016 wurden 685 palästinensische Häuser in
Jerusalem zerstört. 2513 Menschen wurden obdachlos.

Heute leben mehr als 700.000 israelische Siedler_Innen in
illegalen Siedlungen in Palästina und Ostjerusalem. Aber damit
leider nicht genug, denn die Situation um Sheikh Jarrah hat 
kein Alleinstellungsmerkmal. Diese Zwangsräumungen der dort seit
Jahrhunderten ansässigen Palästinenser_Innen hat israelische
Tradition und ist tragische Geschichte von mehr als 538 Städten und
Dörfern. Den Bewohner_Innen dieses Stadtteils droht Vertreibung und
die damit einhergehende Flucht – entweder auf „legalem“ Weg,
indem israelische Gerichte Ansprüche von Siedler_Innen auf Häuser
legitimieren, die seit Jahrzehnten von Palästinenser_Innen bewohnt
wurden, oder auf „illegalem“, indem der Bau von Häusern und
Wohnungen durch Siedler_Innen nachträglich anerkannt wird. Die
Besatzungsbehörden planen außerdem den Bau von 200
Siedlungseinheiten auf dem Land und in den Häusern der Bevölkerung
von Sheikh Jarrah. Diese Vertreibung ist seit mehr als 40 Jahren ein
Teil des israelischen Siedlungsplans, um auf diesen Flächen
Siedlungen zu errichten, so wie es im Westjordanland tagtäglich
geschieht.

Al-Aqsa, Jerusalem und der Widerstand

Gegen die Räumung palästinensischer Häuser und Wohnungen wehren
sich seit Tagen vor allem Jugendliche in Ostjerusalem. Dagegen ging
die Polizei mit äußerster Brutalität, mit Blendgranaten und
Wasserwerfern vor. Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt, um
Unrecht und die Ordnung der Herrschenden aufrechtzuerhalten.

Anlässlich des „Jerusalem-Tages“, an dem in Israel die
Annexion Ostjerusalems im Zuge des 6-Tage-Krieges von 1967 gefeiert
wird, eskalierten rechte Siedler_Innen am 10. Mai bewusst die Lage,
indem sie trotz der Spannungen ihren jährlichen reaktionären
Fahnenmarsch durchführten. Diesmal wurde aus der gezielten
Provokation faktisch ein Angriff auf die Al-Aqsa-Moschee. Diese
befindet sich auf der Westseite Jerusalems in der Altstadt und bildet
für die Muslime/a eines der 3 wichtigsten Heiligtümer. Tage zuvor
schon hingen Plakate an den Wänden der Stadt, welche diese Angriffe
seitens rechter Siedler_Innen propagierten und dazu aufriefen, sich
daran zu beteiligen.

Während sich ein Teil der Palästinenser_Innen noch im
Fastenmonat Ramadan befindet, kämpfen diese und andere gegen die
Angriffe und Attacken. Es verbreiteten sich Bilder wo in der
Al-Aqsa-Moschee Jugendliche Steine sammeln, Barrikaden bauen, um dem
angekündigten Angriff entgegenzuwirken, und ein wütender Mob
Siedler_Innen an den Türen und Toren der Altstadt rüttelt. Die
Situation dauert schon seit mehreren Tagen an und es wurden mehr als
300 Palästinenser_Innen verletzt.

Der Angriff auf die Al-Aqsa-Moschee stellt dabei eine gezielte
Provokation nicht nur der Palästinenser_Innen, sondern aller
Muslime/a, ja aller Unterdrückten im Nahen Osten dar.

Dabei wurden bewusst und provokant religiöse Gefühle verletzt.
Im Kern geht es aber um keine Glaubensfrage, sondern darum, den
national und rassistisch Unterdrückten ihre Ohnmacht, ihre
Chancenlosigkeit vorzuführen.

Der Widerstand gegen die Räumungen bildet daher nur einen Aspekt
eines größeren Kampfes gegen ein System der Unterdrückung, der
Vertreibung, der fortgesetzten Kolonisierung und imperialistischen
Ausbeutung. An vorderster Front bei den Demonstrationen und Kämpfen
steht dabei oft die palästinensische Jugend.

Flächenbrand

Der Kampf um Sheikh Jarrah und um Al-Aqsa wirkt wie der berühmte Funken, der das Pulverfass zu entzünden droht. In zahlreichen Städten in der Westbank gingen Jugendliche, Arbeiter_Innen, Bauern/Bäuerinnen und die verarmten Massen auf die Straße. In Nazareth, Kafr Kana oder Schefar’am brachen in der Nacht vom Montag zum Dienstag lokale Aufstände aus. In Gaza marschieren Hunderte, wenn nicht Tausende, an die von der israelischen Armee hermetisch abgeriegelte und hochmilitarisierte Grenze.

Hamas und verschiedene Gruppen des palästinensischen Widerstandes
feuern Raketen auf Israel, wohl wissend um die blutige Antwort von
dessen Luftstreitkräften. Doch diese verzweifelten Aktionen in einem
asymmetrischen Krieg verdeutlichen auch die Entschlossenheit des
palästinensischen Volkes, dessen Würde und Existenz untrennbar mit
dem Widerstand gegen die Besatzung verbunden ist.

Dieser Widerstand gegen die Besatzung ist in all seinen Formen
legitim. Auch wenn die taktische und strategische Nützlichkeit von
Raketenangriffen auf Israel fraglich ist, so unterscheiden wir als
Revolutionär_Innen klar zwischen der Gewalt der Unterdrücker_Innen,
des israelischen Staates und seiner Armee, und der Unterdrückten und
solidarisieren uns mit dem Widerstand.

Eine neue Intifada liegt in der Luft. Die entscheidende politische
Frage ist jedoch, wie sich diese ausweiten, wie sie siegen kann. Die
zionistische Vertreibung und Expansion und die offene Unterstützung
durch Trump haben schon in den letzten Jahren die Palästinenser_Innen
in eine immer verzweifeltere Lage gebracht und auch die politische
Führungskrise in der Linken und Arbeiter_Innenklasse massiv
verschärft. Auch wenn die Palästinensische Autonomiebehörde und
die Hamas die Bewegung in Ostjerusalem unterstützen, so kollaboriert
erstere nach wie vor mit dem zionistischen Staat und jagt einer
Verhandlungslösung nach. Auch die Hamas verfügt über keine
Strategie zum Sieg und bietet eine reaktionäre, religiöse und keine
fortschrittliche, demokratische oder gar sozialistische Perspektive
im Interesse der Arbeiter_Innenklasse.

Die zentrale Frage besteht daher darin, wie die fortgesetzten
Bombardements Israels gestoppt und die lokalen Aufstände der Jugend
verbreitert werden können und in diesem Zug auch eine neue,
revolutionäre Kraft in Palästina aufgebaut werden kann. Dies ist
nicht so sehr eine organisatorische, sondern vor allem eine
programmatische Frage.

Um den Widerstand gegen die zionistische Aggression
voranzutreiben, braucht es eine neue Intifada, die die Form eines
Generalstreiks in den Werkstätten und auf den Feldern sowie der
Einstellung jeder Kooperation mit den Institutionen der
Besatzungsmacht annimmt. Die Möglichkeiten des rein ökonomischen
Drucks in Palästina sind aufgrund der Ersetzung palästinensischer
Arbeitskraft in vielen israelischen Unternehmen erschwert, wenn auch
nicht unmöglich.

Von entscheidender Bedeutung könnte und müsste die Solidarität
der Arbeiter_Innenklasse und Unterdrückten in den Ländern des Nahen
Ostens sein, indem sie Israel und seine militärische Maschinerie
durch Streiks und Weigerung, Waren zu transportieren oder
Finanztransaktionen durchzuführen, unter Druck setzt. Dies könnte
in Verbindung mit massenhaften Solidaritätsdemonstrationen auch die
reaktionären arabischen Regime in Ägypten und Saudi-Arabien oder
die vorgeblichen Freund_Innen der Palästinenser_Innen wie Erdogan
oder Chamenei entlarven und die Arbeiter_Innenklasse zur führenden
Kraft im Kampf gegen den Zionismus machen.

Dieser Druck kann auch die klassenübergreifende Einheit zwischen
Kapital und jüdischer Arbeiter_Innenklasse in Israel unterminieren
und damit die Perspektive eines gemeinsamen Kampfes von
palästinensischer Arbeiter_Innenklasse und Bauern-/Bäuer_Innenschaft
mit der jüdischen Arbeiter_Innenklasse gegen Zionismus und für
einen gemeinsamen, multinationalen Staat unter Anerkennung des
Rückkehrrechts aller Palästinenser_Innen eröffnen.

Schließlich müssen die Arbeiter_Innenklasse und die Linke in den
imperialistischen Ländern selbst in Solidarität mit dem
palästinensischen Volk auf die Straße gehen und mit Streik und
Boykott von Transporten den Druck auf Israel erhöhen, die
Luftangriffe auf Gaza und die Repression in Ostjerusalem
einzustellen. Solidaritätskundgebungen und die Unterstützung von
Demonstrationen zum Nakba-Tag wären dazu ein erster Schritt.

Die Bombardements seitens Israel, die Belagerung Gazas und die
Siedlungsbauten in der Westbank haben auch jede Hoffnung auf die
Zwei-Staaten-Lösung begraben. Angesichts der Vertreibung, der
Aggression und Unnachgiebigkeit der israelischen Regierungen erweist
sie sich nicht nur als reaktionär, sondern schlichtweg auch als
komplett illusorisch, als diplomatische Farce. Die einzig mögliche
demokratische Lösung besteht in der Zerschlagung des Systems der
Apartheid und der rassistischen Grundlage des zionistischen Staates,
im Recht auf Rückkehr für alle Palästinenser_Innen und in der
Errichtung eines binationalen Staates auf der Basis vollständiger
rechtlicher Gleichheit aller. Die imperialistischen Staaten wie die
USA, Deutschland, Britannien und die EU müssen dazu gezwungen
werden, die Kosten für diese Rückkehr und den Aufbau der nötigen
Infrastruktur und Wohnungen zu tragen. Damit diese ohne
nationalistische Gegensätze erfolgen kann, muss diese demokratische
Umwälzung mit einer sozialistischen, mit der Enteignung des
Großkapitals und Großgrundbesitzes verbunden werden.

  • Schluss mit der Besatzung! Keine Bomben auf Palästina!
  • Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!
  • Für einen binationalen Staat, in dem alle Staatsbürger_Innen
    gleiche Rechte haben unabhängig von ethnischer Herkunft und
    Religion!
  • Für ein sozialistisches Palästina als Teil Vereinigter
    Sozialistische Staaten des Nahen und Mittleren Ostens!



Russland: Der Fall Nawalny und das Regime Putin

Robert Teller, Infomail 1140, 22. Februar 2021

zuerst veröffentlicht unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/02/22/russland-der-fall-nawalny-und-das-regime-putin/

Am 20. Februar schloss der bislang letzte Akt der juristischen Farce um Alexei Nawalny, der Galionsfigur der russischen Opposition. Das Moskauer Babuschkinskij-Gericht wies die Berufung gegen seine Verurteilung zu rund 3,5 Jahren Lagerhaft ab. Im selben Gerichtssaal wurde auch die Strafe von umgerechnet 9.500 Euro wegen Diffamierung eines Kriegsveteranen bestätigt.

Zu 3,5 Jahren Haft war Nawalny schon Anfang Februar verurteilt worden. Das Berufsgericht bestätigte dies, auch wenn die Strafdauer um einige Wochen reduziert wurde.

Überraschend kamen weder die Festnahme Nawalnys am Moskauer Flughafen am 17. Januar, die von der russischen Regierung im Voraus angekündigt war, noch das Urteil, das offensichtlich darauf ausgerichtet ist, die Galionsfigur der bürgerlichen, prowestlichen Opposition gegen Putin zumindest bis zur nächsten Präsidentschaftswahl aus dem Verkehr zu ziehen – sei es durch Anschläge, sein Exil oder eben jederzeit durch willfährige Richter_Innen verlängerte Haft.

Die Begründung der Justiz wirft ein bezeichnendes Licht auf das System Putin. Nawalny hätte, so das Urteil, gegen Bewährungsauflagen verstoßen, die sich aus früheren Strafverfahren ergeben hätten. Als er knapp der Vergiftung – mutmaßlich durch Agent_Innen des russischen Staates – entgangen war, wurde er in Berlin behandelt. Einige Zeit war er komatös. Während dieser Zeit, so das Gericht, hätte er sich nicht an die Bewährungsauflagen gehalten, zu denen u. a. eine zweiwöchentliche Meldung bei den russischen Behörden gehört.

Das Skandalurteil stellt alles andere als einen Einzelfall dar. Russische Oppositionelle – ganz zu schweigen von Angehörigen unterdrückter Nationalitäten oder von regimekritischen Linken – sind seit Jahren solchen Formen staatlicher Unterdrückung ausgesetzt, die selbst nur einen Teil des Herrschaftssystems Putins darstellen.

Tatsächlich trifft die politische Repression Linke im Allgemeinen härter als bürgerliche Rival_Innen. Vor einem Jahr wurde im sog. „Network Case“ eine Gruppe antifaschistischer Aktivist_Innen in der Stadt Penza zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Urteile stützten sich auf erzwungene Geständnisse. Ende Dezember wurde Sergei Udalzow, ein führendes Mitglied der Parteienkoalition „Linksfront“, der bereits eine viereinhalbjährige Haftstrafe wegen seiner Beteiligung an den Protesten 2012 abgesessen hat, verhaftet und wegen einer nicht genehmigten Protestaktion zu 10 Tagen Haft verurteilt.

Massenproteste

Der entscheidende Unterschied zu den unzähligen Fällen politischer Repression, inklusive Skandalurteilen, langjähriger Haft wegen der Ausübung demokratischer Rechte, liegt aber in Folgendem: Über lange Jahre erzielten diese eine abschreckende Wirkung, weil sich das System Putin neben Repression und einer Monopolisierung der Medien auf eine gewisse soziale Stabilität im Inneren stützen konnte.

Diesmal ist es anders. Die Verhaftung und die Verurteilung Nawalnys lösten eine Welle von Massenprotesten im ganzen Land aus. Diese wurden zu den größten der vergangenen Jahre, mit etwa 15.000 Teilnehmer_Innen in Moskau und über 100.000 in 80 oder mehr Städten landesweit. Die Bedeutung der nicht genehmigten Demonstrationen lässt sich auch an der Anzahl verhafteter Demonstrant_Innen ablesen. Laut OVD-Info, einer russischen Menschenrechtsorganisation, wurden allein Mitte Januar mindestens 4.000 Teilnehmer_Innen festgenommen. Gegen viele wurden Strafverfahren eingeleitet oder in Schnellverfahren Geldstrafen oder Administrativhaft verhängt. Auf weiteren Demonstrationen am 31. Januar wurden erneut mindestens 5.600 Teilnehmer_Innen festgenommen. Menschen wurden nicht erst wegen der Teilnahme an Protesten verhaftet, sondern auch wegen des Teilens von nicht genehmigten Protestaufrufen auf Social Media. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, dass die Polizei ohne Anlass brutal gegen Demonstrant_Innen vorgeht. Auch einige linke Organisationen unterstützten die Proteste kritisch, also ohne dabei Nawalnys politischen Zielen Anerkennung zukommen zu lassen. Nach den Verhaftungen vom 23. und 31. Januar ruft Nawalnys Bewegung nun dazu auf, weitere Proteste zu unterlassen und sich stattdessen für die Duma-Wahlen im September bereitzuhalten.

Wie immer die weitere Mobilisierung verlaufen wird, so signalisiert die Bewegung doch eine bedeutende Veränderung der politischen Lage in Russland, die weit über die Frage der Freilassung von Nawalny hinausgeht. Angesichts der ökonomischen und politischen Probleme des russischen Imperialismus kann das Regime Putins selbst ins Wanken geraten. Nawalny und die bürgerlichen, prowestlichen Kräfte hoffen, aus dieser Lage Kapital schlagen zu können. Es ist kein Zufall, dass sie, anders als in früheren Jahren, die Kritik an Putin vor allem auf Korruptionsvorwürfe lenken, auf die Bereicherung durch ihn und seine Unterstützer_Innen. Eine eigens von Nawalny gegründete Antikorruptions-Stiftung veröffentlichte u. a. ein bekannt gewordenes Video über einen teuren Palast am Schwarzen Meer, der Putin zugeschrieben wird und dessen persönliche Bereicherung belegen soll. Mit diesen Enthüllungen versucht er zugleich, sozial heterogene Putin-Gegner_Innen, die von unzufriedenen Lohnabhängigen und Armen über städtische Mittelschichten und Aufsteiger_Innen bis zu unzufriedenen Kapitalist_Innen reichen, anzusprechen, die meinen, im System Putin zu kurz gekommen zu sein.

Nawalny und die rechtsliberale Opposition

Das darf aber nicht über seine politische Ausrichtung hinwegtäuschen. Die Korruptionsvorwürfe sind für Nawalny Mittel zum Zweck und haben darüber hinaus den Vorteil, dass er seine eigentlichen politischen, programmatischen Ziele in den Hintergrund treten lassen kann.

Nawalny ist ein Rechtsliberaler, der Russland vor Putin retten will. Er fand in der Vergangenheit an liberalen wie auch rechtsnationalistischen Gruppierungen und Organisationen Gefallen und hat – durchaus in Übereinstimmung mit Putins Ansichten – „russische Interessen“ gegenüber den demokratischen Ambitionen nichtrussischer Völker und Nationen verteidigt. Von seinen extrem rassistischen Sprüchen – so bezeichnete er 2007 die Menschen aus dem Kaukasus als „Kakerlaken“ – hat er sich zwar nicht distanziert, doch der Rassismusvorwurf scheint nun entweder mit der Zeit verblasst oder durch Märtyrertum getilgt zu sein. Seine rassistischen Ausfälle u. a. gegen Tschetschen_Innen zeigen, dass er der demokratische Weltverbesserer, als den ihn westliche Fans gerne sehen, nicht ist und nicht sein will. Nawalny präsentiert sich als ein Verbesserer der russischen Nation. Beschönigend bezeichnete er sich als „nationalistischen Demokraten“. Als solcher muss er mit Putin um die Gunst der Nation wetteifern und will nicht zurückfallen, wenn es gilt, die „Gefühle“ des Volkes zu bedienen.

Aktuell reduziert Nawalny alles Schlechte in Russland auf eine behauptete Korruptheit der Eliten. Damit knüpft er erstens an die Wahrnehmung vieler Menschen an, ihnen werde „alles geraubt“. Das stimmt zwar, aber die Korruption in Russland ist dabei eher ein Nebenaspekt gegenüber der  formell legalen Privatisierung von ehemaligem Volkseigentum nach der Restauration des Kapitalismus, die unter Putin fortgesetzt wurde. Politisch ist der bloße Korruptionsvorwurf im Übrigen vor allem demagogisch, weil Nawalny als bürgerlicher Populist natürlich nicht die politökonomischen Ursachen kritisiert, die sie hervorbringen, sondern letztlich selbst an die Futtertröge rankommen will.

Zweitens kritisiert Nawalny damit die Eigenschaft des russischen Systems, die Teilhabe sowohl des Volkes als auch von Teilen der herrschenden Klasse an der Gestaltung der politischer Macht zu beschneiden. Dies entspricht nicht seiner Vorstellung einer anständigen kapitalistischen Großmacht, die auf Augenhöhe mit anderen, v. a. westlichen, Großmächten agieren will und über entsprechende politische Strukturen verfügen sollte, in welchen vor allem auch die verschiedenen Teile der Bourgeoisie selbst demokratisch um die politische Vorherrschaft konkurrieren können. Der Zustand des russischen Staates passt in seinen Augen nicht recht zu einem imperialistischen Land, das zu neuem nationalen Selbstbewusstsein gelangt ist.

Und drittens macht ihn dieser Populismus auch für seine deutschen und westeuropäischen Unterstützer_Innen interessant, die die vorliegenden imperialistischen Konflikte mit Russland lieber als Auseinandersetzungen um „Demokratie und Rechtsstaat“ statt um Märkte und imperiale Einflusszonen verstanden haben wollen. Es handelt sich um solche, die insbesondere dort, wo unmittelbar deutsche Geschäftsinteressen in Frage stehen, auch weiterhin „vernünftig“ mit Russland zusammenarbeiten und gleichzeitig ein legitimes, gesittetes, freiheitlich-demokratisches politisches und militärisches Drohpotential schaffen und vergrößern wollen. Um Russlands Illegitimität Putin direkt in die Schuhe schieben zu können, ist es hilfreich, ein Gesicht der Legitimität vorzuführen, einen Anti-Putin. Nawalny reduziert die Ära Putin auf Korruption und Despotismus. Das reicht, um von den Vertreter_Innen des imperialistischen Deutschlands geadelt zu werden.

Nawalnys Politik drückt primär die Interessenlage nicht allzu großer Teile der Bourgeoisie und des städtischen Kleinbürger_Innentums aus, die von einer stärkeren Öffnung zum Westen mehr zu gewinnen als zu verlieren haben. Er findet, wie die Reichweite der Proteste zeigt, aber auch Anklang in der städtischen Jugend, unter Arbeiter_Innen und Mittelschichten, die entweder Illusionen in seine Version eines modernen, aufgeklärten Populismus hegen oder sich trotz Fehlens solcher Illusionen auf gemeinsame Ziele wie die Beseitigung politischer Verfolgung beziehen.

Nawalny konnte lange mit seinem Populismus einen eher beschränkten Kreis an Wähler_Innen und Unterstützer_Innen mobilisieren und diese Basis reichte bei weitem nicht aus, eine ernsthafte Bedrohung für Putin darzustellen. Dies könnte sich jedoch ändern. Bei Wahlen propagiert er die Taktik des sog. „Smart Voting“. Diese besteht darin, stets die aussichtsreichsten Putin feindlichen Kandidat_Innen zu unterstützen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit oder ihrem Programm. Bisher konnten Putins Leute oft tatsächlich deutliche Stimmenmehrheiten erzielen, was nicht in erster Linie manipulierten Wahlen zugeschrieben werden konnte, sondern auch mit der Zersplitterung und teilweisen Integration der Opposition ins Herrschaftssystem zu tun hatte. Mit seiner Wahltaktik versucht Nawalny gewissermaßen automatisch, alle Anti-Putin-Stimmen für sich zu beanspruchen. Zu den von ihm unterstützten Kandidat_Innen gehören gegebenenfalls auch Angehörige der „systemtreuen Opposition“ wie der KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation) oder der ultrarechten LDPR (Liberaldemokratische Partei Russlands).

Seine begrenzte Massenbasis und die nicht vorhandene Legitimation aus dem Staatsapparat heraus stellt bisher aber auch die Grenze der Figur Nawalny dar – und damit der möglichen Einflussnahme westlicher Mächte. Nawalny biederte sich diesen dadurch an, dass er abgesehen von dem Wunsch nach einer Öffnung zum Westen wesentliche außenpolitische Fragen – wie die der militärischen Interventionen, der Nahostpolitik usw. – offenließ oder mit unverbindlichen Phrasen beantwortete. Umgekehrt verteidigte er auch russische Interessen wie z. B. auf der Krim oder in der Ostukraine.

Auch wenn Nawalnys populistische Methode zu gewissen Wahlerfolgen führen und der Legitimität von Putins System Kratzer zufügen sollte, beinhaltet sie kein politisches Konzept für ein „Russland ohne Putin“. Nawalny mag für manche als authentische und mitreißende Oppositionsfigur erscheinen, weil er seit Jahren einen Gegenpol zu Putin bildet, sein persönliches Schicksal dabei hintenanstellt und sich nicht auf die begrenzten Möglichkeiten der „systemtreuen“ Parteien beschränkt. Letztlich ordnet er aber nicht nur sich selbst, sondern auch die Bewegung auf der Straße seiner Wahltaktik unter.

Nawalnys politisches Programm ist, soweit es überhaupt explizit formuliert wurde, reaktionär. Aber natürlich ist das längst nicht alles, was es über seine Verhaftung und die Protestbewegung zu sagen gibt. Die Verfolgung Nawalnys ist ein bewusster Akt eines bürgerlich-bonapartistischen Regimes, dessen politische Legitimität Risse bekommen hat. Dies spielt sich ab auf dem Boden einer Klassengesellschaft, einer imperialistischen Macht, die in einer wirtschaftlichen Krise steckt und ihre Interessen gegenüber imperialistischen Rival_Innen zu behaupten hat.

Ursprung des Konflikts mit Putin

Die Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen UdSSR hat aus den ehemals vergesellschafteten Industrien, vor allem im Energiesektor, privates Kapital entstehen lassen. Doch die neu entstandene bürgerliche Klasse, die Oligarchie, hatte als solche keine kontinuierliche Geschichte. Sie vermochte nicht, ein gemeinsames gesamtkapitalistisches Interesse zu verfolgen, vielmehr drohte ihre mehr oder minder ungezügelte Aneignung und Plünderung des Volksvermögens, die Wirtschaft zu ruinieren. Die Zukunft Russlands als kapitalistische Großmacht war in den 1990er Jahren ernsthaft in Frage gestellt. Das zeigte sich damals, als Kaugummi und McDonald’s das Land eroberten, es aber unter Jelzin zu zerfallen drohte. Nicht nur an der Peripherie, wo Völker und Nationen neue oder alte Ansprüche auf politische Eigenständigkeit stellten, war der Staat im Zerfall, sondern auch im Innern, wo Oligarch_Innen regionale Regierungen aus dem föderalen System herauskauften und dadurch zeigten, wie wenig „nationales Gesamtinteresse“ sie zu verfolgen beabsichtigten. Der desolate Zustand des politischen Überbaus spiegelte den inneren Zustand der Bourgeoisie wider, einer Klasse, die kein Bewusstsein dafür besaß, welche Herausforderung es bedeutet, sich in der globalen Konkurrenz zu behaupten.

Putin hat in den vergangenen 20 Jahren ein bonapartistisches Regime geschaffen, das sich durch starke zentralistische Machtstrukturen, ein Übergewicht des Sicherheitsapparates und mit diesem historisch verbundener Teile der Bourgeoisie auszeichnet. Putin setzte der drohenden Balkanisierung und Herabstufung Russlands zur Halbkolonie im Zuge der neoliberalen Schocktherapie der 1990er Jahre ein Ende und schuf einen politischen Überbau, mit dem Russland wieder als kapitalistische Großmacht auf der Weltbühne stehen kann. Dieses System funktioniert so, dass ein „nationales Gesamtinteresse“ nicht notwendigerweise durch die, sondern gegebenenfalls und häufig gegen oder über die Köpfe der Bourgeoisie hinweg zur Geltung kommen muss. Die Anerkennung Putins als Repräsentanten des „ideellen Gesamtkapitals“ durch die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie ist nicht ein Resultat, sondern eine Vorbedingung für die politische Repräsentation ihrer Interessen. Oligarch_Innen, die sich dem widersetzten, erhielten entsprechende Lektionen, wie etwa Chodorkowski 2004. Natürlich ist das nicht eine Abweichung von irgendeiner „Idealform“ bürgerlicher Demokratie, sondern ihre spezielle Form unter einer bestimmten historisch bedingten Klassenkonstellation. Der Konflikt, den Nawalny mit Putins Staatsapparat austrägt, ist letztlich ein Resultat der Art und Weise, wie das gesellschaftliche Eigentum der UdSSR privatisiert worden war. Putins „Partei von Räuber_Innen und Halunk_Innen“ entspricht einer Bourgeoisie mit genau diesen Eigenschaften.

Klassenkampf und imperialistische Konfliktlage

Der russische Imperialismus steht vor großen Herausforderungen. Abgesehen von der Rüstungsindustrie verfügt er nicht über starke Exportindustrien, mit denen er die Dominanz über andere Länder sichern kann. Die Extraprofite aus dem Export fossiler Energieträger ermöglichen zwar die Finanzierung des staatlichen Renten- und Gesundheitssystems, das gerade aufgrund der Prekarisierung weiter Teile der Bevölkerung bislang ein wichtiges integratives Element des bonapartistischen Systems darstellt. Die gefallenen Energiepreise gefährden aber das staatliche Distributionssystem und zwangen die Regierung 2018 zu einem historischen Angriff auf die Renten. 2020 brachen die Einnahmen aus dem Gasexport um 39 % und der Gesamtexport um 24 % ein. Der Öl- und Gasexport ist zudem natürlich Gegenstand imperialistischer Rivalität. Die europäischen Hauptabnehmer_Innen sind angesichts des globalen Überangebots an Energieträgern zu einem verstärkten Import aus Russland nur zu für sie vorteilhaften Bedingungen bereit, d. h. bei ihrer Beteiligung an dem dabei erzielten Extraprofit. Die genannten Aspekte beschreiben eine krisenhafte Entwicklung Russlands, die zu politischen Brüchen im Staatsapparat und Opposition innerhalb der herrschenden Klasse führen kann, und damit zu einer Zuspitzung der Verhältnisse. Sie wird zu sozialen Angriffen auf die Massen führen, die Widerstand notwendig machen.

Die schwierige ökonomische Lage geht zugleich mit einer menschenverachtenden Pandemie-Politik und dem weitgehenden Verzicht auf Einschränkungen der Wirtschaft einher – mit fatalen Folgen für die Gesundheit der Massen. Insgesamt hat das Land über 80.000 Tote zu beklagen.

Politische Schlussfolgerungen

Diese aktuelle wirtschaftliche Krise unterhöhlt die soziale Basis des politischen Herrschaftssystems Putins. Das betrifft die Masse der Lohnabhängigen, die Mittelschichten, aber auch die Superreichen und Kapitalist_Innen. Im System Putin überließen sie weitgehend der Staatsbürokratie mit einem bonapartistischen Führer die politische Macht. Im Gegenzug sicherte dieser massive Profite des Großkapitals und die Stabilität der Geschäfte.

Dieser grundlegende gesellschaftliche Krisenprozess bildet auch die Grundlage dafür, dass sich hinter Nawalny tatsächlich eine Massenbewegung formierten könnte, die Putin in Frage stellt. Das Regime ist sich dessen offenbar bewusst und sperrt daher den Oppositionsführer weg. Doch die Repression gegen Nawalny stellt dabei nur die Spitze des Eisbergs dar. Weit über zehntausend Menschen wurden in den letzten Monaten festgenommen, brutal angriffen und warten auf Verfahren.

Auch wenn Nawalny selbst ein bürgerlich-nationalistischer Reaktionär ist, dem Linke keinerlei politische Unterstützung zukommen lassen dürfen und dem gegenüber sich jegliche Illusionen in seine „demokratischen“ Absichten verbieten, so geht es bei seiner fadenscheinigen Aburteilung nicht primär um dessen Person oder Charakter.

Vielmehr geht es darum, dass das russische bürgerlich-bonapartistische Regime ein Exempel statuieren will, um jedes Aufbegehren, jede Opposition einzuschüchtern, um diese im Keim zu ersticken. Daher auch tausende weitere Festnahmen.

Die Arbeiter_Innenklasse und Revolutionär_Innen können und dürfen der staatlichen Repression nicht gleichgültig gegenüberstehen, weil die Durchsetzung dieser Urteile und willkürlichen Festnahmen die Staatsgewalt stärkt und sich nicht nur gegen Nawalny, sondern auch gegen jeden zukünftigen linken Widerstand, gegen jede Arbeiter_Innenaktion richtet.

Revolutionär_Innen müssen daher für Nawalnys Freilassung und die aller Festgenommen eintreten sowie die Einstellung aller Verfahren gegen diese fordern. Sofern Demonstrationen zu seiner Freilassung einen Massencharakter annehmen, sollten Linke auch an diesen Protesten teilnehmen und dort mit ihren eigenen Losungen und Bannern auftreten.

Außerdem wäre es falsch, eine politische Zuspitzung innerhalb des bürgerlichen Lagers links liegenzulassen. Die Auseinandersetzung unterstreicht, dass Putins Bonapartismus entgegen seinem äußeren Anschein zur Zeit ein politisch geschwächtes und instabiles Regime darstellt, das von Klassenkämpfen erschüttert werden kann. Die politische Schwäche der Arbeiter_Innenbewegung und die bonapartistische Herrschaftsform sind zwei Faktoren, die dazu beitragen, dass ein bürgerlicher Populist und Nationalist zur Ikone werden konnte, wie es auch in den Massenprotesten 2011/2012 der Fall war. Die Lösung der „demokratischen Frage“ liegt aber nicht in den Händen der liberalen Bourgeoisie, sondern der Arbeiter_Innenklasse. Sie braucht ihr eigenes Programm, das weder auf ein reformiertes Putin-Regime setzt, wie es die KPRF und die mit ihr verbundenen Gewerkschaften tun, noch auf ein besseres Russland unter einem Anti-Putin hofft. Die klassenkämpferische und radikale Linke muss vielmehr versuchen, die Lohnabhängigen aus dem Lager der Opposition politisch herauszubrechen, indem sie den Kampf für demokratische Rechte mit der sozialen Frage verbindet, mit dem Aufbau kampfstarker, vom Regime unabhängiger Gewerkschaften und sozialer Bewegungen sowie einer von Putin und Nawalny unabhängigen revolutionären Arbeiter_Innenpartei.