Filmkritik: Die Barbarei von Panem – Oder: Was passiert, wenn wir verlieren?

Von Jona Everdeen, Dezember 2023

Es sorgte für einigen Spaß als bekannt wurde, dass Teile des neue „Tribute von Panem“ Prequel ausgerechnet in Duisburg gedreht werden sollten. Es wurde gewitzelt, dass die ökonomisch schwächelnde Industriestadt im Ruhrgebiet den post-apokalyptischen Vibe sehr gut treffe.

Doch was ist das wirklich für eine Welt, in der Jugendliche zur Teilnahme an den tödlichen Hungerspielen gezwungen werden und wo die große Mehrheit der Menschen in den Distrikten im Elend versinkt, während eine kleine Gruppe von Menschen im Kapitol ein selbst für große Teile der aktuellen Bourgeoisie schwer vorstellbares Luxusleben führt?

Und was hat diese dystopische Gesellschaft mit unserer Welt zu tun? Könnte Panem, wenn es dumm läuft, irgendwann ein sehr realer Schrecken sein?

Die Klassenstruktur von Panem

Der Staat Panem besteht aus 12 Distrikten und einer Hauptstadt, dem Kapitol. In den Distrikten findet jeweils voneinander getrennt die Produktion verschiedener Güter statt (z.B. Holz, Textilien, elektronische Geräte), während vom Kapitol aus der Staat verwaltet wird.

Die Produktion in den größtenteils sehr armen Distrikten dient in erster Linie der Versorgung des Kapitols.

Die Menschen in den Distrikten sind dabei keine Sklav_Innen des Kapitols. Sklav_Innen sind lediglich die „Avoxe“, Bedienstete im Kapitol selbst, denen die Zunge herausgeschnitten wurde, damit sie sich nicht verbal verständigen können. Sie sind keine Leibeigenen im Sinne eines Feudalsystems, die für ihre Herren Frondienste verrichten und Abgaben leisten müssen, aber sonst für den Eigenbedarf produzieren. Und sie sind auch keine Arbeiter_Innen, die Arbeit verkaufen.

Genauso sind die Menschen im Kapitol auch keine Sklavenhalter_Innen, wobei die Gesellschaft des Kapitols einer antiken Stadtgesellschaft durchaus ähnlich ist, keine Feudalherren und keine Kapitalist_Innen, die ihre Stellung in erster Linie durch den Privatbesitz an Produktionsmitteln inne haben. Der Hauptwiderspruch dieser Gesellschaft ist eben der zwischen Kapitol und Distrikten und beruht letztendlich auf roher, kaum verhüllter, staatlicher Gewalt. Während die Menschen in den Distrikten schuften müssen, extrem prekären Lebensbedingungen ausgesetzt sind und auch noch jedes Jahr zwei Jugendliche aus jedem Distrikt zum Sterben in die Arena der Hungerspiele schicken müssen, lebt es sich im Kapitol in Saus und Braus.

Das Kapitol presst, um diesen Lebensstil finanzieren zu können, auf brutalste Art und Weise die Distrikte aus, wobei die Hungerspiele eigentlich nur die Spitze des Eisbergs sind. Weigern sich Menschen, die Schwerstarbeit zu leisten oder können sie schlicht die Liefermengen an das Kapitol nicht erfüllen, kommt es zu meist völlig willkürlichen Auspeitschungen und Hinrichtungen und somit extremster Repression durch die als „Friedenswächter“ bezeichnete Armee des Kapitols.

Diese Armee setzt sich aus verschuldeten Bürger_Innen des Kapitols oder Menschen aus dem etwas privilegierten Distrikt 2 zusammen.

Soziale Mobilität gibt es zwar in der Armee im beschränkten Maße. Aber als Kapitolbewohner_In klassische Distriktbewohner_In zu werden oder andersherum ist hingegen quasi ausgeschlossen und auch von einem Distrikt in den anderen zu „wechseln“, kann man zumindest nicht regulär.

Auch die Sieger_Innen der Hungerspiele nehmen in dieser Gesellschaft nur begrenzt eine Sonderrolle ein: Sie werden zwar im Kapitol zu einer Art Popstars und erhalten genug Geld um sich und ihren Familien ein sorgloses Leben zu ermöglichen, sie bleiben jedoch weiterhin Distriktbewohner_Innen.

Kann Panem Realität werden?

„Sozialismus oder Barbarei“, diese Mahnung Rosa Luxemburgs ist in der marxistischen Linken allseits bekannt und bedeutet, dass, sollte es uns nicht gelingen, die gesellschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus auf revolutionärem Weg zu lösen, zwangsläufig dieses System an den Widersprüchen untergehen und die Gesellschaft in eine Barbarei stürzen müsse.

Was jedoch diese Barbarei genau bedeutet, ist dabei bewusst offengehalten. Zum einen wird damit die Entbändigung der kapitalistischen Gewalt im Faschismus beschreiben. Es geht dabei aber auch um eine apokalyptische nach-kapitalistische Welt. Man kann diese natürlich nicht vorhersehen, aber sich bestimmte Szenarien ausmalen, woraus einige kulturelle Genres entstanden sind.

Die erste Option können wir im Film „I Am Legend“ sehen oder auch bei manchen Klimagruppen hören. Hier gibt es die Vorstellung, dass nach einer großen Katastrophe wie Krieg, dem eskalierenden Klimawandel oder einer Pandemie die Menschheit als Spezies schlicht verschwindet.

Deutlich öfter und auch irgendwie überzeugender tauchen Visionen einer heftigen Dezimierung aber nicht Auslöschung der Menschheit auf, die dann ihr Dasein unter prekärsten, vormodernen Verhältnissen fristen muss, wie in Teilen der Fallout-Reihe oder Metro 2033. Die dritte Option ist jene von Tribute von Panem: Der Errichtung einer neuen Klassengesellschaft auf den Trümmern der alten. Einer Gesellschaft in der nicht mehr das kapitalistische Wertgesetz herrscht aber auch kein zentraler, rätedemokratischer Plan.

Wenn man sich aber auf diese wilde Spekulation einlässt, scheint eine Gesellschaft in der es einer privilegierten, technologisch überlegenen, Minderheit gelingt, eine neue Ordnung in ihrem Interesse zu erschaffen und die Gesellschaftsmehrheit unter Androhung und Anwendung exzessiver Gewalt dazu zu zwingen, für sie zu arbeiten, durchaus nicht unrealistisch.

Auch in einem weiteren post-apokalyptischen Universum sehen wir ein Beispiel für eine solche Gesellschaft, allerdings in ihrer Frühphase: Negans Saviors aus The Walking Dead.

Diese bilden letztendlich eine Gruppe aus Menschen die, von einem gut gesicherten Hauptquartier aus agierend, mit Waffengewalt andere Gruppen von Menschen dazu zwingen für sich zu arbeiten und Produkte, zum Beispiel Lebensmittel, als Tribut zu zahlen. Sollten diese nicht im geforderten Maße liefern, ist die Strafe meist die Erschießung eines Mitglieds der Gemeinschaft.

In Tribute von Panem wird nicht genauer erwähnt, wie die dortige Gesellschaft ursprünglich entstanden ist, jedoch ist ein ähnlicher Ursprung der Räuberei durch das Kapitol, die sich dann über die Jahrzehnte institutionalisiert zu einer Art Staat weiterentwickelt haben könnte, durchaus realistisch.

Tatsächlich sehen wir ja bereits jetzt, wie an verschiedenen Orten von Superreichen „Weltuntergangs-Resorts“ gebaut werden. Orte, an denen diese auch nach einem Zusammenbruch des kapitalistischen Weltsystems weiterhin ein privilegiertes Leben führen können, so zum Beispiel in Tirol oder in Neuseeland. Die meisten dieser Luxusbunker sind allerdings bisher recht klein konzipiert. Die abgeschottete und als autark geplante Stadt Neom in Saudi-Arabien, die bis 2030 gebaut werden soll, erinnert hingegen in ihrer futuristischen Konzeption schon sehr erschreckend an das Kapitol.

Wenn die Gesellschaft an der Unzahl von unlösbaren Krisen zerfällt, sind solche abgeschottete Rückzugsräume logische Notwendigkeit für die herrschende Klasse. Dann braucht es nur noch die Duisburger Arbeiter_Innen zur Versorgung des Luxuslebens! Und wenn die Gesellschaft sich schlussendlich das Luxusgut Moral und Menschlichkeit nicht mehr leisten kann, sind faschistische Ideologien zu Legitimierung und solche brutale „Spiele“ wie die Hungerspiele zur Stabilisierung der Gesellschaft auch nicht mehr weit.

Vergesst nicht, wer der wahre Feind ist!

Wenn wir also nicht wollen, dass unsere Enkel in Hungerspielen gegeneinander antreten müssen und in einer von schrecklichen Kriegen und einer eskalierten Klimakatastrophe verheerten Welt ihr Leben damit verbringen müssen, zu ackern, damit die Enkelkinder unserer Bosse weiter in Saus und Braus leben können, müssen wir jetzt etwas tun!

Deshalb müssen wir jetzt kämpfen, es wagen den Hunger nach Gerechtigkeit ein für alle Mal zu stillen und eine Welt zu erbauen, in der wir für immer frei von Ausbeutung und Unterdrückung leben können!

Vergessen wir nicht, wer der wahre Feind ist! Das sind nicht unsere Klassengenoss_Innen in anderen Ländern oder aus anderen Distrikten, nicht Menschen, die hierher vor Krieg und Elend fliehen, und nicht unsere Arbeitskolleg_Innen mit denen wir, zumindest laut unseren Bossen, um unsere Arbeitsplätze in Konkurrenz stehen müssen – Der wahre Feind sind die kapitalistischen Ausbeuter_Innen, die durch ihren Reichtum an Produktionmitteln bestimmen wie diese Gesellschaft funktioniert und ihre Privilegien im Zweifel auch nutzen würden, in einer post-apokalyptischen barbarischen Klassengesellschaft weiterhin die Herren zu bleiben! Nur eine Gesellschaft, die auf Solidarität, Demokratie und Gerechtigkeit fußt, kann überhaupt erst Krieg und Klimakatastrophe für immer verhindern!




Barbie: Dauerwerbesendung für pinken Kapitalismus? Eine marxistische Filmkritik

von Leonie Schmidt, Juli 2023

Nachdem der neue Barbiefilm (Greta Gerwig, 2023 USA) letzte Woche in den Kinos anlief und dabei einen unglaublich erfolgreichen Raketenstart hinlegte, gab es direkt die ersten Kritiken von Konservativen, die sich beschwerten, der Film würde sich gegen Männer richten, sei zu woke und würde unchristliche Werte vermitteln. Die positiven Kritiken hingegen versprachen stattdessen ein feministisches Spektakel voller Kritik am Patriarchat, radikalisierend oder gar revolutionär. Nach diesen zwiegespaltenen Rezensionen wollte sich unsere Autorin Leonie Schmidt selbst überzeugen. Hier könnt ihr die vollständige Kritik lesen.

Worum geht es?

In einem Land namens Barbieland lebt die stereotypische Barbie (Margot Robbie) zusammen mit verschiedenen anderen Versionen von Plastikpuppen und ihren Begleitern, den Kens (und Allan (Michael Cera)). Obwohl ihr Leben unter den vielen anderen Barbies und Kens perfekt erscheint, hegt sie eines Tages Selbstzweifel und wird von Angstgefühlen geplagt, da sie auf einmal Makel bekommt, die sie vorher nicht hatte. Dies führt dazu, dass sie Barbieland verlassen muss, um wieder perfekt zu werden und zusammen mit ihrem Begleiter Ken (Ryan Gosling) in die reale Welt reisen muss. Während dieser Reise verwandeln sie sich auf magische Weise in echte Menschen und landen in Los Angeles. Das sexistische Verhalten der Menschen und die Unterschiede zur Welt in Barbieland irritieren Barbie. Gleichzeitig begibt sie sich auf die Suche nach ihrer langjährigen Besitzerin, von der sie glaubt, sie in der frechen Teenagerin Sasha (Ariana Greenblatt) gefunden zu haben. Währenddessen entdeckt Ken während eines Spaziergangs durch die Stadt, dass die reale Welt im Gegensatz zu Barbieland von einem Patriarchat dominiert wird. Durch diese Reise verändert sich so einiges in Barbieland: Ken will dieses Paradies ebenfalls in ein Patriarchat mit Pferden und Mango-Bier verwandeln. Nun geht es darum, Barbieland vor dem Aufstand der Kens zu retten. Die Incel- und Macho-Revolution kann am Schluss durch den Zusammenhalt der Barbies abgewendet werden und die stereotypische Barbie erkennt, dass sie keine Barbie mehr sein möchte und darf nun in der echten Welt leben.

Zu hohe Erwartungen

Eine feministische Revolution in Hollywood, mit Barbie, dem Symbol der weiblichen Geschlechtsrolle? Zugegebenermaßen, das schien mir eigentlich die ganze Zeit für viel zu hoch gegriffen. Aber nachdem ich gesehen hatte, wie alle Menschen, denen ich online so folge, die irgendwie progressiv und teilweise auch antikapitalistisch bis revolutionär sind, den Film in den Himmel lobten, waren meine Erwartungen sehr hoch. Auch von Greta Gerwig als Filmemacherin hörte man bisher nur Gutes, ich hatte zwar bislang nur Lady Bird (Greta Gerwig, 2017 USA) gesehen, aber fand die antisexistischen Untertöne und das Portrait der Mutter-Tochter-Beziehung darin sehr gelungen. Die Besetzung des Barbiefilms ist außerdem hochkarätig und die Pressetour vor dem Filmstart, gab einem das Gefühl, dass Margot Robbie und Ryan Gosling sich genau mit ihren Rollen und deren tieferen Bedeutungen auseinandergesetzt haben. Auch hatte ich gehört, dass Gerwig und Robbie sich mit einigen Szenen gegen Mattel und Warner Bros durchsetzen, weil sie diese für absolut relevant für die Aussage des Films hielten (zum Beispiel die Szenen mit der alten Frau an der Bushaltestelle, mit der Barbie kurz nach ihrer Ankunft in der echten Welt spricht). Nachdem ich den Film gesehen hatte, dachte ich mir allerdings nur: das war alles?!

Positive Elemente

Bevor wir zu den Kritikpunkten kommen, soll es aber erst einmal um die positiven Elemente des Filmes gehen. Rein von der Ästhetik her sind Barbieland und die Barbies und Kens hervorragend umgesetzt. Mit viel Liebe zum Detail wurden Set und Outfits dem ikonischen Spielzeug angepasst und die Bewegungen der Schauspieler_Innen haben immer etwas subtil puppenhaftes, ohne vollständig unnatürlich zu wirken.

Der ganze Film ist gespickt mit Humor, um seine Inhalte zu übermitteln und die Gags haben Realitätsbezug, wirken zwar manchmal etwas überspitzt, aber seien wir ehrlich: viele von uns mussten sich schon mal im Detail anhören, was einen staubtrockenen Film so hochinteressant macht, wie die Barbie, welcher Der Pate (Francis Ford Coppola, 1972 USA) gemansplaint wird. Diese geteilte Erfahrung macht das Ganze erst so komisch. Im Allgemeinen ist es tatsächlich sehr erfrischend, wenn Männer einmal so eindimensional, plump und unselbstständig dargestellt werden, wie es in unzählige Filme mit Frauen immer noch getan wird. Die Reaktion von vielen (konservativen) Männern zeigt, dass sie es scheinbar nicht so toll finden, wie ihnen hier der Spiegel vorgehalten wird.

Auch der Plot hat zumindest eine noble Idee und Grundaussage: Perfektion ist absolut unmenschlich und in der Realität nicht erstrebenswert, was auch für Frauen gilt, die vermeintlich dem Stereotyp entsprechen, und jede Frau jeden Alters ist auf ihre eigene Art und Weise wunderschön. Auch die individuelle Erfahrung von Frauen im Patriarchat wird an mehreren Stellen gut gezeigt. Als Barbie und Ken beispielsweise in Los Angeles ankommen und Roller skaten und Barbie sich auf einmal, das erste Mal in ihrem Leben, unwohl fühlt, weil sie von Männern angegafft wird und Ken, der daneben steht, davon gar nichts mitbekommt und sich pudelwohl fühlt. Diese Szene führt letztendlich dazu, dass ein Mann Barbie auf den Po schlägt, woraufhin sie sich umdreht und ihm einen Faustschlag verpasst. Barbie lässt sich also schon einmal nichts gefallen.

Ebenso findet sich eine subtile Polizeikritik, als die Polizisten Barbie nach der Verhaftung mit anzüglichen Kommentaren überhäufen, was eigentlich erst der Grund war, weswegen sie zurecht ausgerastet ist und verhaftet wurde. Die Polizei kann also im Kampf gegen das Patriarchat auch nicht helfen. Die Wutrede von Gloria (America Ferrera) zum Thema kognitive Dissonanz für Frauen im Patriarchat, die gleichzeitig alles sein sollen, aber immer zu wenig sind, bringt die alltäglichen Anforderungen an Frauen auf den Punkt.

Herausgearbeitet wird außerdem, was bei Männern zumindest auf einer psychologischen Ebene zu Frauenhass führen kann: zu wenig Anerkennung und ein fragiles Ego. Wie erschütternd das ist, wenn ein eigentlich guter Freund sich auf einmal zu einem Männerrechtsaktivist und Chauvinist entwickelt, muss Barbie am eigenen Leib erfahren.

Der Film scheut auch nicht vor plakativer Systemkritik zurück. Als Ken sich in der realen Welt über das Patriarchat und seine Jobmöglichkeiten informiert, wird ihm gesagt, ganz so einfach, wie er sich das vorstellt, dass er einfach nur ein Job bekommt, weil er ein Mann ist, ist es dann doch wieder nicht. Allerdings wissen die Männer es heutzutage einfach nur besser zu verschleiern, dass sie sehr wohl Vorteile haben. Wer schon einmal über Gleichberechtigung diskutiert hat, kennt sie, die Männer die sagen: „Ne, ne wir sind doch alle gleichberechtigt, das Patriarchat gibt es schon lange nicht mehr.“ Somit ist es mal ganz erfrischend zu hören, was der CEO zu Ken sagt.

Ebenfalls eine Kritik am Choice Feminismus (alles ist feministisch, solange sich eine Frau bewusst dafür entscheidet) findet sich mehrfach. Bereits zu Beginn wird die Grundidee der Barbie-Puppe „Du kannst alles sein was du willst“ hinsichtlich der Karriere zwar gelobt, aber es wird von der Erzählerstimme dennoch darauf hingewiesen, dass das Patriarchat selbst mit diesen Karrieremöglichkeiten für Frauen eben nicht einfach abgeschafft wurde. Auch zeigt der Film auf, dass es nicht im Interesse von Frauen ist, sich den Männern zu unterwerfen, auch wenn sie das selber in dem Moment vielleicht anders sehen.

Positiv herauszustellen ist außerdem, dass Barbies Lebensinhalt nicht Männer sind, an Ken hat sie schon einmal gar kein Interesse und auch an niemand anderem. Wie sollte sie auch, ist sie doch eine Puppe so ganz ohne Genitalien. Daher kommen ihr die Anmachversuche in der echten Welt auch einfach sehr seltsam vor. Das zeigt aber vor allem, dass Filme die für eine weibliche Zuschauerinnenschaft gemacht wurden, eben nicht immer nur romantische (Sub)Plots haben müssen, um zu funktionieren. Es wirft auch die Frage auf, ob Barbie überhaupt hetero ist. Klar wird sie von Mattel eigentlich so dargestellt, aber wenn wir uns mal scharf dran erinnern, wie wir mit Barbies gespielt haben…

Barbie – der Film zum Rebranding von Mattel

Der Sinn dieses Films wird uns eigentlich auf dem Silbertablett serviert: Barbie soll weiterhin ein relevantes Spielzeug sein, auch in einer Zeit, in welcher, zumindest oberflächlich, feministische Diskurse Einzug in die gesamte Gesellschaft erhalten haben. Das kann man sehen an der Teenagerin Sasha, die keinen Bock auf Barbie hat, natürlich einerseits, weil sie schon zu alt ist, aber andererseits auch, weil es komplett uncool ist, zuzugeben, dass man Barbies mag, wenn man sich gleichzeitig für Feminismus interessiert. Am Ende kann sie aber doch noch überzeugt werden. Deswegen wird im Film auch die ursprüngliche Vision von Barbie-Erfinderin Ruth Handler so betont: Barbie sollte eine Alternative zu den Puppen darstellen, mit denen die Mutterrolle normalerweise eingeübt wurde und durch die anfänglichen Editionen, wo es vor allem um Berufe ging, und dass Frauen eben alles sein können, was sie möchten, mit der weiblichen Geschlechterrolle brechen. Allerdings verschweigt der Film, dass diese Vision nicht lange anhielt und mit dem Abschied von Ruth Handler von Mattel Lifestyle, Mode, Sport und Tiere in den Interessenfokus von Barbie gerieten. Außerdem war ein kompletter Bruch mit der weiblichen Geschlechtsrolle sowieso für Barbie niemals vorgesehen: das fängt mit ihrem Aussehen an, welches immer als Schönheitsideal galt. Barbies frühere Idealmaße hätten bei einem echten Menschen dazu geführt, dass dieser nicht lebensfähig ist. Diese wurden zwar mittlerweile überarbeitet, um realistischer zu werden, dennoch haben unzählige viele kleine Mädchen mit Barbie gelernt, dass es total wichtig ist, immer gut gestylt zu sein und regelmäßig die neuste Mode zu kaufen. Barbie bereitet sie also auf ein Leben im Patriarchat als Frau und im Kapitalismus als Konsumentin vor. Das mag nicht so offensichtlich auf die Mutterrolle abzielen, aber wenn man sich einmal anschaut, welche Berufe Barbie so ausübt, wird auch hier schnell klar, dass Care-Arbeit gerne gesehen wird: eine der ersten Berufe, die Barbie hatte, war Krankenschwester.

Im Film wird immer wieder klar, hier soll etwas verkauft werden: die Barbies und ihre Outfits, die gezeigt werden, existieren größtenteils alle wirklich. Auch die Szene, in der Ken Barbies Outfits aus dem Dreamhouse wirft, betont das noch einmal über deutlich, indem die Namen der Outfits explizit eingeblendet werden. Noch dazu gibt es sehr offensichtliche Product-Placements von Chanel, Birkenstock und Chevrolet.

Mattel will also ein bisschen mit dem Klischee brechen, Barbie sei nur ein anti-feministisches Püppchen und stattdessen zeigen, dass Barbie immer auch daran gebunden ist, wer mit ihr spielt. So können sie sich einerseits aus der Verantwortung ziehen und andererseits den individualistischen Charakter ihrer Produkte betonen. Deswegen ist die feministische Grundhaltung des Films auch alles andere als subtil, was für Greta Gerwig eigentlich sehr ungewöhnlich ist.

Misslungene Kritik am Patriarchat

Das Wort Patriarchat kommt mehrmals im Film vor und mit ihm auch eine völlig falsche Kritik daran. So wird an einer Stelle gesagt, dass die Menschen sich das Patriarchat bewusst ausgedacht hätten. Als hätten sich die Männer eines Tages mal an einen Tisch gesetzt und bestimmt, dass es ab heute Patriarchat geben soll, genauso wie die Kens versuchen, das umzusetzen (nur dass sie sich Mango-Bier trinkend an einen Pool statt an einen Tisch setzen). Das ist jedoch nicht korrekt. Das Patriarchat hat sich über Jahrtausende entwickelt, zu dem was es heute ist und war keine bewusste Entscheidung, sondern rührt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Entwicklung der Produktionsmittel her. In den Urgesellschaften lebten Männer und Frauen gleichgestellt, die Arbeitsteilung erfolgte aufgrund von körperlichen Fähigkeiten, das heißt auch Frauen gingen jagen, außer sie waren schwanger, Entscheidungen wurden kollektiv getroffen. Erst eine Produktionsweise, die es erlaubte, mehr zu produzieren als direkt verzerrt werden konnte, sorgte dafür, dass es Vorräte und somit auch Verwalter der Vorräte gab, die von der Arbeit freigestellt werden konnten, was in den meisten Fällen Männer waren. Diese bekamen auch Vorrechte bezüglich des Zugriffs auf die Vorräte, welche sich in manchen Fällen weitervererben ließen. Dadurch wurden die Frauen immer mehr in die Reproduktionsarbeit (Ernährung, Haushalt, Erziehung, Pflege) gedrängt und um die Erblinie der Vorteile und des Eigentums zu sichern, entwickelte sich das ganze patrilinear und monogam (zumindest für Frauen). Die Frauenunterdrückung entwickelte sich über die Klassengesellschaften immer weiter, somit darf die Frauenunterdrückung von den Klassengesellschaften auch nicht abgetrennt gesehen werden. Das passiert aber in diesem Film. Klar, wie soll es auch in einem Werbefilm für pinken Kapitalismus auf einmal antikapitalistisch werden? Mehr als Aufregung über die Symptome des Patriarchats und Kritik an Unternehmensvorständen, weil sie keine Frauen haben, gibt es also hier nicht. Schon gar keinen Ansatz dafür, wie das Patriarchat überwunden werden kann. Wie auch, wenn es sich angeblich nur um eine abstrakte Idee handelt. Noch dazu wird das Patriarchat als für alle Frauen gleich dargestellt. Aber in Wirklichkeit gibt es gravierende Unterschiede. Gerade Frauen der herrschenden Klasse haben es sehr einfach, sich aus ihrer Rolle der Reproduktionsarbeit frei zu kaufen durch Kindermädchen und Leihmütter, in Unternehmen beuten sie als CEOs selber andere Frauen aus, zur Not können sie für eine Abtreibung mal eben in ein anderes Land jetten, während die Frauen der Arbeiter_Innenklasse doppelt ausgebeutet werden, einmal in der Produktion und einmal in der Reproduktion und ihre reproduktiven Rechte massiv eingeschränkt werden. Des Weiteren können auch andere Unterdrückungsmechanismen wie Rassismus oder Ableismus die sexistische Unterdrückung begleiten und auf diese einwirken, was natürlich mit der stereotypischen Barbie in der Hauptrolle unmöglich aufzuzeigen ist. Natürlich gibt es Repräsentation von diesen Frauen im Film und das ist auch positiv herauszustellen, da Repräsentation für gesellschaftlich Unterdrückte einen positiven Einfluss hat, aber der Dreh- und Angelpunkt bleibt die weiße Blondhaarige. Die trans Frau Hari Nef spielt Dr. Barbie, aber Dr. Barbie bleibt genauso eine Nebenrolle wie viele WOC im Film, wenngleich diese ebenso beeindruckende Jobs haben (wie zum Beispiel Präsidentin-Barbie (Issa Rae)).

Im Film wird uns außerdem vermittelt, dass das Problem die Männer an sich sind und nicht die Klassengesellschaft, was auch daran zu sehen ist, dass in Barbieland das Matriarchat für Frieden und florierenden Wohlstand sorgt, während das beim Versuch des Patriarchats nicht der Fall ist.

Die Lösung: Selbstakzeptanz?

Würde man das Ende wohlwollend interpretieren, könnte man sagen: „Super, Barbie hat es geschafft sich aus ihrer Rolle zu befreien, indem sie anerkannt hat, dass sie ihr nicht mehr entsprechen kann und will und kann jetzt selber herausfinden, wer sie wirklich ist, in dem sie als Mensch in der realen Welt leben darf.“ Und auch Ken braucht einfach nur Selbstfindung und Selbstakzeptanz um kein Chauvi mehr zu sein.

Aber die Geschlechterrollen können innerhalb des Patriarchats und des Kapitalismus gar nicht abgeschüttelt werden, denn sie prägen uns Tag ein, Tag aus, auch wenn sie ab und zu im neuen Gewand daherkommen. Das Sein beeinflusst das Bewusstsein, wie Karl Marx schon sagte. Somit ist die einzige Möglichkeit sich den Geschlechterrollen dauerhaft zu entziehen, die Klassengesellschaft zu zerschlagen, da die Produktionsverhältnisse die materielle Grundlage für diese sind. Sicherlich kann die Akzeptanz, dass man diesen Rollen niemals entsprechen wird, es einem zeitweise etwas angenehmer machen. Und Männer können ihre toxische Männlichkeit reflektieren und sich bemühen, Frauen besser zu behandeln. Aber es ist doch eine zutiefst individualistische Lösung, die die Zuschauer_Innen eher hilflos zurücklässt. Das widerspricht noch dazu der ursprünglichen Kritik am Choice Feminismus, mit welcher der Film eigentlich überzogen war.

Fazit

Der Film macht zwar Spaß, aber das Gefühl, dass es sich hierbei um einen Werbefilm für einen pinken Kapitalismus und eine Umdeutung von Barbie handelt, bleibt leider bestehen. Es muss zwar nicht jeder Film eine Lösung präsentieren, aber wenn er es schon tut, dann sollte diese nicht so unglaublich uneffektiv sein. Auch die letzte Szene wirft noch einmal Fragezeichen auf. Barbie, als Mensch in der realen Welt, hat einen Termin. Was wird es sein, vielleicht ein Vorstellungsgespräch oder ein Date? Nein, sie geht zum Gynäkologen. Dass sie sich so sehr darüber freut, ist vielleicht nachvollziehbar, in Anbetracht der Tatsache, dass sie vorher keine Genitalien hatte und die Reproduktion der Art sicherlich ein relevanter Teil des Menschseins ist. Aber für mich hat es sich so angefühlt, als ob Barbies Erfahrung als Frau jetzt wieder nur auf ihre Reproduktionsfähigkeit reduziert würde und sie somit auch wieder in eine Mutterrolle gepresst werden könnte.

Der Film hat vielversprechende Ansätze, aber mit Mattel und Warner Bros im Boot ist es wohl unmöglich, einen antisexistischen und antikapitalistischen Film zu drehen, der Barbie zu einer Revolutionärin macht (auch wenn die komische Barbie (Kate McKinnon) in ihrem komischen Haus zumindest schon mal das richtige Outfit für diesen Plot gehabt hätte).




Die Edelweißpiraten: proletarische Jugendkultur gegen den Hitler-Faschismus

Von Yorick F., Mai 2023

Heute ist der Tag der Befreiung, der 78. Jahrestag der Bedingungslosen Kapitulation des Faschistischen Deutschlands und damit des Endes des 2. Weltkriegs in Europa. Dieser Tag hat auch heute noch zurecht eine deutliche Symbolkraft, als Tag zur Erinnerung an die Befreiung Deutschlands vom Faschismus durch die Alliierten, allen voran der Roten Armee, zeigt er auf wie wichtig konsequenter Antifaschismus ist. Zumindest sollte man dies meinen, oder zumindest erwarten; die heutige vor allem Westlich geprägte Erinnerungskultur zeichnet jedoch ein anderes Bild. Denn um sich am 8. Mai glaubhaft Antifaschistisch zu präsentieren braucht es die Besinnung auf antifaschistischen Widerstand in Deutschland, nicht nur zeigten diese mutigen Widerstandskämpfer_Innen eine bedingungslose Entschlossenheit welche für uns heute noch beispielhaft sein sollte, sie zeigen auch auf welchen Charakter Antifaschismus haben muss.

Wer waren die Edelweißpiraten?

Die Edelweißpiraten, zu deren Umfeld die Gestapo um die 3000 Jugendliche zählte, setzten sich zunächst zusammen aus unangepassten Jugendlichen, welche aktiv nicht in die Hitlerjugend eintraten. Diese hatten erst einmal keine geeinten ideologischen Hintergründe, waren aber fast ausschließlich proletarische Jugendliche. Ihren Namen gaben sie sich nach einem Schmähbegriff der Gestapo für Unangepasste Jugendliche der 1936 verbotenen bündischen Jugend, welche u.a. Edelweißblüten als Erkennungssymbol trugen. Das Edelweiß symbolisierte zusätzlich die Naturverbundenheit vor allem in der Anfangszeit, als die Edelweißpiraten eine noch recht lose Gruppe waren die vor allem einen Ausweg und Freiräume im faschistischen Staat suchten und regelmäßig Ausflüge in die Umliegende Natur, in Wälder und an Seen unternahmen.

Als Gruppe aus proletarischen Jugendlichen abseits der Kontrolle durch HJ oder BDM wurden die Edelweißpiraten schnell von der Gestapo als Gefahr angesehen. Immer wieder gab es angriffe durch die HJ auf Fahrten der Gruppe. Die ständigen Angriffe der HJ sowie der Gestapo, die Hintergründe einiger Mitglieder welche im Rotfrontkämpferbund oder der SPD nahen Naturfreundejugend organisiert waren sowie der Kontakt zu Widerstandskämpfer_Innen und Sozialist_Innen im Exil in Paris, welcher durch Michael Jovi zustande kam welcher auch eine gemeinsame Fahrt nach Paris organisierte, gaben den Edelweißpiraten recht schnell eine klare politische Haltung: klar Antifaschistisch mit der HJ als expliziteres Feindbild und deutlich sozialistisch geprägt. Zunächst drückte sich dies vor allem durch auf den Ausflügen gesungene Lieder aus, welche häufig aus dem Repertoire der Bündischen Jugend stammten. Diese wurden umgedichtet und bekamen einen politischen Charakter, man traf sich zwar weiterhin in der Natur, jedoch zunehmend geheimer aus Angst vor noch stärkerer Verfolgung.

Widerstand gegen den Hitler-Faschismus

Recht schnell sahen einige Edelweißpaten die Notwendigkeit, aktiv Widerstand gegen den Faschismus zu leisten, auch wenn dies bedeutete sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Neben gezielten Überfällen auf HJ Streifendienste, stahlen die Edelweißpiraten, welche zu Großteilen durch die Repression des faschistischen Staates keinen gesicherten Zugang zu Lebensmitteln hatten, regelmäßig Große Mengen an Lebensmitteln, welche zu großen Teilen etwa über Zäune oder vergitterte Fenster zu vor allem Sowjetischen und Jüdischen gefangenen geschmuggelt wurden. Auch wurden geflohene Kriegsgefangene und Jüd_Innen in zumeist heimlich bewohnten Wohnungen versteckt und mitversorgt. Mehrere Gruppen der Edelweißpiraten, welche vor allem im Rheinland und im Ruhrgebiet aktiv waren, verteilten auch Flugblätter und schrieben antifaschistische Parolen an Gebäude und Güterzüge.

Eine der Bekanntesten Gruppen aus Edelweißpiraten war die sog. Ehrenfelder Gruppe in Köln. Diese traf sich in einem verlassenen Bunker, welcher schnell zur Anlaufstelle für im Untergrund Lebende Jüd_Innen, Kriegsgefangene und Antifaschist_Innen wurde. Sie lagerten auch Waffen und verübten einzelne Anschläge, etwa am 20.04.1944 an den Gleisen eines Güterzuges, welcher entgleiste und die wichtige Industriestrecke mehrere Tage lahmlegte. Sie lieferten sich zudem Regelmäßig Schießereien mit Nazis. Viele Edelweißpiraten wurden gefangengenommen. Auch viele Mitglieder der Ehrenfelder Gruppe, bei einem Überfall auf ein Munitionsdepot um einen geplanten Bombenanschlag auszuführen. Am prominentesten ist hier wohl das Schicksal des damals 16 Jährigen Bartholomäus Schink welcher mehrere Monate in Gefangenschaft gefoltert wurde und am 10.11.1944 gemeinsam mit einigen Mitstreitern ermordet wurde.

Obwohl die Edelweißpiraten ihre Leben riskierten und teilweise verloren, um sich gegen die Nazis aufzulehnen und zu versuchen den Faschismus zu stürzen und damit einen durchaus mehr als bewundernswerten und relevanten Beitrag leisteten, finden sie in der Deutschen Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur nur wenig Erwähnung. Wenn überhaupt werden sie neben Namen wie der Weißen Rose oder Claus Schenk Graf von Stauffenberg genannt und dann höchstens als alternative naturverbundene Jugendbewegung abseits der HJ dargestellt; ihr Antifaschismus und ihr Ziel nicht nur den Faschismus zu stürzen, sondern auf seinen Trümmern eine Räterepublik zu bauen, werden ausgelassen, oft ebenso, dass sie tatsächlich aktiv widerstand leisteten. Die Edelweißpiraten bilden hier jedoch keinen Einzelfall: Auch andere sich aus proletarischen Jugendlichen zusammensetzende antifaschistische und klar Sozialdemokratische bis Sozialistische Gruppen wie die Leipziger Meuten oder dezidiert Kommunistische Widerstandskämpfer wie Georg Elser werden wenig bis gar nicht erwähnt. Und das nicht ohne Grund: die Weiße Rose rund um Sophie und Hans Scholl mögen großen Mut an den Tag gelegt haben, kämpften aber im Endeffekt vor allem gegen den Kurs Hitlers und seinem Kabinett und für eine Art gemäßigten Bonapartismus. Noch skuriler: Stauffenberg kämpfte nicht einmal gegen den Faschismus, verstand sich im Gegenteil selbst als explizit Deutsch- Nationalistisch und erhoffte sich mit seinem Attentat auf Hitler einen Kurswechsel des Faschismus, nicht jedoch seine Beendigung. Diese beiden Beispiele erfahren vor allem deshalb eine Überbetonung, da sie, als mehr oder weniger Einzelpersonen ohne Kommunistische oder Proletarischen Hintergrund, in der Geschichte des Widerstands gegen das NS-Regime eine absolute Ausnahme darstellen, noch dazu eine recht bequeme. Sie stellen vor allem die dem Faschismus zugrundeliegende Klassenstruktur nicht in Frage. Die Würdigung von antifaschistischem Widerstand, wie dem der Edelweißpiraten, widerstrebt den Herrschenden sowie den bürgerlichen Geschichtsschreiber_Innen. Denn wenn sie das tun würden, müssten sie Personen ehren, welche explizit auch ihre Herrschaft in Frage stellten. Für uns ist klar, dass der Faschismus nur Endgültig mit der Überwindung des Kapitalismus geschlagen werden kann. Deshalb halten wir es für Notwendig antifaschistischen und kommunistisch geprägten Jugendorganisationen wie den Edelweißpiraten zu erinnern, ihre Taten zu würdigen und von ihnen und ihrer Entschlossenheit zu lernen. Denn sie zeigen diese Erkenntnis deutlich auf.

Kultur

Wir möchten hier noch ein paar kulturelle Empfehlungen geben, die sich mit den Edelweißpiraten beschäftigen: Zum einen das Lied „An Rhein und Ruhr marschieren wir“, in dem der Widerstand der Edelweißpiraten gezeichnet wird, und auch die Erkenntnis, dass der Faschismus nur endgültig mit dem Ende der Klassengesellschaft geschlagen werden kann. Zum anderen ein eher unbekanntes Lied, namens „Edelweißpiraten“, in dem nicht nur die teils tragische Geschichte, sondern auch ihre Heldentaten erzählt werden und auch die Kontinuität der Faschist_Innen in der deutschen Geschichte problematisiert wird.




Riot, don’t Diet: Wir geben dem Kapitalismus nicht unseren Körper!

Von Erik Likedeeler, April 2023

Aktuell wird die neue Staffel von Germany’s Next Topmodel im Fernsehen ausgestrahlt. Zu Recht steht die Sendung seit Jahren dafür in der Kritik, ihre Kandidatinnen zu sexualisieren und Essstörungen zu befeuern. Überwiegend wird jedoch davon ausgegangen, Fernsehshows und soziale Medien hätten mit ihren unerreichbaren Schönheitsidealen die alleinige Schuld an der Entstehung von Diätkultur. Doch GNTM und Instagram sind nur die jüngsten Ausprägungen eines Phänomens, welches schon lange zuvor in kapitalistischen Gesellschaften verbreitet war.

In diesem Artikel soll es darum gehen, wie Diätkultur historisch entstanden ist und welchen Zweck sie im Kapitalismus erfüllt. Es soll gezeigt werden, wie Fettfeindlichkeit im Gesundheitssystem wirkt und wie sich diese in Zusammenhang mit anderen Formen der Diskriminierung verstärkt.

Einige Ursprünge der Diätkultur: Streiks und Militär

Im Zuge der Industrialisierung begannen Forscher_Innen in Europa, Russland und den USA, den Körper als Maschine zu begreifen, und Nahrung als deren Arbeitsenergie. Input und Output sollten effizienter gemacht werden. Die Einheit der Kalorie wurde eingeführt, um hochkalorische Lebensmittel zu identifizieren, mit denen Menschen ihren Nahrungsbedarf kostengünstig decken konnten. In Zeiten von Streiks, Hunger und Sozialreformen diente die Kalorienforschung dazu, den Arbeiter_Innen Haferflocken und Bohnen als wirtschaftlich effiziente Nahrungsmittel schmackhaft zu machen. Dadurch sollten Forderungen nach Lohnerhöhungen ausgehebelt werden.

In den 1920er Jahren wurde das Kalorienzählen zur Strategie bürgerlicher Schichten, um den eigenen Status zu erhöhen. Über die Körperform sollte bewiesen werden, dass man bereit für die Anforderungen der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft war.

Teile der heutigen Diätindustrie haben ihren Ursprung beim Militär. Mithilfe von Größe-Gewichts-Tabellen und Formeln zur Bestimmung des „Idealgewichts“ sollte die Kriegstauglichkeit junger Männer festgestellt werden.

Auch Personenwaagen waren zunächst im Labor und beim Militär im Einsatz. Ende des 19. Jahrhunderts waren sie auch zur spielerischen Unterhaltung auf Jahrmärkten verbreitet. Bis sich in den 1960ern die Badezimmerwaage durchsetzte, konnte man öffentliche Personenwaagen auch an Bahnhöfen finden. Heute ist das Wiegen zu einem alltäglichen, intimen Ritual der Selbstvermessung geworden, welches wissenschaftliche Exaktheit und die Selbstversicherung der eigenen Normalität imitiert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Figur des dicken Mannes vorübergehend als Gegenbild zum Hunger des Krieges gefeiert. Der dicke Bauch des Unternehmers wurde zum Symbol seiner beruflichen Karriere und den Erfolg des Kapitalismus. Dieser Zusammenhang wird heute immer noch geknüpft: In linker Propaganda ist es beliebt, sich den Kapitalismus als den „dicken Mann im Anzug“ vorzustellen und damit Gewicht moralisch zu bewerten.

Körper und Eigenverantwortung auf dem Arbeitsmarkt

Damit die Ungerechtigkeit des kapitalistischen Systems im Verborgenen bleibt, sollen wir glauben, alle Menschen hätten die gleichen Aufstiegschancen und mit Anstrengung könnten wir alles schaffen. In dieser Welt des Wettbewerbs werden Körper zum Symbol für Arbeitsmoral.

Als in den 1970er Jahren das Zeitalter der Fitness begann, wurde der durchtrainierte Manager zum Idealtyp für eine erfolgreiche Existenz. Die Fähigkeit, die eigene Nahrungsaufnahme zu kontrollieren, gilt seitdem als Zeichen von Stärke, Unabhängigkeit und Persönlichkeitsentwicklung, Muskeln stehen für Willenskraft und Handlungsfähigkeit.

Das mit Passivität und Verweichlichung assoziierte Fett hingegen stellt den Produktionskörper infrage – es wurde zum Kennzeichen der Erfolgslosen erklärt, welche die Kontrolle über sich selbst und ihr Leben verloren hätten.

Bilder von der „dicken Unterschicht“ werden von Politik und Presse gezielt genutzt, um den Rückbau des Sozialstaats zu rechtfertigen. Deutlich wurde dies zur Zeit der Arbeitsmarktreformen der 2000er Jahre. Damals wurden Vorstellungen von den „degenerierten Arbeitslosen“ zum zentralen Argument dafür gemacht, dass in Wirklichkeit nicht ein Mangel an Geld, sondern ein Mangel an Disziplin für die miesen Lebensumstände der Bevölkerung verantwortlich wäre.

Fotograf_Innen lauern dicken Menschen noch immer auf und hoffen, „skandalöse“ Schnappschüsse von billig gekleideten Frauen der Unterschicht zu ergattern, die auf der Straße Fast Food essen. Auch in vermeintlich fortschrittlichen Umfeldern, in denen offener Sexismus und Sozialchauvinismus verpönt sind, können diese Muster innerhalb von Fettfeindlichkeit unangetastet weiter bestehen.

Auch mangelnde Gesundheitsvorsorge soll durch den Verweis auf das Gewicht gerechtfertigt werden. So kann der Fokus von gesundheitsbezogenen Maßnahmen auf die individuelle Lebensweise verlagert werden. Auch wenn in imperialistischen Ländern tatsächlich der Ernährungsfrage heute eine große gesundheitspolitische Bedeutung zukommt und eine schlechte Ernährung Auslöser für viele Erkrankungen ist, wird die Verantwortung weg von der Nahrungsmittelindustrie und deren profitorientierter Ausrichtung auf die Erhöhung des Konsums und die Verringerung der Produktionskosten gelenkt.

Während der COVID-19-Pandemie wurde von westlichen Regierungen die Behauptung in Umlauf gebracht, die Ursache der unkontrollierten Krankheitsausbrüche wäre nicht im zusammenbrechenden Gesundheitssystem zu suchen, sondern dicke Menschen wären für die hohe Todesrate verantwortlich.

Wenn hohes Gewicht mit Begriffen wie „Epidemie“ bezeichnet wird oder der „Krieg gegen das Übergewicht“ ausgerufen wird, verstärkt das den Hass. Es impliziert, dicke Menschen wären eine ansteckende Gefahr für andere oder Feind_Innen, die man bekämpfen müsste.

Auch beim Thema Klimakrise wird versucht, von der Tierindustrie, fossilen Brennstoffen und großen Konzernen abzulenken. Angeblich würden dicke Menschen zu viel essen und beim Fernsehen und Autofahren zu viel Strom verbrauchen. Es werden Erzählungen von der angeblich unersättlichen Gier des Menschen erfunden, um die wahren Verantwortlichen zu schützen.

Warum Selbstakzeptanz nicht allein die Antwort ist

Innerhalb der Body-Positivity-Bewegung wird dicken Menschen wiederholt erklärt, sie müssten einfach nur lernen, sich selbst zu lieben. Doch der Leitsatz, den eigenen Körper zu akzeptieren, kann keine Probleme lösen in einer diskriminierenden Welt, die permanent das Gegenteil kommuniziert. Eine Studie hat ergeben, dass die meisten Menschen lieber blind, gehörlos, amputiert, zuckerkrank oder herzkrank wären, als dick zu sein.

15% der Bevölkerung in Deutschland meiden dicke Menschen aktiv, und das fängt schon früh an: In Studien erzielten besonders dicke Jungen schlechte Sympathiewerte. Ihnen wurden Faulheit und geringe Intelligenz zugeschrieben, als Spielpartner wurden sie abgelehnt. Wie Roxane Gay in ihrer Autobiographie „Hunger“ schreibt: „The bigger you are, the smaller your world becomes.”

Meist gehen der emotionale Ekel und die negativen Zuschreibungen gegenüber dicken Personen zurück, sobald die Proband_Innen erfahren haben, dass die dicke Person besonders viel getan hat, um abzunehmen. Es wird sich also nicht vor dem Körper selbst geekelt, sondern es werden Arbeitsscheu und Trägheit unterstellt – die schlimmsten Eigenschaften, die Arbeiter_Innen in der Leistungsgesellschaft haben können. Erst, nachdem die Vorwürfe zurückgewiesen wurden, wird die dicke Person als gleichwertiger Mensch erkannt.

Fettfeindlichkeit äußert sich auf vielfältige Weisen, denn in den meisten Ländern ist es nicht verboten, Menschen aufgrund ihres Gewichts zu diskriminieren. Ein hohes Gewicht wirkt sich insbesondere bei dicken Frauen auf das Gehalt aus (Weight Pay Gap). Auch, dass Menschen aufgrund ihres Gewichts entlassen oder gar nicht erst eingestellt werden, ist keine Seltenheit.

Manche Fluggesellschaften schließen dicke Menschen aus oder lassen sie mehr bezahlen. 2008 wurde in Mississippi sogar ein Gesetz vorgeschlagen, welches Restaurants verbieten sollte, dicke Kund_Innen zu bedienen – glücklicherweise konnte es verhindert werden. Ein weiteres Problem ist, dass immer wieder sehr junge Kinder aus ihren Familien geholt und in Heime gesteckt werden, wenn die Eltern sie nicht zum Abnehmen zwingen können oder wollen.

Sexismus, Dating-Kultur und Victim-Blaming

Wie ein Blick auf die Dating-Kultur zeigt, sind Fettfeindlichkeit und Sexismus eng miteinander verknüpft. Während hetero Frauen am meisten befürchten, von ihrem Date ermordet zu werden, haben hetero Männer die größte Angst davor, ihr Date könnte zu dick sein. Sogenannte Pick-up-Artists flirten gerne mit dicken Frauen, da sie diese für dankbare Beute für sexuelle Übergriffe halten, oder auch deshalb, um mit ihrer scheinbaren Nicht-Oberflächlichkeit schlanke Frauen zu ködern.

Der kulturelle Glaube, dicke Menschen könnten nicht sexuell begehrt werden, führt dazu, dass ihnen nach sexuellen Übergriffen nicht geglaubt wird, oder dass sie sogar beglückwünscht werden. Sogar vor Gericht wird das hohe Gewicht von Betroffenen dazu genutzt, ihnen zu unterstellen, der Angriff hätte ihnen gefallen. Selbst innerhalb antisexistischer Bewegungen gibt es für dicke Frauen kaum Zufluchtsorte: Schon seit dem Beginn der Frauenbewegung gelten sie als nicht vorzeigbar, wenn es um das gemeinsame Einfordern von Rechten geht.

Auch in der Öffentlichkeit werden dicke Personen beleidigt, belästigt und bloßgestellt, was insbesondere für Frauen mit sexuellen Übergriffen einhergeht. Bei dem „Partyspiel“ Fat Girl Rodeo geht es darum, sich auf eine dicke Frau zu werfen und sich darüber lustig zu machen, wie sie sich dagegen wehrt. 

Sogenannte Pig Roast Contests werden durch Männergruppen wie Studentenverbindungen veranstaltet. Dabei geht es darum, Sex mit einer dicken Frau zu haben, der heimlich beobachtet und gefilmt wird. Hinterher kommen die anderen Männer heraus, um die nackte Frau auszulachen und zu erniedrigen. All das führt dazu, dass viele dicke Frauen nur auf die fiese Pointe warten, sobald mit ihnen geflirtet wird.

Rassismus und Polizeigewalt

Ein weiteres Problem ist, dass dicke Menschen überdurchschnittlich oft beschuldigt werden, Verbrechen begangen zu haben und mehr Polizeigewalt erleben. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Schwarze Mann Eric Garner, der 2014 von New Yorker Polizist*innen ermordet wurde.

Für den Polizisten, der ihn in den Würgegriff nahm, gab es keine rechtlichen Konsequenzen, unter anderem deshalb, weil die Polizei Garners Gewicht für seinen Tod verantwortlich machte.

Dies steht in direktem Zusammenhang mit rassistischen Vorstellungen über die angeblich unbändige Kraft Schwarzer Männer, welche exzessive Gewalt zum vermeintlichen Selbstschutz weißer Menschen rechtfertigen würde.

Der Rassismus hört hier längst nicht auf. Obwohl Schwarze Jugendliche mit 50% höherer Wahrscheinlichkeit als weiße Jugendliche bulimische Verhaltensweisen wie Binge-Eating (wiederkehrende Essanfälle) und Erbrechen zeigen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie von medizinischem Personal nach Essstörungssymptomen gefragt werden, deutlich geringer. Rassismus und Fettfeindlichkeit wirken auch dann zusammen, wenn Flüchtende bei der Einreise aufgrund von hohem Gewicht zurückgewiesen werden.

Fettfeindlichkeit im Gesundheitssystem

Auch im Gesundheitssystem werden dicke Menschen massiv diskriminiert. Manche Ärzt*innen haben Gewichts-Obergrenzen für die Patient*innen, die sie behandeln. Medizinische Untersuchungen werden bei dicken Menschen schneller und ungenauer durchgeführt oder weggelassen. Bei Migräne verbringen sie ca. 10 Minuten weniger im ärztlichen Sprechzimmer.

Ein beträchtlicher Teil des medizinischen Personals ekelt sich vor dicken Menschen und weigert sich, dicke Körper zu berühren. Häufig bleibt es bei Blickdiagnosen oder anstatt der richtigen Werte werden Fantasiezahlen notiert. Immer wieder werden Krankheitssymptome einfach unterstellt und es werden Medikamente verschrieben, die Cholesterin, Blutdruck oder Blutzucker senken sollen. Wenn keine tatsächliche Erhöhung besteht, kann das lebensgefährlich sein.

In anderen Fällen führen Fehldiagnosen dazu, dass Menschen nicht die Rezepte bekommen, die sie eigentlich bräuchten: Bei tatsächlichem Bluthochdruck wäre die Wunschkindpille kein geeignetes Verhütungsmittel. Dicken trans Personen werden mit dem Verweis auf ein hohes Gewicht lebenswichtige geschlechtsangleichende Maßnahmen wie Hormone und Operationen verweigert.

Selbst wenn irgendwann doch die richtigen Medikamente verschrieben werden, hören die Probleme nicht auf: Weil keine medizinischen Studien an dicken Körpern durchgeführt werden, haben Medikamente wie Antibiotika die falsche Dosierung, auch die Pille Danach und Chemotherapien sind weniger wirksam.

Wenn sämtliche Krankheitssymptome auf das Gewicht zurückgeführt werden, kann das sogar dazu führen, dass Tumore in der Brust oder im Bauchraum nicht rechtzeitig bemerkt werden. Auch Essstörungen werden bei dicken Menschen ignoriert, oder sie bekommen sogar Glückwünsche dafür, dass sie ihre „Pflicht“ des Abnehmens erfüllen. Ein niedriges Gewicht ist ein Diagnosekriterium für Magersucht – so als könnten nicht auch dicke Menschen durch Verhungern und Nährstoffmangel sterben. Die Suche nach neuen Ärzt_Innen ist erschöpfend, und wegen solchen Erfahrungen gehen dicke Menschen deutlich seltener zu ärztlichen Untersuchungen.

Pillen und Operationen: Die Diätindustrie ist tödlich

Oftmals wird unterschätzt, wie gefährlich die Diätindustrie sein kann und wie viele ihrer Maßnahmen tödlich enden. Dicken Patient_Innen wird von Ärzt_Innen ganz selbstverständlich zu Magenverkleinerungen geraten. Viele Menschen, die eine solche Operation mitgemacht haben, müssen hinterher für den Rest ihres Lebens mehrmals pro Monat ins Krankenhaus. Eine weitere Folge, von der 40% der Operierten betroffen sind, ist das Dumping-Syndrom, das sich durch Durchfall, Übelkeit, Erbrechen, Blähungen, Krämpfe, Schwindel, Schwäche und Schweißausbrüche äußert – im Prinzip so, als wäre man für den Rest des Lebens verkatert.

Nach der OP kommt es häufig zu einem rasanten Anstieg von Drogenkonsum und Selbstverletzung. 1-5% der Patient_Innen sterben bei der OP. Solche gewichtsreduzierenden Operationen werden bereits an Kindern durchgeführt, lange bevor diese einwilligen können. 2013 war das jüngste operierte Kind 2,5 Jahre alt.

In den letzten Jahren kam die sogenannte Sanduhrfigur in Mode und damit auch die Operation Brazilian Butt Lift, welche als gefährlichster Schönheitseingriff der Welt gilt. Dabei wird Fett aus anderen Körperregionen in den Hintern operiert. Damit verbunden sind hohe Risiken für Blutgerinnung und Herzstillstand, aufgrund der wichtigen Nervenenden und Gefäße in diesem Bereich. Eine_r von 3000 Behandelten stirbt daran.

Auch Diätpillen können extrem gefährlich sein, von einigen kann man sogar blind werden. Rimonabant ist ein Appetitzügler, der 2008 vom Markt genommen wurde, weil er Suizidgedanken extrem steigerte und auch zu Suiziden führte.

In vielen Ländern sind „Fat Camps“ ein weiterer Bestandteil der Diätindustrie. Diese bieten Programme an, bei denen die Klient_Innen extrem wenige Kalorien zu sich nehmen, brutale Workouts durchführen und sich demütigen lassen müssen, um in kurzer Zeit viel Gewicht zu verlieren. Hauptsächlich richten sie sich an Kinder. In ihrer Rhetorik und ihren Mitteln bedienen sie sich bei Anti-Drogen-Kampagnen. Fat Camps in den USA nehmen bis zu 6000$ pro Nacht und sind nichts anderes als Kindesmisshandlung.

Fazit

Wenn eine Gesellschaft sich wandelt, dann wandeln sich auch ihre kulturellen Vorstellungen über die Nahrungsaufnahme. In den 1990ern und 2000ern waren sehr dünne Models wie Kate Moss das Körpervorbild vieler Frauen und Mädchen. Mittlerweile wurde dieses weibliche Ideal abgelöst: Fitnesskult und der Wunsch nach Muskelaufbau wirken sich heute auch auf Frauen stärker aus.

Heutzutage macht man keine Diät mehr, sondern eine Lifestyle-Veränderung, man hungert nicht mehr, sondern fastet. Man nimmt nicht mehr aus Selbsthass ab, sondern für Self-Care und Wellness. Doch dem Körper ist es völlig egal, ob man ihn liebt oder hasst, während man ihn aushungert, und ob man das Ganze dann als Diät oder als Detox bezeichnet.

Die moderne Diätindustrie folgt dem Prinzip, dass nur ein gesunder Körper ein wertvoller Körper wäre, und der neoliberalen Annahme, dass alle Menschen, die nicht gesund sind, es einfach nicht genug versuchen würden. Krankheit wird mit moralischem Versagen gleichgesetzt, um strukturelle Probleme weiter zu privatisieren.

Jeder Mensch sollte selbstbestimmt und frei von Diskriminierung mit dem eigenen Körper umgehen dürfen. Um diese Möglichkeit zu erkämpfen, fordern wir:

  • Gegen unterdrückerische Schönheitsideale in Werbung und Medien! Enteignet die großen Medienhäuser und die kulturschaffende Industrie. Für organisierte Medienarbeit durch Räte aus Zuschauer_Innen, Arbeiter_Innen und Kreativen unter Beteiligung von Menschen mit Diskrimnierungserfahrung und ohne die Reproduktion von Unterdrückung.
  • Anhebung des Mindestlohns und der Grundsicherung!
  • Abschaffung der Polizei!
  • Ausbau des Gesundheitssystem, diskriminierungssensibilisierende Schulungen für das Gesundheitspersonal! Ausbau von Anlaufstellen für Betroffene von Diskriminierung!
  • Arbeitszeitverkürzung und Entspannung des Arbeitsalltags statt Leistungszwang und individueller Selbstoptimierung!

Literatur

Fat Studies. Ein Glossar. Hg. v. Anja Herrmann, u.A. Bielefeld 2022: Transcript.

Michelberger, Melodie. Body Politics. Hamburg 2021: Rohwolt.

Lechner, Elisabet. Riot, Don’t Diet! Aufstand der widerspenstigen Körper. Wien 2021: Kremayr & Scheriau.

Gordon, Aubrey: What We Don’t Talk About When We Talk About Fat. New York 2021: Random House.




Trash TV – harmlose Unterhaltung oder pure Ideologie?

Von Leonie Schmidt, April 2023, REVOLUTION-Zeitung April/Mai 2023

Wer kennt es nicht: nach einem anstrengenden Tag in der Schule, Uni oder auf Arbeit mal eben auf der Couch entspannen und etwas anschauen, was keine große Denkleistung erfordert und Unterhaltung verspricht. Und zufälligerweise ist auch gerade die neue Staffel einer Datingshow im Fernsehen angelaufen. Das passt ja eigentlich perfekt! Doch den meisten Zuschauenden wird an einigen Stellen auffallen, dass manche Sachen, die in solchen Sendungen passieren, irgendwie komisch bis problematisch sind. Was das für Elemente sind und weswegen Trash TV trotzdem so erfolgreich ist, wollen wir in diesem Artikel näher betrachten.

Was ist überhaupt Trash TV?

Starten wir erst mal mit den Grundlagen; Trash TV ist kein eigenes Genre, sondern ein Überbegriff, für Sendungen, die man grob in Scripted Reality Sendungen wie „Mitten im Leben“, Dating Shows wie „Der Bachelor“ und Castingshows wie „Germanys Next Topmodel“ einteilen kann, es gibt aber auch noch andere Formate, wo sich vor allem Z-Promis gegenseitig die Köpfe einschlagen, wie bspw. „Promis unter Palmen“. Sie alle haben gemeinsam, dass sie möglichst realistisch wirken sollen, auch wenn es in den meisten Fällen mindestens ein grobes Script, Anregungen durch die Produktionsfirma oder einen Schnitt gibt, der Sachen in ein ganz anderes Licht rücken soll. Diese vermeintliche Realität ist also ziemlich gekünstelt und wird dem Dramafaktor entsprechend zurecht gebogen. Viele können das auch nicht erkennen und so fällt es ihnen dann auch schwer, zwischen den Teilnehmer_Innen einer Show und ihnen als Privatperson zu unterscheiden. Und auch den Darsteller_Innen fällt das auf die Füße, wenn sie für meist wenig Geld, ziemlich entwürdigende Sachen tun müssen (es sei denn sie sind Promis mit hochdotierten TV-Verträgen und Agenturen).

Trash TV gibt es in der deutschen Fernsehgeschichte noch nicht so lange, denn nach dem 2. Weltkrieg und der Zweiteilung Deutschlands wurde im BRD-Fernsehen eher ein Fokus auf „Erziehung zur Mündigkeit“ gelegt, weswegen es hauptsächlich ernsthafte Formate gab, in denen auch in vielen Fällen Wissen vermittelt wurde. Erst mit der Einführung der Privatsender wie z.B. RTL in den 1980er Jahren wurde ein neuer Fokus deutlich: es ging auf einmal um Einschaltquoten (und Werbeeinnahmen), denn anders konnte man sich nicht gegen die gefestigten Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durchsetzen. So gab es bspw. Shows wie „Tutti-Frutti“, eine Erotik-Game-Show in den 90er Jahren auf RTL. Klares Vorbild: das US-amerikanische DayTime TV. Gerne wurden hier vor allem Talkshow-Formate mit skandalträchtigen Dramen als Anregung übernommen, diese waren besonders in den späten 90ern bis zu den frühen 2000ern angesagt, zum Beispiel „Britt – Der Talk um eins“. Aber auch heute noch kann festgestellt werden, dass alle Trash TV Formate ein Art Äquivalent im englischsprachigen Raum haben, sei es nun „Love Island“ oder „Too hot to handle“.

Medienwissenschaftler_Innen sehen die Vorläufer außerdem in Freakshows und französischem Kasperletheater: mit anderen Worten, reißerische Inhalte, Fremdscham und seichte Unterhaltung prägen die Sendungen und sind auch deren Erfolgsrezept. Denn ja, natürlich wollen wir sehen, wie 10 Singles gegen ihren Sex Drive ankämpfen und uns darüber lustig machen, dass sie es wirklich nicht 14 Tage aushalten können wie bei „Too hot to handle“. Wenn die Einschaltquoten stimmen, stimmen natürlich auch die Werbeeinahmen (oder wie bei Netflix die Einnahmen aus den Abo-Gebühren). Aber der Fokus auf Geld und Aufmerksamkeit sind mitnichten die einzigen Probleme, die die beliebten Shows haben. Sie lenken uns ab von den wichtigen Themen des Lebens, lassen uns abstumpfen, haben also eine Art Zerstreuungseffekt, der uns vom Leben während kapitalistischer Krisen ablenken soll. Außerdem vermitteln sie auch in vielerlei Hinsicht falsche Werte und Bilder über bestimmte Personengruppen.

Klassismus und der Hass auf Hartz IV-Empfänger_Innen

Besonders sieht man das zum Beispiel in scripted reality Sendungen wie „Mitten im Leben“, „Familien im Brennpunkt“ oder im Doku-Format „Hartz aber herzlich“, umgangssprachlich auch als „Assi-TV“ bezeichnet, in welchen Stereotypen über Menschen, welche in Armut leben, vermittelt werden. Oft soll es so wirken, als hätten diese selbst Schuld an ihrer Lage, seien faul, egoistisch, drogen- und alkoholabhängig, schlechte Eltern mit viel zu vielen Kindern, aus denen auch nie etwas werden wird. Auch werden sie auffällig oft als besonders dick mit besonders ungesunder Ernährung dargestellt, die den ganzen Tag nur auf der Couch sitzen und fern sehen. Das alles passiert, während in Deutschland Hartz IV-Empfangende Sanktionen herein gedrückt bekommen und in Maßnahmen gezwungen werden, wollen sie nicht ohne das Minimum an Lebensstandard dastehen.

Laut Armutsforscher Christoph Butterwegge wird durch diese Darstellung einerseits Angst angeheizt, ebenso wie Dome & Co. im Plattenbau zu landen, den Zuschauenden fällt es aber auf Basis der Stereotypisierung und extremen Überspitzung umso leichter, sich zu distanzieren und zu erheben und  sich  auch im realen Leben als etwas Besseres zu fühlen.

Diese These lässt sich gut daran beobachten, wie die Sendungen in sozialen Netzwerken kommentiert werden. Hier wird gefordert, den Frauen in Armut ihre Kinder wegzunehmen, es wird darüber gelästert, dass sie es wagen von ihrem Hartz V nicht nur Lebensmittel einzukaufen, sondern auch mal Zigaretten oder sich die Nägel machen zu lassen. Wer arm ist, verdient nur das allernötigste, so der Tenor.

Allerdings sei an dieser Stelle gesagt, dass die Herabwürdigung der Armen in den letzten Jahren eher subtiler geworden ist, als es vorher noch üblich war und der Blick vermeintlich differenzierter wirkt. Aber die Distanzierung und der Argwohn bleiben natürlich trotzdem bestehen. Denn nicht immer ist das Gefühl der Zuschauenden, etwas Besseres zu sein, ausschließlich reine Arroganz. Manchmal zeigt es sich auch eher in der Hinsicht, dass man sich denkt, dass man es im Vergleich zu „denen“, doch eigentlich ganz gut hat und sich nicht beschweren kann.

So wachsen Vorurteile und Hass, es kommt zu einer Entsolidarisierung und Spaltung innerhalb der Arbeiter_Innenklasse, was natürlich besonders schlimm ist, wenn es aufgrund der Krise wieder Sozialkürzungen gibt und die geeinte Solidarität gegen diese umso notwendiger wird.

Den Traumprinz in 10 Folgen finden?

Aber im Trash TV geht es nicht immer nur um Armut und Elend. Oft genug werden auch Datingshows produziert, die meistens an exotischen Orten spielen, wo alle Teilnehmenden halbnackt am Pool flanieren, Party machen und ab und zu ein paar „anstrengende“ Challenges bewerkstelligen oder auf Einzel – und Gruppendates gehen. Was das Ziel ist, ist eigentlich klar: hier soll der_die Traumpartner_In gefunden werden. An dieser Stelle wird also ein bestimmtes Ideal von romantischen, hetero- und cis- normativen Beziehungen vermittelt, die auch schön monogam zu sein haben. Denn wer es wagt, bei den Datingshows nicht nur eine Person im Visier zu haben, wird unter Garantie mit Drama oder, je nach Format, sogar mit dem Ausschluss konfrontiert.

Doch so romantisch wie das Ideal einer Zweierbeziehung auch wirken mag, oberflächlicher als in diesen Shows geht es eigentlich gar nicht. Der Fakt, dass es insbesondere in Shows  wie „Der Bachelor“, wo es einen Hauptcharakter und um sie konkurrierende Teilnehmende gibt, darum geht, jemanden von sich in ca. 10 Folgen zu überzeugen und die restlichen Kandidat_Innen auszuschalten, klingt nicht nach einem Rahmen, in welchem sich eine zwischenmenschliche Beziehung, basierend auf Gemeinsamkeiten, Kommunikation und Nähe entwickeln kann. Konkurrenz zwischen potentiellen love interests, wie wir es aus der Realität von Datings Apps kennen, wird hier noch einmal zugespitzt und durch symbolische Interaktionen wie die Rosenübergabe untermauert. Die Oberflächlichkeit dieser Beziehungen zeigt sich auch an ihrer Dauer, die meistens kaum den Zeitraum von Produktion und Ausstrahlung überschreiten.

Auch wird in den meisten dieser Sendungen Sexualität zwar konstant durch Anspielungen angedeutet, aber es wird immer auf den „richtigen“ Moment gewartet, oder es wird gleich klar gemacht, dass es im Rahmen der Sendungen keinen Raum einnehmen darf und bis nach dem Finale gewartet werden muss, wobei vorher das Höchste der Gefühle schlabbrige Zungenküsse sind. Auch das entspricht der bürgerlichen Sexualmoral, dass man, wenn man es mit jemandem ernst meint, nicht gleich drauf los vögeln darf und Intimität aufgespart werden muss (was natürlich in extremer Form auf das Warten bis zur Hochzeitsnacht zurückzuführen ist).

Des Weiteren haben viele, vor allem männliche Teilnehmer ein sehr rückschrittliches Geschlechterbild, Frauen werden als passive Objekte gesehen, die „klar gemacht“, „abgeschleppt“ oder überredet werden müssen, die ruhig sein sollen, wenn der Mann spricht, kein Drama machen und sich ganz einfach unterordnen sollen. Der Mann hingegen tritt als klassischer, aktiver Macho und Eroberer auf, der sich nimmt, was ihm vermeintlich zusteht. Auch werden schon nach einer kurzen Kennenlernphase, oder auch wenn sie gerade mal ein Auge auf den oder die Angebetete geworfen haben, ziemlich schnell besitzergreifend.

Das alles basiert natürlich auf der Rollenverteilung, die uns allen im Kapitalismus auferlegt wird, um die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die doppelte Ausbeutung der Frau durch unbezahlte Reproduktionsarbeit und Lohnarbeit zu legitimieren. Ebenso basiert darauf das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie, mit all seinen Einschränkungen, aus dem sich auch die hier reproduzierte bürgerliche Sexualmoral ergibt.

Aber wer macht da eigentlich alles mit?

Wenn wir uns die Anforderungen anschauen, im Bikini oder in der Badehose am Pool zu lungern, wird schnell klar: vor allem normschöne Menschen, die auch als Models und Influencer_Innen tätig sein könnten oder dies bereits spätestens nach Ausstrahlung sind. Die Männer sind durchtrainiert und sollen teilweise durch Tattoos noch männlicher wirken. Die Frauen kommen mit langen Haaren, makelloser Haut und schlanken Kurven daher. Personen abseits dieser Ideale sieht man so gut wie gar nicht. Vor allem im Format „love island“ wird auch oft in der Villa trainiert und über Ernährung philosophiert, außerdem geben viel Teilnehmende in den Interviews an, dass ihre Partner_Innen durchtrainiert und schlank, und bloß nicht dick sein sollten. So wird auch das Bild zementiert, dass nur normschöne Personen es verdient haben, geliebt zu werden. Und für alle anderen gibt es dann Datingshows, in denen ausschließlich plus-size-Personen auftreten, sie sich also nur „unter ihresgleichen“ umsehen dürfen.

Außerdem sind die meisten, die dabei sind, weiß und stehen auch offenkundig auf weiße, blonde Frauen, wie Onyi, Teilnehmerin der aktuellen Staffel „Too hot to handle Germany“ kritisiert. Netflix hatte sie zwar als diversity bonus gecastet, aber es war klar gewesen, dass die meisten anderen Teilnehmenden ganz andere Präferenzen haben. Das hat sie als Außenseiterin da stehen lassen, wie sie selber und andere auf Tik Tok kritisierten. Das ist natürlich alles andere als gute Repräsentation in dieser Show und es ist verständlich, dass dieser Umgang mit einer WOC im TV dem Selbstbewusstsein von Rassismus-Betroffenen nicht gerade gut tut, sondern sogar schadet.

Aber nicht nur in dieser Hinsicht sollten sich die Produktionsfirmen überlegen, ob sie sich Diversität wirklich auf die Fahne schreiben sollten. Grundsätzlich wird nämlich immer davon ausgegangen und die Sendungen sind auch so aufgebaut, dass alle hetero sind und eine binäre Geschlechtsidentität haben. Denn die Einteilung nach Mann und Frau spielt eine große Rolle in Challenges oder Auswahlverfahren bzw. Pärchenbildungen bspw. bei „love island“. Außer in der aktuellen Staffel von „Too hot to to handle Germany“, wo Bisexualität aber auch eher eine untergeordnete Rolle spielt, gibt es keine gleichgeschlechtlichen Verpaarungen, es sei denn, es ist ein explizit homosexuelles Datingformat.

Das selbe in Regenbogenfarben oder alles besser bei Prince(ss) Charming?

Explizit queere Datingformate gibt es in Deutschland für Schwule mit Prince Charming seit 2019, mit Princess Charming für Lesben seit 2021. Alleine, dass es so lange gebraucht hat, ist schon ein Witz, die ersten hetero Folgen von „Der Bachelor“ gab es bereits erstmals 2003 in der deutschsprachigen Version!

Aber so gut wie es gemeint ist, so schlecht ist es auch umgesetzt. Werfen wir einmal einen Blick auf Princess Charming. Vor allem in der ersten Staffel gab es einiges an „Problemen“, was fast noch beschönigend ausgedrückt ist. Die Teilnehmer_Innen konnte man queeren bzw. lesbischen Stereotypen geradezu zuordnen, vielleicht mit einigen Ausnahmen. Wer da nicht reingepasst hat, wurde unter den Teppich gekehrt, denn auch hier wurde bspw. Bisexualität nicht ernst genommen, denn in der Show geht es ja „nur um Frauen, die auf Frauen stehen“. Realistische Repräsentation sieht anders aus. Ebenso, dass immerzu von lesbischen Frauen gesprochen wurde, obwohl sich unter den Teilnehmenden auch eine nicht-binäre Person, nämlich Gea, befand. In einer Folge wurde sogar über their nicht-binäre Identität gesprochen und they musste einer anderen Kandidatin alles genaustens erklären. Die Sendung ist also auch ziemlich cis-normativ.

Weitere Kritikpunkte sind der unbegrenzte Zugriff und der damit zusammenhängende Konsum von Alkohol. Im Prinzip sieht man die Teilnehmer_Innen ständig mit einem Glas Sekt in der Hand und natürlich werden auch so die eigenen Hemmungen fallen gelassen. Einerseits trägt das natürlich zur gesamtgesellschaftlichen Normalisierung dauerhaften Alkoholkonsums bei, auf der anderen Seite kam es (unter anderem, aber natürlich nicht nur deswegen) auch mehrfach zu  übergriffigem Verhalten am Set. So gab es zum Beispiel einen Outcall wegen sexualisierter Gewalt gegenüber der Influencerin Wikiriot durch Jo, eine andere teilnehmende Person. Besonders in der Kritik steht hier neben der Täterin auch die Produktionsfirma, die sich nicht zu den Vorkommnissen äußern will und ein an die Öffentlichkeit Treten für die betroffenen Personen durch eine Verschwiegenheitsklausel erschwert hat. Auch in der zweiten Staffel kam es zu bedrängenden Szenen während einer Party mitsamt aufgezwungenen Küssen, obwohl vorher Grenzen aufgezeigt wurden. Anstatt, dass die Produktionsfirma hier eingreift und verantwortungsvoll handelt, wurde das sogar in die Dramaturgie mit eingebaut!

Wir sehen also, nur weil LGBTIA+ drauf steht, ist leider nicht alles perfekt, im Gegenteil. Denn natürlich werden auch diese Sendungen im Kapitalismus produziert und sind somit den gesellschaftlichen Zwängen und Einschaltquoten unterworfen. So positiv, wie höhere Diversität erst einmal scheinen mag, zeigen diese Beispiele doch einmal mehr, dass Unterhaltung, welche auf Basis von Kapitalinteressen, erstellt wird, nicht derartig progressiv sein kann, wie wir uns das vielleicht erhoffen.

Daher fordern wir:

  • Gegen unterdrückerische Schönheitsideale in Werbung und Medien! Enteignet die großen Medienhäuser und die „kulturschaffende“ Industrie (Gameentwickler, Filmproduktionen,..) genauso wie Google, Instagram und Co.!
  • Für organisierte Medienarbeit durch Räte aus Zuschauer_Innen, Arbeiter_Innen und Kreative ohne die Reproduktion von Unterdrückung!
  • Für eine internationale, proletarische antisexistische Bewegung!



Welches Programm für den KI-Kapitalismus?

Von Felix Ruga, April 2023

Künstliche Intelligenz gab es in primitiverer Form schon lange. Doch mit dem Projekt „ChatGPT“ ist eine Welle von Verblüfftheit bis Begeisterung durch die digitale Welt gegangen: Krass, was auf einmal geht! Dinge, die noch vor wenigen Jahren wie Science-Fiction gewirkt haben, sind jetzt öffentlich zugänglich. Weniger bekannt ist die neuere Version „ChatGPT-4“: Im Gegensatz zu ChatGPT-3, welches eigentlich nur bekannte Informationen gezielt und clever remixen und ausgeben kann, wird bei der neuen Version argumentiert, dass diese Formen tatsächlicher Intelligenz aufweist. Das heißt: Probleme lösen, deren Antwort oder Antworten zu äquivalenten Problemen nicht eingespeist wurden. Dieser Fortschritt ist innerhalb weniger Jahre geschehen und vor Allem viel früher, als alle erwartet haben. Daneben stehen auch einige andere Bereiche, die ebenfalls auf maschinelles Lernen zurückgreifen, in den Startlöchern: Künstliche Produktion von Bildern und Videos, autonomes Fahren und die Verwendung von „Big Data“ in den Naturwissenschaften.

Als Reaktion darauf kam schon von selbsternannten Expert_Innen wie Elon Musk, dass die Technologie so fieberhafte Fortschritte macht, dass man für eine Weile die Notbremse in den Entwicklungsstudios ziehen müsse, um rechtliche, ethische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen herzustellen. Zum einen kann das wieder ein cleverer Werbetrick sein und ist letztendlich wahrscheinlich nur schwer umsetzbar, zum anderen macht das aber schon einen richtigen Punkt: Für den Kapitalismus kann die ganze Angelegenheit tatsächlich weiterreichende Änderungen mit sich bringen. Die Rahmensetzung sollten wir aber nicht allein der herrschende Klasse überlassen. Es muss die Aufgabe der Arbeiter_Innenbewegung sein, darauf programmatische Antworten zu liefern! Diese würden wir an der Stelle grob in zwei Teile unterteilen: Die staatlichen und die wirtschaftlichen Änderungen.

Social Credits und Drohnen

Aus Filmen und Videospielen kennen wir die dystopischen Zukunftsszenarien, in denen sich künstliche Intelligenz mit autoritären Staaten mischt: Ein allmächtiger Staat, der mittels automatisierter Überwachung und Bestrafung die Bevölkerung kontrolliert, ohne dass dafür echte Menschen ihre Moral dazwischenschalten können. Erhebungen können mit Drohnen und bewaffneten Robotern zerschlagen werden. Kriege werden nicht durch Menschenhand geführt, aber dennoch sind es die Menschen, die darunter leiden.
Das sind natürlich arg einseitige und künstlerische Darstellungen, aber dennoch muss uns klar sein, dass im Zweifelsfall und in zugespitzten gesellschaftlichen Situationen alle Technologien gegen die Arbeiter_Innen verwendet werden können. Das ist sicherlich auch eine Angst, die viele momentan mit künstlicher Intelligenz verbinden und das ist auch eine Angst, die Kommunist_Innen unbedingt ernst nehmen sollten und eine Antwort darauf formulieren müssen, ohne in fortschrittsgläubigen Spott zu verfallen.

Die zentrale Losung sollte dabei sein, dass die Entwicklung und Verwendung vor Allem von fortgeschrittener künstlicher Intelligenz unter Arbeiter_Innenkontrolle gestellt werden und dafür die jeweiligen Tech-Unternehmen enteignet werden. Das ist die einzige Möglichkeit, um wirklich zuverlässig zu erreichen, dass diese nicht dazu eingesetzt wird, um automatisierte Unterdrückung und massenhaftes Leid zu produzieren, sondern um die progressiven Elemente wirklich herauszuschälen: Entlastung und Befreiung von Teilen der entfremdeten Arbeit. Außerdem hätte künstliche Intelligenz in einer demokratischen Planwirtschaft ein besonderes Potential, wenn es um die Erhebung von Bedürfnissen und Verteilung von Gütern geht. Dazu wollen wir demnächst noch einen Artikel am Beispiel von „Cybersyn“ in Chile veröffentlichen.
Klar sollte sein: Halten wir diese Technologie nicht auf, sondern greifen sie auf in ein Programm für mehr Freizeit und Freiheit! Doch wie sieht hier die wirtschaftliche Ebene aus?

Roboterarme und schmutzige Hände

Die kapitalistische Epoche wird begleitet von vielen „technologischen Revolutionen“. Und sei es nun die Dampfmaschine, die Elektrizität oder die Digitaltechnik: Jedes Mal war die Befürchtung groß, dass diese dazu führen, dass die Menschen nun ein für alle Mal überflüssig gemacht werden und die Arbeitslosigkeit riesig sein wird. Doch letztendlich ist es doch alles etwas anders gekommen, indem zwar viele Arbeitsstellen überflüssig geworden sind, aber die Arbeitskraft selbst nicht. Wird das bei der künstlichen Intelligenz genauso laufen?

Ein entscheidender Unterschied könnte sein, dass vorherige Technologien nicht so leicht vervielfältigbar sind, sondern immer an „Materie“ geknüpft sind. Für Maschinen und Elektrizität braucht man eben Rohstoffe und Arbeit, um mehr Menschen damit zu versorgen. Dadurch kommt es vor Allem in Halbkolonien dazu, dass selbst bei vorhandenem Know-How keine Technisierung durchgeführt wird, weil selbst der ineffizienteste Einsatz von Arbeitskraft immer noch günstiger ist, als eine Maschine anzuschaffen.

Je weiter nun die Technisierung fortschreitet, desto mehr Arbeitskraft wird frei und damit die Arbeitskraft insgesamt billiger, was wiederum die Technisierung ausbremst. Deswegen werden bis heute so viele Tätigkeiten weiterhin per Hand und unter scheußlichsten Bedingungen durchgeführt. Das ist eins der vielen Argumente dafür, dass der Kapitalismus in Wirklichkeit technologischen Fortschritt aufhält, statt ihn zu beschleunigen.
Doch dieses Mal könnte es anders sein: Künstliche Intelligenz kann, wenn sie erstmal entwickelt ist, relativ leicht skaliert werden und damit einen großen Teil der Kopfarbeit ersetzen. Selbstverständlich steckt dahinter immer auch ein materieller Rechner, der irgendwo stehen muss, und eine Internetverbindung dorthin. Das ist aber selbst jetzt schon sehr weit verbreitet. Und die Effizienz von künstlicher Intelligenz wird in den nächsten Jahren schnell anwachsen. Die Vermutung liegt also nahe, dass sich in Zukunft Informatiker_Innen, Designer_Innen, Ingenieur_Innen und Berater_Innen aller Art darauf gefasst machen müssen, einer künstlichen Intelligenz Aufträge zu erteilen, anstatt selbst die Arbeit des Programmierens, Designens, Entwickelns oder Beratens auszuführen.

Das würde aber viele Berufe doch wieder überflüssig machen, wenn das nicht durch kräftiges Wirtschaftswachstum abgefangen wird. Leider droht auch das Szenario, dass das deren Arbeitskraft entwerten könnte und sie wieder in technisierbare Handarbeit oder in nutzlose Bullshit-Jobs treibt. Aber wie bereits gesagt wurde: Künstliche Intelligenz hat genauso wie alle anderen technologischen Fortschritte das Potenzial, Menschen von unnötiger und ermüdender Arbeit zu befreien.
Um das zu erkämpfen, müssen Gewerkschaften und Arbeiter_Innenparteien die alte, aber ungeahnt aktuelle Forderung ergreifen: Verteilung der Arbeit auf alle Hände! Das bedeutet konkret: Wir verkürzen die Arbeitszeit radikal, während der ausgezahlte Lohn erhalten bleibt. Arbeiter_Innen sollen sich kostenlos umschulen dürfen, während der Staat die Löhne weiterzahlt. Das wird finanziert durch massive Besteuerung der Reichen, die durch diesen technologischen Fortschritt sicherlich profitieren werden.

Falls wir diesen Kampf nicht aufnehmen, wird es dazu führen, dass wieder vor Allem die Kapitalist_Innen davon profitieren und die bürgerliche Staaten ihre Macht aufbauen. Wir müssen der herrschenden Klasse die schillernde Zukunft abringen, die uns der technische Fortschritt verspricht!

Wir fordern also:

  • Enteignet die Tech-Unternehmen und stellt sie unter Arbeiter_Innenkontrolle!
  • Offenlegung aller Codes & Algorithmen, auf deren Basis KI arbeitet und Entscheidungen trifft, um rassistische und andere unterdrückerische Muster zu erkennen und zu bekämpfen!
  • Sensibilisierung und Schulung von Entwickler_Innen für die ethischen Herausforderungen dieser neuen Technologie, z.B. in der Einspeisung diskriminierender Datensätze!
  • Flächendeckende Bildungsangebote im Bereich des Codings und digitaler Kompetenz in allen Schulen!
  • Deckung des enormen Energiebedarfs der Server durch erneuerbare Energien!
  • Arbeitszeitverkürzung und kostenlose Umschulung bei gleichem Lohn!
  • Massive Besteuerung der Reichen!



Filmkritik „Im Westen nichts Neues“: Kontext verzerrendes Bildergewitter

Von Lars Keller, zuerst erschienen in der Infomail der Gruppe ArbeiterInnenmacht, März 2023

Da hat die deutsche Netflix-Neuverfilmung von „Im Westen Nichts Neues“ also vier Oscars gewonnen: ein bildgewaltiger Film, dessen Plot jedoch eine Welt versinnbildlicht, die wieder am Rand des Weltenbrandes steht und keinen Ausweg daraus findet. Warum ist das so?

Krieg als Kunst als Ware

Dass ein Antikriegsfilm – und als solcher darf sich die Arbeit von Regisseur Edward Berger auf jeden Fall bezeichnen – auch nichts anderes als eine Ware ist, die Geld auf dem Filmmarkt einspielen soll, ist ja kein Geheimnis. Genauso wenig, dass die Oscars selbst Teil dieser Industrie sind, die sich in der Verleihungschoreographie quasi selbst geil findet.

Zwangsläufig führt das jedoch zu einer besonderen Form der Dramaturgie, die schnell ins Ahistorische übergeht. Zum Beispiel, wenn der Film in einer der Anfangsszenen die mythisierte Kriegsbegeisterung ins Jahr 1917 verlegt, eine Zeit, die längst von Hunger, Kriegsmüdigkeit und Zynismus geprägt war.

Oder indem die Handlung des Romans auf 148 Minuten zusammengestaucht wird. Relevante Szenen des Romans – etwa der Streich Paul Bäumers und seiner Kameraden an ihrem erniedrigenden Ausbilder; der Fronturlaub; das Unverständnis und die Verlorenheit, die Bäumer zuhause fühlt; seine Begegnung mit russischen Kriegsgefangenen – haben da drin logischerweise keinen Platz. Es bleibt das Geschehen in den Gräben, wo der Film technisch groß aufgefahren hat und durchaus sehr überzeugende schauspielerische Leistungen zeigt.

Dennoch: Netflix produziert doch sonst aus jedem noch so abgedroschenen Thema eine von durchschnittlicher Mittelmäßigkeit durchsetzte Serie. Hier wäre mal die Chance gewesen, darüber hinauszuwachsen.

Aber letztlich ist das egal. Den durchschnittlichen Zuschauer:innen reicht das Gemetzel, um ihrer Angstlust nachzugehen und dann zu sagen: „Schrecklich!“ oder „Krass!“

Konzernproduktionen von Netflix, Warner oder Disney haben weder die Aufgabe noch den Anspruch, historische Ereignisse korrekt zu kontextualisieren. Ihre Macher:innen haben auch selbst gar kein Bewusstsein dafür. Das ist ja gerade die Crux mit der Ideologie. Am Set denken sie vielleicht wirklich, sie tragen hier dazu bei, zukünftige Kriege zu verhindern. Aber ob es diese Gedanken gestern auch beim Applaus gab?

Klar könnte man jetzt sagen, dass Erich Maria Remarques Roman diesen Kontext selbst nicht herstellt. Das stimmt. Die Kritik ist trotzdem gerechtfertigt, weil Bergers Film bei allen Weglassungen aus dem Roman selbst einen zweiten Handlungsstrang zusätzlich geschaffen hat, der direkt so, wie er dargestellt wird, auf Geschichtsklitterung im Dienste des Dramas hinausläuft.

Kriegsende ohne Revolution

Es geht um die Verhandlungen im Eisenbahnwagen im Wald von Compiègne, die zum Waffenstillstand führten.

Was der Film definitiv gut darstellt, ist die besondere Sinnlosigkeit der letzten Angriffsversuche selbstsüchtiger Befehlshaber, die noch Minuten vor dem Waffenstillstand Menschen ins Feuer trieben.

Das Problem liegt im Kontext der Verhandlungen selbst.

Während die Herrschenden auf allen Seiten vier Jahre lang kein Problem damit hatten, Massen auf die Schlachtbank zu führen, taucht nun der gute Matthias Erzberger von der konservativen Zentrumspartei auf und appelliert vor Humanismus triefend bei den französischen Unterhändlern um Frieden.

Noch 1916 stand derselbe Erzberger für einen Siegfrieden ein, ab 1918 für einen „Verständigungsfrieden“ – also einen Frieden, den die Imperialist:innen am Runden Tisch beschließen, um die Welt dort unter sich aufzuteilen.

Das größte Problem an der Erzählung im Film ist, dass diese Friedensbemühungen bei Erzberger (Daniel Brühl) als rein einsichtige Guter-Mensch-Tat erscheint, auch wenn immerhin anklingt, dass die Oberste Heeresleitung in ihm einen nützlichen Trottel gefunden hat, der das schmutzige Geschäft des Friedens – also der Niederlage – übernahm und das Militär somit die Dolchstoßlegende zur Wahrung des eigenen Gesichts bemühen konnte.

Aber ohne die aussichtslose Kriegssituation und vor allem ohne die heraufziehende Novemberrevolution lassen sich die Waffenstillstandsbemühungen auf deutscher Seite nicht verstehen. Letzteres lässt der Film sträflich einfach weg. Während im Roman der Protagonist „Entweder gibt es Frieden oder eine Revolution“ denkt, fällt dieses R-Wort nirgends im Film. Das wäre aber Pflicht gewesen im Sinne einer historischen Richtigkeit. Denn während das Buch im Oktober 1918 endet, treibt der Film die Handlung ja bis in den November.

Natürlich war auch Remarque kein Revolutionär. Aber er vermied es, sich die Finger am falschen Frieden zu verbrennen, indem er sich rein auf die Perspektive Paul Bäumers konzentrierte.

Berger und Netflix sind aber absichtlich über dieses Perspektive hinausgegangen und bei ihnen ist der ganze Frieden nicht mehr als eine gute Tat der Herrschenden. Er erscheint nicht als etwas, womit sie ihren eigenen Kopf vor der Revolution retteten. Denn selbstredend war Erzberger genauso wie Ebert, Noske und Co. ein entschiedener Gegner der sozialistischen Revolution.

Kontext heute

Und damit mal zurück in die Gegenwart, in die Zeit des Krieges in der Ukraine, wo der Kampf um die Neuaufteilung der Welt erneut eskaliert. Die NATO handelt hier in der Unterstützung der Ukraine genauso wenig selbstlos wie ein Erzberger in Compiègne. Sie verfolgt durch das ukrainische Militär eigene imperialistische Interessen gegenüber der russischen Konkurrenz.

Es gibt viele frappierende Parallelen, sei es, dass es wie ein Jahr nach dem Beginn des ersten Weltkrieges auch heute wieder einen Munitionsmangel gibt oder sei es, dass Bachmut mit Verdun verglichen wird.

Entsprechend kam der Film für die westlichen Verbündeten zur genau richtigen Zeit. Russland erscheint in den Köpfen der Meisten als der Aggressor – was es ja auch ist. Die Kriegsziele werden jedoch kaum hinterfragt, was die westliche Seite angeht. Jetzt taucht so ein Film auf, der die Schrecken des Krieges zeigt, und: Oha! Das wiederholt sich ja heute, und Russland hat Schuld daran. Über die Angst vor dem Krieg bindet „Im Westen Nichts Neues“ die Zuschauer:innen in die westlichen Kriegsbemühungen ein, der Pazifismus landet auf dem Bauch. Die vier Oscars sind kein Zufall. Mindestens unbewusst wirken die Bilder des Krieges von damals und heute zusammen.

Für die Macher:innen des Films gilt, dass sie sich, indem sie mit dem Finger mahnend auf die Vergangenheit weisen, heute moralisch auf der richtigen Seite wähnen. Aber: Psst! – auf dieser Seite wähnten sich viele Kulturschaffende auch vor 109 Jahren!

Russland hat den Krieg zwar begonnen, aber wenn dieser zum Dritten Weltkrieg ausartet tragen dafür alle daran beteiligten Herrschenden Schuld, und alle sind sie von ihrer Unschuld überzeugt. Manche Regisseur:innen von Antikriegsfilmen sind vielleicht, ohne es zu wissen, auf dem besten Weg, zur moralischen Unterstützung des Krieges zu werden.

Stellt sich noch die Frage nach der Verhinderung und dem Ende des Krieges.

Für Marxist:innen ist in Gedenken an Rosa Luxemburg (über deren Tod Matthias Erzberger bestimmt nicht traurig war) klar, dass die Weltlage auf Sozialismus oder Barbarei hinausläuft.

Der Sozialismus ist kaum als eine Alternative für unsere Gegenwart bekannt. Das ist auch den Produzent:innen nicht vorzuwerfen. Wohl aber, historisch inkorrekt und unvollständig gearbeitet zu haben. Und das wirkt nun mal auch ins barbarische Heute.

In den letzten Jahren gab es viele Filme, die die Geschichte zum Gegenstand nahmen. Babylon Berlin ist ein anderes Beispiel dafür, wobei die Serie offen zur eigenen Fiktion steht.

Trotzdem: Das Ergebnis dieser Produktionen ist, auch wenn das die Macher:innen vielleicht nicht wollen, dass die Vergangenheit noch rätselhafter, willkürlicher und naturgesetzlicher erscheint, als sie das sowieso schon im Schulunterricht ist. Aber Geschichte ist Pseudonatur. Sie wird von Menschen gemacht und Menschen können sie auch positiv bewusst auflösen.

Weit weg von solchen Ideen (Wofür auch, es ist ja eine kapitalistisch vergewaltigte Kunst, die Geld und Ruhm bringen soll!) ist die Vergangenheitsbewältigung der modernen Großfilmindustrie darauf reduziert, die Geschichte als mitreißendes Drama auf die Leinwand zu tragen – und damit selbst zum Teil des sehr realen Gegenwartsdramas zu werden.




ChatGPT: Wie eine künstliche Intelligenz das kapitalistische Schulsystem herausfordert

Von Felix Ruga & ChatGPT; Februar 2023

Disclaimer: Der Text wurde von einem unserer Autoren und ChatGPT geschrieben. Eine Reflexion dazu findet ihr noch einmal gesondert am Ende.

Max sitzt vor seinem Computer und schaut auf seine Mathe-Hausaufgaben. Er versteht die Aufgabe einfach nicht und fühlt sich frustriert. Dann erinnert er sich daran, dass er ChatGPT benutzen kann, um seine Hausaufgaben zu erledigen.

Er gibt die Frage ein und innerhalb von Sekunden liefert ChatGPT ihm eine ausführliche Erklärung und Lösung. Max ist erleichtert und kopiert die Antwort in sein Arbeitsheft, ohne es wirklich zu verstehen.

Ein paar Tage später erhält Max seine Hausaufgaben zurück und entdeckt, dass er eine gute Note bekommen hat. Er ist erstaunt, wie einfach es war, die Hausaufgabe zu erledigen, und denkt darüber nach, ChatGPT öfter zu benutzen, um seine Noten zu verbessern.

ChatGPT hat sich in unser Leben geschlichen und uns mit einem mächtigen neuen Werkzeug ausgestattet. Wahrscheinlich kennen die allermeisten, die zur Schule oder Uni gehen, solche Geschichten und sicherlich auch ChatGPT. Für alle anderen nochmal:

ChatGPT (Generative Pre-trained Transformer 3) ist ein Online-Tool, das wie ein virtueller Assistent funktioniert, das auf einer speziellen Form von Deep Learning namens „Transformers“ basiert. Wenn du eine Frage an ChatGPT stellst, analysiert die Plattform zunächst Ihre Eingabe und extrahiert die wichtigsten Informationen. Anschließend verwendet sie ihre Datenbank, um eine passende Antwort zu generieren und sie in natürlicher Sprache zurückzugeben.

Diese Technologie ermöglicht es, menschenähnliche Gespräche zu führen. Es basiert auf einer riesigen Menge an Daten und Texten, die von der Plattform automatisch verarbeitet wurden. Mit dieser Datenbank kann ChatGPT das Muster menschlicher Sprache und das Verständnis von Zusammenhängen zwischen Wörtern und Sätzen erlernen. ChatGPT verwendet auch maschinelles Lernen, um sich selbst zu verbessern und seine Antworten auf Basis von Feedback und neuen Daten zu optimieren.

ChatGPT kann eine Vielzahl von Fragen beantworten, von allgemeinen Wissensfragen bis hin zu persönlichen Empfehlungen. Einige Beispiele für Fragen, die ChatGPT beantworten kann, sind: Was ist die Hauptstadt von Frankreich? Wie funktioniert die Photosynthese? Wer hat den Roman „Die Verwandlung“ geschrieben? Was sind die Vor- und Nachteile von erneuerbaren Energien? Wie funktioniert Bitcoin?

Und woran erinnert das einen? Genau: Hausaufgaben. Tatsächlich können viele Fragen, die ChatGPT beantworten kann, Ähnlichkeiten mit den Fragen haben, die man in der Schule als Hausaufgabe oder Prüfungsaufgabe gestellt bekommt. Dies liegt daran, dass ChatGPT auf einer breiten Datenbank von Wissen und Informationen basiert, die von der Plattform automatisch verarbeitet wurden. Diese Datenbank enthält viele Themen und Fakten, die auch in Schulfächern wie Geographie, Biologie, Geschichte oder Mathematik behandelt werden.

Doch welche Aussage macht das über unser Schulsystem und im besonderen die Rolle von Hausaufgaben darin?

ChatGPT und die Hausaufgabenkultur

Als künstliche Intelligenz, die in der Lage ist, Fragen zu beantworten und Wissen zu liefern, legt ChatGPT nicht direkt Missstände im kapitalistischen Schulsystem offen. Allerdings können die Fragen, die an ChatGPT gestellt werden, auf einige der Herausforderungen und Ungerechtigkeiten im Schulsystem hinweisen.

Zum Beispiel können Fragen nach Hilfe bei Hausaufgaben darauf hindeuten, dass Schüler_Innen in ein System gezwungen werden, das oft sehr leistungsorientiert ist und ihnen wenig Zeit für ihre persönliche Entwicklung und Interessen lässt. Darüber hinaus können Fragen nach der Lösung komplexer mathematischer oder naturwissenschaftlicher Probleme darauf hinweisen, dass Lehrer_Innen mit der Größe von Klassen überfordert sind, um Schüler_Innen zur selbstständigen Lösung zu ermutigen oder zu befähigen.

ChatGPT kann auch auf die ungleiche Verteilung von Bildungschancen hinweisen, die oft durch die sozioökonomischen Bedingungen der Schüler_Innen und ihrer Familien beeinflusst wird. Zum Beispiel haben Schüler_Innen aus einkommensschwächeren Familien möglicherweise weniger Zugang zu Ressourcen wie Nachhilfe oder privaten Tutoren. ChatGPT kann in diesen Fällen als eine Ressource für alle dienen.

ChatGPT zeigt auf, dass Hausaufgaben besser kreativ gestellt werden sollten, anstatt reine Wiederholung zu sein. Indem Schüler_Innen ChatGPT um Hilfe bei ihren Hausaufgaben bitten, wird deutlich, dass viele der gestellten Fragen sich um konkrete Lösungen und einfache Antworten drehen, die ein maschinenartiges Denken abverlangen.

Um das Lernen zu fördern, sollten Hausaufgaben jedoch nicht nur auf einfache Wiederholung von Fakten und Formeln reduziert werden. Stattdessen sollten Hausaufgaben so gestaltet werden, dass sie die Kreativität und das kritische Denken der Schüler_Innen herausfordern.

Hausaufgaben können beispielsweise so gestellt werden, dass die Schüler_Innen selbstständig Probleme lösen, eigene Ideen entwickeln und neue Perspektiven einnehmen müssen. Solche Aufgaben können auch dazu beitragen, das Interesse der Schüler_Innen an einem bestimmten Thema zu wecken und ihnen dabei zu helfen, ihre eigenen Stärken und Fähigkeiten zu entdecken.

Wir fordern also:

  • Schulen müssen gezwungen werden, ihre Hausaufgabenrichtlinien zu überarbeiten und sicherzustellen, dass die Hausaufgaben nicht nur auf Wiederholung und Reproduktion beschränkt sind, sondern auch auf kreative Problemlösungen und kritisches Denken abzielen.
  • Hausaufgaben müssen mit den Inhalten des Unterrichts übereinstimmen. Es darf nicht sein, dass Schüler_Innen mit zusätzlicher Arbeit überfordert werden!
  • Schüler_Innen aus verschiedenen sozialen Schichten müssen Zugang zu den nötigen Ressourcen haben! Hierzu können finanzielle Unterstützung, die Bereitstellung von Materialien und Geräten sowie die Schaffung von Räumen für Schüler_Innen gehören.
  • Wir brauchen eine Bildungsreform, die auf den Bedürfnissen und Interessen der Schüler_Innen basiert und nicht auf den Interessen von Unternehmen und Eliten.
  • Schüler_Innen müssen mehr Mitspracherecht bei der Gestaltung ihrer Hausaufgaben haben. Es sollte sichergestellt werden, dass ihre Meinungen und Bedürfnisse gehört werden, um sicherzustellen, dass Hausaufgaben für sie sinnvoll und relevant sind.

Nachsatz: Wird auch die Arbeit des Artikelschreibens wegrationalisiert?

Der gesamte Text bis hierhin wurde von ChatGPT generiert, inklusive der Überschriften. Ich habe nur hier und da gekürzt, aus verschiedenen Fragen Absätze zusammengestückelt und vielleicht mal eine Überleitung ergänzt. Für so einen Text muss man bei den Fragen schon sehr genau vorgehen und eigene Ideen in die Fragen einfließen lassen, denn ansonsten redet ChatGPT nur belangloses und allgemeines Zeug. Es muss schon noch ein Mensch davorsitzen und überlegte Fragen stellen. Aber vielleicht entspricht das auch der Aufgabe, die uns als Menschen zunehmend zukommt?

Dennoch merkt man an dem Text auch noch, dass er etwas lasch, förmlich und inhaltlich flach klingt (selbst mit der Ergänzung „sozialistische Sprache“). Die Entwickler_Innen haben das Programm ja extra so entwickelt, dass es versucht, sich an ethische Regeln zu halten. Interessanterweise wollte mir ChatGPT nach jeder meiner Fragen zu Hausaufgaben sagen, wie wichtig es ist, die Hausaufgaben selbst zu machen und das Tool nur als Unterstützung zu verwenden. Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.




Wie der Kapitalismus unser Sterben und Trauern vereinnahmt

Von Erik Likedeeler, Februar 2023

Es ist ein schweres Thema, auch unter Linken. Wer über längere Zeit politisch aktiv ist, wird früher oder später mit den Themen Tod und Trauer konfrontiert werden: Femizide, Kriege, Polizei- und Nazimorde sind Anliegen, die uns täglich begegnen und denen wir uns nicht oft genug in den Weg stellen können. Anlass für diesen Text ist der dritte Jahrestag vom Anschlag in Hanau, an dem den 9 Menschen, die von einem Rechtsextremen ermordet wurden, gedacht wurde. Doch immer wieder wird aus der bürgerlichen Mitte die Forderung laut, wir sollten aufhören, den Tod von Menschen „für eine politische Agenda zu instrumentalisieren“. Dieser Vorwurf verkennt, dass das Sterben in diesem unterdrückerischen System von politischer Relevanz ist.

Trauer ist in linken Kontexten nach wie vor eine tabuisierte Emotion. Wenn wir uns auf Parolen wie „Gedenken heißt Kämpfen“ berufen, scheint uns der kämpferische Teil mehr einzuleuchten und uns vielversprechendere Perspektiven zu bieten. Doch was bedeutet eigentlich Gedenken im Kapitalismus – und wie können wir unser Recht auf Trauer und Gerechtigkeit über das Lebens hinaus zurückerkämpfen?

Bestattungskultur: Ein Spiegel der Gesellschaft

Trauer und Bestattungen haben noch nie in einem apolitischen Raum stattgefunden. Sie sind von staatlichen, religiösen und wirtschaftlichen Interessen durchdrungen. Daher sind sie Ausdruck der zunehmenden ökonomischen Ungleichheit. Selbstbestimmung nach dem Tod können sich nur Menschen mit finanziellen Ressourcen leisten.

Bereits im Mittelalter waren Bestattungen und Gräber Symbole für die gesellschaftliche Stellung der verstorbenen Personen. Ein mit Namen versehenes Einzelgrab war ein Privileg, das nur einem kleinen Teil der Bevölkerung zuteilwurde. Von der Nähe des Grabes zum Kirchenaltar konnte auf den sozialen Rang geschlossen werden.

Während die bürgerliche Bestattungskultur eindrucksvolle und individualisierte Gräber hinterließ, zeichnete sich der ‚arme Tod‘ schon immer durch seine Spurlosigkeit aus. Gesellschaftlich ausgegrenzte Menschen wurden in Armengräbern bestattet, in abgetrennten Bereichen oder auf eigenen Elendsfriedhöfen. Sogenannten ‚unehrenhaften‘ Personen wie Hingerichteten, Fremden, ungetauften Kindern und Menschen, die sich das Leben genommen hatten, wurde ein Grab in ‚geweihter Erde‘ verweigert.

Im 19. Jahrhundert wurden Friedhöfe aus hygienischen Gründen außerorts angelegt, und Feuerbestattungen wurden beliebt. Dadurch wurden Einzelgräber für einen größeren Teil der Bevölkerung zugänglich. Die Attraktivität des Einzelgrabes hing auch mit gesetzlichen Neuregelungen bezüglich der Nutzungsdauer zusammen. Zuvor wurden Gräber nach fünf bis acht Jahren neu belegt. Durch längere Ruhefristen lohnte sich die Investition in einen Grabstein.

Kostenfaktor Tod: Ordnungsbehördliche Bestattungen

In der DDR wurden anonyme Feuerbestattungen und Gemeinschaftsgräber seit den 1960er Jahren als Teil des sozialistischen Transformationsprozesses vom Staat gefördert. In der BRD wurde hingegen 2004 das Sterbegeld der gesetzlichen Krankenkassen abgeschafft, welches zuvor 1000€ betragen hatte. Seitdem sind die Angehörigen der verstorbenen Person dazu verpflichtet, finanziell für die Beerdigung aufzukommen. Aber was passiert, wenn keine zahlungspflichtigen Angehörigen gefunden werden?

In diesem Fall erfolgt eine sogenannte ordnungsbehördliche Bestattung. Die Kosten dafür werden aus dem Nachlass der verstorbenen Person gedeckt. Das, was nicht mehr zur Finanzierung genutzt werden kann, wird vernichtet. Nach der Beerdigung hat die Nachlassverwaltung noch einige Monate Zeit, um zahlungspflichtige Angehörige zu finden. Viele Menschen erfahren erst durch Rechnungen und Bußgeldbescheide vom Tod einer geliebten Person.

Ohne Blumen, Grabstein oder Trauerrede wird die verstorbene Person anonym auf einer Grabwiese beerdigt. Das Bezirksamt darf dafür keine Kosten übernehmen. An ordnungsbehördlich angelegten Gräbern dürfen weder Blumen noch persönliche Gegenstände abgelegt werden. Stattdessen gibt es offizielle Ablagestellen, welche oft weit entfernt vom eigentlichen Grab sind. Angehörige, die nicht an der Bestattung teilgenommen haben, haben hinterher keine Möglichkeit mehr zu erfahren, wo die Grabstelle liegt, weil Friedhofsverwaltungen diese Information nicht weitergeben dürfen.

Gesundheitsämter haben nur 8 Tage Zeit für die Suche nach Angehörigen. Nur selten wird die Wohnung der verstorbenen Person betreten, um nach Kontakten, Testamenten oder Vorsorgeverträgen zu suchen. Meist wird nur beim Meldeamt nachgefragt. Aus diesem Grund ist es quasi unmöglich, Angehörige zu finden, die im Ausland leben oder nirgendwo gemeldet sind.

Immer wieder kommt es vor, dass Menschen ordnungsbehördlich bestattet werden, ohne dass ihre Angehörigen informiert wurden. 40% von ihnen hatten soziale Kontakte, die zur Trauerfeier gekommen wären, wenn sie Bescheid gewusst hätten. In einigen Fällen kommen ganze Vereine, die ohne einen Aushang im Wohnhaus nichts von der Beerdigung erfahren hätten.

Nicht zu verwechseln mit ordnungsbehördlichen Bestattungen sind sogenannte Sozialbestattungen. Diese finden statt, wenn armutsbetroffene Angehörige vorhanden sind, welche die Übernahme der Kosten beantragt haben. Anders als bei ordnungsbehördlichen Bestattungen werden bei Sozialbestattungen der Blumenschmuck und die namentliche Nennung am Grab vom Sozialamt übernommen. Doch ein Unternehmen zu finden, welches Sozialbestattungen durchführt, wird zunehmend schwieriger. Viele Bestattungsunternehmen lehnen solche Aufträge ab, weil ihre Kosten durch die Bezahlung nicht gedeckt werden. Im kapitalistischen System sind auch sie dazu angehalten, verstorbene Menschen auf einen Kostenfaktor zu reduzieren.

Selbstbestimmtes Sterben: Ein neoliberales Projekt

Durch den Rückzug des Staates verkommt das eigene Lebensende zu einem individualisierten Projekt, um das sich jede_r hinsichtlich Gestaltung und Finanzierung selbst kümmern soll. Es besteht ein kollektiver Zwang zu einem ‚gelingenden‘ und ‚bewussten‘ Sterben. Nicht selten drängen die Bestattungsunternehmen drauf, eine teure Bestattung durchzuführen nach dem Motto: „Das sollte ihnen ihr Mann doch wert sein, die teuren Blumen oder Sarg zu wählen!“. Auf der anderen Seite etabliert sich das Narrativ, wer nicht vorgesorgt hat, wäre der Eigenverantwortung nicht nachgekommen. Dieser Vorwurf ist einfacher, als das dahinterstehende System in Augenschein zu nehmen.

Von ordnungsbehördlichen Bestattungen betroffen sind insbesondere Menschen, die pathologisiert, psychiatriebetroffen, wohnungslos, im betreuten Wohnen oder anderweitig gesellschaftlich ausgegrenzt waren. Viele von ihnen sind bereits vor ihrem körperlichen Tod einen sozialen Tod gestorben.

Insbesondere ältere wohnungslose Männer sind sozial isoliert, denn Armut und eine schwache Verbindung zur Familie treten bei ihnen häufig in Kombination auf. Nach einer Trennung oder Scheidung verlieren sie oft den Kontakt zu ihren Kindern. 11% der wohnungslosen Männer haben gar keine sozialen Kontakte mehr. Diese Problematik ist stark tabuisiert, denn wohnungslose Männer entsprechen nicht dem Ideal des starken, autonomen, sich selbst versorgenden Mannes.

Wohnungslose Menschen leben im Durchschnitt 30 Jahre weniger als Menschen mit festem Wohnsitz. Ihr Sterbealter liegt im Durchschnitt bei 46,5 Jahren. Häufig sterben sie an Krankheiten, die man einfach hätte behandeln können. Der ungleiche Zugang zu Medikamenten, Therapien und Vorsorge ist einer der Gründe, warum das Sterben im Kapitalismus nicht als apolitischer Zufall begriffen werden darf.

Auch nach dem Tod: Sexismus und Queerfeindlichkeit

Lange Zeit galt das Grab als öffentliches Repräsentationsmedium für adlige und bürgerliche Männer. So waren auf Grabsteinen lange nur der Name, die Lebensdaten und der Beruf des Mannes zu lesen. Die Frau wurde auf ihre Rolle als Mutter, Tochter und Ehefrau reduziert und ausschließlich durch ihre männlichen Verwandten repräsentiert.

Vor dem Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Verstorbene in Reihengräbern bestattet, in Abfolge ihrer Sterbereihenfolge. Familiäre und freundschaftliche Bindungen wurden nicht berücksichtigt. Damals waren Bestattungen noch die Aufgabe der Gemeinde, nicht der Familie. Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine sentimentale und romantisierende Haltung zum Sterben, eng verbunden mit dem Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie. Trauer wurde in den Zuständigkeitsbereich der Familie verlagert, entsprechend der Norm der romantischen Liebe.

Auch heute sind es meist Frauen, die sich anonym bestatten lassen. Durch eine patriarchale Sozialisation wird ihnen beigebracht, ihr Leben nicht für betrauerbar zu erachten. Oft handelt es sich um einen vorauseilenden Gehorsam gegenüber den Hinterbliebenen, damit niemand finanziell für das Grab aufkommen oder sich der Care-Arbeit der Grabpflege annehmen muss. Durch diese überdurchschnittlich häufige Anonymität wird die ungleiche Verteilung von Betrauerbarkeit weiter verstärkt.

Unbetrauerbarkeit wird auch von Herkunftsfamilien hergestellt, welche der Meinung sind, dass es über das Leben des verstorbenen Menschen nichts Positives zu sagen gibt, weil diese_r ihren Erwartungen nicht entsprochen hat, sei es durch Sucht, Wohnungslosigkeit oder eine queere Identität und Lebensweise. Schuld, Wut und Scham spielen im Trauer- und Bestattungsprozess eine große Rolle.

Bestattungskulturen sind von heteronormativen Idealen durchzogen. In vielen Fällen haben queere Menschen keinen Kontakt mehr zu ihrer Herkunftsfamilie. Bei einem Todesfall werden jedoch nur sogenannte ‚Angehörige‘ informiert. Freund_Innen und soziale Bezugspersonen jenseits von Ehe und rechtlicher Verwandtschaft erhalten nur dann Auskunft über den Tod des verstorbenen Menschen, wenn sie selbst die Bezirksämter kontaktieren. Weiterhin ist es üblich, dass queere Partner_Innen von Beerdigungen ausgeschlossen werden. Die Möglichkeit, den Sterbeprozess eines geliebten Menschen zu begleiten und die Beerdigung mitzugestalten, bleibt ihnen verwehrt.

Trans Personen wird auch nach ihrem Ableben ihre Identität abgesprochen, wenn ihr Deadname auf dem Grabstein zu lesen ist. Auch viele wohnungslose Menschen verwenden ihren rechtlichen Namen nicht. Selbst wenn auf ihren Beerdigungen ein Name genannt wird, ist es meist nicht der, den sie sich selbst ausgesucht haben. Ebenfalls werden einige ausländische Namen beim Erhalt des deutschen Passes ‚eingedeutscht‘. Diese rassistische Praxis wird auch nach dem Tod der Person fortgesetzt.

Selbstverständlich kommt es vor, dass Menschen die Beerdigungskosten für ihre gewalttätigen Verwandten nicht übernehmen wollen. Einzig und allein Akten und Nachweise von Jugendämtern und Gerichten helfen, die Bestattung des eigenen Täters nicht finanzieren zu müssen.  Aber Gewalt wird vor Gericht nur selten als solche anerkannt, und die meisten Fälle gelangen nie an die Öffentlichkeit.

Abgestumpft und pathologisiert

Trauern zu dürfen, ist ein Luxus, den sich nur Menschen leisten können, die finanziell abgesichert sind und daher zeitlichen und finanziellen Freiraum zur Verfügung haben. Da Trauer Menschen in ihrer Produktivität einschränkt, ist diese Emotion im Kapitalismus unerwünscht. Nach einer kurzen Phase der Isolation soll alles so weiterlaufen wie vorher. Die Zahl der Tage, die man als Arbeiter_In nach dem Tod der Eltern, Kinder oder der Ehe(!)-Partner_Innen frei bekommt, ist gesetzlich unklar formuliert, sodass die Dauer „durch den Arbeitgeber angemessen sein und nicht zu lange dauern sollte“, was meistens so um die 2 Tage sind. In vielen Arbeitsverträgen (z.B. in der sozialen Arbeit oder Pflege) ist die Zahl der Tage auf einen einzigen Tag beschränkt! Wer schon in der Situation war, weiß, dass das eine absolut lächerliche Zahl ist und vor allem für bürokratische Erledigung draufgeht.

Aber es soll uns klar zeigen: Als Teil der Gesellschaft hat man seine Emotionen zu unterdrücken! Wer das nicht schafft, wird durch Pathologisierung abgestraft. Mit der Einführung des DSM-V im Jahr 2013, einem wichtigen psychiatrischen Leitfaden, wurden die Diagnosekriterien für psychische Erkrankungen aufgeweicht. Das führte dazu, dass Anzeichen von Trauer aufgrund des Todes einer nahestehenden Person bereits deutlich früher als Depression diagnostiziert werden können.

Durch die Internalisierung der eigenen Unterdrückung passiert es, dass Menschen gegenüber ihrer Trauer abgestumpft werden, und dafür auch noch eine Art trotzigen Stolz empfinden. Interessant ist es, sich die Rhetorik anzuschauen, die rund um das Thema Trauer verwendet wird: Die Gefühle sollen verarbeitet und transformiert werden, man soll an ihnen wachsen, sie produktiv nutzen, gestärkt aus ihnen hervorgehen. Ihr bloßes unproduktives oder produktionshemmendes Dasein wird nicht geduldet. Die Grenzen des Tolerierbaren verlaufen auch hier entlang der Grenzen der Produktivität.

Die Alternative? Politischer Widerstand!

Aus Not und Betroffenheit heraus haben Menschen, die als unbetrauerbar gelten, sich ihre eigenen Bestattungskulturen aufgebaut. Soziale Kämpfe wie die AIDS- und Hospizbewegung stießen Veränderungen an und forderten Enttabuisierung. Den an AIDS verstorbenen sollte nicht länger die moralische Schuld für ihren eigenen Tod gegeben werden.

Aktivist_Innen organisierten Die-ins, symbolische Beerdigungsmärsche und politische Beerdigungen, sowie eigene Pflegestationen mit Trauerfeiern. Um der Stigmatisierung und der Isolation von HIV-Positiven entgegenzuwirken und kollektive Trauer zu ermöglichen, entstanden AIDS-Gemeinschaftsgräber. Humor wurde zu einem wichtigen Aspekt dieser Trauerkultur: Am Grab wurde Sekt getrunken, es wurden Punksongs gehört und mit Konfetti geworfen.

Ein nennenswertes Bestattungsprojekt ist der Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg. Hier können sich alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht bestatten lassen, doch der Fokus liegt auf der Perspektive von Frauen und queeren Menschen. Zu jeder bestatteten Person gibt es am Grab eine Kurzbiographie, um die Erinnerung an sie lebendig zu halten und Betrauerbarkeit herzustellen. Doch auch dieses Friedhofsprojekt ist kein sicherer Ort: Immer wieder werden dort Frauen belästigt, und das Grab der bekannten Hamburger Sexarbeiterin und Streetworkerin Domenica Niehoff wurde schon häufig verwüstet vorgefunden.

Mit Trauermärschen wird auch an die zahlreichen Menschen erinnert, die an den Außengrenzen der Europäischen Union dem Tod überlassen werden. Hier zeigt sich, dass für imperialistische Staaten nicht alle Menschen als Menschen zählen, nicht jedes Leben als Leben. Häufig sind von den Verstorbenen weder Name noch Geburtsdatum bekannt, es gibt keine Gräber, um sie zu besuchen.

Das stellvertretende Trauern ist ein politischer Akt, um der Individualisierung und Neoliberalisierung in einem Gebiet entgegenzuwirken, das sich durch bürokratische Abläufe und distanzierte Sachlichkeit auszeichnet. Dennoch ist die Art, wie Emotionen und Trauer hierzulande performt werden, stark von bürgerlichen Trauernormen geprägt, und christliche Bestattungen werden als Norm gesetzt. Islamische Bestattungen sind zum Beispiel in Berlin erst seit 2010 möglich.

Das jüngste prominente Beispiel von Trauerkultur dürfte die Kampagne „Say their names!“ für die Ermordeten des Hanau-Anschlags sein. Hierbei ist nicht nur die Errungenschaft, dass sie nicht unsichtbar werden und ihre Angehörigen zu Wort kommen können, sondern dass rechter Terror einen Namen und ein Gesicht bekommt. Die Message ist: „Rassistische Gewalt ist nichts Abstraktes oder weit entferntes! Nichts, was man wegdiskutieren kann! Es passiert!“. Denn in diesem Fall ist der Tod eine unmittelbare Folge von politischem Handeln und Trauer wäre vermeidbar gewesen in einer anderen Gesellschaft. Dass es für diese Trauer immer wieder Raum und Sichtbarkeit gibt und daraus politischer Widerstand entsteht, ist der Verdienst und Erfolg antirassistischer Aktivist_Innen.

Wir müssen uns die Selbstbestimmung übers Trauern und Bestattungen zurückerkämpfen. Dazu stellen wir diese Losungen auf:

  • Niemand sollte für den Tod von Angehörigen auch noch Blechen müssen! Für die volle Kostenübernahme durch den Staat! Gegen Privilegien von Reichen gegenüber Armen und Unterdrückten, sei es in der Bestattung, in der Trauer oder in anderen Bereichen des Lebens!
  • Für die maximale Entscheidungsfreiheit der sterbenden Person über die Bestattung, bei vollständiger Organisation und Finanzierung der Bestattung durch den Staat. Kein Zwang zur christlichen Trauernorm! Für die Möglichkeit der Teilnahme am Bestattungsprozess für alle Bezugspersonen, nicht nur für rechtliche Angehörige!
  • Für die gesellschaftliche Enttabuisierung und Sichtbarmachung des Themas – niemand darf mit einem solchen Verlust alleingelassen werden. Für die Freistellung aufgrund von Trauer, solange es nötig ist. Für den Ausbau von Beratungs- und Hilfsangeboten, ohne den Zwang zur schnellstmöglichen Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt.
  • Es könnten so viele mehr Menschen überleben ohne Profitorientierung im Gesundheitssystem und ohne Kriege! Für die Vergesellschaftung des Gesundheitssystems unter Kontrolle der Arbeiter_Innen und Patient_Innen! Gegen Krieg und Besatzung – für offene Grenzen und volle Staatsbürger_Innenrechte für alle, da wo sie grade wohnen! Stopp von Waffenexporten im Interesse der imperialistischen Bourgeoisien!
  • Gegen Isolation und Tod auf der Straße helfen öffentlicher Wohnraum für alle, die ihn brauchen, unkompliziert und ohne Zwang! Hilfsangebote, die sich an den Bedürfnissen der Hilfsbedürftigen orientieren, um das Leben nach der Straße angenehmer zu machen und zu helfen, von der Straße zu kommen!
  • Für barrierefreie und sichere Friedhöfe, für die organisierte Selbstverteidigung von Frauen und queeren Personen in Zusammenarbeit mit der Arbeiter_Innenklasse, gegen sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum oder Schändigung von Gräbern!

Weiterführende Literatur:

Endler, Rebekka. Das Patriarchat der Dinge. Warum die Welt Frauen nicht passt. Köln 2021: DuMont.

Gegendiagnose. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychiatrie und Psychologie. Hg. v. Cora Schmechel (u. A.). Münster 2015: Edition Assemblage (Get well soon. Psycho- und Gesundheitspolitik im Kapitalismus, Band 1).

Seeck, Francis. Recht auf Trauer. Bestattungen aus machtkritischer Perspektive. Münster 2017: Edition Assemblage.




Marxistische Filmkritik: Drei Haselnüsse für Aschenbrödel

Von Leonie Schmidt

Jedes Jahr aufs Neue wird in vielen Haushalten der Weihnachtstradition nachgegangen, den Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ (Václav Vorlíček, ČSSR/DDR 1973) an den Weihnachtsfeiertagen oder während der Adventszeit gemeinsam anzusehen. Märchenfilme generell sind sehr beliebt, doch dieser scheint besonders hervor zu stechen. Wir wollen uns an dieser Stelle anschauen, was eigentlich die Grundaussagen des Filmes sind und wie wir sie mit einem marxistischen Blick interpretieren können. Diese Herangehensweise lässt sich prinzipiell auf jedes Kulturgut anwenden, jedoch bietet sich es hier natürlich besonders an, immerhin handelt es sich um ein Werk aus dem sozialistischen Realismus.

Progressive Elemente

Voranstellend kann gesagt werden, dass dieser Film, insbesondere für einen Märchenfilm aus den 1970er Jahren, ziemlich viele progressive Elemente hat. Das muss natürlich in den Kontext der Produktionsländer ČSSR/DDR gestellt werden, welche zwar degenerierte Arbeiter_Innenstaaten darstellten, aber trotz alledem gerade hinsichtlich geschlechtlicher Gleichberechtigung den westlich-kapitalistischen Staaten um Einiges voraus waren. Beispielsweise gab es in der DDR ein umfängliches Abtreibungsrecht, im Gegensatz zur damaligen und heutigen BRD.

Auf der einen Seite haben wir also Aschenbrödel, welches von ihrem Vater entgegen der weiblichen Geschlechterrolle erzogen worden ist, besser reiten und jagen kann als so mancher Mann. Sie besticht durch Scharfsinn und ist auch mal frech, wie bspw. in der Szene gegen Anfang, als sie den Prinzen und seine Kumpanen mit Schnee bewirft und dann sein Pferd entwendet oder nachdem sie ihr Jägerkostüm abgelegt hat und dem Prinzen nicht verrät, wo sich besagter junger Jäger befindet. Sie ist emanzipiert, in dem Sinne, dass sie nicht einfach tatenlos auf den Prinzen wartet, sondern selbst aktiv wird, sich aber auch nicht von ihm unterbuttern lässt, und bspw. den Konsens ihn zu heiraten, aktiv einfordert (siehe dazu die Ballszene) und durch die Rätsel, welche sie ihm stellt, versucht herauszufinden, ob er ihr auch in puncto Intelligenz gewachsen ist (und ob er sich wirklich mit einer einfachen, armen jungen Frau abgeben will). Aschenbrödels Gegenspielerin, die klassische böse Stiefmutter, die sie und die anderen auf dem Hof ausbeutet, hingegen versucht sie in die Rolle der braven, armen Magd zu drängen, die alle möglichen (sinnlosen) Drecksarbeiten erledigen muss, während ihre leibliche Tochter Dora hemmungslos verwöhnt wird. Auch der Prinz stellt sich in gewisser Weise den Macht – und Geschlechterverhältnissen entgegen, indem er sich seinem Vater, dem König, quer stellt, welcher unbedingt möchte, dass er möglichst schnell und möglichst eine reiche, brave Frau heiratet. Auch lassen sich an manchen Stellen homoerotische Tendenzen interpretieren, etwa in der Szenen als das als Jäger verkleidete Aschenbrödel den Ring vom Prinzen angesteckt bekommt, der sie in ihrer Rolle als Jäger nicht nur für die Jagdkünste zu bewundern scheint. Die Grundaussage des Films scheint zu sein: nur die Liebe hilft gegen die Rollenvorstellung von Patriachat und Klassengesellschaft.

Kritik der Klassengesellschaft

Im Sinne des sozialistischen Realismus wird die Klassengesellschaft recht offensichtlich dargestellt, auch wenn der Film in feudalen Verhältnissen spielt. Die böse Stiefmutter könnte man hier als eine Klasse interpretieren, die aufsteigen möchte (in dem sie sich einschleimt und ihre leibliche Tochter Dora mit dem Prinzen verheiratet), aber selber schon Besitz an Produktionsmitteln hat und ihre Angestellten ausbeutet und quält. Ganz besonders die, die sie als Konkurrenz sieht und deren Aufstieg sie dringend unterbinden muss, notfalls mit allerlei Tricks und Hinterhältigkeit. Den wenigen Besitz, den Aschenbrödel hat, welches die Arbeiter_Innenklasse darstellt, wurde ihr auch schon entwendet. Bspw. Nikolaus, der prächtige Schimmel, und ebenso wurden auch ihre jeglichen sonstigen Freiheiten eingeschränkt. Der Vergleich des Kleinbürger_Innentums gegen die Arbeiter_Innenklasse im Rahmen der Faschismustheorie ließe sich hier beispielweise ziehen: die Emanzipation der Arbeiter_Innenklasse muss bewusst aufgehalten werden, um die herrschenden Verhältnisse zu sichern und das Kleinbürger_Innentum stellt sich an dieser Stelle in den Dienst der Bourgeoise, in der Hoffnung, eines Tages selber in diese aufzusteigen. Man kann die böse Stiefmutter auch noch auf eine marxistisch-feministische Art interpretieren: Sie ist der Beweis dafür, dass es keine natürliche Solidarität unter Frauen aller Klassen gibt und dass sich die Interessen von Frauen der verschiedenen Klassen stark unterscheiden. Denn ein Happy End für Aschenbrödel ist für die böse Stiefmutter im doppelten Sinne schlecht: Sie hat eine Frau weniger, die, unter anderem, ihre Reproduktionsarbeit übernehmen kann, und hat es zusätzlich nicht einmal geschafft, ihre Tochter Dora gewinnversprechend zu verheiraten.

Auch der Szene mit den Linsen und dem Mais, was eine absolut unnütze Aufgabe und vor allem eine Strafe ist, die die Stiefmutter nur Aschenbrödel aufhalst, damit sie es ja nicht wagt, sich zum Hofball zu schleichen, wohnt einer gewissen antikapitalistischen Symbolik inne. Repressionen gibt es viel in der kapitalistischen Gesellschaft, diese sollen uns auch schlauchen, damit wir nicht mehr in der Lage sind uns mit möglichen Verbesserungen oder gar der Organisierung dieser zu beschäftigen. Die Tauben werden hier zu einem Symbol der Solidarität und der Masse der Arbeiter_Innenklasse, da sie aufgrund ihrer Anzahl in der Lage sind, Aschenbrödel diese zeitintensive Aufgabe ohne viel Aufwand abzunehmen. Die Bedeutung liegt hier in der Kraft der Solidarität gegenüber Genoss_Innen, denen vom bürgerlichen Staat Repressionen aufgehalst werden.

Alles eine Frage des Bewusstseins

Auch das für MarxistInnen allseits bekannte Thema des fehlenden Bewusstseins der ausgebeuteten Schichten wird aufgegriffen. Das können wir beispielsweise erkennen beim Knecht Vinzek, der großes Mitleid mit Aschenbrödel hat, aber nicht in der Lage ist, ihr wirklich zu helfen. Er kann lediglich vertuschen, dass sie immer noch Nikolaus besucht und ihr die drei Haselnüsse von der Fahrt in die Stadt mitbringen. Oder aber auch in der Szene, als der Prinz auf das Gut von Aschenbrödels Stiefmutter kommt um „seine Prinzessin“ mit Hilfe des verlorenen Schuhs zu finden. Hier machen sich die Mägde und Knechte darüber lustig, dass es wirklich eine von ihnen sein könnte, die der Prinz da sucht. Sie können es sich einfach gar nicht vorstellen, dass sowas möglich wäre, auch wenn sie sich wahrscheinlich alle insgeheim wünschen, dass sie die Außerwählten sind, die endlich vom Joch der Knechtschaft befreit werden.

Klassenkampf und Kitsch?

Mit Sicherheit gibt es Leute, die diesen Film für kitschig halten. Allerdings liegen die Differenzen zu klassischen Disney-Märchen-Filmen auf der Hand: die Kulissen sind wenig pompös, selbst der Ballsaal und die Thronstühle vom Königspaar sind verhältnismäßig schlicht. Lediglich von der Kleidung vom Königspaar, dem Prinzen sowie der Stiefmutter und Dora (und Kleinrösschen!) kann man das nicht behaupten. Auch spielt die Natur eine wichtige Rolle: man kann sie als Art Parallelwelt, in welcher die Gesetze der Klassengesellschaft aufgehoben werden, interpretieren. Hier kann Aschenbrödel frei von Zwängen ausreiten, jagen und dem Prinzen begegnen. Der Prinz und seine Kumpanen müssen nicht dem Herrn Präzeptor (eine Art Hauslehrer) Folge leisten, sondern können ihn einfach im tiefen Schnee stehen lassen. Die böse Stiefmutter und Dora finden ihr vorzeitiges Ende im gefrorenen Weiher, weil die Kutschpferde durchgehen. Und der Prinz und Aschenbrödel reiten am Ende in die Freiheit in die verschneite Natur, anstatt eine pompöse, eigentlich dem Adel angemessene, Hochzeit im Palast des Königs abzuhalten.

Auch hinsichtlich des romantischen Plots trotzt Aschenbrödel den veralteten Disney-Klischees. Wie eingangs erwähnt, ist sie selbstbewusst, frech und lässt sich ihre Geschlechterrolle nicht aufdrängen. Besonders hervorstechend ist die Szene beim Ball, in welcher der Prinz sie von der Stelle weg heiraten will und sie ihn deutlich darauf hinweist, dass er vergessen hat, sie zu fragen und somit den Konsens dieser Beziehung einfordert, auch wenn sie ihn natürlich trotzdem schon toll findet. Ihre Unabhängigkeit wird trotz bevor stehender Ehe auch dadurch noch einmal verdeutlicht, dass sie in der Schlussszene nicht mit auf seinem Pferd sitzt, sondern ihr eigenes behält.

Liebe gegen Klassengesellschaft und Patriachat?

Nun widerstrebt es natürlich Marxist_Innen, die These aufzustellen, dass nur die romantische Liebe, welche ihre höchste Form in der bürgerlich-monogamen Ehe findet, die Menschheit befreien kann. Sicherlich ist die romantische Liebe von Aschenbrödel und dem Prinzen vor allem für feudale Zeiten, wie bereits aufgezeigt, emanzipatorisch. Auch in dem Punkt, dass der Prinz eine Liebesheirat einer arrangierten Heirat vorzieht, setzen sie ein Zeichen. Allerdings ist das glückliche Ende eigentlich ziemlich individualistisch, denn nur Aschenbrödel konnte sich (mit Hilfe des Prinzen) aus ihrer Stellung als arme Magd befreien, während die restlichen Angestellten des Guts der bösen Stiefmutter immer noch untergeordnet sind. Deswegen kann man auch die Liebe zwischen den beiden auf eine andere Weise interpretieren und zwar als Symbol für den gemeinsamen solidarischen Kampf der Arbeiter_Innnenklasse gegen die herrschenden Verhältnisse. Der Ritt in die verschneite Natur zeigt somit den Weg in die klassenlose Gesellschaft auf, Aschenbrödel und der Prinz (der vermutlich nicht mehr länger Prinz sein wird, aber das kann man unterschiedlich interpretieren) könnte man hier auch als Avantgarde, also als Anführer_Innen der Arbeiter_Innenbewegung deuten. Gleichzeitig muss man aber auch eine kritische Interpretation zulassen, die ein Ende der Unterdrückung Aschenbrödels nur durch die Einheirat in eine höhere Klasse und durch die Hilfe des Mannes ermöglicht.

Ob diese Botschaft so konkret vermittelt werden sollte, kann natürlich nicht nachgeprüft werden. Klar ist jedoch, dass sozialistische Ideale auch bei dieser Produktion eine Rolle gespielt haben müssen. Aber das ist eigentlich bei Filmkritiken auch nicht der wichtige Punkt; was der Autor sagen wollte, ist (meistens) irrelevant. Was hingegen der Film aussagt, ist entscheidend. Und bei diesem Film zeigt sich, dass Mut und Kampfgeist gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeiten mit Freiheit belohnt werden können!