Crash, Kürzung und Corona

Christian Mayer & Felix Ruga

Nachdem die
Kursverläufe an der Börse in den letzten Jahren vergleichsweise
stabil verlaufen sind, brechen sie seit ca. einem Monat weltweit
rapide ein. Und spätestens mit der Ausbreitung des Corona-Virus‘ zur
Pandemie wird die globale Krise immer greifbarer. Doch betrachtet man
zentrale Wirtschaftszweige in Deutschland wie Autos oder Chemie, war
es nur eine Frage der Zeit, denn der Niedergang war dort schon in
vollem Gange.

Was zuvor geschah:
Die deutsche Industrie baut auch ohne Virus ab.

In den letzten sechs
Monaten wurden von verschiedenen mittelgroßen bis großen
Unternehmen Stellenabbau und Sparprogramme angekündigt, nachdem
ständig das Wirtschaftswachstum nach unten korrigiert wurde und sich
überall die Sorge um eine kränkelnde Industrie breit machte.
Hauptsächlich kündigten die großen Autobauer diese Sparprogramme
an, die sehr harte Einschnitte bei der Belegschaft darstellen. Egal
ob nun VW, Daimler, Audi oder auch Zulieferer wie Bosch, Continental,
Mahle, Brose; ja sogar der Chemiekonzern BASF hat Personalabbau von
insgesamt mehreren 10.000 Beschäftigten angekündigt.

Die offiziellen
Begründungen seitens der Kapitalist_Innen waren damals zumindest in
der Automobilindustrie immer dieselben: Neben den Altlasten des
„Abgasskandals“ müsse man auf die aktuellen Entwicklungen des
Weltmarktes reagieren, bzw. Geld für die bevorstehende
„Transformation“ beiseitelegen. Mit „Transformation“ ist hier
die Umstellung auf E-Mobilität gemeint, wie auch die Einführung von
Industrie 4.0 im Zuge einer weiter voranschreitenden Digitalisierung
der Produktionsprozesse. Laut Studien werden mehrere 100.000
Arbeitsplätze allein durch die Einführung vollständig
automatisierter Fertigungsprozesse überflüssig, die ohne
menschliches Zutun auf Basis der Nutzung von künstlicher Intelligenz
ablaufen und bei der die Maschinen mittels Datennetzen miteinander
kommunizieren. Nichts anderes bedeutet die Einführung von Industrie
4.0: Es wird ein riesiges Heer an Arbeitskräften freigesetzt, die
alle auf den Arbeitsmarkt drängen und nach Ersatzbeschäftigungen
suchen. Diese kann aber das bestehende System nicht anbieten, da
mögliche Umschulungsprogramme aus Kostengründen abgelehnt werden.

In den letzten 10
Jahren, also seit der letzten großen Finanzkrise, hat sich die
Weltwirtschaft sehr unterschiedlich entwickelt.
Zwar konnten sich große Binnenwirtschaften wie die der USA
wieder erholen und Länder wie China verzeichnen seit Jahren ein
permanent hohes Wirtschaftswachstum. Allerdings konnten andere
Wirtschaftsräume wie die EU kaum bis gar kein Wachstum erzielen, die
gegenteilige Entwicklung ist der Fall. Auch Lateinamerika, das eine
Zeit lang der Hoffnungsträger für die positive Entwicklung der
Weltwirtschaft war, steckt seit Jahren in einer zunehmenden Krise
fest. Allein Staaten wie Venezuela oder auch Argentinien stehen am
Rande des Staatsbankrotts mit noch nicht absehbaren Folgen für die
lokale wie auch die Weltwirtschaft und das trotz eines
Freihandelsabkommens zwischen den Staaten des Mercosur-Raumes und der
EU. Dies wurde noch mit einem beschleunigenden Niedergang an den
Rohstoffmärkten verstärkt. Vor allem der Ölpreis fiel schon seit
letztem September im Zuge fehlgeschlagener Verhandlungen zwischen den
ölfördernden Ländern rapide und man sprach schon von einer neuen
Ölkrise. Dies stellt eine existentielle Bedrohung für die Länder
dar, die von dessen Förderung abhängig sind. Hinzu kommen auch die
nach wie vor unklaren Auswirkungen des Brexits, bei dem die
Feinarbeiten an der Entflechtung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen
den EU-Staaten und Großbritannien erst begonnen haben.

Die
Corona-Pandemie ist also letztlich nur ein Auslöser aber nicht die
Ursache der Wirtschaftskrise. Diese liegt weitaus tiefer in der
kapitalistischen Produktionsweise selber. 2007/2008 ist sie in eine
tiefe Absatzkrise geraten, sodass die Produktivität und die
Investitionen massiv gesunken sind. Diese Krisenursachen wurden
jedoch nicht behoben, sondern nur durch Niedrigzinspolitik und
riesige Bankenrettungspakete abgefedert und das hat bis heute
destabilisierende Auswirkungen auf die Wirtschaft, indem sich zum
Beispiel durch Spekulation in einigen Sektoren große Blasen bilden.

Und dann auch noch
Corona

In diese Schwächelage
hat nun Anfang diesen Jahres ein weiterer Faktor die Karten neu
gemischt: das Corona-Virus. Die Auswirkungen und dabei vor allem die
notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung sorgen seitdem
dafür, dass die so empfindliche globalisierte Marktwirtschaft
vollends crasht. Wir sollten
uns jedoch nichts vormachen: Die Quarantänemaßnahmen, die in vielen
kapitalistischen Staaten beschlossen wurde, sind nicht aus
Menschenliebe passiert. Vielmehr drücken sie Kalkulationen des
Kapitals aus, dass eine ungehemmte Ausbreitung der Pandemie die
Wirtschaft mehr kosten würde, als es aktuellen Schutzmaßnahmen tun.
Das ewige Hinundher und das lange Zögern der bürgerlichen
Regierungen widerspiegeln diesen Abwägungsprozess, der darüber
hinaus auch schnell zu anderen Resultaten kommen kann.

Die Rezession hat sich
jedoch schon vor der Pandemie abgezeichnet: China als Lokomotive des
Weltmarktes wurde als erstes in der Millionenstadt Wuhan getroffen
und hat Ende Januar begonnen, riesige Gebiete vom Verkehr abzuriegeln
und mit Essen und medizinisch zu versorgen, was sowohl Kapital als
auch Arbeitskraft band. Das öffentliche Leben vor Ort kam durch
Ausgangssperren zum erliegen und in ganz China wurden
Wirtschaftsabläufe gestört und teilweise heruntergefahren, wenn
deren Produktion mit den abgeriegelten Gebieten zusammenhing. Dadurch
sank zunächst der Ausstoß und bald auch die Nachfrage des
chinesischen Marktes und damit kamen auch weltweite Produktions- und
Lieferketten zum Erliegen. Ironischer Weise kann etwa das
Organisieren von Nachschub für Atemschutzmasken schwieriger sein, da
diese überwiegend in China produziert werden. Auch Apple spürte die
ersten Auswirkungen schon damals, da z.B. der Elektronik-Riese
Foxconn ebenfalls überwiegend in China produzieren lässt und Apple
mit massenhaft Teilen beliefert. Daher wurde auch der
Produktionsbeginn für ein neues Smartphone um Monate verschoben.
Gerade anhand der Ausfälle in der Produktion kann man sehr gut
sehen, wie stark die Abhängigkeit von China als Produktionsstandort
weltweit geworden ist.

Diese Belastung wurde
selbstverständlich ungleich verstärkt, indem sich Covid-19 von
einer lokalen Massenerkrankung zur Pandemie entwickelt hat und nun
vor allem Europa und die USA betrifft. Dadurch bricht nun Panik aus,
jedes Land fährt einen nationalen Alleingang und die Grenzen werden
dicht gemacht. Dies blockiert nun auch hier die Produktions- und
Lieferketten. Dazu werden wie auch in China heftige und sehr
autoritäre Einschränkungen des öffentlichen Lebens wie
Ausgangssperren und Zwangsschließungen öffentlicher Treffpunkte
verordnet. Zwar werden die meisten Industriestandorte nicht
zwangsgeschlossen, doch aus Gewinneinbrüchen fahren Stück für
Stück alle großen Betriebe runter: Zunächst die Flug- und
Reiseunternehmen, nun auch die Autoindustrie, Zulieferer,
Chemieunternehmen und weite Teile der restlichen Industrie. Wenige
schaffen es, dann doch noch mit der Krise ihre Profite zu machen:
Trigema macht jetzt Atemschutzmasken, BASF Desinfektionsmittel,
Maschinenbauunternehmen wechseln zu Beatmungsgeräten.
Selbstverständlich ist das bloß ein Tropfen auf den heißen Stein,
die deutsche Industrie hat momentan nichts zu lachen und die Börsen
befinden sich auch im freien Fall. Wie tief der Fall wird, kann
natürlich niemand voraussehen.

Wie
die Staaten reagieren und was wir machen müssen!

Die staatlichen Hilfsmaßnahmen für das nationale Kapital sind dabei weitestgehend ausgereizt: Der Leitzins kann nicht mehr gedrückt, die Steuern für’s Kapital kaum noch herabgesenkt werden. Klar ist, dass die Unternehmen versuchen werden, die Kosten der Krise auf die Arbeiter_Innenklasse abzuladen. Wenn wir keinen Widerstand organisieren, warten also massive Entlassungswellen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Sozialkürzungen und der weitere Abbau öffentlicher Dienstleistungen auf uns.

Ebenso
werden die kapitalistischen Staaten, die zur Eindämmung der Pandemie
dringend nötigen Einschränkungen von Produktion und öffentlichem
Leben nicht solange aufrechterhalten können, wie es aus
medizinischer Sicht notwendig wäre. Kein kapitalistischer Staat kann
über mehrere Monate oder gar Jahre hinweg mit einem so niedrigen
Produktionsniveau überleben. Da im Kapitalismus Profite mehr als
Menschenleben zählen, werden die Infektionsschutzmaßnahmen
spätestens dann zurückgefahren, wenn sie für die Kapitale zu teuer
werden. Und, wenn ein Staat beginnt die Wirtschaft wieder
hochzufahren, müssen die anderen nachziehen, da ein derartiger
Konkurrenznachteil ihr volkswirtschaftliches Todesurteil bedeuten
könnte. Es warten also nicht nur massive soziale Angriffe, sondern
auch ein tausendfaches Sterben auf uns.

Eine
internationale sozialistische Planwirtschaft könnte dagegen über
längere Zeit hinweg mit dem rein gesellschaftserhaltenden
Produktionsniveau überleben, da es in ihr ja keinen
konkurrenzbedingten Zwang zur Profitmaximierung gibt. Ebenso wäre
sie weitaus schneller und effektiver in der Lage, die Produktion auf
die dringend notwendigen Güter wie Beatmungsgeräte,
Desinfektionsmittel, Atemschutzmasken etc. umzustellen. Es gäbe
genug Intensivbetten für alle, da das Gesundheitssystem als
gesellschaftliche Aufgabe verstanden wird, in der Sparmaßnahmen,
Privatisierungen, Pflegemangel oder Fallpauschalen keinen Sinn
ergeben. Auch die ökonomische Existenz eines jeden Menschen wäre
gesichert, da niemand um seinen_ihren Arbeitsplatz oder seine_ihre
Miete fürchten müsste. Da es auch keine nationale Abschottung und
Konkurrenz um das Patent für Impfstoffe gäbe, wäre auch (im
Gegensatz zu den aktuellen nationalen Alleingängen) ein
koordiniertes internationales Vorgehen gegen die Pandemie möglich.

Der Kampf für ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem beginnt damit, dass wir uns den geplanten Angriffen auf unsere Klasse entgegenstellen. Die Gewerkschaften und Arbeiter_Innenparteien sind dagegen aktuell eher auf nationalistischen Kuschelkurs mit dem Kapital aus. Aus den Reihen der Linkspartei wurde geäußert, dass es aktuell „nicht die Zeit für Oppositionspolitik“ sei. Wir Arbeiter_innen, Jugendliche und Migrant_innen müssen unsere Interessenvertretungen durch eigene Forderungen unter Druck setzen und selber die Initiative ergreifen, wenn wir das Schlimmste verhindern wollen. Wir fordern:

  • Keine Entlassungen während der Pandemie! Volle Lohnfortzahlung aus den Profiten der Kapitalist_Innen!
  • In Berufen, die die gesellschaftliche Grundversorgung garantieren, müssen die Arbeiter_Innen ausreichenden Arbeitsschutz, Arbeitszeitverkürzungen und massive Lohnerhöhungen erhalten!
  • In allen Berufen 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn und Personalausgleich!
  • Kostenlose Test-Kits, Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel, Seife und Handschuhe für alle! Die dafür notwendigen Fabriken müssen sofort entschädigungslos enteignet und unter Kontrolle der Beschäftigten gestellt werden, um die Produktion auf die notwendigen Güter umzustellen. Für Beatmungsgeräte statt SUVs!
  • Verstaatlichung aller Kliniken, Pharmakonzerne, Forschungsinstitute und Labore!
  • Für offene Grenzen, um auch Menschen aus anderen Ländern vor Corona retten zu können!
  • Corona war nur Auslöser der Krise, nicht die Ursache! Das Problem liegt im kapitalistischen System!



Droht der Krieg in Syrien zum Flächenbrand zu werden?

von Dilara Lorin und Martin Suchanek, zuerst erschienen unter
http://arbeiterinnenmacht.de/2020/02/29/krieg-syrien/

Hunderttausende, wenn nicht Millionen, befinden sich in Syrien auf der Flucht. Die Offensive der syrischen Armee sowie ihrer russischen und iranischen Verbündeten sollte ein weiteres blutiges Kapitel im Bürgerkrieg zum Abschluss bringen – die Rückeroberung Idlibs samt Vertreibung Hunderttausender, der Zerschlagung der oppositionellen bewaffneten Gruppen – egal ob nur dschihadistisch, pro-westlich oder verbliebene Restbestände der demokratischen Opposition.

Zweifellos kalkulierten das syrische Regime wie auch seine Verbündeten, dass sie dieses mörderische Unternehmen rasch durchziehen konnten. Protestnoten der zur „Weltgemeinschaft“ hochstilisierten westlichen Mächte waren einkalkuliert, ein Stillhalten der Türkei, der Russland (und damit das Assad-Regime) wichtige Teile Nordsyriens und vor allem Rojavas überlassen hatten, ebenfalls.

Doch wie schon in Libyen erweist sich die Putin-Erdogan-Allianz als brüchig. Sie ist praktisch am Ende. Beide Räuber, beide „Sieger“ wollen ihren Teil vom Kuchen. Das Assad-Regime will erst recht nicht mehr auf die Türkei Rücksicht nehmen.

Umgekehrt droht nun der Krieg, selbst zu eskalieren, von einem StellvertreterInnenkrieg in einen heißen Krieg umzuschlagen. Selbst wenn keine der Parteien diese Entwicklung anstrebt, so spielen sie doch mit dem Feuer. Während Russland weitere Kriegsschiffe ins Mittelmeer beordert, ruft die Türkei die NATO-PartnerInnen an. Die Trump-Administration sieht die Chance gekommen, verlorenen Einfluss wiederherzustellen, und verspricht Unterstützung. Die NATO erklärt ihre Solidarität mit dem Mitgliedsstaat, auch wenn sie noch offenlässt, welche praktischen Formen diese annehmen soll. Bei allem Gerede von Besorgnis ob der Eskalation könnte sich die Konfrontation in den nächsten Tagen massiv zuspitzen, im extremsten Fall aus dem syrischen BürgerInnenkrieg ein Krieg zwischen Russland und NATO werden.

Lage in der Türkei

Im Folgenden wollen wir die Lage in der Türkei genauer betrachten.

In den vergangenen Tagen starben laut türkischen Nachrichtenagenturen bis zu 33 Soldaten in Idlib, einer Stadt im Nordwesten Syriens, durch syrische Luftangriffe. Laut der kurdischen Nachrichtenagentur ANF (Firatnews Agency) sind bis zu 113 Soldaten ums Leben gekommen. Mehrere Videoaufnahmen kursieren im Internet, die von mehreren hundert „Märtyrern“ sprechen, und türkische Soldaten beklagen, „man komme aus Idlib nicht mehr lebend heraus“.

Der Kurznachrichtendienst Twitter ist seit gestern Abend in der Türkei geschlossen, um keine weiteren Meldungen über den Krieg und die getöteten Soldaten zu verbreiten. Aber die Grenzregion zu Syrien liegt lahm, die Krankenhäuser sind überfüllt mit Leichen und das Gesundheitsministerium ruft die Bevölkerung dazu auf, Blut zu spenden. Das deutet darauf hin, dass die Opferzahlen wahrscheinlich viel höher sind als die 33.

Die Türkei führt gerade einen offenen Krieg in Syrien gegen das Assad-Regime, faktisch auch einen gegen seinen Verbündeten Russland. Dass die Türkei seit dem 27. Februar ihre Grenzen nach Europa für syrische Geflüchtete geöffnet hat und und diese nicht mehr darin hindert, dorthin auszureisen, bedeutet für sie nur, die Geflüchteten als Spielball zu benutzen. Sie möchte damit die EU unter Druck setzen und zwingen, im Krieg um Idlib auf ihrer Seite einzugreifen oder jedenfalls Unterstützung zu gewähren. Dies könnte auch zu einem Krieg zwischen Türkei, EU und Russland führen.

Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu steht im Telefonkontakt mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Dieser verkündete am 28. Februar, dass die NATO die Türkei auch militärisch unterstützen und die Luftverteidigung stärken wird. Teile der NATO stellten sich schon vorher und während des Manövers in Idlib auf die Seite der Türkei, welche mit dschihadistischen Truppen wie der Division Sultan Murad und Ahrar Al-Sharqiya (Freie Männer des Ostens) zusammen kämpft.

Das Leid der 3 bis 4 Millionen ZivilistInnen in Idlib jedoch wird in der Türkei kaum gehört. Mehrere tausende Menschen, welche vom syrischen Regime teils zwangsumgesiedelt wurden, befinden sich in Idlib unter türkisch-dschihadistischem und syrisch-russischem Beschuss.

Während Russland und Syrien, die Türkei und USA Stellung beziehen und eine weitere Eskalation droht, laviert die schwächelnde EU. Sie fordert ein Ende der Kampfhandlungen, unterstützt zur gleichen Zeit den NATO-Verbündeten. Mit der Türkei freilich hadert sie um die Frage der Geflüchteten, denen sie auf keinen Fall helfen will.

Die Öffnung der türkischen Grenzen bedeutet längst nicht, dass die Menschen, die fliehen, allzu weit kommen. Frontex wurde in den letzten Jahren weiter aufgerüstet, an die EU-Außengrenzen werden mehr und mehr Polizei und Grenzschutzeinheiten beordert. Wird der Andrang zu groß, kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass der bewaffnete Arm der Frontex auf Menschen an den Grenzen schießen wird. Es droht somit eine humanitäre Krise der Menschen in Idlib und der Millionen Flüchtlinge des Bürgerkriegs.

Aktuell sammeln sich größere Gruppen von Geflüchteten vor Edirne, einer türkischen Grenzstadt nahe Bulgarien und Griechenland, sowie in Izmir und anderen Hafenstädten im Westen der Türkei und versuchen, der Hölle von Bürgerkrieg und Vertreibung zu entkommen. Wir brauchen offene Grenzen für alle! Jetzt sofort! Wir müssen gemeinsam dafür kämpfen, dass alle, die nach Europa wollen, sichere Fluchtwege über Meer oder Land erhalten und sich in den Ländern ihrer Wahl niederlassen, arbeiten und eine Existenz aufbauen können.

Geostrategische Gründe

Der türkische Einmarsch in Syrien erfolgte – wie die Intervention aller anderen Mächten – aus geostrategischen Gründen. Ursprünglich ausgezogen, Assad selbst zu stürzen, will Erdogan nun ein möglichst großes Stück von der Beute, sprich die Neuordnung des Landes mitbestimmen. Den Einmarsch türkischer Truppen, die Eroberung Afrins und anderer kurdischer Städte stellt er als Akt der „Verteidigung“ des Landes dar, ganz so wie Russland, Iran und Syrien die brutale Wiedererrichtung des Assad-Regimes zum „Kampf gegen den Terrorismus“ verklären.

Doch der Krieg könnte für Erdogan leicht zum Bumerang werden. Die Türkei befindet sich in einer wirtschaftlich sehr schlechten Lage und ein Krieg trägt sicherlich nicht zu einer Erholung bei. Im Gegenteil, die ArbeiterInnenklasse wird zu den Kriegen einberufen und muss für die Interessen eines Staates sterben, der vielen nicht einmal genug zum Überleben bieten kann. Der Mindestlohn reicht kaum, um sich und seine Familie zu ernähren. Die Lebensqualität sinkt mit jedem anbrechenden Tag und nun werden junge Lohnabhängige auch noch zur Armee berufen, um in einem Krieg zu sterben, der in keinster Weise ihren Interessen dient.

So wie die ArbeiterInnenklasse Russlands oder Irans, so muss auch die türkische ArbeiterInnenklasse „ihrer“ Regierung jede Unterstützung verweigern. Der Krieg Erdogans ist nicht unser Krieg. Es hilft jedoch nicht, sich über den Tod türkischer Truppen und Soldaten zu freuen, es kommt darauf an, Erdogan und das Regime zum Rückzug aus Syrien zu zwingen – und zwar nicht nur aus Idlib, sondern auch aus Rojava und allen anderen Gebieten.

Ein Rückzug aus Idlib allein – ob nun infolge syrisch-russischer Militärschläge oder durch ein weiteres „Waffenstillstandsabkommen“ – würde schließlich bedeuten, dass sie weiter Besatzungsmacht in Nordsyrien/Rojava bleibt. So kontrolliert sie strategisch wichtige Verkehrsknotenpunkte der nordsyrischen Region wie die Autobahn M14, die Antalya mit Mossul verbindet, und dem türkischen Staat dienen soll, im arabischen Raum besser Fuß zu fassen. Sie wird weiterhin Besatzungsarmee der kurdischen Gebiete sein und dschihadistische Strukturen weiter aufbauen, bewaffnen und unterstützen.

Nein zum Krieg! Abzug aller imperialistischen Truppen und Regionalmächte!

In der Türkei, in Russland und den NATO-Staaten brauchen wir eine breit aufgestellte Einheitsfront von Organisationen, Gewerkschaften und Parteien der ArbeiterInnenklasse. Denn nur die ArbeiterInnenklasse kann in internationaler Solidarität mit den Geflüchteten, KurdInnen, der ArbeiterInnenklasse und demokratischen Opposition in Syrien diesen Krieg stoppen! Wer soll eingezogen werden, wenn wir streiken? Wie soll die Türkei weiter Krieg führen, wenn die ArbeiterInnenklasse sich mit den bis zu vier Millionen ZivilistInnen in Idlib und den drei Millionen KurdInnen in Nordsyrien solidarisiert, auf die Barrikaden geht und einen Generalstreik ausruft?

Alle Räder stehen still, wenn die Klasse das auch will, und natürlich ist damit auch das Rad eines Panzers gemeint!

Wir brauchen keine weiteren imperialistischen AkteurInnen und Regionalmächte im Krieg in Syrien, die allesamt nur für ihre eigenen Profite und strategischen Interessen kämpfen. Es war schon ein richtiger Schritt, dass sich viele türkische und internationale Linke gegen den Einmarsch der Türkei in die kurdischen Gebiete in Syrien aussprachen und sich mit den KurdInnen solidarisierten, aber Solidarität darf und kann nicht bei Lippenbekenntnissen stehenbleiben! Es muss eine gemeinsame Mobilisierung diskutiert und umgesetzt werden, um die drohende Ausweitung des Kriegs zu verhindern und der Zivilbevölkerung in Idlib beizustehen.

Die ArbeiterInnenklasse, die Gewerkschaften müssen erkennen, dass die Intervention der Türkei in Syrien nicht dem Schutz der Bevölkerung dient, sondern nur eigenen Machtinteressen und der Verhinderung kurdischer Selbstbestimmung. Sie muss erkennen, dass eine etwaige US-amerikanische oder NATO-Intervention nur dazu führen, kann dass der Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten eine militärische Form annimmt, sich zu einem internationalen Flächenbrand ausweiten kann. Daher: Nein zu jeder NATO-Intervention! Abzug aller deutschen, französischen, US-amerikanischen Truppen, nein zu allen westlichen imperialistischen Sanktionen! Öffnung der EU-Grenzen für die Flüchtlinge! Sie muss aber auch erkennen, dass die Intervention Russlands und Irans keinen Akt des „Anti-Imperialismus“, sondern selbst nur nackte und brutale Verfolgung eigener geostrategischer Interessen bedeutet. Sie muss erkennen, dass sie mit dem Assad-Regime eine mörderische Kriegsmaschinerie am Leben hält, die für den Tod Hunderttausender und die Vertreibung von Millionen verantwortlich ist.

Ob sich der Krieg in Syrien zu einer internationalen Konfrontation ausweitet oder ob er am Verhandlungstisch auf dem Rücken der Bevölkerung“ befriedet” wird – wir dürfen nicht auf die Assads und Erdogans, die Putins und Trumps, aber auch nicht die Merkels und Macrons unsere Hoffnungen setzen. Sie sind alle Teil des Problems.

Nur eine gemeinsame, internationale Anti-Kriegsbewegung, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützt, kann in der Aktion verhindern, dass sich der syrische BürgerInnenkrieg weiter ausweitet, ja zu einer Konfrontation zwischen NATO und Russland wird.

  • Abzug aller imperialistischen Truppen und Regionalmächte aus Syrien, vor allem der türkischen, russischen und iranischen Truppen!
  • Nein zu jeder Intervention und Waffenlieferungen an Erdogan oder Assad!
  • Abzug aller NATO-Truppen aus der Region, Schließung der NATO-Basen in der Türkei!
  • Schluss mit dem EU-Türkei-Deal! Öffnung der europäischen Grenzen für alle Geflüchteten!
  • Unterstützung für Rojava sowie für die ArbeiterInnenklasse, die demokratische und sozialistische Opposition in Syrien!



Flucht und Sexismus

Lydia Humphries, Unterstützerin Red Flag Großbritannien,
Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Die Reisen von Frauen, intersexuellen und nichtbinären
Menschen, die nach Großbritannien einwandern, werden durch die Bedrohung durch
sexuelle Übergriffe, Ausbeutung und Gewalt erschwert und gefährlich. Wenn sie
in Großbritannien ankommen, sehen sie sich den rassistisch-frauenfeindlichen, -homophoben
und -transphoben Strukturen des britischen Einwanderungssystems gegenüber.

Die unmenschlichen Praktiken der Inhaftierung in Abschiebezentren
für EinwanderInnen (IRCs) werden durch die institutionell vorherrschenden
sexuellen Übergriffe verstärkt. Viele der Personen in den IRCs fliehen bereits
vor Missbrauch, was ihre Inhaftierung nach britischem Recht illegal macht. Aber
eine gut dokumentierte „Kultur des Unglaubens“, die in der „feindlichen
Umgebung“ Großbritanniens eingebettet ist, lässt MigrantInnen, die sexuelle
Übergriffe überlebt haben, oft schutzlos zurück. Eine solche Ungläubigkeit
konfrontiert LGBTQI+-Menschen, die vor Verfolgung wegen ihrer Sexualität oder
geschlechtlichen Identität fliehen, wobei viele gezwungen sind, ihre
Unterdrückung vor Berufungsgerichten zu „beweisen“, und ihnen diese dennoch
immer noch nicht geglaubt wird.

Die AktivistInnen arbeiten gegen die volle Kraft des
rassistischen und chauvinistischen britischen Staates, um auf die
Entmenschlichung von MigrantInnen aufmerksam zu machen. Im Jahr 2018 traten 120
Menschen in Yarl’s Wood in den Hungerstreik, um gegen die unbefristete Haft,
ausbeuterische Arbeit, den Mangel an angemessener medizinischer Versorgung und
die nicht freiwillige Abschiebung zu protestieren, neben
geschlechtsspezifischeren Themen wie der Inhaftierung von
Missbrauchsüberlebenden. Im Jahr 2016 enthüllten Stonewall und die Lesben- und
Schwulen-Immigrationsgruppe des Vereinigten Königreichs den fehlenden Zugang zu
Medikamenten, Schutz und „sicherer Zuflucht“ für LGBTQI+-Personen in Haft.

An anderer Stelle protestierte der Südost-Londoner Zweig der
feministischen Direktaktionsgruppe Sisters Uncut gegen die Anstellung von
EinwanderungsbeamtInnen in den örtlichen Diensten für häusliche Gewalt und
beleuchtete, wie zwischenmenschliche und staatliche Gewalt ineinandergreifen,
so dass Frauen und nichtbinäre MigrantInnen aus Angst vor Abschiebung ihre Täter
nicht verlassen können. Diese Kampagne lenkte auch die Aufmerksamkeit auf die
Auswirkungen von No Recourse to Public Funds (Kein Rückgriff auf öffentliche
Gelder; NRPF), einer Bedingung für den Einwanderungsstatus aus
Nicht-EU-Ländern, die MigrantInnen und Asylsuchenden den Zugang zu sozialen
Ressourcen wie Flüchtlingsbetten verwehrt, wogegen die sich die Labour-Kampagne
für Freizügigkeit wendet.

Während solche Kampagnen diese Themen weiter ins politische
Rampenlicht gerückt haben, waren die Reaktionen der PolitikerInnen frustrierend
unzulänglich. In ihrem Manifest für 2019 verpflichtete sich die Labour Party
zur Schließung der berüchtigten, gewalttätigen Gefangenenlager Yarl’s Wood und
Brook House, ohne sich jedoch unmissverständlich gegen die Einwanderungshaft
auszusprechen.

Darüber hinaus lösen PolitikerInnen oft die Probleme, mit
denen Migrantinnen konfrontiert sind, von dem „feindlichen Umfeld“ und den
damit verbundenen Sparmaßnahmen ab, in die sie eingebettet sind. Ein Beispiel
für diese Praxis ist der Fokus liberaler feministischer Abgeordneter auf den
Sexhandel. Wie die Autorinnen von „Revolting Prostitutes“, Molly Smith und Juno
Mac, argumentieren, stellen Kampagnen gegen den Menschenhandel ihn oft so dar,
als ob einzelne Männer die Frauen in eine böse Sexindustrie entführen, und
leugnen die Tatsache, dass der Menschenhandel oft dann stattfindet, wenn
diejenigen, die bereits migrieren wollen, aufgrund des Mangels an sicheren,
erschwinglichen und legalen Wegen, über die sie sich bewegen können, der
Ausbeutung ausgesetzt werden.

Solche Kampagnen führen oft zu Forderungen nach der
Kriminalisierung von Sexarbeit als Lösung für den Menschenhandel. Die
Labour-Abgeordneten Jess Phillips und Sarah Champion, prominente Mitarbeiterinnen
des parteiübergreifenden parlamentarischen Ausschusses „Prostitution und
weltweiter Sexhandel“, spiegeln diesen Gedankengang wider. Sie verknüpfen
routinemäßig Menschenhandel mit Sexarbeit und nutzen ihre Unterstützung für die
Opfer des Menschenhandels, um für das nordische Modell zu werben, eine Politik,
für die Jeremy Corbyn ebenfalls vage Lippenbekenntnisse abgegeben hat, die
Käufer von Sexarbeit und Dritte, die mit dieser in Verbindung stehen,
kriminalisieren würde.

Wie SexarbeiterInnen in aller Welt argumentieren, würde jede
Form der Kriminalisierung das Überleben von SexarbeiterInnen grundlegend
erschweren. Dazu gehören auch migrantische SexarbeiterInnen, die sich
möglicherweise für Sexarbeit entscheiden, weil sie keine gesetzlichen Rechte
auf Arbeit oder den Zugang zu Sozialleistungen haben, Aspekte eines „feindlichen
Umfelds“, die tief mit denselben gewaltsam rassistischen Grenzen verflochten
sind, die andere für MenschenhändlerInnen anfällig machen.

So übersieht die Verschmelzung von Sexarbeit und
Menschenhandel – die Schuld für beides wird der männlichen Gewalt zugeschoben –
die Art und Weise, in der beide als unterschiedliche geschlechtsspezifische
Manifestationen der rassistischen und migrantenfeindlichen Strukturen der
Klassengesellschaft angesehen werden können, die zu überleben versucht wird.
Sie ignoriert auch die Realität, dass die Wege in die Sexarbeit, auch für
MigrantInnen, oft durch einen Mangel an gut bezahlten alternativen
Beschäftigungsmöglichkeiten und durch Kürzungen der Sozialleistungen, die den
Schwächsten schaden, genährt werden. Eine solche Rhetorik verschleiert also die
gemeinsamen Unterdrückungen zwischen MigrantInnen und anderen Menschen aus der
ArbeiterInnenklasse, was den Aufbau von Solidarität zwischen den Gruppen
erschwert.

Dieser Fokus auf den Menschenhandel trägt auch dazu bei,
dass die gewalttätigen patriarchalischen Kräfte in den halbkolonialen Ländern
vereinfacht mit dem Vereinigten Königreich kontrastiert werden, das als
liberaler sicherer Hafen für Frauen und LGBTQI+- Menschen dargestellt wird.
PolitikerInnen aller Couleur haben diese Rhetorik wiedergekäut. Wie die
Schriftstellerin Maya Goodfellow argumentiert, verschleiert die Förderung
Großbritanniens als ein einladender, fortschrittlicher Staat seine gewaltsam
kolonialistische Geschichte und seine bewusst „feindliche“ Gegenwart.

Jede linke oder sozialistische Alternative muss diese
Rhetorik grundlegend in Frage stellen. Wir müssen erkennen, dass die
miteinander verflochtene Einwanderungs- und Sparpolitik Großbritanniens
entscheidend zur gewaltsamen Unterdrückung von Frauen und nichtbinären MigrantInnen
beiträgt. Dies muss ein Engagement für offene Grenzen und die Bereitstellung
sicherer Migrationsrouten durch Europa und darüber hinaus einschließen, wobei
das „feindliche Umfeld“ in Frage gestellt werden muss, das Frauen und
LGBTQI+-Asylsuchende weiter dem Missbrauch aussetzt und sie dann zwingt, diesen
Missbrauch erneut zu erleben, um Zuflucht zu finden. Es gibt keine „humanen“
Gefangenenlager, und der Kampf für Frauenrechte muss den für die Beendigung der
unbefristeten Haft und die Schließung von IRCs für EinwanderInnen einschließen.
Die Unterstützung für die Opfer von Menschenhandel muss mit der Unterstützung
der Rechte von SexarbeiterInnen einhergehen, wobei die entscheidenden Unterschiede
zwischen Menschenhandel und Sexarbeit anerkannt werden müssen. Dennoch muss man
verstehen, wie beide mit einem Kontext von Grenzen, Sparmaßnahmen und dem
Mangel an sicheren, legalen Alternativen zusammenhängen. Grundsätzlich müssen
wir anerkennen, dass die Rechte von Frauen und MigrantInnen Klassenfragen und
ein integraler Bestandteil des Kampfes für den Sozialismus sind.




LGBTQ in Tunesien: Interview mit einem tunesischen Aktivisten

Robert Teller, Gruppe ArbeiterInnenmacht Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Alaa Khemiri ist ein tunesischer Rechtsanwalt, der auf die Verteidigung von LGBTQ-Menschen vor staatlicher Repression spezialisiert ist. Er ist seit der Revolution von 2011 ein Aktivist in der tunesischen Linken.

Hallo Alaa. Du bist Rechtsanwalt und
verteidigst LGBT-Menschen, die in Tunesien von staatlicher Repression betroffen
sind. Wie sieht diese Repression aus?

Die LGBT-Community wird vom tunesischen
Staat mithilfe des Strafrechts verfolgt. Gemäß Artikel 230 des Strafgesetzbuchs
steht auf homosexuellen Geschlechtsverkehr bis zu 3 Jahre Gefängnis und eine
zusätzliche Geldstrafe. Artikel 226 richtet sich gegen Transgender-Personen,
weil diese die „öffentliche Moral“ verletzen. Darüberhinaus sind die
tunesischen Gerichte Homosexuellen gegenüber feindlich eingestellt. Sie wenden
nicht nur die genannten Paragraphen an, sie gehen sogar über die gesetzlichen
Straftatbestände hinaus und behandeln die homosexuelle Identität als
Verbrechen, obwohl Artikel 230 nur den Geschlechtsverkehr kriminalisiert und
nicht bereits die sexuelle Orientierung.

In der Praxis wandern Homosexuelle ins
Gefängnis, ob sie sexuelle Beziehungen hatten oder nicht. Die tunesischen
Gerichte ordnen bei männlichen Homosexuellen Anal-Untersuchungen an, um
sexuelle Kontakte nachzuweisen. Andere Gerichte gehen sogar noch weiter.
Manchmal reicht es aus, dass ein Mann „verweiblicht“ erscheint, damit ein
Gericht ihn als Homosexuellen ansieht und entsprechend bestraft.

Lesbische Frauen und bisexuelle Frauen und
Männer haben es etwas leichter. Gerichte können Homosexualität bei Frauen nur
schwer nachweisen, weil kein medizinischer oder sonstiger „Test“ hierfür
anerkannt ist. Auch bisexuelle Männer können nur schwer der Homosexualität
„überführt“ werden, sofern sie mit einer Frau verheiratet oder verlobt sind.
Die Heirat verleiht ihnen eine soziale Legitimität. Viele Homosexuelle heiraten
aus diesem Grund, um ihre wirkliche Identität zu verbergen und gesellschaftlicher
Stigmatisierung und Ausgrenzung zu entgehen.

Tunesien scheint nach der Wahl von Kais
Saied von einer Welle des Populismus erfasst zu sein, wie auch viele andere
Länder. Denkst du, dass es für LGBT-Menschen schwieriger wird?

Die rechtliche Situation für Homosexuelle
hat sich nicht verändert. Aber die Äußerungen von Kais Saied vor der Wahl waren
homophob und populistisch. Für ihn ist Homosexualität pervers und ein Virus,
das der Westen verbreitet hat, um die tunesische Gesellschaft zu zerstören.

Auf welche Weise sind junge LGBT-Menschen
speziell von Unterdrückung betroffen, etwa in der Schule, an der Uni oder in
ihrer Familie?

Abgesehen von der systematischen
rechtlichen Unterdrückung erfahren Homosexuelle gesellschaftlichen Hass und
Zurückweisung. Viele Familien werfen ihr Kind aus dem Haus, wenn sie von seiner
Homosexualität erfahren – um Einschüchterung durch die erweiterte Großfamilie
oder das soziale Umfeld zu vermeiden. Auch in Schulen werden Homosexuelle Opfer
von Hass und Einschüchterung, und deshalb versuchen sie normalerweise, ihre
sexuelle Identität zu verheimlichen und dem gesellschaftlichen Mainstream zu
folgen, um gesellschaftlicher Ausgrenzung und staatlicher Repression zu
entgehen.

Welche Gründe hat die Diskriminierung von
LGBT-Personen, abgesehen von den gesetzlichen Regelungen?

Die Ausgrenzung entspringt der islamischen
Doktrin und den islamischen Institutionen. Der orthodoxe Islam sieht als Strafe
für Homosexualität die Todesstrafe vor. Der islamische Diskurs in Tunesien ist
hasserfüllt, Homosexuelle werden als pervers oder krank betrachtet. Die
islamischen Institutionen sind das größte Hindernis für Gleichberechtigung.

Staat, Religion und Gesellschaft
akzeptieren in Tunesien Homosexualität nicht, sie verbreiten Propaganda, um deren
sexuelle Identität zu erniedrigen, die sie als Bedrohung für Werte und Moral
der Gesellschaft betrachten. Die tunesische Gesellschaft ist für ihren
Konservatismus bekannt. Sogar viele Abgeordnete betrachten Homosexualität als
Sünde.

Die Tunesische Revolution hat den
Klassenkampf in Tunesien stark bestimmt. Gab es seither Verbesserungen bei den
Rechten von LGBT-Menschen?

Der einzige Fortschritt ist, dass das Thema
nun öffentlich debattiert wird. Vor 2011 war es ein Tabu, man konnte es nicht
öffentlich ansprechen. Das ist der Verdienst von LGBTQ-Vereinigungen, die das
Thema in die Öffentlichkeit gebracht haben.

Welche Positionen gibt es in den
traditionellen Organisationen der tunesischen Linken dazu? Ist sexuelle
Befreiung für sie eine Priorität?

Die traditionelle Linke ist konservativ und
betrachtet LGBTQ-Rechte nicht als Priorität ihres Kampfes. Selbst wenn dieses
Thema diskutiert wird, verteidigen die konservativen Linken die LGBT-Community
nicht. Sie betrachten das als zweitrangig gegenüber der Verteidigung
ökonomischer und sozialer Errungenschaften.

Wie organisieren sich LGBT-Menschen in
Tunesien, um für ihre Rechte zu kämpfen? Was ist deiner Meinung nach notwendig,
um den Kampf voranzubringen?

Nach der Revolution 2011 haben sich viele
Vereinigungen gegründet, die das Ziel haben, die LGBTQ-Community zu verteidigen
– und zwar zum ersten Mal in der Geschichte Tunesiens und der arabischen Welt
überhaupt. Es gibt mehr als 5 verschiedene Organisationen, die sich der
gegenseitigen Hilfe und Verteidigung der LGBTQ-Community verschrieben haben,
etwa die Organisationen „Shams“, „Damj“ und „We exist“.

Diese Organisationen machen kontinuierlich
öffentliche Kampagnen. Eine von ihnen veranstaltet seit 2015 ein jährliches
Festival für Queer-Kultur. Shams hat einen eigenen Radiosender gestartet,
„Shams Rad“, der die Belange der LGBTQ-Community verteidigt.

Dennoch, die Strategie bei den meisten
dieser Organisationen zielt nicht darauf ab, die gesellschaftliche Wahrnehmung
gegenüber LGBTQ-Menschen zu verändern, sondern durch Lobbyarbeit auf die
liberalen Kräfte einzuwirken, um die homophobe Gesetzgebung zu beseitigen. Sie
finden es zu schwer, die gesellschaftlichen Ansichten über die homosexuelle
Identität in der tunesischen Gesellschaft ändern zu wollen.

Sie versuchen durch Öffentlichkeitsarbeit,
die liberalen Kräfte und die ausländischen Stiftungen in Tunesien zu
sensibilisieren, um damit politische Entscheidungen zu beeinflussen. Ich denke,
die Community sollte geschlossen auftreten und Druck auf das Parlament ausüben,
die homophobe Gesetzgebung zu ändern.

Tunesien wird oft als das
fortschrittlichste nordafrikanische Land beschrieben, was Frauenrechte
betrifft. Trifft das zu, und widerspricht das der Situation von LGBT-Personen?

Die tunesische Gesetzgebung in Hinblick auf
die Rechte von Frauen ist tatsächlich die fortschrittlichste in ganz Nordafrika
und dem Nahen Osten, aber das gilt eben nicht für die LGBTQ-Gesetzgebung – die
ist genauso reaktionär wie überall im arabischen Raum.




Rechtsruck: Warum sind die Rechten so reaktionär gegenüber Frauen?

Saskia Wolf, Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Ob nun in den USA durch Trump, Duterte auf den Philippinen,
Modi in Indien, Le Pen in Frankreich oder die AfD in Deutschland, seit mehreren
Jahren erleben wir international ein Erstarken der Rechten. Dies geht einher
mit Asylgesetzverschärfungen, Abschiebekampagnen, Angriffen auf Geflüchtete und
Migrant_Innen. Aber nicht nur Nationalismus und Rassismus nehmen zu. Auch
Angriffe auf demokratische Grundrechte und fortschrittliche Gesetze für Frauen
und die Frauenbewegung gehen damit einher. Wir schreiben also das Jahr 2020.
Anstatt dass wir der Befreiung aus der sexuellen Unterdrückung näherkommen,
gibt es ein Rollback für Frauen, ein Zurückwerfen auf ihre Rolle als Mutter und
Hausfrau. Aber warum haben rechte und konservative Kräfte es auf die Freiheit
der Frauen abgesehen?

Seit der Weltwirtschaftskrise 2007/08 hat sich die
Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalist_Innen und ihren Staaten verschärft.
Es kam zu einer massiven Konzentration von Kapital. Gerade die größeren
Monopole konnten davon profitieren, während kleinere Unternehmen nicht
mithalten konnten.

Kleinere UnternehmerInnen,
auch gerne als Mittelstand bezeichnet, haben Angst, ihre Stellung zu verlieren
und pleitezugehen. Getrieben von der Angst des sozialen Abstieges fangen sie
an, laut herumzubrüllen: Protektionismus, Nationalchauvinismus,
Standortborniertheit, das sind ihre Argumente, um sich zu schützen. Kurz
gesagt: Sie wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen, um nicht ihren Reichtum
zu verlieren. Sie wollen den globalen Kapitalismus also auf reaktionäre Art
bekämpfen.

Mit der Fokussierung
auf Nationalstaat und Protektionismus geht auch einher, dass das Ideal der
„bürgerlichen Familie“ gestärkt werden muss. Denn im Kapitalismus ist die
Arbeiter_Innenfamilie der Ort, wo unbezahlte Reproduktionsarbeit stattfindet.
Ob nun Kindererziehung, Altenpflege, Waschen oder Kochen – all das reproduziert
die Arbeitskraft der einzelnen Arbeiter_Innen und sorgt gleichzeitig dafür,
dass dem Kapital die Produktivkraft nicht ausgeht. Oftmals wird diese
unbezahlte Hausarbeit von Frauen verrichtet. Diese Arbeitsteilung wird dadurch
gefestigt, dass Frauen weniger Lohn als Männer bekommen und sie somit nach
einer Schwangerschaft eher zu Hause bleiben. So verdienen beispielsweise Frauen
im Schnitt 22 % weniger als Männer, machen 75 % der Beschäftigten in
sozialen Berufen aus und arbeiten immer noch doppelt so lang im Haushalt wie
Männer. Im Kontrast dazu stehen erkämpfte Rechte von Frauen und LGBTIAs. Ob nun
Legalisierung von Homosexualität, die Gleichstellungsgesetze, das
Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper – all das lehnen die Reaktionär_Innen
mit aller Macht ab. Denn diese Errungenschaften greifen das Idealbild der
Familie an, auf das sie stark angewiesen, sind damit ihre protektionistische
Vorstellung der Nation Wirklichkeit wird.

Warum sind sie erfolgreich?

Um erfolgreich gegen rechts zu kämpfen, müssen wir
verstehen, warum diese überhaupt so stark geworden sind. Ein zentraler Grund
dabei ist die Führungskrise der Arbeiter_Innenklasse. Nach der Finanzkrise
stieg nicht nur die Konkurrenz unter den Kapitalist_Innen. Große Teile der
Krisenkosten wurden auf die Arbeiter_Innenklasse abgewälzt in Form von Sparmaßnahmen,
Entlassungen und dem Ausbau des Niedriglohnsektors. Das sorgte dafür, dass
große Teile der Klasse in Armut abrutschten. Dabei konnten weder
Sozialdemokratie noch Gewerkschaften die Lage verbessern. Vielmehr verwalteten
sie diese Politik im Interesse des Kapitals mit. Die desillusionierten Teile
der Arbeiter_Innenklasse wenden sich daraufhin den Versprechungen der
Populist_Innen zu.

Was tun?

Gegen Rechtspopulist_Innen und Reaktionär_Innen bedarf es
einer antirassistischen Arbeiter_Inneneinheitsfront, nicht nur gemeinsamen
Kampfs mit den Bürgerlichen gegen rechtliche Einschränkungen. So nennen wir
einen Zusammenschluss zwischen Organisationen der Arbeiter_Innenklasse für
Klassenziele, die z. B. die liberalen Elemente nicht teilen, und mit
Kampfmitteln wie Streiks, über die andere Klassen nicht verfügen. Im Zuge
dessen bedarf es zentraler Aktionstage, bei denen alle Beteiligten
mobilisieren. Dabei ist es wichtig, nicht nur formal zu einer Demo aufzurufen,
sondern klar zu fordern, dass die Basis der Organisationen in die Mobilisierung
einbezogen wird. Das bedeutet, dafür einzutreten, dass es Vollversammlungen und
Aktionskomitees  an Schulen, Unis und in
Betrieben gibt, die sich im Rahmen der Mobilisierungen mit der aktuellen
Politik auseinandersetzen und sich fragen: Wie kann hier konkret eine
fortschrittliche Politik aussehen? Das sorgt dafür, dass an den Orten, an denen
wir uns tagtäglich bewegen müssen, eine bewusste politische Auseinandersetzung
anfängt und zeitgleich mehr Leute erreicht werden als jene, die sich eh schon
für Antirassismus und Antifaschismus interessieren. Zentral ist es, Kämpfe
miteinander zu verbinden und nicht nur aktuelle Angriffe abzuwehren, sondern
auch für konkrete Verbesserungen, um aus der Defensive herauszukommen. Um die
Situation von Geflüchteten unmittelbar zu verbessern, müssen Revolutionär_Innen
für offene Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für alle eintreten. Darüber
hinaus müssen wir die Integration in die Gewerkschaften verlangen, um gemeinsam
der Spaltung entgegenzutreten, besser gemeinsame Kämpfe führen zu können wie
beispielsweise für einen höheren gesetzlichen Mindestlohn, aber auch das Selbstbestimmungsrecht
über den eigenen Körper.

Wenn wir erfolgreich dem Rechtsruck entgegentreten wollen,
müssen wir aktiv gegen rassistische, sexistische Spaltung und für
Verbesserungen der Klasse kämpfen. Nur so können wir die Reaktionär_Innen
aufhalten!




Islamische Bekleidung: Sexismus und Islamfeindlichkeit in den imperialistischen Kernländern

Rebecca Anderson, Red Flag Großbritannien,  Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

In den letzten zehn Jahren haben viele europäische Länder
Frauen verboten, islamische Kleidung zu tragen. PolitikerInnen haben dazu
tendiert, diese islamfeindlichen Gesetze als Integration oder Frauenbefreiung
zu verkleiden und sie damit zu rechtfertigen, dass sie genau den Frauen zugutekommen,
deren Rechte beschnitten werden.

Die Verbote sind von Land zu Land unterschiedlich und
umfassen die Burka, die Kopf und Gesicht einschließlich der Augen bedeckt, den
Niqab, der Kopf und Gesicht, aber nicht die Augen bedeckt, und den Hidschab
oder das Kopftuch, das nur den Kopf bedeckt.

Zunehmende Islamophobie

Der Rassismus gegen MuslimInnen in Europa und Nordamerika
hat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA, den darauf folgenden
Invasionen im Irak und in Afghanistan sowie dem Syrienkrieg deutlich
zugenommen. Mit der Invasion und Besetzung der Länder des Nahen und Mittleren
Ostens kam der Terrorismus durch diejenigen auf, die sowohl durch den Konflikt
selbst als auch durch die soziale Isolation und den Rassismus, denen sie als
MuslimInnen in Ländern wie Großbritannien, Frankreich und den USA ausgesetzt
waren, radikalisiert wurden.

Im Jahr 2019 richteten sich 47 Prozent der Hassverbrechen in
Großbritannien gegen MuslimInnen. Frauen waren in der Regel die meisten Opfer,
wobei weiße Männer am ehesten als Täter in Frage kamen. In den USA gibt es ein
ernstes Problem mit der beiläufigen Berichterstattung über Hassverbrechen, die
ebenfalls nur langsam veröffentlicht werden, aber es gab eine 2000-prozentige
Zunahme der Angriffe und solche Vorfälle verharren auf hohem Niveau.

Verbot der islamischen Kleidung

In diesem Zusammenhang sind die Staaten dazu übergegangen,
muslimischen Frauen das Tragen traditioneller islamischer Kleidung zu
verbieten, was in der Bevölkerung breite Unterstützung findet. Eine 2016 in
Großbritannien durchgeführte YouGov-Umfrage ergab, dass mehr als zwei Drittel
der Bevölkerung ein Verbot der Burka unterstützten, wobei die 18-24-Jährigen
die einzige Altersgruppe waren, die sich gegen ein Verbot aussprachen. Umfragen
ergaben ein ähnliches Maß an Unterstützung für ein Verbot in Deutschland,
jedoch eine Zweidrittelmehrheit gegen ein Verbot in den Vereinigten Staaten,
was vielleicht eine historisch-kulturelle Opposition gegen die staatliche
Einmischung in persönliche Angelegenheiten widerspiegelt.

Im Jahr 2011 war Frankreich bekanntlich das erste
europäische Land, das Burkas und Niqabs verboten hat. Dasselbe Gesetz verbot
Staatsangestellten, einschließlich Lehrerinnen, das Tragen von Hidschabs.
Belgien folgte schnell dem Beispiel und verbot Burkas und Niqabs drei Monate
später, während die Niederlande 2016 ein ähnliches Gesetz verabschiedeten.

Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel hat sich für Verbote im
Jahr 2016 ausgesprochen: „Der volle Gesichtsschleier ist unangemessen und
sollte verboten werden, wo immer es rechtlich möglich ist“. Die Hälfte der
sechzehn deutschen Bundesländer hat Vorschriften eingeführt, die es
muslimischen Lehrerinnen verbieten, ihr Haar oder ihr Gesicht zu bedecken.
Österreich hat 2017 den Niqab und die Burka in Gerichten und Schulen verboten.

In Großbritannien hat der Staat das Recht der Frauen, ihr
Gesicht oder ihre Haare zu bedecken, nicht eingeschränkt, erlaubt aber
einzelnen Schulen, Verbote auszusprechen.

Eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte gegen das französische Verbot ist gescheitert, und so wurde
diese Behandlung muslimischer Frauen auf supranationaler Ebene gebilligt, so
dass europäische Frauen keine weiteren Rechtsmittel gegen diese Verbote
besitzen.

Die „feministische“ Verteidigung

Das Verbot islamischer Kleidung hat bei den rechten
FeministInnen Unterstützung gefunden, insbesondere in Frankreich. Diese
Rechtfertigungen geben der Islamophobie einen feministischen Deckmantel und
wurden von den GesetzgeberInnen aufgegriffen.

Der französische Präsident Nicolas Sarkozy sagte 2009: „Das
Problem der Burka ist kein religiöses Problem, es ist ein Problem der Freiheit
und der Würde der Frau. Sie ist kein religiöses Symbol, sondern ein Zeichen der
Unterwürfigkeit und Entwürdigung. Ich möchte feierlich sagen, dass die Burka in
Frankreich nicht willkommen ist. In unserem Land können wir keine weiblichen
Gefangenen hinter einem Wandschirm aufnehmen, die von allem sozialen Leben
abgeschnitten und jeder Identität beraubt sind. Das ist nicht unsere
Vorstellung von Freiheit.“

Die französische feministische Organisation, die
Internationale Liga für Frauenrechte, betrieb beim Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte das Verbot von Niqabs und Burkas und schrieb: „Der
Ganzgesichtsschleier, indem er [buchstäblich den Körper und] das Gesicht
begräbt, stellt eine wahre Auslöschung der Frau als Individuum in der
Öffentlichkeit dar… Wie kann man nicht sehen, dass das Tragen des
Vollschleiers auch eine symbolische Gewalt gegenüber anderen Frauen darstellt?“

Die Wirkung dieses „Feminismus“ besteht darin, muslimische
Frauen von der Arbeit zu verdrängen und sie auf der Straße unsicherer zu
machen. Verbote geben RassistInnen, die muslimische Frauen missbrauchen oder
angreifen wollen, mehr Auftrieb. Sie ermutigen KundInnen und KolleInngen,
diejenigen herauszufordern, die islamische Kleidung tragen, und sie
legalisieren die Entlassung muslimischer Frauen aus dem Arbeitsleben.

Nach der Verhängung des französischen Verbots von Niqabs und
Burkas berichtete das französische Kollektiv gegen Islamophobie über einen
Anstieg der Zahl der körperlichen Angriffe auf Frauen, die diese Kleidung
tragen.

Die Logik dieser Verbote verweigert den muslimischen Frauen
die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, politische Ideen zu entwickeln
und sich zu organisieren. Muslimische Frauen werden als Opfer ihrer Familien
und Gemeinschaften behandelt, und die Tatsache, dass sie nie um diese Verbote
gebeten haben, wird nicht einmal in Betracht gezogen.

Das Integrationsargument

Es ist auch nicht so, dass der Niqab und die Burka weit
verbreitet sind. In Vorbereitung auf das Verbot der islamischen Kleidung in
Frankreich, einem Land mit fünf Millionen MuslimInnen, hat die Regierung den
Geheimdienst gebeten, Statistiken über die Anzahl der französischen Musliminnen
zu erstellen, die diese Kleidungsstücke tragen. Als der Geheimdienst
berichtete, dass weniger als vierhundert ihr Gesicht bedeckten, wurde er
gebeten, erneut zu zählen, und kam mit einer Zahl von knapp zweitausend zurück.

MuslimInnen werden für die Diskriminierung gegen sie
verantwortlich gemacht, und der Niqab und die Burka werden als Symbole für ein
„Versagen“ bei der Integration hochgehalten. Es wird argumentiert, dass
MuslimInnen, wenn sie sich besser integrieren würden, nicht mit rassischer oder
religiöser Diskriminierung konfrontiert würden. Es ist jedoch die
Diskriminierung, die der Teilnahme muslimischer Frauen am öffentlichen Leben
Hindernisse in den Weg legt. In Großbritannien stellte der Ausschuss für Frauen
und Gleichberechtigung fest, dass muslimische Frauen dreimal so häufig arbeitslos
sind und nach Arbeit suchen.

Marxismus, Sexismus und Islamfeindlichkeit

Als MarxistInnen erkennen wir natürlich den Sexismus, der
der Idee innewohnt, dass Frauen sich „bescheiden“ kleiden sollten. Es ist nicht
Sache der Frauen, sich zu kleiden, um sexuelle Belästigung zu vermeiden,
sondern es ist Sache der Männer, sich zu entscheiden, nicht zu belästigen. Das
Christentum blickt auch auf eine lange Tradition zurück, in der Frauen ihre
Haare aus Bescheidenheit bedecken, daher die Bekleidungsgebräuche bei Nonnen.
Religionen wie das Christentum und der Islam gründen auf den
Geschlechterverhältnissen, wie sie vor Jahrhunderten bestanden, und während sie
sich ständig an die Ideologien der derzeit herrschenden Klassen christlicher
und muslimischer Länder anpassen, sind sie wie alle Religionen konservative
Ideologien, die zur Rechtfertigung der Unterdrückung von Frauen in der
Klassengesellschaft benutzt werden.

Das Verbot islamischer Kleidung schafft nicht nur ein
feindseliges Umfeld für muslimische Frauen, sondern trägt auch dazu bei, Kriege
im Nahen und Mittleren Osten und die Unterdrückung der muslimischen Bevölkerung
imperialistischer Länder zu rechtfertigen, indem Muslime als einzigartig
sexistisch dargestellt werden , die eine oft ghettoisierte Gemeinschaft „entfremden“.
Feministinnen, die die Verbote unterstützen, verleihen der rassistischen
Politik, die die Unterdrückung der muslimischen Frauen verschlimmert, einen
feministischen Deckmantel.

RevolutionärInnen sollten sich auch gegen die Verbote
wenden, weil jedes Gesetz, das die individuelle Freiheit einschränkt, gegen
Andersdenkende eingesetzt wird. Im Jahr 2012 benutzte die Polizei in Marseille
die französischen verbotenen Burkas und Niqabs, um Frauen in Sturmhauben zu
verhaften, die gegen die Verurteilung der russischen Punkband Pussy Riot
protestierten. Die Verhaftung weißer Feministinnen war nicht die Absicht des
Verbots, aber die Polizei wird immer alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel
einsetzen.

Die entscheidende Lösung für die Befreiung der muslimischen
Frauen ist die gleiche wie für alle Frauen: volle und uneingeschränkte
Teilnahme am öffentlichen Leben. Dazu gehört alles, von der kostenlosen
Kinderbetreuung über die gleiche Bezahlung zur Beseitigung der materiellen
Basis der Frauenunterdrückung bis hin zur Bekämpfung von Belästigungen und der
Bereitstellung von Zuflucht für Überlebende. Für muslimische Frauen gibt es
auch spezifische Maßnahmen, und dazu gehören die Freiheit, islamische Kleidung
zu tragen, und offene Grenzen, um die Superausbeutung von Menschen ohne
Staatsbürgerschaft zu verhindern. Es muss auch anerkannt werden, dass der
Rassismus, den muslimische Frauen erleben, sich mit dem Sexismus überschneidet,
und der Kampf für die Befreiung der Frauen kann nicht vom Widerstand gegen imperialistische
Kriege im Ausland und rassistische Maßnahmen zur Stigmatisierung der
muslimischen Bevölkerung der imperialistischen Länder, insbesondere von
MigrantInnen und Flüchtlingen, getrennt werden.




Politisch streiken – aber wie?

Michael Märzen, Arbeiter*innenstandpunkt Österreich, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

In den letzten zwei Jahren haben millionenstarke
Frauenstreiks ein großes Potential für den Kampf um Frauenbefreiung aufgezeigt.
Die Arbeitsniederlegungen im produktiven und reproduktiven Bereich richten den
politischen Fokus auf die Ungleichheit der geschlechtlichen Arbeitsteilung,
welche die materiellen Grundlage für sexistische Ungerechtigkeit und
Unterdrückung darstellt. Gleichzeitig kann der ökonomische Stillstand, der bei
einem Streik angerichtet wird, den nötigen Druck erzeugen, damit die
frauenpolitischen Forderungen auch ernst genommen und letztlich durchgesetzt
werden. Doch die internationale Frauenbewegung hat diese proletarische
Strategie noch nicht bewusst angenommen und verallgemeinert. Dazu braucht es
nicht nur positive Bezugspunkte wie die Mobilisierungen in Spanien oder der
Schweiz, sondern Organisation, Know-how und einen Kampf gegen andere, falsche
Strategien.

Bündnispolitik

Ein Streik ist im Normalfall kein spontanes Ereignis. Obwohl
der Unmut über Missstände schon hoch sein mag, braucht es Strukturen, die ihn
organisieren. Jene Kräfte, die bereit sind, einen Frauenstreik zu organisieren,
müssen gesammelt werden. In der Regel sind das schon bestehende Organisationen
der radikalen Linken oder der Frauenbewegung, aber auch eine Hand voll Einzelpersonen
kann ein Komitee für die Organisierung des Streiks gründen und den Stein ins
Rollen bringen. Kanäle wie soziale Medien müssen genutzt werden, um die
Organisation auf eine kräftigere Grundlage zu stellen. Für die Mobilisierung
braucht es klare und radikale Forderungen wie etwa eine Arbeitszeitverkürzung,
die demokratisch bestimmt werden sollten und für die die beteiligten Kräfte
frei nach innen und außen werben können. Dabei muss auch sehr gut abgewogen
werden, welche in den Vordergrund gestellt und wie sie formuliert werden
können, damit sie die bestmögliche Wirkung auf das politische Bewusstsein der
Zielgruppen haben werden.

Basisorganisierung

Zentral ist es lohnabhängige, aber auch erwerbslose Frauen und
Männer für den Streik zu gewinnen. Dazu eignet sich der Aufbau von
Aktionskomitees auf regionaler sowie betrieblicher Ebene bzw. in der
Ausbildungsstätte. In diesen Komitees organisieren sich Aktivist*innen, um
gemeinsame Aktivitäten für die Mobilisierung zu planen. Darüber hinaus sollten
eigene Forderungen diskutiert und in die Bewegung getragen werden. Sie müssen als
politische im Interesse der gesamten Arbeiter*innenklasse formuliert werden,
die also nicht auf einzelne Branchen beschränkt bleiben. Als Ausgangspunkt zum
politischen Ziel der Aufhebung der geschlechtlichen gesellschaftlichen Arbeitsteilung,
der Sozialisierung der Haus- und Sorgearbeit kann z. B. die nach einer gesetzlichen
Mindeststellenbesetzung in der Pflege dienen, wie in Deutschland aufgestellt. Die
überregionale Vernetzung mittels wähl- und abwählbarer Delegierter ermöglicht
den Aufbau von demokratischer Kontrolle über die Bewegung selbst und in
weiterer Folge von Gegenmacht gegenüber den bürokratischen staatlichen
Institutionen, über welche die herrschende Klasse ihre Interessen sichert. Das
ist auch kein Widerspruch zu einer Bündnispolitik von politischen
Organisationen. Aktionskomitees können solche Bündnisse ergänzen oder im besten
Fall der Ausdruck einer demokratisch organisierten Bewegung sein.

Rolle der Gewerkschaften

Ein wesentlicher Erfolg von bisherigen Frauenstreiks war die
Unterstützung durch Gewerkschaften in der Schweiz und in Spanien. Wenn diese
Organisationen, die oft einen großen Anteil der lohnabhängigen Bevölkerung
organisieren, für kämpferische Massenaktionen gewonnen werden können und die
Mobilisierungen dafür ernst nehmen, dann hat das eine sehr große Wirkung. Viele
Gewerkschaften haben auch frauenpolitische Abteilungen, die natürlich eine
Anlaufstelle für die Mobilisierung sein können und wo sich womöglich auch
schneller Unterstützer*innen finden lassen. Das Problem ist aber, dass die
großen, reformistischen Gewerkschaften von einer konservativen Bürokratie
geführt werden, die radikale Aktionen und die Einbeziehung der Massen mehr
fürchten als fördern. Dies gilt für alle Gewerkschaften, die nicht von einer
revolutionären Arbeiter*innenpartei geführt werden. Die reformistischen
Parteien, die oft über großen Einfluss in den Gewerkschaften verfügen, haben
längst ihren Frieden mit dem kapitalistischen System gemacht und verteidigen es
letzten Endes gegen einen Ansturm durch die Lohnabhängigen. Dies gilt auch für
reine Gewerkschaftspolitik, die sich nicht den Sturz des Kapitalismus auf die
Fahnen geschrieben hat. Wir können uns also weder auf sie verlassen noch auf
den Erfolg vehementer Aufforderungen hoffen, sondern müssen mit
Basisorganisationen ein Gegengewicht zur abgehobenen Stellvertretungspolitik
schaffen. Diesen Zweck können die schon angesprochenen Aktionskomitees zum Teil
erfüllen, sie müssen sich dafür aber bewusst auch auf die Gewerkschaften
ausrichten. Letztlich muss eine antibürokratische Gewerkschaftsopposition aber
eigenständige Strukturen aufbauen, denn der Kampf gegen die reformistische
Bürokratie ist allgemeiner als der für eine bestimmte politische Mobilisierung.

Proletarische Strategie

Wenn alle für einen starken Frauenstreik eintreten und eine
proletarische Frauenbewegung aufbauen wollen würden, dann müssten wir die Frage
nach der Umsetzung eines Streiks gar nicht so genau diskutieren. Aber so ist es
leider nicht. Gerade auch im Feminismus gibt es bürgerliche und
kleinbürgerliche Kräfte, die ganz andere Strategien als Sozialist*innen
verfolgen und die die Organisierung und Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse
für die politischen Anliegen der Frauen sogar ablehnen. Oft beschränken sich
diese Kräfte auf Forderungen wie Quoten in politischen Ämtern oder in
Unternehmen, den ideologischen Kampf gegen Alltagssexismus oder eine
gendergerechte Sprache, die dann von sozialliberalen Parteien umgesetzt werden
sollen. Eine solche Politik hemmt natürlich die eigenständige Aktion der
Ausgebeuteten und Unterdrückten und muss daher natürlich auch bekämpft werden. So
wurde z. B. in den verschiedenen feministischen Bündnissen für den
letztjährigen Frauenstreik in Deutschland zwar eine Liste unterstützenswerter
Forderungen aufgestellt, aber über die Frage, wie ein Streik der gesamten
Klasse gegen die Paragraphen zustande kommen kann, der auch den Namen verdient,
kaum diskutiert. Debatten um Einbezug der Gewerkschaften und der Männer waren also
von untergeordneter Bedeutung.

Es geht also nicht nur um einzelne Forderungen, sondern um
eine zusammenhängende proletarische Strategie, die ihren klarsten Ausdruck in
einem kommunistischen Übergangsprogramm findet. Darin stellt sich der Kampf für
Frauenbefreiung und gegen Sexismus als integraler Teil des allgemeinen
Klassenkampfs der gesamten Arbeiter*innenklasse dar, unabhängig von Geschlecht,
Identität oder Herkunft. Deswegen halten wir es zum Beispiel auch für einen
Fehler, wenn von feministischen Organisationen bei frauenpolitischen Aktionen
der Ausschluss von Männern gefordert wird. Der Kampf gegen Frauenunterdrückung
und die ganze sexistische Ideologie geht unsere männlichen Genossen genau so
etwas an. Aber unsere Genossinnen sollten ganz klar im Vordergrund eines
Frauenstreiks stehen.




Feminismus in Pakistan

Minerwa Tahir, Women’s Democratic Front Lahore, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

In den letzten Jahren ist der Aurat-Marsch zu einem der sichtbarsten Ausdrücke der Frauenbewegung in Pakistan geworden. „Aurat“ bedeutet Frau in der Urdusprache. Seit 2018 ist in den großen Städten Pakistans das Phänomen des Aurat-Marsches zu beobachten – Frauen, geschlechtsspezifische Minderheiten, Männer und Kinder gehen auf die Straße und marschieren am Internationalen Tag der arbeitenden Frauen am 8. März.

Wer beteiligt sich?

In zwei großen städtischen Zentren – Karatschi und Lahore – wurde der Aurat-Marsch von einem Bündnis hauptsächlich radikal-feministischer und liberal-feministischer Kräfte organisiert, darunter führende Persönlichkeiten von NGOs, die sich bereit erklärten, die Fahnen ihrer NGOs hinter sich zu lassen und sich unter dem einen Banner des Aurat-Marsches zu vereinen. Eine Organisatorin aus Karatschi sagte: „Bei den Themen, mit denen Frauen heute konfrontiert sind, geht es um Gleichberechtigung im öffentlichen Raum, das Recht auf Arbeit, Sicherheit am Arbeitsplatz und vor allem um die Unterstützung durch eine Infrastruktur, während die vorherige Generation für politische Rechte kämpfte“ (Chughtai, 2019). In anderen Teilen wie Hyderabad und Islamabad organisierte die Demokratische Frauenfront (1), eine sozialistisch-feministische Organisation, die arbeitende Frauen aus städtischen und ländlichen Gebieten organisiert, den Aurat-Azadi-Marsch (2).

Einige der Forderungen dieses Marsches waren ein Ende der Gewalt gegen Frauen; eine Gesetzgebung, die die Rechte von Frauen und Transgender-Personen schützt; ein Mindestlohn und andere rechtliche Schutzmaßnahmen für den informellen Sektor; ein Ende der Privatisierung von und größere Investitionen in Gesundheit und Bildung, insbesondere für Frauen; Frauenwohnheime und Kindertagesstätten für die Kinder von arbeitenden Frauen; der Bau von Wohnungen für Leute mit niedrigen Einkommen und ein Ende der Kampagne gegen informelle Siedlungen; ein Ende der militärischen Operationen; die Rückkehr der vermissten Personen und eine politische Lösung des Belutschistan-Problems (Today, 2019). Auch ArbeiterInnenorganisationen und -verbände wie die Vereinigung weiblicher Arbeitskräfte im Gesundheitswesen (Chughtai, 2019) und die pakistanische Gewerkschaftsschutzkampagne  (Today, 2019) unterstützten den Marsch und nahmen daran teil. Mit Ausnahme von Hyderabad war der Klassencharakter der Frauenmärsche in den großen städtischen Zentren Pakistans weitgehend mittelständisch. Während ein Teil der Gründe für das Fehlen von Führung der ArbeiterInnenklasse in der Frauenbewegung mit dem Versagen der Linken und dem Aufstieg der Rechten sowie alternativen antimarxistischen Diskursen zu tun hat, liegt ein weiterer wichtiger Grund dafür, dass so viele Frauen aus der Mittelschicht sich für die Teilnahme an diesen Märschen entschieden haben, darin, dass der Status der Frauenrechte in Pakistan selbst für Frauen aus Nicht-ArbeiterInnenklassen-Hintergrund erbärmlich ist.

Lage der Frauen

Vergewaltigung, Ehrenmorde, Säureangriffe, Zwangsheiraten, erzwungene Bekehrungen nicht-muslimischer Mädchen zum Islam, Kinderehen, sexueller Missbrauch und Belästigung sowie allgemeine geschlechtsspezifische Diskriminierung sind in der Gesellschaft weit verbreitet (HRW, 2019). Inzwischen gibt es weder nationale Gesetze, die geschlechtsspezifische Diskriminierung bei der Einstellung noch die geschlechtsspezifische Lohnunterschiede verbieten (Kirton-Darling, 2018). In ähnlicher Weise sind auch die Arbeitsgesetze in Pakistan diskriminierend gegenüber Frauen (Tribune, 2014). Im Allgemeinen hegt die Gesellschaft eine diskriminierende Einstellung gegenüber Frauen. Der jüngste Fall, in dem die nationale Universität für Wissenschaft und Technologie die Vergewaltigung einer Studentin leugnete, ist ein Zeugnis für diese Haltung (Dawn.com, 2019).

Sexualität

Ein wichtiges Thema, um das sich der Aurat-Marsch dreht, sind Fragen der Sexualität. „Mein Körper, meine Wahl“ war ein beliebter Slogan. Während man davon ausgehen kann, dass diese Frage in einigen demokratischen Ländern schon lange Teil des öffentlichen Diskurses ist, war und ist sie in Pakistan ein Tabuthema. Wie die gesellschaftliche Haltung sie geprägt hat, bleibt Sexualität eine Angelegenheit, die sich auf die privaten Grenzen des Schlafzimmers beschränkt und über die man, vor allem eine Frau, nicht spricht. Qandeel Baloch (Geburtsname: Fouzia Azeem), ein Star in den Sozialen Medien, die sexy Videos von sich selbst für den öffentlichen Konsum veröffentlichte, wurde schließlich von ihrem Bruder im Namen der „Ehre“ getötet. Wie Zoya Rehman schreibt, „markiert der Aurat-Marsch einen wichtigen Moment in der Entwicklung des feministischen Widerstands im Land, in dem jetzt für eine neue Art von feministischer Praxis gekämpft wird, die in Fragen der sexuellen Autonomie und Handlungsfähigkeit ,das Schweigen bricht’ (John und Nair, 1998)“ (Rehman, 2019). Sexualität, ein Thema, über das aufgrund seines „privaten“ Charakters nie in der Öffentlichkeit gesprochen wurde, wurde durch den Marsch – vor allem im Jahr 2019 – aus der Enge des häuslichen und privaten Lebens herausgebracht und für die Öffentlichkeit offengelegt. Folglich startete der rechte Flügel Angriffe gegen die OrganisatorInnen und TeilnehmerInnen in den Massen- und sozialen Medien. Es wurden Todes- und Vergewaltigungsdrohungen ausgesprochen (Reuters, 2019). Unterdessen griffen reaktionäre Schichten innerhalb der pakistanischen Linken zu einem ähnlichen Ansatz, wobei die Belutschistan-Sektion der Awami-ArbeiterInnenpartei (AWP) den Aurat-Marsch ablehnte (Jafri, 2019). In ähnlicher Weise tauchte die Politik der Reaktion innerhalb der feministischen Bewegung in Form der bekannten feministischen Dichterin Kishwar Naheed auf, die die radikalen Botschaften bezüglich der Sexualität kritisierte, die auf den Plakaten des Aurat-Marsches standen. Sie sagte, dass „Feministinnen ihre Kultur und Traditionen im Auge behalten sollten, um nicht wie ,Dschihadis’ auf Abwege zu geraten“ (Images, 2019).

Sadia Khatri kritisierte Frauen, die sich gegen die radikalen Plakate aussprachen, und schrieb, dass diese Art von Vorwürfen „verwirrender, ja sogar verletzend ist, wenn sie von anderen Frauen kommt“ (Khatri, 2019). Ich kann das Gefühl zwar nachempfinden, aber der Vorwurf überrascht mich wirklich nicht. Es ist schließlich die Politik der Menschen, nicht ihr Geschlecht oder andere Identitäten, die ihre Einstellung zu einem gesellschaftlichen Phänomen bestimmt. Auch der Gegenmarsch zum Aurat-Marsch wurde von rechten Frauen angeführt, nicht von Männern.

Die Sexualität während des Frauenmarsches aus der privatisierten Sphäre des Hauses herauszuholen, stellte eine radikale Errungenschaft der Frauenbewegung in Pakistan dar. Die Belutschistan-Sektion der Awami Workers Party lehnte den Aurat-Marsch mit der Begründung ab, dass die auf dem Marsch erhobenen Parolen nichts mit den Frauen der ArbeiterInnenklasse oder ihrem Kampf zu tun hätten. Diese Aussage spiegelt nicht nur eine Abtrennung von der Frauenbewegung wider, sondern zeigt auch, wie isoliert die Sektion der AWP in Belutschistan von den Kämpfen der Arbeiterfrauen in Pakistan ist. Wenn man mit berufstätigen Frauen in der Realität interagiert, erzählen sie uns davon, dass „nicht jede aus Freude und Entscheidung die vollverschleiernde Burka trägt“.

Natürlich kann es vorkommen, dass Schichten der Klasse, die aufgrund der zusätzlichen Belastung durch die reproduktive Arbeit atomisiert bleiben, der Interaktion und Organisation mit ihrer Klasse beraubt werden und somit den Vorstellungen der Reaktion zum Opfer fallen. Aber mit der sich zunehmend vertiefenden Wirtschaftskrise in Pakistan, insbesondere nach dem IWF-Deal, können es sich Frauen, die mit Männern aus der Arbeiterklasse verheiratet sind, nicht mehr leisten, nur reproduktive Arbeit zu leisten. Sie werden aus dem Haus gedrängt, um Arbeit zu finden, um die ArbeiterInnenfamilie zu ernähren. Während dies schon seit langem der Fall ist, da die Wirtschaft des halbkolonialen Landes weitgehend instabil geblieben ist, haben die Klauseln des IWF zu schlechteren Bedingungen für die arbeitenden Armen geführt (Arshad, 2019). Selbst wenn es sich bei diesen Jobs um niedere Tätigkeiten handelt, wie z. B. die Arbeit als Haushaltshilfe in Haushalten der Mittelschicht, bieten sie diesen Frauen eine gewisse Möglichkeit, sowohl mit ihrer eigenen Klasse als auch mit dem/r KlassenfeindIn zu interagieren. Es überrascht daher nicht, dass eine Hausangestellte, die eine halbverschleiernde Niqab trägt, bei einem Treffen mit anderen berufstätigen Frauen sagte, dass „nicht jede die Burka aus Freude und Entscheidung trägt“.

Diejenigen pakistanischen Linken, die Sexualität und andere Aurat-Marsch-Themen immer noch nicht als wichtige Themen für das Leben arbeitender Frauen sehen, sollten sich einige grundlegende Fragen stellen. Wenn die arbeitende Frau die Freiheit, Zeit und Geld hätte, sich wie Frauen der Mittelschicht zu kleiden, würde sie das nicht tun? Wenn sie die Freiheit, die Zeit und das Geld hätte, würde sie sich nicht romantischen/sexuellen Affären hingeben wollen, wie es Frauen aus privilegierten Schichten in diesem Land tun? Wenn es für sie keine Frage mehr wäre, jeden Tag etwas „Khana“ [Essen] für ihre Familie zu bekommen, wie es für Frauen aus der Mittelschicht der Fall ist, würde sie sich dann nicht auch wünschen, dass ihr männlicher Partner gleichberechtigt an der Zubereitung dieser Mahlzeiten teilnimmt? Diese Fragen machen deutlich, wie arbeitende Frauen durch die wirtschaftlichen Bedingungen gezwungen sind, bestimmte Themen als Hauptanliegen zu behandeln. Dies spiegelt jedoch keineswegs wider, dass arbeitende Frauen nicht an Fragen der sexuellen Befreiung interessiert sind.

Was für eine Bewegung brauchen wir?

Unterdessen ist eine andere Idee, die in bestimmten radikalen Schichten der Frauenbewegung in Pakistan vorherrscht, dass wir eine klassenübergreifende feministische Bewegung brauchen. Die Befürworterinnen dieser Ansicht argumentieren, dass dies ein „inklusiver“ Ansatz sei, da er es Frauen aus allen Klassen ermöglicht, sich zusammenzufinden, um gegen einen gemeinsamen Feind, nämlich das Patriarchat, zu kämpfen und die Gleichberechtigung zu erlangen. Nehmen wir eine der Forderungen, die von radikalen Feministinnen erhoben wurden. „Gleichheit beim Zugang zu öffentlichen Räumen“.

Nehmen wir an, dass diese Forderung nun gewonnen ist. Die Frau aus der ArbeiterInnenklasse wird die formale Gleichheit beim Zugang zu öffentlichen Räumen haben, aber genau wie ihr männlicher Kollege aus der ArbeiterInnenklasse hat sie diese Freiheit als jemand, der immer noch 12 Stunden am Tag arbeitet, dessen Kinder unterernährt sind und denen es an guter Bildung mangelt, der der Zugang zu guter Gesundheitsversorgung verwehrt wird und deren Familie an neun von zehn Tagen immer noch hungrig schläft. In der Praxis bedeutet dies eine Krise der Führung der ArbeiterInnenklasse und der Organisation der unabhängigen Klassenpolitik, die eine wesentliche Schwäche der feministischen, antirassistischen und ökologischen Bewegungen in der ganzen Welt darstellt.

Außerdem, was bedeutet eine „klassenübergreifende Bewegung“ überhaupt? Dass sie die Interessen aller Klassen vertritt? Würde sie dann auch ein „klassenübergreifendes Programm“ haben? Ob so etwas jemals praktisch durchführbar ist oder nicht, sicher ist, dass eine klassenübergreifende Bewegung kein Programm für die ArbeiterInnenklasse haben wird. Und das liegt daran, dass die Interessen der ArbeiterInnenklasse mit denen anderer Klassen unvereinbar sind. Die ArbeiterInnenklasse verfügt über kein Privateigentum an den Produktionsmitteln. Unabhängig davon, ob diese Klasse sich dessen schon subjektiv bewusst ist oder nicht, liegt ihr objektives Interesse in der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und seiner Ersetzung durch gesellschaftliches Eigentum. Dieses Interesse steht offensichtlich im Widerspruch zu dem der Klassen, deren Quelle von Reichtum und sozialem Status das Privateigentum bildet. Wie Clara Zetkin prägnant zusammenfasst:

„Es gibt eine Frauenfrage für die Frauen des Proletariats, der Bourgeoisie, der Intelligenz und der oberen Zehntausend. Sie nimmt je nach der Klassensituation jeder dieser Schichten eine andere Form an“


(Zetkin, 1896)

Wie beeinflusst dies die Bewegung?

Wie beeinflusst dies die Bewegungen dann? In der bürgerlichen Gesellschaft ist jede klassenübergreifende Bewegung verpflichtet, die Interessen der ArbeiterInnenklasse (die mit der strategischen Aufhebung der unterdrückenden Arbeitsteilung im Hinblick auf die produktive und reproduktive Arbeit verbunden ist) den begrenzten Zielen der bürgerlichen Feministinnen unterzuordnen. Das bestmögliche Ergebnis einer klassenübergreifenden Bewegung ist, dass die begrenzten Forderungen nach formaler Gleichheit zwischen Männern und Frauen erfüllt werden. Berufstätige Frauen werden formell gleichberechtigt sein wie ihre bürgerlich-feministischen Kolleginnen, aber sie werden es als Frauen sein, die immer noch 12 Stunden am Tag arbeiten und keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Sozialleistungen haben. Sie werden formellen Zugang zu allen Bereichen des öffentlichen Lebens haben ebenso wie ihre männlichen Partner aus der ArbeiterInnenklasse, die ebenfalls kein Geld oder keine Zeit haben, um diese Bereiche faktisch zu betreten. Diese arbeitenden Frauen werden im Namen einer klassenübergreifenden Bewegung für die individuellen Rechte und Freiheiten der bürgerlichen Feministinnen kämpfen. Um noch einmal Zetkin zu zitieren: „Wir dürfen uns nicht von sozialistischen Tendenzen in der bürgerlichen Frauenbewegung täuschen lassen, die nur so lange anhalten, wie sich die bürgerlichen Frauen unterdrückt fühlen“ (Zetkin, 1896).

Was braucht es?

Dieser Ansatz „klassenübergreifender“ Bewegungen versäumt es, die Wurzel der geschlechtsspezifischen Unterdrückung zu untersuchen. In der heutigen Klassengesellschaft verortet der revolutionäre Marxismus die Ursprünge der geschlechtsspezifischen Unterdrückung in der öffentlich-privaten Kluft, in der der Mann in der öffentlichen „produktiven“ Sphäre arbeitet, während die Frau für die „reproduktive“ Arbeit verantwortlich ist. Diese Kluft ist notwendig, damit der Kapitalismus sich selbst erhalten kann, weshalb unsere Bewegungen antikapitalistischer Natur sein müssen. Um effektiv zu sein, müssen sie auch die Krise der Führung der ArbeiterInnenklasse überwinden. Und diese Krise kann solange nicht überwunden werden, bis und wenn die ArbeiterInnenklasse der radikalen Kleinbourgeoisie die Throne streitig macht, an denen sie seit Ewigkeiten festhält.

In einer Zeit, in der Identitätspolitik, Postmoderne und alle Arten von Ideologien, die nicht zum Sturz des kapitalistischen Systems führen, auf der ganzen Welt vorherrschen, gibt es einen Hoffnungsschimmer in bestimmten Schichten der pakistanischen Frauenbewegung. Die Demokratische Frauenfront (DFF), eine unabhängige Organisation, die arbeitende Frauen in städtischen und ländlichen Gebieten Pakistans organisiert, hat einige revolutionäre Forderungen, deren wichtigste die Forderung nach einer Vergesellschaftung der reproduktiven Arbeit ist. Während die derzeitige Führung in den meisten Sektionen aus der mittleren/unteren Mittelschicht stammt, bemüht sich die Organisation darum, arbeitende Frauen in die Führung zu bringen. In Lahore, wo ich die Vorsitzende bin, wurde vor kurzem eine Sektion der DFF gegründet, die hart daran arbeitet, ihre Wurzeln in den ArbeiterInnenvierteln zu stärken, um die Entstehung eines weiblichen Kaders aus diesen Gebieten vorzubereiten.

Wir arbeiten in den Vierteln der Hausangestellten und HeimarbeiterInnen und versuchen, sie zu organisieren. Diese Frauen erzählten uns, wie sich die steigende Inflation auf ihr Leben auswirkt und sie darum kämpfen, ihre Familien zu ernähren. Eine wichtige revolutionäre Forderung in diesem Szenario könnte die Einrichtung von Preiskomitees unter der Leitung von Frauen sein. Es besteht Hoffnung und Potenzial für die Entstehung einer weiblichen Führung der ArbeiterInnenklasse, wenn sich die DFF konsequent einer solchen Aufgabe widmet. Sie ist besonders entscheidend in einer Zeit, in der Kämpfe in verschiedenen frauenzentrierten Sektoren wie dem Gesundheits- und Bildungswesen auftauchen. Lahore, eines der städtischen Zentren Pakistans, birgt das Potenzial der Entstehung einer ArbeiterInnenbewegung. Ebenso birgt es das Potenzial für kleinbürgerlichen Radikalismus, gewerkschaftlichen Opportunismus und Reformismus sowie Zentrismus. Wenn es der DFF ernst damit ist, eine Führung der arbeitenden Frauen in der größeren ArbeiterInnenbewegung zu installieren, wird sie sich darauf vorbereiten müssen, solche Übel zusammen mit dem Kampf gegen den/die KlassenfeindIn und das Patriarchat zu bekämpfen.

Endnoten:

1 Die Demokratische Frauenfront (DFF) wurde ursprünglich von der Awami-ArbeiterInnenpartei (AWP) als ihre „Frauenfront“ gegründet. Die AWP ist bei Weitem die mitgliederstärkste linke Partei in Pakistan. Die DFF ist jetzt eine unabhängige Organisation. Die AWP spielt weder eine Rolle noch übt sie Einfluss auf Entscheidungen oder Strukturen der DFF aus. Natürlich sind Doppelmitglieder vertreten, die sowohl in DFF wie AWP organisiert sind. Die Autorin ist ein solches.

2 Azadi heißt auf Urdu Freiheit.




Evangelikales Christentum – Die Stoßtruppen der Rechten

Kayla Molodoy , Workers Power USA , Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Jahrzehntelang hat die christliche Rechte in den USA den
Widerstand gegen die Abtreibung in den Mittelpunkt ihrer politischen Mission
gestellt, indem sie sexuelle und reproduktive Fragen zur Mobilisierung einer
breiten Anhängerschaft zur Waffe gemacht hat. Seit ihrer kollektiven Hinwendung
zu politischem Aktivismus während Reagans triumphalem Präsidentschaftswahlkampf
1980 ist der Evangelikalismus das Rückgrat der Republikanischen Partei in den
USA und wird in Lateinamerika, insbesondere im Brasilien von Bolsonaro,
zunehmend politisiert.

Während die unheilige Allianz zwischen religiösen
ExtremistInnen und imperialistischen ProfitmacherInnen ihre Kontrolle über den
Staat festigt, laufen die Frauenrechte Gefahr, zum Opferlamm auf dem Altar des
anhaltenden Wahlerfolgs der Rechten zu werden.

Das Wachstum des politischen Evangelikalismus in den USA

Der Evangelikalismus nahm in Amerika erstmals im 18.
Jahrhundert erkennbare Gestalt an und entwickelte sich bis Mitte des 19.
Jahrhunderts zum „Evangelikalen Reich“, einer einflussreichen Bewegung, die
sich zunächst mit liberalen Themen wie der Abschaffung der Sklaverei und der
Strafrechtsreform beschäftigte, bevor sie sich über Darwins Evolutionstheorie
und eine fundamentalistische Bibelauslegung zersplitterte.

Der moderne Evangelikalismus geht auf das Ende des Zweiten
Weltkriegs zurück, als die aufeinander folgenden amerikanischen Regierungen
daran arbeiteten, das Christentum mit „amerikanischen Werten“ gleichzusetzen
und die christliche Gemeinschaft als Verteidigungslinie im Kalten Krieg zu
mobilisieren. Der Widerstand gegen die Aufhebung der Rassentrennung, die
Gegenkulturbewegungen der späten 1960er Jahre und die Entscheidung des Obersten
Gerichtshofs, Abtreibung zu einem verfassungsmäßig geschützten Recht zu machen,
im Urteil Roe gegen Wade von 1973, waren Katalysatoren für den Aufstieg der
Christlichen Rechten, der in den späten 1960er Jahren begann und bis heute
anhält.

Die republikanische Kandidatur Ronald Reagans im Jahr 1980
markierte einen Wendepunkt in der Politisierung der evangelikalen Gemeinschaft.
Im Vorfeld der Wahl begann die zuvor tolerantere und überparteiliche Haltung
der amerikanischen evangelikalen ChristInnen ihren Wandel hin zu starrer
Intoleranz, die stark durch das allgegenwärtige christliche Medienimperium
beeinflusst wurde, das vor allem von Jerry Falwell Sr. geschaffen wurde.

Falwell stand an der Spitze der christlich rechten
politischen Organisation, der Moralischen Mehrheit, und spielte eine wichtige
Rolle bei der gegenseitigen Umwerbung zwischen der Republikanischen Partei und
den Evangelikalen. Unter diesem Einfluss billigte der Republikanische
Nationalkonvent die sozial konservativste Plattform der RepublikanerInnen,
(GOP, Grand Old Party; Große Alte Partei) die es je gab, und kehrte damit seine
historische Unterstützung für die Gleichberechtigungsänderung um, wobei er als
Antwort auf den Fall Roe gegen Wade den Schutz der Rechte der Zygoten, d. h.
der befruchteten Eier, über die Rechte der Frauen stellte:

„Wir bekräftigen unsere Unterstützung für eine
Verfassungsänderung zur Wiederherstellung des Schutzes des Rechts auf Leben für
ungeborene Kinder. Wir unterstützen auch die Bemühungen des Kongresses, die
Verwendung von Steuergeldern für die Abtreibung einzuschränken.“

Erfolgreicher Aktivismus an der Basis und ein
außergewöhnliches Maß an Einsatz zur Förderung bevorzugter Themen führten zu
einer hohen Wahlbeteiligung, die Reagan mit zwei Dritteln der evangelikalen
Stimmen belohnte und bei seiner Wiederwahl auf 78 % stieg. Dieser Pakt
schuf eine für beide Seiten vorteilhafte Symbiose zwischen der politischen
Rechten und den Evangelikalen und hing fast ausschließlich von der Zustimmung
der Partei zur Übernahme der evangelikalen Linie in sozialen Fragen,
einschließlich der Abtreibung, ab.

Das Bündnis zwischen den Evangelikalen und der
Republikanischen Partei besteht bis heute, wobei es für die KandidatInnen
erforderlich ist, mit der christlichen Rechten in ihrem Sozialprogramm  übereinzustimmen, um ihre Stimmen zu ernten
und eine glühende Bekehrung zur Unterstützung des amerikanischen Imperialismus
zu garantieren.

Lateinamerika

Für Evangelikale in den USA wird nun erwartet, sich hinter
PolitikerInnen wie Trump zu versammeln – dessen persönliche Eigenschaften ihn
zu einem völlig unglaubwürdigen Vehikel für evangelikale Bestrebungen machen –,
und dies ist fast eine Selbstverständlichkeit. Aber das Wachstum der
evangelikalen Bewegung in Lateinamerika und die Verbindungen zwischen dem
brasilianischen und amerikanischen Evangelikalismus verleihen der Christlichen
Rechten eine neue internationale Dynamik.

Die ersten protestantischen Evangelikalen landeten im 19.
Jahrhundert in Brasilien, eine zweite Welle kam in den 1940er Jahren mit dem
Aufkommen der Foursquare Church (International Church of the Foursquare Gospel)
aus Kalifornien, komplett mit zirkusähnlichen Zelt„erweckungen“ à la Billy
Graham, die eine große Anziehungskraft hatten. Eine dritte Welle in den 1970er
Jahren brachte eine „neupfingstliche“ Bewegung, die von der brasilianischen
Universalkirche des Königreichs Gottes (UCKG) angeführt wurde. Gegründet von
Edir Macedo, einem gegen Schwarze heftig hetzenden  und möglicherweise reichsten religiösen Führer
der Welt, ist ihr Einfluss auf die brasilianische Politik extrem geworden,
wobei er über eine enorme institutionelle Vertretung verfügt.

Die Wahl von Jair Bolsonaro wurde mit Hilfe des
evangelikalen Establishments Brasiliens , dominiert von der UCKG, erreicht.
Bolsonaro ist, wie Trump, ein frauenfeindlicher, rassistischer homophober
Politiker, der eine aktive rechtsextreme Unterstützungsbasis antreibt. Er
sympathisiert auch mit der Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 in Brasilien
an der Macht war, wobei seine einzige Kritik darin besteht, dass „die Situation
des Landes heute besser wäre, wenn die Diktatur mehr Menschen getötet hätte“.

Das wichtigste politische Handicap, mit dem sich die rechten
Parteien in Lateinamerika konfrontiert sehen, ist die anhaltende Wahlschwäche
aufgrund ihrer fehlenden Verbindungen zu Nicht-Eliten. Bolsonaro und
seinesgleichen bieten bereitwillig Verbindungen zur obersten Spitze an und
bringen eine Vielzahl evangelikaler WählerInnen ein, vor allem aber die untere
Mittelschicht.

Dies ist wichtig, weil sich der Anteil der evangelikalen
ChristInnen in Brasilien von 9 Prozent im Jahr 1990 auf 22 Prozent mehr als
verdoppelt hat und derzeit auf 31 Prozent geschätzt wird. Es wird erwartet,
dass sie bis 2032 die Zahl der KatholikInnen übertreffen werden – und die
Rechte will ihr Wahlbündnis mit ihnen festigen.

Wir sehen eine ähnliche Dynamik bei den jüngsten Ereignissen
in Bolivien mit der Amtsenthebung von Evo Morales durch Luis Fernando Camacho,
einen fundamentalistischen und evangelikalen christlichen Multimillionär, der
geschworen hat, den linkspopulistischen Einfluss der von Morales vertretenen
und beschützten indigenen Mehrheitsbevölkerung zu beseitigen.

Die bolivianische Übergangspräsidentin Jeanine Áñez erklärte
am Tag des Staatsstreichs: „Die Bibel ist in den Palast zurückgekehrt“. Obwohl
die bolivianischen Evangelikalen einen weitaus geringeren Anteil der
Bevölkerung als in Brasilien ausmachen, ist ihre Basis in der weißen Führungs-
und Mittelschicht wegen deren angeblichen Heidentums, das durch die Anerkennung
der Erdgottheit Pachamama symbolisiert wird, in einen Rausch gegen die indigene
Mehrheit geraten.

Ein Demonstrant gegen den Putsch hat diese „Befreiung“
ironisch bedauerlich auf den Punkt gebracht : „Es ist dasselbe wie vor 500
Jahren, als die Spanier kamen und das erste, was sie den Einheimischen zeigten,
die Bibel war.“

Der wirtschaftliche Druck auf das KleinbürgerInnentum der
USA und Brasiliens und erst gar ihre Deklassierung hat sie empfänglicher für
die reaktionären Ideologien und die populistische Rhetorik von Politikern wie
Trump und Bolsonaro gemacht.

In Bolivien und Brasilien ist es ihnen gelungen, die
Unterstützung wichtiger Teile der herrschenden Klasse zu gewinnen. Diese
fürchten sich vor den milden Reformen sozialdemokratischer oder
linkspopulistischer Regierungen und ihren Versuchen, Lateinamerika aus der
Abhängigkeit vom US-Imperialismus (durch die es sich, historisch gesehen, sehr
gut geschlagen hat) herauszuholen. Der Evangelikalismus ist aufgrund seiner
historischen Wurzeln in den US-Kirchen und ihres wirtschaftlichen und
politischen Gewichts in der Bewegung ideal für diesen Zweck. Kurz gesagt, er
ist ein Werkzeug des US-Imperialismus.

Die Kulturkriege

Die evangelikale Bewegung manipuliert gekonnt angebliche
Bedrohungen der Religion, um angesichts dessen, was sie als das Schwinden des
Rangs Amerikas als „christliche Nation“ wahrnimmt, Einheit und Enthusiasmus
anzuregen.

In den USA behaupten große Nachrichtenorganisationen wie Fox
News und christliche Radio- und Fernsehstationen mit Massenpublikum regelmäßig,
dass die Fähigkeit der ChristInnen, ihre Religion auszuüben, bedroht ist. Die
Verwendung schlagwortartiger Propaganda-Phrasen wie „Krieg gegen Weihnachten“
und „Angriff auf die Werte der Familie“ verstärkt diesen Verfolgungskomplex
unter den hingebungsvollen AnhängerInnen des fundamentalen Christentums.

Doch während sie den bevorstehenden Untergang des
Christentums und die Unterdrückung der wahren Gläubigen beklagen, behalten die
Evangelikalen in Wirklichkeit einen übergroßen Einfluss auf Politik und
Regieren. Dieser „Verfolgungskomplex“als Reaktion, der das Ende des
christlichen Glaubens und einer „gottlosen Gesellschaft“ katastrophenartig
vorhersagt, ist das Kraftwerk für die Verbreitung des Evangelikalismus und das
seit Jahrzehnten.

In dieser Hinsicht ist der Aufstieg des christlichen
Zionismus innerhalb der evangelikalen Bewegung interessant. Er verbindet
unmittelbar die „Opferrolle“ des protestantischen Christentums mit dem realen
Holocaust des jüdischen Volkes und verleiht der Unterstützung Amerikas für den
Staat Israel einen religiösen Eifer.

Bei der Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem sagten zwei
evangelikale Pastoren aus Texas, die zum offiziellen Staatsbesuch der USA
mitgebracht wurden, dass die Gründung Israels „die Prophezeiungen der Propheten
von vor Tausenden von Jahren erfüllt hat“ und dass „der Messias [nach
Jerusalem] kommen und ein Königreich errichten wird, das niemals enden wird“.

Diese „Wir-gegen-die-Mentalität“ passt perfekt zu dem für
die evangelikale Botschaft so wichtigen Thema der Opferschaft und des Leidens.
Entfremdung und Not, die durch den Kapitalismus erneuert und als
(vermeintliche) religiöse Verfolgung getarnt wurden, wurden zu einem mächtigen
Instrument, mit dem eine große Zahl von Menschen angezogen wurde, und wurden zu
einem integralen Bestandteil der evangelikalen Identität. Wahrgenommene
Bedrohungen wie Feminismus, legalisierte Abtreibung, gleichgeschlechtliche
Heirat und die Rechte von Schwulen und Transgendern haben zu einer Botschaft
des ressentimentgeladenen Untergangs-Populismus geführt und jede Art von
Klassenbewusstsein verhindert.

Die konservativen FührerInnen aller Richtungen haben ihre
Lektion gut gelernt: Wiederhole die und identifiziere Dich mit der Gefahr des
Opferns von ChristInnen,  versprich,
ihren Glauben zu schützen, und Du wirst gewinnen! Mit den Worten von Donald
Trump, der die Stimmen von über 80 Prozent der Evangelikalen erhielt, die etwa
ein Drittel der WählerInnenschaft ausmachen: „Wir werden das Christentum in den
Vereinigten Staaten schützen.“

In Brasilien mobilisierten evangelikale FührerInnen zur
Unterstützung von Bolsenaro und seinen „traditionellen Familien“-Werten gegen
eine PT (ArbeiterInnenpartei)-Regierung, die während ihrer 13-jährigen
Regierungszeit einige Rechte für Minderheiten eingeführt, eine Debatte über die
Entkriminalisierung der Abtreibung in das Unterhaus gebracht hatte und Pläne
erwog, die Geschlechtervielfalt in den Unterrichtsplan aufzunehmen.

Innerhalb von 40 Jahren hat sich die brasilianische
Bevölkerung von neunzig Prozent KatholikInnen auf ein Drittel Evangelikale
verschoben. Die evangelikalen Kirchen betreiben heute über 600 Fernseh- und
Radiokanäle, darunter auch die zweitgrößte Fernsehgesellschaft des Landes, Rede
Record, die dem UCKG-Gründer Edir Macedo gehört.

Bolsonaro lehnte Fernsehdebatten mit anderen KandidatInnen
ab, gab Rede Record jedoch ein exklusives sowie sein erstes Interview nach dem
Gewinn des Präsidentenamtes. In diesem Interview beschrieb er die „ethische und
moralische Krise“ Brasiliens und drohte, die AnhängerInnen der PT ins Exil zu
schicken.

Politischer Evangelikalismus und seine Auswirkungen auf
Frauen

Im letzten halben Jahrhundert hat die Ehe zwischen rechter
Politik und dieser unterdrückenden christlichen Sekte die Ungerechtigkeit unter
den Armen und Minderheiten der Welt – insbesondere den Frauen – eskaliert,
indem sie die biblische Rechtfertigung der Überlegenheit des Mannes über die
Frauen benutzt hat, um das kapitalistische Patriarchat aufrechtzuerhalten.
Religionsgemeinschaften bringen die Stimme der Hälfte der Bevölkerung zum
Schweigen und lenken den berechtigten Zorn auf Verarmung und Ungleichheit
(finanziell wie sozial) in Gehorsam gegenüber der staatlichen Autorität um.

Diese Überzeugungen werden 
zur Waffe für die Unterordnung von Frauen gemacht und setzen strenge
Geschlechterrollen durch, wodurch Frauen als „andere“ entmenschlicht werden und
die Notwendigkeit männlicher Autorität in einer typisch rechtspopulistischen Strategie
geschaffen wird. Die starre biblische Machthierarchie des Autoritarismus
schafft und fordert bedingungslosen Gehorsam.

Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind nach diesen
Prinzipien geordnet: Ehefrauen unterwerfen sich den Ehemännern, Kinder den
Eltern, Gemeinden der Kirchenleitung, BürgerInnen dem Staat und alle Gott –
wobei Gott in der Regel der Kirchenleitung gleichgestellt wird.
Gleichberechtigung – und Klassen – gibt es in dieser Struktur nicht.

Mit Frauen am unteren Ende der Gesellschaft ist ihr geringes
Selbstwertgefühl garantiert. Da sie aufgrund ihrer angeborenen Unwürdigkeit
ständig auf Errettung angewiesen sind, lauert immer Scham und Schande.
Unverheiratet zu sein; kein Kind empfangen zu können; Sex außerhalb der Ehe zu
haben; eine Schwangerschaft abzubrechen; vergewaltigt zu werden; nicht so klug,
so fähig, so fleißig wie ein Mann zu sein, basiert auf dem Gefühl der Scham,
einer Schande, die durch den Willen Gottes erzwungen wird.

Sogar die Mehrheit der nicht-evangelikalen Frauen, die sich
nicht schämen, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, wissen, dass Stigma und
Geheimhaltung sie bedecken; sie wissen nie, wem sie es sicher sagen können. Das
ist der Einfluss, den diese Bewegung auf Teile der Gesellschaft ausübt und der
uns alle zu beherrschen versucht und bedroht.

Schlussfolgerungen

Der Aufstieg des christlichen politischen Evangelikalismus
ist im Grunde eine reaktionäre Bewegung in allen Definitionen des Wortes. Er
ist eine Reaktion der KapitalistInnenklasse auf den zunehmenden Kampf gegen die
immer strengeren Sparmaßnahmen, die notwendig sind, um das System am Laufen und
profitabel zu halten.

Für Teile der ArbeiterInnenklasse ist es eine Reaktion auf
die anhaltende Stagnation des senilen Kapitalismus, der die nicht zur herrschenden
Klasse gehörenden Menschen, vor allem die Frauen, wirtschaftlich, politisch und
sozial an Boden verlieren lässt. Das Fehlen einer revolutionären
sozialistischen Alternative zur Verbesserung dieser realen Bedingungen macht
die Religion noch attraktiver.

Sie spielt mit der Angst vor dem Tod und dem Mangel an
Lebenschancen. Wenn man nämlich keine Möglichkeit sieht, seine Stellung in
diesem Leben zu verbessern, kann man genauso gut auf das Leben nach dem Tod
setzen. Gleichzeitig bietet sie eine wirkungsvolle Alternative zur
einschmeichelnden geistigen Nahrung des Katholizismus und des
Mainstream-Protestantismus, die beide weder wirkliche Möglichkeiten zur
Veränderung des heutigen Status noch die emotionale Befriedigung eines
glühenden Glaubens an ein Paradies jenseits des Todes bieten.

Und obwohl alle Teile der ArbeiterInnenklasse für dieses
kapitalistische Gift bezahlen werden, sogar die Evangelikalen, werden die
Frauen am meisten blechen. Rechte werden beschnitten, der politische Einfluss
in der Gesellschaft wird eingeschränkt, das Selbstwertgefühl wird zerstört, und
die Vorbilder für Frauen werden auf Schmarotzerinnen wie JeanineÁñez, die
derzeitige Interimspräsidentin Boliviens, reduziert.

Viele der schlimmsten Gräueltaten der Geschichte wurden unter
dem Einfluss der Religion begangen. Eine bessere Welt ist möglich, aber sie
wird für Frauen und Männer nicht unter dem Deckmantel von Religion jeglicher
Art gefunden werden.

Das bedeutet nicht, dass wir als KommunistInnen die
Unterdrückung der Religion fordern; im Gegenteil, wir fordern die Freiheit der
Religionsausübung für alle – solange eine solche Praxis nicht die Freiheit der
anderen beeinträchtigt, weder innerhalb noch außerhalb der Sekte. Man braucht
nur die verzweifelte Notlage der UigurInnen in China oder der Minderheiten in
islamistischen Regimen zu betrachten, um zu sehen, dass religiöse Verfolgung
tatsächlich existiert – und in beide Richtungen zuschlägt.

Aber während die Religion auch
unterm Kapitalismus notwendiges Opium bleibt und einen Zufluchtsort für
Milliarden in einer feindlichen und grausamen Welt bietet, predigt sie die
Unterwerfung unter die bestehende Ordnung und lenkt die Sehnsucht nach einer
besseren Welt in ihr Gegenteil, die Unterstützung von Ausbeutung und
Unterdrückung, um. Wann und wo immer religiöse Institutionen in die irdische
Welt eingreifen, widersetzen wir uns mit Händen und Füßen.

Wir brauchen eine weltweite Einheit des Kampfes auf der
Grundlage der ArbeiterInnenklasse, um diese wachsende Bedrohung auf der ganzen
Welt zu bekämpfen, mit Frauen an der Frontlinie im Kampf gegen die besondere
Unterdrückung, der sie durch die evangelikale christliche Reaktion ausgesetzt sind
und sein werden.




Frauen in China: die „Verliererinnen“ des Aufschwungs?

Resa Ludivien, Unterstützerin Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Die Situation von und für Frauen in China hat sich in den
letzten Jahren sehr verändert, was vor allem daran liegt, dass es eine
Neuorientierung der chinesischen Politik mit der Wahl Xi Jinpings zum
Staatspräsidenten gab. Doch schaut man sich die Entwicklungen der letzten 100
Jahre an, erscheinen die Veränderungen –Kämpferinnen im Krieg, wichtiger Teil
der chinesischen Planwirtschaft, zurück an den Herd verdammt – besonders
gravierend.

Gerade Frauen, die nach der neuen chinesischen Politik nicht
(mehr) ins Weltbild passen, haben es in China immer schwerer. Dazu gehören
nicht nur weiterhin Aktivist_Innen für Frauenrechte, solche, die der
heteronormativen Norm entsprechen, sondern auch zunehmend muslimische Frauen
sowie Frauen, die selbst über ihre Zukunft entscheiden wollen und deswegen
keine Familie oder Kinder anstreben oder selbst einen Anteil am chinesischen
Aufschwung einfordern. Man könnte daher glatt die Frage in den Raum stellen, ob
sie nicht die „Verlierinnen“ des Aufschwungs und der
Politik Xi Jinpings sind und zukünftig auch sein werden.

Doch zunächst muss geklärt werden, woher die heutigen
Besonderheiten Chinas herrühren. Genauso wie in anderen (Groß-)Reichen, vor
allem in Asien, gab es in China eine andere Form der vorkapitalistischen
Wirtschaft als Antike bzw. Feudalismus. Marx und Engels nannten sie asiatische
Produktionsweise, doch kam sie auch in anderen Erdteilen vor (z. B.
Mittel- und Südamerika). Auffällig ist, dass der „Staat“, sprich der jeweilige
Herrscher und seine Beamten, eine wichtige Rolle in Produktion und Handel
spielte. Gründe für diese starke Stellung waren die Größe der damaligen
Flächenstaaten, aber auch klimatische Verhältnisse, die stets zwischen Dürre
und Überschwemmungen schwankten und deshalb eine zentrale
Bewässerungswirtschaft erforderten. Um Anbau von Nahrung und Produktion anderer
Güter zu ermöglichen, brauchte man zuverlässige Verantwortliche, die sich
u. a. um das Bewässerungssystem des Landes kümmern. Kein Wunder also, dass
sich in diesen Ländern eine starke bürokratische Elite entwickelt hat, die die
Produktionsmittel verwaltete. Im alten Ägypten waren es die Pharaonen und die
Priesterkaste und im vormodernen China der Kaiser und seine Beamten
(Mandarine). Allerdings konnten dies nur Männer werden, genauer gesagt Männer
aus reichen Familien. Ein solcher Posten bedeutete nicht nur sozialer Aufstieg,
sondern natürlich auch Macht. In den Quellen aus der Vormoderne spielen Frauen
in China nur eine geringe Rolle, weswegen wir heute vor allem die erniedrigende
Praxis des Füße Bindens mit ihrer Stellung in Verbindung bringen. Allerdings
ist gewiss, dass trotz des patriarchalen Systems Frauen aus der Klasse der
Bäuerinnen und Bauern stark am Produktionsprozess in Haus und Hof sowie auf den
Feldern beteiligt waren.

Zwischen Fortschritt
und Rückschritt

Als 1949 die Volksrepublik China gegründet wurde, wurde die
Gleichheit zwischen Männern und Frauen in der Verfassung niedergeschrieben.
Nicht nur, weil jene, die sich selbst als Kommunist_Innen sehen, wissen, dass
ein Sozialismus nur mit Frauenbefreiung einhergehen kann, sondern auch, weil
sie beim Aufbau des neuen Staates gebraucht wurden. Natürlich war auch damals
die Frau gesellschaftlich noch nicht gleichgestellt, sodass in der Verfassung
mehr ein Ziel formuliert wurde, als es je unter der Herrschaft der KP Chinas
Wirklichkeit wurde. Doch 70 Jahre später und nach der ab Ende der 1970er Jahre
eingeleiteten wirtschaftlichen Neuorientierung, die zwar den Lebensstandard
insgesamt gehoben hat, hat sich die Lage der Frau in den letzten Jahren
verschlechtert.

Ab dieser Zeit wurde die Restauration des Kapitalismus in
der VR China eingeleitet. Dieser spielte ab Beginn der 1990er Jahre wieder die
bestimmende Rolle im Land. Schon vor der letzten Weltwirtschaftskrise war China
in die Reihen der imperialistischen Großmächte aufgerückt, was sich heute im
Hauptkonflikt zwischen China und den USA niederschlägt. Davor, seit dem
Korea-Krieg, war die VR China ein von Beginn an bürokratisch degenerierter
ArbeiterInnenstaat ähnlich der UdSSR, Osteuropa, Nordkorea und Kuba. Die
Mehrheit der Bevölkerung stellte aber bei Weitem die Bauern- und
Bäuerinnenschaft.

„Gender Pay Gap“, die Lohnschere zwischen Männern und Frauen,
spielt auch in China eine Rolle. War China 2008 noch auf Platz 57, was diese
Ungleichheit angeht, lag sie im Jahr 2017 nur noch auf Platz 100. Noch
schlechter schnitten Frauen mit Kind in China ab. Ist der Negativmaßstab 42 %
weniger Lohn für Mütter, beträgt er für kinderlose Frauen immerhin 37 %.
Und dies, obwohl es mittlerweile eine Vielzahl von sehr gut ausgebildeten
Frauen in China gibt. Diese Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt führt dazu,
dass Frauen entweder in die ökonomische Abhängigkeit von ihrem Ehepartner
gedrängt werden, der sie aufgrund fehlenden Geldes nur schwer wieder entfliehen
können, oder aber in die Schwarzarbeit, zu menschenunwürdigen Bedingungen. Letzteres
trifft gerade auf arme Frauen und den Großteil der weiblichen Landbevölkerung
zu – eine Gruppe, die, wenn sie in die Städte geht, um Arbeit zu suchen, in
China sowieso schon unabhängig vom Geschlecht kriminalisiert ist.

Die Restauration des Kapitalismus seit Mitte der 1970er
Jahre hat sich also negativ ausgewirkt. Die Bestrebungen Xi Jinpings, China zur
weltweit dominierenden imperialistischen Macht zu machen, also den USA ihren
Rang abzulaufen, haben ihr Weiteres dazu getan. Sein nationalistisches und
militärisches Programm ist dabei ebenso zu nennen wie seine neue
Wirtschaftspolitik. Die chinesische Wirtschaft wird heute vor allem von
Industrie und vom Dienstleistungsgewerbe dominiert. Allerdings verlagert China
seine Produktion zunehmend in afrikanische Länder und nach Südostasien, nicht
nur weil es dort lukrativer ist, sondern auch, um im Kampf um die Neuaufteilung
der Welt sein Einflussgebiet zu vergrößern. Mittelfristig wird dies gerade jene
Frauen treffen, die durch die Restaurationspolitik eine Arbeit in der kapitalistisch
umstrukturierten Industrie annehmen mussten und deren Arbeitsplätze in China
wegfallen werden.

Frauenbewegung in
der VR China

Schaut man sich ein Bild vom letzten Parteitag der
chinesischen Kommunistischen Partei an, sieht man…..Männer. Dieses Bild steht
sinnbildlich für die Rolle der Frau in den Augen der KP im Jahr 2019.

Auch die offizielle Frauenorganisation kann dieses
Missverhältnis nicht aufheben und möchte es auch nicht. Doch eine unabhängige
Organisierung in China ist schwierig, da es weder Presse- noch
Versammlungsfreiheit gibt, geschweige denn das Recht, sich legal zu
organisieren.

In den letzten Jahren gab es immer wieder Proteste von
Frauen. Insbesondere die Themen häusliche und sexualisierte Gewalt spielten
dabei eine wichtige Rolle. Im Jahr 2017 rangierte China auf einem der letzten
Plätze, wenn es um „Überleben und Gesundheit“ von Frauen geht. Kein Wunder,
dass es die #Me-Too-Bewegung sogar bis nach China geschafft hat. Über Tausende
beteiligten sich und Hunderte Millionen Menschen (Vergleich: Deutschland hat
nicht einmal 100 Millionen Einwohner*innen) teilten die Beiträge von Frauen,
die über ihr Erlebtes berichteten. Über 70 % der chinesischen Frauen gaben
an, schon einmal sexuell belästigt worden zu sein. Dennoch geht man von einer
noch höheren Dunkelziffer aus. Nach einer solchen Umfrage musste das zuständige
Institut in Guangzhou (Kanton), das zu Gleichberechtigung forschte, seine
Arbeit einstellen. Außerdem wurden in sozialen Medien die Accounts von
Aktivist_Innen gesperrt. Daran erkennt man ,wie sehr dem Staat dieses Thema ein
Dorn im Auge ist.

Auch die 37-tägige Inhaftierung der sog. „Feminist Five” Li
Maizi, Zheng Churan, Wei Tingting, Wu Rongrong und Wang Man im Jahr 2015
bestätigt dies. Man versucht, durch solche Aktionen die Aktivist_Innen nicht
nur zum Schweigen zu bringen, sondern auch durch das Abschneiden von der
Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten zu lassen. Doch gerade Aktivist_Innen
wie Li Maizi macht man nicht so leicht mundtot. Sie engagiert sich nicht nur
für Frauenrechte in China, sondern stellt auch ein Bindeglied zur
kriminalisierten LGBTIQ-Community her. Diese wiederum hat viele weibliche
Aktivist_Innen und nicht nur solche, die selbst Teil der Community sind. Auch
viele Mütter, die sich gegen die Entkriminalisierung ihrer Kinder einsetzen,
beteiligen sich am Protest.

Was tun die Gewerkschaften für chinesische Frauen?

Im Grunde kann man sagen, dass die einzige legale
Gewerkschaft (Allchinesischer Gewerkschaftsbund; ACGB) mit über 300 Millionen
offiziellen Mitgliedern keine Gewerkschaft im eigentlichen Sinne darstellt. Sie
ist weder in den Betrieben verankert noch vertritt sie die Interessen der Arbeiter_Innen.
Auch ist ihre Führung durch den Staat eingesetzt und somit nicht frei gewählt.
Insgesamt besteht die Strategie Pekings darin, Protest zu entpolitisieren.

Dennoch gab es einen Anstieg von Arbeitskämpfen in China in den
letzten 30 Jahren, was mit seiner Entwicklung zu einem wichtigen Player des
kapitalistischen Systems zusammenhängt. Gerade der Südosten Chinas hat viele
Kämpfer_Innen hervorgebracht. So gab es bspw. seit 2008 immer wieder Streiks im
Reinigungsbereich. Angeführt wurden diese von Frauen. Auch in China ist dies
ein Sektor, in dem gerade Menschen arbeiten, die sonst keine bessere
Jobperspektive haben wie Alte, Arme, Migrant_Innen und Frauen. Im Jahr 2014
wurde das Guangzhou’s Higher Education Mega Center, das 200.000 Studierende
umfasst, von den Arbeiter_Innen der Putzfirma bestreikt. Von Anfang an
verbanden sie Migrant_Innen und Frauen durch Selbstorganisierung. Sie wählten
sogar 18 Vertreter_Innen, von denen 5 zugelassen waren, für Gespräche mit der
Firma. Ebenso solidarisierten sich Hunderte Studierende. Diese Arbeitskämpfe
bilden einen wichtigen Pol, um den herum sich der Aufbau vom Staat
unabhängiger, klassenkämpferischer und antibürokratischer Gewerkschaften
vollziehen kann, die überdies weit mehr Schichten als die
ArbeiterInnenaristokratie organisieren müssen und können.

Innere Widersprüche
und die Stellung der Frau in China

Wie in allen anderen Kulturkreisen gibt es auch in China
historische Begebenheiten und Vorstellungen, die die Stellung von Frauen sowie
das Miteinander der Gesellschaft bis heute prägen. In Ostasien ist das u. a.
die Philosophie des Konfuzianismus.

Allerdings war eines der einschneidendsten Erlebnisse für
Frauen in der jüngeren Vergangenheit vor allem die Ein-Kindpolitik ab 1979, die
vor ein paar Jahren abgeschafft wurde. Familien durften nur ein Kind bekommen
(mit Ausnahmen u. a. auf dem Land, da dort die Arbeitskraft benötigt
wurde) und Mädchen wurden in großer Zahl getötet. Gründe dafür sind  nicht nur das Prestige, dass ein Junge und
späterer Erbe mit sich brachte, sondern auch die Tatsache, dass Mädchen, um zu
heiraten, ihre Familien verlassen würden und sich somit nicht um die Eltern
kümmern könnten. Heute kommen ca. 100 Frauen auf 121 Männer. Die Auswirkungen
hiervon sind Raub an jungen Mädchen in China und angrenzenden Ländern sowie
eine Konzentration unverheirateter Männer in armen Provinzen.

Am Beispiel Hongkong kann man viele Widersprüche innerhalb
der chinesischen Gesellschaft ab der Phase der Restauration erkennen und
beschreiben. Hier ist der Konflikt zwischen kapitalistischen Bestrebungen und
Frauenbefreiung täglich sichtbar, die Probleme der doch nicht so
gleichgestellten Frau treten offen zu Tage.

Hongkong ist für viele Chines_Innen das Ziel ihrer Träume.
Die ehemalige britische Kronkolonie, heutige bedeutender Finanzstandort, verspricht
der armen Bevölkerung auf dem Land Arbeit und ein besseres Leben. Doch kann die
Stadt dieses Versprechen nicht halten. Dennoch ist dies eine Frage, die nur
wenige von den immer wieder aufkeimenden und aktuell stattfindenden Protesten
aufgreifen. Etwa die Hälfte aller Demonstrant_Innen bei den weiterhin
anhaltenden Protesten sind Frauen. Unabhängige Frauengruppen- und -initiativen
haben sich herausgebildet. Dennoch: Veraltete Rollenbilder von Frauen, die
schweigen und sich gefälligst mit nichts außerhalb des privaten Raums
beschäftigen sollen, gibt es natürlich nicht nur in Europa, sondern auch in
Ostasien. Um Frauen daran zu erinnern, wo aus patriarchaler Sicht ihr Platz
ist, greifen Polizist_Innen in Hongkong zu einer ganz besonderen Form der
Gewalt: sexualisierter Gewalt. Ungefähr jede fünfte Frau, die festgenommen
wurde, berichtet von sexueller Belästigung und Gewalt durch die Polizei. Die
Bewegung reagierte mit Demonstrationen dagegen, die von Tausenden besucht
wurden. Und nicht nur Frauen solidarisieren sich, auch Männer. Ein kleiner
Anfang.

Proletarische Frauenbewegung
jetzt!

Die #Me-Too-Bewegung hat den Bedarf, den es auch in China
gibt, gezeigt. Jetzt gilt es, praktische Maßnahmen zu ergreifen. Es braucht
nicht nur eine Selbstorganisierung, sondern aufgrund der hohen Zahlen an
häuslicher und sexualisierter Gewalt organisierten Selbstschutz. Doch eine Organisierung
der Frauen ist nur möglich, wenn man einerseits trotz all der Repression immer
wieder Öffentlichkeit für die Themen schafft und andererseits die
Herausforderung angeht, trotz überwachter sozialer Medien, Frauen über größere
Entfernungen hinweg zu organisieren, egal ob in der Stadt oder auf dem Land.
Hier kann allerdings von der Queerbewegung gelernt werden, die es seit Jahren
immer wieder erfolgreich schafft, sich zu organisieren und auch Treffen zu abzuhalten.
Der Gebrauch von dafür genutzten Tarninternetseiten sollte aber dabei dem
Verkehr über WeChat vorgezogen werden.

Die Perspektive, die eine chinesische Frauenbewegung braucht
sind nicht nur praktische Antworten auf Diskriminierung, sexualisierte Gewalt
und Repression, sondern auch eine Verbindung der Kämpfe mit anderen Betroffenen
der chinesischen Politik, sprich eine internationalistische Perspektive. Ebenso
darf man nicht vergessen, dass derzeit viele der Aktivist_Innen aus der
gebildeten Schicht in den Großstädten stammen. Auf die Interessen von proletarischen
Frauen muss daher dringend eingegangen werden. Eine Verbindung einer
chinesischen Frauenbewegung mit der von Peking stillgehaltenen Arbeiter_Innenbewegung
ist unabdinglich. Alles andere als eine solche proletarische Frauenbewegung würde
auch darüber hinwegtäuschen, dass die Auswirkungen der neuen Politik und der
patriarchalen Gesellschaft Chinas gerade Arbeiterinnen trifft. Sie werden von
ihren Familien getrennt und kriminalisiert, weil sie versuchen, in den Städten
Arbeit zu finden. Sie sind es, die aufgrund schlechter Ausbildung und Jobs der
häuslichen Gewalt nicht entfliehen können und auch zunehmend ihre Jobs
verlieren werden, wenn China die Produktion weiter ins Ausland verlagert.
Gleichzeitig sind nur sie zahlenmäßig und von ihrer Klassenstellung her im
Unterschied zu (bildungs-)bürgerlichen und Mittelschichten dazu in der Lage,
durch Streiks, v. a. gemeinsame mit ihren männlichen Kollegen, und weitere
Mittel die chinesische Gesellschaft in Bewegung zu setzen und für die Befreiung
der Frau einzutreten.

Kommunistinnen müssen an vorderster Front in den
Massenorganisationen ihrer Klasse arbeiten, v. a. in Gewerkschaften und
Frauenbewegung, um sie für revolutionär-sozialistische Ziele zu gewinnen, eine
neue revolutionäre kommunistische Massenpartei und kommunistische
Frauenorganisation aufzubauen.

  • Für eine internationale, proletarische Frauenbewegung und -internationale!
  • Für Frauenselbstorganisierung- und -selbstverteidigungsgruppen!
  • Bildet unabhängige Gewerkschaften!
  • Für den Aufbau einer revolutionären Fünften ArbeiterInneninternationale!