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Kapitalismus macht krank

Von Pippine Garterbelt, März 2023

Triggerwarnung: Erwähnung von (sexualisierter) Gewalt, (sexualisierte) Gewalt an Kindern, Transfeindlichkeit, psychische Erkrankungen, Suizid, Krieg und Drogenmissbrauch

Dies ist der erste Teil unserer Artikelreihe, die sich mit mentaler Gesundheit im Kapitalismus beschäftigt. Sie beschäftigt sich einerseits mit den Ursachen psychischer Erkrankungen und warum der Kapitalismus kein Interesse daran hat, diese zu bekämpfen, aber auch mit den Perspektiven und notwendigen Forderungen für eine Zukunft, in der Gesundheit kein Luxus mehr sein muss.

Zahlen & Fakten: Lage der Arbeiter_Innen

Die folgenden Zahlen und Fakten verschaffen uns einen Eindruck davon, wie ernst die Ausmaße psychischer Erkrankungen in Deutschland sind und wie vielfältig ihre Auslöser sein können:

Seit neustem Stand sind 13,8 Millionen Menschen (das sind 600.000 Menschen mehr als noch vor der Pandemie), also 16,6% der Deutschen, aktuell von Armut betroffen, davon 2,8 Millionen Kinder und 9,3 Millionen Rentner_Innen. Jede zweite Rente liegt unter 900 Euro. Wir müssen meist 8 bis 10 Stunden täglich arbeiten, um unsere Lebenserhaltungskosten zu decken und unsere wenige Freizeit müssen wir dann noch unserer eigenen Reproduktionsarbeit widmen. Während durch die Inflation alles teurer wird, besonders die Lebensmittel- und Energiekosten auf Rekordniveau steigen, bleiben unsere Löhne unten. Unsere hohen Arbeitszeiten und dem massiven Leistungsdruck, der uns im Berufsalltag begegnet, sind verantwortlich für psychische Erkrankungen wie Burnout und Depressionen. Studien belegen, dass eine Arbeitswoche von 8 bis 20 Stunden die Menschen zufrieden und produktiver macht, während eine Arbeitswoche mit über 39 Stunden sogar negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit hat.  Das Burnout-Syndrom entsteht durch chronischen Stress am Arbeitsplatz, der nicht erfolgreich verarbeitet wird und ist erst seit diesem Jahr als Krankheit anerkannt. 2020 waren 180.000 Menschen an Burnout erkrankt, zusammen brachten sie es zu 4,5 Millionen Krankheitstagen. Das Risiko an einem Burnout zu erkranken, steigt mit zunehmendem Alter. Besonders soziale Berufsgruppen sind betroffen. 2021 gab es 611.000 leerstehende Wohnungen, trotzdem leben Menschen auf der Straße oder in heruntergekommenem, für die Wohngemeinschaften viel zu kleinem Wohnraum. Etwa 1,5 Millionen Mietwohnungen fehlen, besonders in Großstädten ist der Zustand extrem. 2019 wurden knapp 300.000 Wohnungen neu gebaut, weniger als ein Drittel davon sind klassische Mietwohnungen und weniger als ein Zehntel bezahlbare Sozialwohnungen. 2022 wurde in Berlin keine einzige Sozialwohnung gebaut – dafür wurden etliche abgerissen, um Platz für noch mehr Eigentumswohnungen zu schaffen. Im Schnitt bewerben sich um jede freie Wohnung in der Stadt mehr als 200 Menschen. Die Mieten haben sich in den letzten 10 Jahren in der Stadt mehr als verdoppelt. Der Quadratmeterpreis der länger bewohnten Wohnungen liegt im Durchschnitt bei 6,37€ und bei 10,55€ bei den neu zu vermieteten Wohnungen. Jeder zweite Berliner hätte Anspruch auf eine Sozialwohnung. Mediziner bestätigen, dass Menschen in Folge ihrer ungelösten Wohnungsfrage, und der damit einhergehenden Bedrohung der eigenen Existenz, depressiv werden. Menschen sexueller und geschlechtlicher Minderheiten, Menschen mit Migrationshintergrund oder einem ausländischen Nachnamen oder Menschen, die Teil einer religiösen Minderheit sind, sind auch bei der Wohnungssuche besonders diskriminiert. Gleichzeitig sind diese Menschen auch um ein Vielfaches eher von Armut betroffen. Dieses Jahr wurden mehr als 178.000 von Obdachlosigkeit betroffene Menschen in Unterkünften untergebracht. Die Lebenserwartung von obdachlosen Menschen liegt im Durchschnitt bei gerade einmal 49 Jahren – das sind 30 Jahre weniger als das aktuelle natürliche Sterbealter eines Menschen. Menschen, die in Armut leben, erkranken eher an Depressionen als Menschen aus reichen Verhältnissen. 2017 wurden 71.000 Menschen aufgrund psychischer Erkrankung arbeitsunfähig und mussten in Frührente gehen. Etwa 20% der Kinder und Jugendlichen leiden an psychischen Erkrankungen. Die viert häufigste Todesursache hierzulande von Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren ist Suizid. 42% der Mobbingopfer denken über Suizid nach. Menschen, die von psychischen Erkrankungen betroffen sind, sterben etwa 10 bis 20 Jahre früher als der Durchschnitt. Jährlich begehen mehr als 700.000 Menschen Suizid. Die häufigsten Gründe hierbei sind neben psychischer Erkrankung: Armut, Stress und familiäre Konflikte. In Deutschland sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten, AIDS und illegalem Drogenmissbrauch zusammen. Die meisten Menschen, die Suizid begehen sind unter 25 Jahre alt. Die Selbsttötungsrate liegt bei männlich sozialisierten Menschen dreimal so hoch, als bei weiblich sozialisierten Menschen und auch trans Personen und Personen sexueller und geschlechtlicher Minderheiten haben ein erhöhtes Risiko Suizid zu begehen, gegenüber cis Personen. 14% aller trans Jugendlichen und Jugendliche sexueller und geschlechtlicher Minderheiten denken im Jahr einmal daran, Suizid zu begehen. Der Grund warum der absolute Großteil der Selbsttötungsopfer männlich sozialisierte Personen sind, liegt auch genau daran: An ihrer Sozialisierung. Denn von ihnen wird Stärke erwartet, was der Grund dafür ist, dass sie sich seltener Hilfe suchen und seltener über Probleme sprechen. Auch Betroffene, die über ihre Probleme sprechen, schaffen es oft nicht, sich Gehör zu verschaffen, da psychische Erkrankungen, vor allem bei männlich sozialisierten Personen nach wie vor nicht ernst genommen werden.

Sexualisierte und häusliche Gewalt und emotionaler Missbrauch

Fast jede weiblich gelesene Person wird im Laufe ihres Lebens mindestens einmal Opfer sexualisierter Grenzüberschreitungen. Etwa 29,5% der weiblich sozialisierten Personen haben schon einmal sexualisierte Gewalt im erwachsenen Alter erfahren und etwa 27,7% im Kindesalter. Als sexualisierte Gewalt wird hierbei Nötigung zu ungewollten sexuellen Handlungen oder das (versuchte) Eindringen in den Körper gemeint. Menschen mit Behinderungen sind besonders betroffen: etwa jede zweite Person mit Behinderung wurde schon einmal Opfer sexualisierter Gewalt. Etwa 38% der Menschen, besonders männlich Sozialisierte, sind der Meinung, dass Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein kann. 2019 wurden in Deutschland 15.701 Kinder als Opfer sexuellen Missbrauchs polizeilich erfasst, während der Corona-Pandemie stieg die Zahl deutlich an. Dabei sind das nur die polizeilich bekannten Fälle, die Dunkelziffer ist um ein deutliches höher, denn nur jeder 15. bis 20. Missbrauchsfall wird angezeigt. Auch die Zahl der Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie stieg während der Corona-Pandemie um etwa 53% an. Kinder und Jugendliche sind doppelt so oft von häuslicher Gewalt betroffen, als weiblich wahrgenommene Personen. Die Zahl der Betroffenen von häuslicher Gewalt stieg um 100% an, wenn sich die Opfer mit ihren Tätern in Quarantäne befanden. Auch Familien die finanzielle Probleme haben, sind um ein Vielfaches häufiger von häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffen. Opfer emotionalen Missbrauchs, lassen sich viel schwerer statistisch erfassen, da die Gewalt auf rein zwischenmenschlicher Gefühlsebene stattfindet und so schwerer nachzuvollziehen ist, im Gegensatz zu physischer oder sexualisierter Gewalt. Emotionaler Missbrauch ist psychische Misshandlung die als Gehirnwäsche wirkt, durch ein regelmäßiges Muster verbaler Angriffe, konstanter Kritik und Erniedrigung, Manipulation, Kontrolle, Schuldzuweisungen, Isolierung und emotionaler Distanzierung, um so die Opfer in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Täter zu manipulieren. Chronische Traumatisierung im Kindesalter, etwa in Form regelmäßiger emotionaler, psychischer Misshandlung, sind Grundstein psychischer Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen im Erwachsenenalter. Emotionaler Missbrauch kann in jedem Alter und in jeder Art von Beziehung stattfinden, dabei sind die Täter immer in einer höher gestellten Machtposition zu dem Opfer.  

Flucht und Krieg

2021 wurden weltweit insgesamt 28 Kriege und bewaffnete Konflikte geführt. 100.000.000 Menschen sind aktuell auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen. Das sind mehr Menschen als jemals zu vor in der Geschichte der Menschheit. Menschen, die gezwungen sind, vor Konflikten, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung zu fliehen, kommen meist nur mit dem, was sie am Körper tragen und schweren Traumata aus ihren Herkunftsländern her. Alles andere mussten sie zurücklassen, wurde zerstört oder ihnen genommen. Doch auch während der Flucht kommt es oft zu weiteren traumatischen Geschehnissen, durch unsichere Fluchtwege, Repressionen, Vergewaltigung, Gewalt und systematischer unterlassener Hilfeleistungen an den Grenzen. Jedes Jahr sterben tausende Menschen auf der Flucht. In einem sicheren Land angekommen, hören die Probleme nicht auf: Hier bekommen die Menschen, die ihre Reise überlebt haben, erst einmal jahrelang keine Arbeitserlaubnis, ihre absolvierten Schul- und beruflichen Abschlüsse werden oft nicht anerkannt, sie sind isoliert in Massenunterkünften, haben keine Reisefreiheit um auch mal nur eine andere Stadt zu besuchen. Alles ist bürokratisiert, dabei sind wichtige Dokumente nicht in allen Sprachen verfügbar und es fehlt an übersetzendem Fachpersonal. Die Quote von falsch bearbeiteten Anträgen und eigentlich verbotenen Abschiebungen ist erschreckend hoch. Geflüchtete Menschen müssen hier in dauerhafter Unsicherheit über ihr Bleiberecht und Angst vor einer plötzlichen Abschiebung leben und dann liegt ihr Schicksal meist nur in den Händen einer einzigen Person, die die Macht hat völlig willkürlich Entscheidungen zu treffen. 

Gesundheitssystem und psychische Erkrankungen

Ambulante Therapieplätze für Betroffene

Vor der Pandemie lagen die Wartezeiten auf einen Therapieplatz bei 3 bis 9 Monaten, denn schon vor Corona fehlten mindestens 1750 Kassensitze für Psychotherapeut_Innen. Dabei sind die Fälle von Depressionen und Angststörungen während der Pandemie weltweit um etwa 25 Prozent gestiegen. Seit 2017 hat jeder Mensch ein Recht auf eine psychotherapeutische Akutsprechstunde, jedoch erhalten 40% der Betroffenen nach einer solchen Sitzung keinen Therapieplatz. Die richtige Therapie für sich zu finden ist schwer. Es gibt unzählige Therapieverfahren, nur drei der vielen Behandlungsformen gelten in Deutschland derzeit als anerkannte Psychotherapieverfahren im Sinne der Psychotherapie-Richtlinie und werden von der gesetzlichen Krankenkasse, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, übernommen. Nur etwa 18,9% der betroffenen erwachsenen Bevölkerung geht überhaupt auf Therapieplatzsuche. Denn wer in Deutschland einen Therapieplatz sucht, ist auf sich allein gestellt. Wer mit Symptomen psychischer Erkrankungen zum Hausarzt geht, dem_der wird eine Psychotherapie empfohlen und bekommt bestenfalls noch eine Liste aller ambulanten Psychlog_Innen in der Umgebung. Darunter ein bunter Mischmasch von Verhaltenstherapeut_Innen, Tiefenpsycholog_Innen, Traumatherapeut_Innen, systemischer und psychoanalytischer Therapien. Dann heißt es eine Praxis nach der anderen abzutelefonieren, in eine Mailbox zu der anderen reinsprechen, um eine Absage nach der anderen zu bekommen – falls man denn überhaupt eine Antwort bekommt. Doch wer weiß schon, was man als erkrankte Person meist noch ohne erste Diagnose für eine Therapieform braucht? Oft landen Patient_Innen dann in völlig falschen Therapieverfahren und Erlangen trotz zum Teil jahrelanger Therapie keinen Fortschritt. So steht die Psychotherapie schon seit geraumer Zeit aufgrund mangelnder oder gar fehlender Wirksamkeit in Kritik. 20 bis 50% der Patient_Innen, besonders Menschen in Armut, Menschen mit einem geringen Bildungsstand, Menschen, die Teil einer ethnischen Minderheit sind, Jugendliche, Rentner_Innen und Menschen mit Ess- oder Persönlichkeitsstörung brechen ihre Therapie frühzeitig ab.

Lage der deutschen Psychiatrien

Die Zustände in deutschen Psychiatrien bezeichnet die Aufsichtskommission als skandalös. Personalmangel, Überbelegung, fehlende Aufenthaltsräume und Freiflächen. Verdeckte Reporter_Innen berichten von verstörenden Bestrafungen von Patient_Innen in geschlossenen Psychiatrien. So werden Menschen, die aufgrund ihrer selbst- oder fremdgefährdenden Symptomatik eine 1 zu 1 Betreuung bräuchten, für mehrere Stunden mit Gurten fixiert. Teilweise immer wieder, auch Wochen und Monate. Dabei ist eine Fixierung länger als 30 Minuten nicht legal und müsste mit einem gerichtlichen Beschluss angeordnet werden. Enthüllungsjournalist_Innen aus einer Vivantes Klinik berichten, ein_e Psycholog_In betreue 40 bis 60 Patient_Innen gleichzeitig, daher kommt es oft zum Ausfall von Therapien. Aus einer Jugendhilfe- und Wohneinrichtung aus Eifel wird berichtet, dass es dort im Keller einen „Deeskalationsraum“ ohne Tageslicht und Toilette, mit Guckloch in der Tür gäbe, in denen die jugendlichen, psychisch kranken Bewohner_Innen als Strafmaßnahme teilweise mehrere Tage lang eingesperrt werden. „Deeskalationsräume“ so und ähnlich finden sich in psychologischen Einrichtungen überall im Land und die Gefahr, dass sie als Strafmaßnahmen missbraucht werden ist, besonders aufgrund des massivem Personalmangels, hoch. Aus anderen Kliniken wird berichtet, dass Patient_Innen die Einnahme von Beruhigungsmitteln aufgezwungen wird, indem sie zum Beispiel heimlich unters Essen gemischt wird. In vielen Kliniken macht es den Eindruck, die Medikation stehe über der eigentlichen Therapie. Aus Berichten geht hervor, dass viele Patient_Innen keine stationäre Behandlung und lieber ambulante Hilfe bräuchten, ein stationärer Platz jedoch profitabler ist.
Schon 1971 wurden die Zustände in den Psychiatrien untersucht und als „katastrophal“ erklärt. Ziele einer sogenannten „Psychiatrie-Reform“ wurden beschlossen – und bis heute nicht vollständig erreicht. Die neuen Berichte schätzen ein, die Situationen in den Psychiatrien wären zum Teil wie noch vor 20 bis 30 Jahren.

Heilung ist ein Privileg

Etwa 1.000.000.000 Menschen auf der Welt sind aktuell von psychischen Erkrankungen betroffen – dabei dürfte die Dunkelziffer noch viel höher sein, da viele aufgrund der schweren Zugänglichkeit zu professioneller Hilfe und der gesellschaftlichen Stigmatisierung nicht diagnostiziert werden. Während arme Menschen am stärksten betroffen sind, sind sie gleichzeitig auch die Menschen, die am seltensten in Behandlung sind. In Deutschland sind die häufigsten Krankheitsbilder Angststörungen, Depressionen und Sucht – mehr als jeder vierte Erwachsene ist jährlich davon betroffen. Menschen in Therapie müssen oft ihre Arbeitszeiten für ihre Sitzungen opfern, sofern sie die Möglichkeit dafür haben, oder müssen eher sogar zwischen ihrem Job und Therapie wählen. Somit sind Betroffene häufiger von Arbeitslosigkeit und Armut bedroht. Armut ist also nicht nur Auslöser, sondern kann auch Folge einer psychischen Störung sein. Sich von einer psychischen Erkrankung erholen zu können ist also ein Privileg. Und das sollte es nicht sein.

Die Befreiung der Menschen als wirksamste Therapie

Wer sich jetzt diese Zahlen angesehen hat und immer noch glaubt, der Kapitalismus würde die Menschen nicht krank machen, kann nur Klassenfeind der unterdrückten Masse sein oder Martin Dornes heißen. Denn aus den Zahlen lässt sich eindeutig schlussfolgern: Menschen, die eine besondere Unterdrückung im Kapitalismus erfahren, sind auch gefährdeter eine psychologische Erkrankung zu erleiden oder an einem Suizid zu versterben. Übermäßige Arbeitsbelastung, fehlende Sozialleistungen, traditionelle Geschlechterrrollen und Familienverhältnisse, Krieg & ein kaputtgespartes Gesundheitssystem nützen einzig und alleine den Kapitalist_Innen und ihrem Streben nach maximalem Profit, während sie den Großteil der Menschen krank machen. Würde die Menschheit in Folge einer sozialistischen Revolution befreit werden und eine Gesellschaft aufgebaut werden, in der jeder Mensch an seinen Bedürfnissen orientiert leben kann, frei von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung, würde auch die psychoanalytische Forschung einen rasanten Sprung nach vorne machen. Weil sie nur noch dem wissenschaftlichen Interesse verschrieben wäre und nicht mehr von einem Kapitalinteresse bestimmt oder der Finanzierung der Herrschenden abhängig wäre und nicht in Konkurrenz zu anderen Forschungsinstituten stände. Menschen, die in Staaten leben, die ein stabileres Gesundheitssystem, kürzere Arbeitszeiten, bessere Bezahlung und weniger Leistungsdruck in der Gesellschaft ausgesetzt sind, sind statistisch gesehen glücklicher, als Menschen aus konservativeren oder kolonialisierten Staaten. Wie glücklich könnten wir also in einer Welt sein, die auf unsere freien Entfaltungen ausgelegt ist und sich nach unserer aller Bedürfnisse richtet, weil wir nun alle Teil der demokratischen Organisierung unserer Gemeinschaft wären?
Mit der Zahl der Arbeitslosen in der BRD und dem technologischen Fortschritt, wäre es möglich, dass wir mit 4 Arbeitstagen pro Woche und 5-6 Stunden am Tag, bei vollem Lohnausgleich weiter machen könnten. Studien belegen, dass 8-20 Stunden Arbeit pro Woche förderlich für die Gesundheit sind, während über 39 Stunden sich als schädlich für die Gesundheit herausgestellt haben, körperlich wie auch psychisch! Diese Änderungen sind sofort umsetzbar, Zahlen müssen dafür die Menschen, die mit unserer Gesundheit und unserer Arbeit ihren Reichtum ergaunert haben. Dieses System macht krank und nur wir können es durch gemeinsamen Kampf der Arbeiter_Innen, Jugendlichen, Arbeitslosen und Betroffenen ändern!

Daher fordern wir:

  • Sofortige Einführung der 6 Stunden-Tage und 4 Tage-Arbeitswoche, höhere Löhne und mehr Personal!
  • Hartz IV endlich abschaffen! Inflationsgedeckte staatliche Auszahlungen an von Arbeitslosigkeit betroffene Menschen und selbstversorgenden Jugendlichen in Heimeinrichtungen.
  • Mehr Personal und Geld in die Kinderbetreuung und Bildungseinrichtungen! Lasst die Kinder und Jugendlichen gemeinsam mit den Erwachsenen über ihren Betreuungs- und Schulalltag bestimmen!
  • Kollektive Selbstverteidigungsstrukturen für alle unterdrückten Gruppen!
  • Sofortiger staatlich finanzierter Inflationsausgleich!
  • Enteignung der Immobilienkonzerne – die Häuser denen die sie brauchen! Kein Mensch darf mehr von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen oder gar nur bedroht sein!
  • Transsexuellengesetz abschaffen! Für eine sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung!
  • Emotionaler Missbrauch ist Missbrauch und muss als solcher anerkannt und verfolgt werden! Ausbau von Schutzeinrichtungen für Gewaltopfer jeder Art und Geschlecht!
  • Bleiberecht für alle! Für sichere Fluchtwege und offene Grenzen!
  • Keine Profite auf Kosten unserer Gesundheit! Entprivatisierung des Gesundheitssystem und Enteignung der pharmazeutischen Industrien unter Kontrolle der Arbeiter_Innen!

Quellen:

Armut und Depression: https://amp.focus.de/gesundheit/ratgeber/depression/soziale-ungleichheit-ganz-unten-was-ihr-ueber-den-teufelskreis-aus-armut-und-depression-wissen-muesst_id_10183665.html

Abbruchquote Therapie: https://m.faz.net/aktuell/wissen/medizin-ernaehrung/warum-patienten-psychotherapien-abbrechen-13524579.amp.html

Wirksamkeit und Methodik Psychotherapie: https://www.spektrum.de/news/psychotherapie-was-tatsaechlich-wirkt/1991017

Depression und Corona: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/who-corona-anstieg-psychische-krankheiten-101.html

Mobbing: https://www.experto.de/businesstipps/Suizid-als-letzter-ausweg-aus-der-mobbing-falle.html

Emotionaler Missbrauch: https://blog.cognifit.com/de/emotionaler-missbrauch/amp/

8 Stunden Tag: https://hire.workwise.io/hr-praxis/organisationsentwicklung/sechsstundentag

Wohnungsfrage: https://www.deutschlandfunknova.de/amp/beitrag/psyche-wohnungssuche-kann-krank-machen

https://www.deutschlandfunknova.de/amp/beitrag/psyche-wohnungssuche-kann-krank-machen

https://www.wz.de/nrw/mehr-wohnraum-gefordert_aid-57926687

https://www.empirica-institut.de/nc/nachrichten/details/nachricht/cbre-empirica-leerstandsindex-2021/

Burnout: https://anti-stress-team.de/blog/stress/burnout-statistiken/

Flucht: https://www.dw.com/de/unhcr-mehr-menschen-denn-je-auf-der-flucht/a-61894830

Psychiatrien/Psychotherapie: https://www.empirica-institut.de/nc/nachrichten/details/nachricht/cbre-empirica-leerstandsindex-2021/

https://www.stern.de/amp/wirtschaft/news/team-wallraff-deckt-untragbare-zustaende-in-psychiatrien-auf-8628102.html

https://www.psychologie-aktuell.com/news/aktuelle-news-psychologie/news-lesen/der-psychiatrie-skandal-hunderttausende-patienten-landen-aus-finanziellen-gruenden-im-krankenhaus.html

https://www.spiegel.de/politik/das-dasein-wird-seziert-a-0e34f794-0002-0001-0000-000013691520

https://www.spiegel.de/politik/das-dasein-wird-seziert-a-0e34f794-0002-0001-0000-000013691520

https://www.aerzteblatt.de/archiv/25936/Psychiatrie-Reform-Auf-halbem-Weg-stecken-geblieben




Widerstand: Aber wie?

Leonie Schmidt / Katharina Wagner, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

In den letzten Jahren haben die weltweiten Krisen immer mehr zugenommen. Seien es zum einen die Auswirkungen der Coronapandemie, Umweltzerstörung und zunehmender Klimawandel oder zum anderen der derzeit stattfindende Ukrainekrieg mit einhergehender Inflation und Energiekrise. Ursache von alle dem: der Kapitalismus. Die Kosten und Konsequenzen werden natürlich auf dem Rücken der Arbeiter:innenklasse ausgetragen. Zusätzlich kommen rechtskonservative Kräfte  in vielen Ländern an die Regierung oder rechte Bewegungen erlangen mehr Relevanz. Oftmals wollen diese Kräfte traditionelle, reaktionäre Rollenbilder vertreten und das Kapital stärken.

Die Wirtschaftskrise 2007/08 hatte bereits für einen starken Rollback gegen Frauen gesorgt und die Coronapandemie diesen zusätzlich verstärkt: erstens aufgrund einer neuen Wirtschaftskrise, welche durch die zugespitzte Lage katalysiert wurde; zweitens durch die Lockdowns, welche häusliche Gewalt verstärkten, sowie die Überlastung der Pflege, in welcher ebenfalls mehrheitlich Frauen beschäftigt sind. Hinzu kommen nun noch der seit Februar 2022 geführte Ukrainekrieg und die damit einhergehende Energiekrise, was zusammen genommen zu weltweiter Inflation und enormen Preissteigerungen geführt hat.

Auch diesmal leisten Frauen weltweit massiven Widerstand dagegen. So zum Beispiel im Iran, wo sie seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa (kurdischer Name Jina) Amini nach ihrer Verhaftung durch die „Sittenpolizei“ im September 2022 weiterhin ihren Protest unter dem Motto „Jin, Jiyan, Azadi“ (kurdisch für „Frauen, Leben, Freiheit“) gegen das religiöse, unterdrückerische Regime und die herrschende Diktatur auf die Straße tragen. Und das trotz enormer Repression, zahlreicher Verhaftungen, Folter und bereits vollstreckter Todesurteile. Mittlerweile konnten sie eine breite gesellschaftliche Unterstützung quer durch alle Altersgruppen und Geschlechter für ihren Kampf erreichen und damit enormen Druck auf das Regime ausüben.

Anlässlich des internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen am 25. November gingen ebenfalls weltweit Frauen auf die Straße, um gegen ihre Unterdrückung zu kämpfen. Eine weiterer großer Aktionstag unter dem Slogan „One Billion Rising“ fand am Valentinstag statt, an dem sich weltweit rund 1 Milliarde Frauen an dem Flashmob beteiligten, um gegen Gewalt an Frauen und für Gleichberechtigung einzutreten.

Darüber hinaus gab es in den letzten Jahren immer wieder große Proteste: Ob nun im Rahmen der letzten Sommer stattfindenden Verschärfungen des Abtreibungsrechts in den USA oder anlässlich des Austritts der Türkei aus der Istanbuler Konvention zum Schutz von Frauen im Juli 2021  – überall auf der Welt demonstrierten Millionen Frauen für ihre Rechte.

Des Weiteren spielen Frauen auch im Kampf gegen den derzeitigen Ukrainekrieg eine zentrale Rolle. So organisieren sie in Russland beispielsweise innerhalb der Bewegung „feministischer Widerstand gegen den Krieg“ (Feminist Anti-War Resistance; FAR) vielfältige Proteste gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine.

Was all diese feministischen Proteste eint, ist, dass sie meist (spontan) um aktuelle  Vorfälle entstehen und spezifische Forderungen aufstellen. Sie werden allerdings meist nicht mit anderen bestehenden Bewegungen wie z. B. der Klimabewegung oder Kämpfen gegen Preissteigerungen und Inflation koordiniert. Daher bleiben sie häufig national isoliert und stark hinter ihren Mobilisierungsmöglichkeiten zurück.

Was brauchen wir?

Für eine internationale, erfolgreiche Frauenbewegung müssen wir anerkennen, dass der Kampf um Frauenbefreiung (und die Befreiung anderer geschlechtlich Unterdrückter) eng mit dem gegen den Kapitalismus verknüpft sein muss, denn die Frauenunterdrückung wurzelt in der Klassengesellschaft und ihre materiellen Ursachen müssen abgeschafft werden, um diese selber vollständig verschwinden zu lassen.

Einen Fokus stellt dabei die Reproduktionsarbeit in der Arbeiter:innenfamilie dar, in welcher die Ware Arbeitskraft (re)produziert wird, also durch Hausarbeit, Erziehung, Carearbeit etc. Diese ist  wichtig für den Fortbestand des Kapitalismus und wird vornehmlich von Frauen ausgeführt. Es ist dabei wesentlich, deren Vergesellschaftung und gleiche Verteilung auf alle selbst als Teil des Klassenkampfes zu begreifen, als Kampf der gesamten Arbeiter:innenklasse.

Entgegen den bürgerlichen Vorstellungen einer alle Klassen umfassenden Frauenbewegung muss berücksichtigt werden, dass es auch unter Frauen gegensätzliche Klasseninteressen gibt und diese in einer solchen Bewegung nicht einfach „ausgeglichen“ werden können. So verfolgen Frauen des (höheren) Kleinbürgertums und der Bourgeoisie andere Interessen, wie bspw. Frauenquoten und Plätze in der Chefetage, während das für proletarische Frauen nicht relevant ist. Während letztere um existenzsichernde und gleiche Löhne kämpfen müssen, wollen bürgerliche „Schwestern“ und jene aus den gehobenen Mittelklassen diese möglichst gering halten, um die Profite und Einkommen ihrer eigenen Klasse zu sichern.

Ähnlich wie kleinbürgerliche Ideologien erkennen sie den engen Zusammenhang von Kapitalismus und Privateigentum mit der Frauenunterdrückung nicht, von der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ganz zu schweigen. Sie erblicken vielmehr in deren ideologischen Ausdrucksformen (Stereotypen, Geschlechterrollen, sexuellen Vorurteilen, Heterosexismus … ) die Ursache der Unterdrückung. Ihre Strategie erschöpft sich in verschiedenen Formen des liberalen, radikalen oder reformistischen Feminismus, was ihre relativ privilegierte Stellung als Kleineigentümer:innen oder Akademiker:innen (Bildungsbürger:innen) gegenüber der Masse der werktätigen Frauen widerspiegelt. Dementsprechend ist eine klare antikapitalistische Ausrichtung relevant sowie die Verknüpfung von Kämpfen der Frauenbewegung und der Arbeiter:innenklasse.

Angesichts des globalen Rechtsrucks ist es dabei unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbeziehung in den Produktionsprozess!

Auch wenn gefeiert worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zu dem des Mannes.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und der politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist diese Forderung für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine essentielle Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Dies kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung!

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da das Patriarchat und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße Cisfrau“ geht. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrückten in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden. So bspw. mit der Organisierung von Streiks im öffentlichen Dienst, der Umweltbewegung oder der Bewegung gegen Rassismus. Beispielsweise könnte auch der gemeinsame Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen oder den Ukrainekrieg relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen führen.

Entscheidend ist jedoch, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und Führung kämpfen.

Eng damit verbunden damit ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Eine Bewegung braucht nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in aktuellen feministischen Bewegungen und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen.  Wir müssen uns auch in aktuelle Tarifauseinandersetzungen beispielsweise im öffentlichen Dienst einschalten. Auch die Unterstützung von Klimaaktivist:innen oder Aktionen zum Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen sind eine wichtige Aufgabe von Revolutionärinnen. Zudem müssen wir unter jenen Kräften, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen ansprechen, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




Skizze der Weltlage

Emilia Sommer, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Nach der Pandemie Luft holen? Kaum möglich. Das letzte Jahr bot ein breites Repertoire an kapitalistischen Krisensymptomen. Angefangen mit dem noch immer anhaltenden Krieg in der Ukraine über große Aufstände wie im Iran oder in Sri Lanka, die mit massiver und gewaltsamer Repression bekämpft wurden und immer noch werden, bis hin zur Inflation und damit einhergehenden massiven Preissteigerungen. Als ob das nicht genug wäre, so merken wir schon jetzt sehr deutlich die Auswirkungen des Klimawandels wie beispielsweise bei der Flut in Pakistan, die im Spätsommer 2022 ein Drittel der Landesfläche überflutete. Es scheint, als würde eine Krise die nächste jagen, und dazwischen gibt es keine Zeit zum Aufatmen. Doch warum ist das so? Woher kommt das und wie wirkt es sich auf die ohnehin prekäre Lage von Frauen aus?

Es herrscht Krise – aber warum?

Ökonomische betrachtet, besteht der zentrale Grund für die gegenwärtige Krisenperiode darin, dass die Ursachen der Finanzkrise 2007/08 nie gelöst wurden. Die Regierungen haben nur deren Auswirkungen im Zaum gehalten. Im Kapitalismus erfordern Krisen eigentlich die Vernichtung von überschüssigem Kapital, um einen neuen Wachstums- und Expansionszyklus einzuleiten. Doch das hätte auch die Vernichtung von industriellem und Finanzkapital aus den imperialistischen Metropolen in großem Stil erfordert.

Stattdessen wurden sie mit der Politik des „billigen Geldes“ und massiven Schulden gerettet. Die Krisenkosten wurden durch soziale Kürzungen, steigende Preise und die Ausdehnung prekärer Arbeit (wie zum Beispiel Leiharbeit, Zeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse) auf den Rücken der Arbeiter:innenklasse abgewälzt – und natürlich auch auf die bäuerlichen Massen im globalen Süden.

Die Niedrigzinspolitik, die zunehmende Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, eine massive globale Verschuldung und viele weitere „Maßnahmen gegen die Krise“ schafften es nicht, eine neue ökonomische Dynamik zu entfachen, und die Wirtschaft stagnierte. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass nun der Spielraum, die aktuelle Situation abzufedern, wesentlich geringer ist.

Durch die Coronapandemie wurde die sich vorher schon anbahnende erneute Wirtschaftskrise ausgelöst und massiv verschärft. Denn durch das Virus haben sich die Finanz- und die Gesundheitskrise synchronisiert. Im Zuge dessen stieg die Verschuldung auf das Dreifache des Welt-BIP (Bruttoinlandsprodukt aller Länder). Die Verwertung des Kapitals stagniert und es kommt zu einer zunehmenden Blasenbildung (Ausdehnung des spekulativen und fiktiven Kapitals).

Das Ergebnis: massiv steigende Konkurrenz zwischen imperialistischen Kräften im Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Denn niemand verfolgt das Interesse, als „Krisenopfer“ von anderen übertrumpft zu werden. In diesem Zusammenhang muss auch die reaktionäre russische Invasion in der Ukraine betrachtet werden. Die Karten der internationalen Beziehungen werden neu gemischt und zugleich haben sie erhebliche Auswirkungen auf die globale Wirtschaftsordnung.

Dabei konnte die NATO unter Führung der USA ihre eigenen Interessen stärken und beispielsweise den Block der EU dazu bringen, die Wirtschaftsbeziehungen gegenüber dem russischen Imperialismus auf Eis zu legen. Durch den Krieg sowie die Sanktionen der G7 sind die Folgen der Unterbrechung der Getreide-, Gas- und Ölversorgung weit über Europa spürbar. Insbesondere die Inflation befeuert die aktuelle Lage.

Derzeit befinden wir uns bereits in einer globalen Hochinflationsphase, die laut einer Studie von Economic Experts Survey (EES), internationalen Wirtschaftsexpert:innen, bis 2026 anhalten könnte. Allerdings gibt es hier sehr große Unterschiede. Die höchsten Inflationsraten weltweit mit deutlich über 20 % werden in diesem Jahr in Nord- und Ostafrika, Teilen Asiens und Südamerika erwartet. Europa und Nordamerika haben durchschnittlich mit rund 10 % Inflationsrate zu kämpfen. In 50 asiatischen und afrikanischen Ländern ist die Ernährungssicherheit gefährdet. Infolge der erneut gestiegenen Lebensmittelpreise sind Hungersnöte und Hungerkrisen neben Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse weltweit zu erwarten, was wiederum Regierungskrisen wie in Sri Lanka befeuert.

Konkrete Verschlechterung

Wie bereits geschrieben, hat die Coronapandemie  eine weltweite Krise ausgelöst, die die Situation der Frauen massiv verschlechterte. Dabei haben sie beispielsweise in  informellen Beschäftigungsverhältnissen schon während des ersten Monats der Pandemie 70 % ihres Einkommens verloren. Weltweit ging die Beschäftigung von Frauen zwischen 2019 und 2020 um 4,2 % zurück, während sie bei Männern um „nur“ 3 % sank, so ein Kurzbericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aus dem Jahr 2021. Darüber hinaus haben die Doppelbelastung durch Carearbeit und die Gewalt gegen Frauen massiv zugenommen.

Das Problem an der aktuellen Lage besteht darin, dass vielerorts der Stand vor der Pandemie nicht wieder erreicht worden ist. Der Krieg in der Ukraine, der die Preissteigerungen befeuert, verschärft also die Situation erneut. Der Zustand einzelner Bereiche wie die Belastung in der häuslichen Carearbeit hat sich zwar gebessert, dennoch gibt es viele, in denen es zu einer Überlappung der Krisenfolgen kommt oder die Auswirkungen sich erst später bemerkbar machen wie beispielsweise bei der Frage der Altersarmut.

Beschäftigung und Armut

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) gibt in ihren Trends für 2023 an, dass Frauen und junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt deutlich schlechter dastehen als der Durchschnitt der Lohnabhängigen. Weltweit lag die Erwerbsquote der Frauen im Jahr 2022 bei 47,4 Prozent, während sie bei den Männern 72,3 Prozent betrug. Dieser Unterschied von 24,9 Prozentpunkten bedeutet, dass auf einen nicht erwerbstätigen Mann zwei nicht erwerbstätige Frauen kommen. Konkret bedeutet das, dass mehr Frauen aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen wurden und nun einen schwereren Einstieg haben.

Längerfristig verstärkt dies die kaum verwunderliche Tendenz, dass weltweit Frauen  häufiger von Armut betroffen sind als Männer. Hinzu kommt eine generelle verstärkte Altersarmut bei Frauen, die dadurch begünstigt wird, dass sie weniger im gleichen Beruf verdienen, durch Schwangerschaften teilweise aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und danach meist für weniger Geld wieder integriert werden und generell häufiger in Teilzeitbeschäftigung gedrängt werden und somit weniger verdienen, um die Reproduktionsarbeit im Haushalt verrichten zu können.

Inflation und Energiepreise

Die aktuelle Lage mit der Teuerung von Lebensmitteln sowie Energiepreisen bedeutet, dass Frauen zum einen verstärkter in Armut leben. Im April 2022 publizierten die Vereinten Nationen den Bericht „Global Gendered Impacts of the Ukraine Crisis on Energy Access and Food Security and Nutrition“. Hieraus geht eindeutig hervor, dass der Ukrainekrieg global die Versorgung mit Lebensmitteln und Energie massiv verschlechtert hat. Dies liegt an der Schlüsselrolle Russlands und der Ukraine auf den globalen Märkten für Energie und Grundnahrungsmittel.

So sind die Lebensmittelpreise seit Januar 2022 um über 50 Prozent gestiegen, während Rohöl um über 33 Prozent teurer geworden ist. Über 90 Prozent des Weizens in Armenien, Aserbaidschan, Eritrea, Georgien, der Mongolei und Somalia wurden aus Russland und der Ukraine importiert. Dadurch sind diese Länder in hohem Maße von Ernährungsunsicherheit bedroht. Außerdem bildet die Ukraine eine wichtige Weizenquelle für das Welternährungsprogramm (WFP), das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern unterstützt. Dabei ist zu betonen, dass dieser Engpass langfristig auftreten wird. Schätzungen gehen davon aus, dass 30 Prozent der ukrainischen landwirtschaftlichen Flächen aufgrund des Krieges nicht mehr nutzbar sind. Hinzu kommen schlechtere Ernten durch fehlende Kapazitäten, Felder instand zu halten, was die Situation perspektivisch verschärfen könnte.

Carearbeit – bezahlt und unbezahlt

Bekanntlich stellt der Sozial- und Pflegesektor ein wichtiges Beschäftigungsfeld für Frauen dar. Das wird auch deutlich, wenn man sich die Studie der ILO „The gender pay gap in the health and care sector: A global analysis in the time of COVID-19” aus dem Jahr 2022 genauer ansieht. Ihr zufolge liegt der Anteil der Arbeitskräfte im Gesundheits- und Pflegesektor an der weltweiten Gesamtbeschäftigung bei 3,4 % und ca. 67 % aller Beschäftigten in diesem Bereich sind weiblich. Herauszustreichen ist dabei, dass der Durchschnittsverdienst in diesem Sektor niedriger ausfällt als in anderen Segmenten des Arbeitsmarktes. Hinzu kommt, dass das geschlechtsspezifische Lohngefälle mit 24 % im Durchschnitt höher ist als in anderen Sektoren, was darin begründet liegt, dass auch hier Frauen wesentlich stärker in den schlecht bezahlten Bereichen arbeiten sowie miesere Bedingungen für den Wiedereinstieg nach einer Schwangerschaft vorfinden. Betont sei, dass die Pandemie die Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert hat. Insbesondere die Situation in Krankenhäusern spitzt sich weiter zu.

Ebenso angespannt war sie bezüglich der unbezahlten Reproduktionsarbeit. Besonders betroffen waren hierbei Eltern sowie jene, die Angehörige zu Hause pflegen, durch den Wegfall von Schulen, Kitas und weiteren Unterstützungsangeboten. Dabei gaben  Mütter fast dreimal so häufig wie Väter an, dass sie den Großteil oder die gesamte zusätzliche unbezahlte Betreuungsarbeit aufgrund Schließung von Schulen oder Kinderbetreuungseinrichtungen übernommen haben: 61,5 % der Mütter von Kindern unter 12 Jahren geben an, dass sie den größten Teil oder die gesamte zusätzliche Betreuungsarbeit übernommen haben, während nur 22,4 % der Väter tun. So ist es kaum verwunderlich, dass besonders diese Mütter die Gruppe verkörpern, die zwischen dem vierten Quartal 2019 und dem dritten Quartal 2020 im Durchschnitt der OECD-Länder am ehesten von der Erwerbstätigkeit in die Nichterwerbstätigkeit wechselten. Zwar hat sich die Situation unmittelbar durch die Öffnung der Betreuungsangebote wieder erholt. Doch die Pandemie hat die bereits existierende Kluft in der unbezahlten Reproduktionsarbeit verstärkt und durch die schlechtere Position von Frauen auf dem Arbeitsmarkt nachhaltig verschlechtert.

Warum eigentlich?

Wie wir an diesen Beispielen sehen, trifft es Frauen in Krisensituation wesentlich stärker. Denn gerade in solchen Perioden wird die Reproduktionsarbeit im Kapitalismus systematisch ins Private gedrängt. Kosten für v. a. öffentliche Kindererziehung, Kranken- und Altenpflege erscheinen als unnütze, unproduktive Arbeit, da sie oft keinen Mehrwert für ein Kapital schaffen. Diese Arbeiten sind zwar gesellschaftlich notwendig und letztlich auch für die Reproduktion des Gesamtkapitals erforderlich, aber sie werfen meistens keinen Profit für Einzelkapitale ab. Daher drängen diese darauf, dass die staatlichen Kosten dafür als erste gekürzt oder Leistungen ausgelagert und privatisiert werden. Diese werden also „eingespart“ oder teurer und somit für die ärmeren Schichten unerschwinglich.

Statistisch trifft dies daher Frauen besonders, da sie häufiger prekäre Arbeitsplätze wie Leiharbeits- und Teilzeitstellen besetzen oder im informellen Sektor arbeiten und so Schwankungen des Arbeitsmarkts stärker ausgesetzt sind. Dies findet häufig unter dem Deckmantel von mehr Zeit für die Familie statt. In Wirklichkeit nehmen Frauen aber häufiger diese Angebote an, da sie weniger Geld als ihr Partner verdienen. und wenn es dann darum geht, wer zu Hause bleibt und Reproduktionsarbeit verrichten soll, ist das praktische Ergebnis, dass es den Part trifft, der weniger verdient. So wird die geschlechtliche Arbeitsteilung weiter reproduziert, bedeutet aber auch, dass Frauen stärker von Krisen getroffen werden.

Die Ursache des Problems liegt also in der unbezahlten Reproduktionsarbeit, die versucht wird, ins Private hineinzudrängen, sowie in der geschlechtlichen Arbeitsteilung an sich. Das Sinnbild der bürgerlichen Kleinfamilie mit ihren Stereotypen verkörpern der Mann, als Hauptverdiener und Versorger; die Frau, die sich um die Kinder kümmert.

Perspektiven

Die aktuelle Weltlage spitzt sich immer weiter zu, die Krise breitet sich aus, die Fronten der imperialistischen Mächteblöcke verhärten sich und das offene Aufrüsten derer lässt vermuten, dass sich auch in Zukunft kriegerische Auseinandersetzungen häufen könnten. Die Ausbeutung und Unterdrückung halbkolonialer Länder nimmt stetig zu und die Klimakrise scheint mit aktuellen Taktiken der Regierungen unabwendbar. Damit einhergehend verstärken sich die Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse und damit auch allen voran auf Frauen. Die Auswirkungen der Krise, die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückung der Frau, stehen also in einem engen Verhältnis zueinander und bedingen sich teils gegenseitig. Um gegen kommende Krisen kämpfen zu können, braucht es ein Antikrisenprogramm, mit welchem in aktuelle ökonomische und soziale Kämpfe interveniert werden muss. Doch der Kampf gegen Frauenunterdrückung, Krisen und für die Umwelt kann nur Hand in Hand mit dem gegen den Kapitalismus erfolgen.




Sexarbeit und Prostitution im Kapitalismus

Leonie Schmidt, Zuerst erschienen in Neue Internationale 257, Juli/August 2021

Aktuell ist es wieder eine heiße Debatte in linken und auch explizit in marxistischen Kreisen: Sollte man als Linke/r, insbesondere als KommunistIn, für ein Verbot von Prostitution kämpfen? Schnell wird mit Vorwürfen des Liberalfeminismus oder der SexarbeiterInnenfeindlichkeit argumentiert. Aber wie sieht eine marxistische Betrachtung der Thematik aus?

In diesem Artikel werden Wörter in der folgenden Bedeutung verwendet: 1. Sexarbeit: Damit sind alle konsensuellen sexuellen Dienstleistungen gemeint. Das bedeutet natürlich zum einen Sex, aber auch bspw. Erstellung von pornographischen Inhalten oder Cam- und Chat-Tätigkeiten; 2. Prostitution: Hierbei handelt es sich um den konsensuellen Kauf von Sex; und 3. Zwangsprostitution: Es geht dabei um den zwanghaften Verkauf von Sex, der in den meisten Fällen nicht konsensuell ist, also eine Vergewaltigung darstellt. Diese Definitionen zeichnen natürlich nur einen groben Unterschied und es ist nicht in jedem Fall einfach, eine klare Trennung zu ziehen.

Situation in Deutschland

Fakt ist, es gibt keine genauen Zahlen darüber, wie viele Personen, insbesondere Frauen, sich in Deutschland prostituieren und Sexarbeit ausüben und wie viele es davon nicht freiwillig machen. Es gibt zwar Studien, in welchen aufgeführt wird, dass 90 % oder mehr der Prostituierten in Deutschland aussteigen wollen und ihre Arbeit nicht als freiwillig ansehen. Jedoch wurden diese vornehmlich bei Frauen unternommen, welche bereits in Aussteigerprogrammen standen.

Die Zahlen sind jedoch definitiv schwer zu erfassen, da es auch in Deutschland genügend Frauen in der illegalen Zwangsprostitution gibt. Außerdem ist es laut Prostituiertenschutzgesetz für SexarbeiterInnen nötig, sich beim Amt zu melden. Jedoch dürfte klar sein, dass die Dunkelziffer aufgrund von Zwangsprostitution enorm ist. Ende 2019 waren 40.400 Personen gemeldet. Manche Schätzungen gehen von 400.000 SexarbeiterInnen inkl. Zwangsprostituierten in Deutschland aus.

Viele der Letzteren kommen aus Osteuropa  in der Hoffnung, der Armut zu entfliehen und in Deutschland ein besseres Leben zu führen. Oftmals sind sie direkt oder indirekt von Menschenhandel betroffen und können sich nur sehr schwer dagegen wehren aufgrund von Armut, keiner anderen Möglichkeit, an Geld zu kommen, sprachlicher Barrieren, oder weil ihnen von den Zuhältern und Menschenhändlern die Pässe abgenommen werden. Zusätzlich sind sie auch noch von Rassismus betroffen und aufgrund der Illegalität ihres Aufenthaltes von Abschiebungen und staatlicher Verfolgung bedroht.

Auch gibt es viele Armutsprostituierte, welche keine andere Möglichkeit in diesem System sehen zu überleben. Diese sind meistens auch obdachlos und drogenabhängig. Allerdings gibt es auch Prostituierte und SexarbeiterInnen, welche ihren Job gerne und freiwillig ausüben. Das soll aber keineswegs verschleiern, dass diese Tätigkeit mit enorm viel Gewalt bis hin zu sklavenartigen Verhältnissen und Unterdrückung verbunden ist und viele Traumata und posttraumatische Belastungsstörungen auslöst, allerdings nicht immer und bei jeder Person.

Rechtliche Lage

Die rechtliche Lage in Deutschland erlaubt Prostitution grundsätzlich. Allerdings müssen sich die Prostituierten, wie bereits oben erwähnt, beim Amt melden. Diese Regelung gilt seit 2017 und wurde von Betroffenen bereits damals kritisiert, da es sich um ein Zwangsouting für ein zentrales Register handelt, was insbesondere bei einem weiterhin stigmatisierten Beruf wie Prostitution problematisch ist. Außerdem war es ein erklärtes Ziel des Prostituiertenschutzgesetzes, Frauen vor Zwangsprostitution zu schützen. Doch bleibt es eine utopische Annahme, dass sich Menschenhändler und Zuhälter von so einem Gesetz etwas vorschreiben lassen, da sie es bereits gewohnt sind, die Frauen zu bedrohen und einzuschüchtern und Letztere somit gar nicht ohne Druck bspw. Anzeige erstatten könnten. Des Weiteren müssen sich insbesondere Prostituierte aus Osteuropa Sorgen machen, dass sie nach einem Verfahren abgeschoben werden könnten. Strukturelle Unterdrückung kann eben nicht einfach durch Gesetz abgeschafft werden.

Sexarbeit ist Arbeit – oder?

Ist sie Lohnarbeit oder eine andere Form der Ausbeutung? Das hängt natürlich vom Arbeitsverhältnis ab. Die meisten Personen in der Prostitution arbeiten für einen Zuhälter. Hier können wir grundsätzlich ökonomisch von einem Ausbeutungsverhältnis sprechen, jedoch in der Regel nicht von freier Lohnarbeit, weil sie oft genug auch mit einem direkten, persönlichen Zwangs- und Gewaltverhältnis verbunden ist. Der Zuhälter eignet sich allerdings einen Teil des Erlöses für die Dienstleistung der Prostituierten an, die der Kunde zahlt. Es findet eine Form der Ausbeutung statt.

Das Verhältnis, das der Lohnarbeit am nächsten kommt, ist, wenn die Prostituierte z. B. für ein Bordell arbeitet. Selbst wenn sie dort formal als Selbstständige registriert sein mag, so lässt sich dies mit der Scheinselbstständigkeit eigentlicher LohnarbeiterInnen in anderen Berufen vergleichen.

Die EigentümerInnen des Bordells kassieren praktisch einen Mehrwert aus der Beschäftigung der Prostituierten und deren sexuellen Dienstleistungen. Sie besitzen außerdem die Produktionsmittel, bspw. das Bordell als Ort der Tätigkeit, und auch das nötige Zubehör wie bspw. Kondome oder Gleitgel. Natürlich darf bei dieser Betrachtung nicht vernachlässigt werden, warum die meisten Prostituierten überhaupt beginnen, in diesem Gewerbe tätig zu werden: Es ist oftmals ökonomischer Zwang. Dieser herrscht natürlich auch bei anderen Arbeitsverhältnissen, allerdings nicht in solch einer Form in Kombination mit psychischer, körperlicher und sexualisierter Gewalt.

Allerdings ist die Aussage, SexarbeiterInnen, insbesondere Prostituierte, würden ihren Körper verkaufen, falsch, denn er wird nicht zur Ware selbst und existiert hinterher immer noch. Richtig ist hingegen, dass es sich um eine Dienstleistung handelt und der Körper für eine bestimmte Zeit als Arbeitsmittel fungiert (als Mittel zur Befriedigung eines bestimmten sexuellen Bedürfnisses). Oftmals ist ein Argument dafür, dass der Körper doch verkauft werden würde, dass er für eine bestimmte Zeit für jegliche sexuelle Befriedigung gemietet wird. Jedoch trifft das nicht für alle Fälle und unvermeidlich zu. Es gibt Tarife für bestimmte Tätigkeiten oder Zeiten und auch Grenzen für das, was angeboten wird. Nicht zu bestreiten ist, dass es jedoch Freier gibt, die diese übertreten.

Es gibt aber auch SexarbeiterInnen, die quasi selbstständig sind. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht auch ökonomischen Zwängen oder anderen Unterdrückungsformen unterworfen sind. Einerseits gibt es die Prostituierten, welche direkt auf der Straße ohne Bordell und Zuhälter arbeiten. Oft sind gerade diese besonders gefährdet durch sexualisierte Gewalt, da sie ohne Schutz sind (wenngleich die Zuhälterei oftmals auch keinen sonderlich großen bietet und ihrerseits ein Gewaltverhältnis darstellt) und oftmals auch völlig unterbezahlt werden.

Andere selbstständige SexarbeiterInnen sind teilweise in der Lage, sich ihre KundInnen auszusuchen oder produzieren von Zuhause aus pornografische Inhalte. Diese kann man durchaus eher zum KleinbürgerInnentum zählen, denn sie arbeiten nicht für andere. Sie verkaufen nicht ihre Arbeitskraft, sondern ein Produkt. Allerdings ist zu beachten, wie das Material vertrieben wird, denn wenn es Websites wie OnlyFans (OF) hochladen, welche daraus Profit schlagen und einen Teil der Zahlungen einbehalten (bei OF sind es 20 %), so ist doch wieder ein Ausbeutungsverhältnis vorhanden, wobei auch hier die Frage bestehen bleibt, ob es sich um eine Haupttätigkeit handelt oder ob es weiteren Besitz an Produktionsmitteln etc. gibt.

Gerade bei OF sind nämlich auch viele Prominente tätig, die nicht auf die Zahlungen angewiesen sind. Grundsätzlich ist aber OF eine Plattform, wo untersucht werden muss, wie viel ökonomischer Zwang hinter Sexarbeit stecken kann. Da sie leicht zugänglich ist und es offizielle Statistiken gibt, kann erkannt werden, wie groß der Zuwachs an KreatorInnen und NutzerInnen während der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Krise (inkl. Jobverlusten und Arbeitslosigkeit) ausfiel: Alleine im März 2020 stiegen die Nutzerzahlen um 75 % an.

Historische Betrachtung

Schon Friedrich Engels bezog die Prostitution in seine Betrachtungen der Entwicklung der Frauenunterdrückung mit ein. Hier wird klar, dass diese, genau wie die bürgerliche Familie, untrennbar mit dem Kapitalismus verwoben ist und sich über alle Klassengesellschaften hin zur heutigen Form entwickelt hat. Laut Engels sind die bürgerliche Familie und die Prostitution zwei Seiten der gleichen Medaille, da es bei Ersterer v. a. um unbezahlte Reproduktionsarbeit bzw.  Vererbung der Produktionsmittel, bei Zweiterer um sexuelle Befriedigung der Freier geht.

Diese Teilung zwischen klassengesellschaftlichem Nutzen und sexueller Befriedigung existierte schon in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Bspw. im antiken Griechenland wurde es besonders deutlich mit der Dreiteilung zwischen Ehefrau, welche für Gebären  und Familie zuständig war und das Haus quasi nicht verlassen durfte, der Hetäre für die sexuelle Befriedigung und der Geliebten, die die Romantik ins Spiel brachte.

Diese Teilung sehen wir auch im Kapitalismus, jedoch ist es eben nur noch eine zweifache. Die weiterhin auferlegte Monogamie, insbesondere für die Frau, trägt also auch ihren Teil dazu bei, dass gesellschaftliche Nachfrage nach Prostitution besteht.

Natürlich ist es für MarxistInnen notwendig, gesellschaftliche Zusammenhänge zu kritisieren. Das sollte allerdings niemals auf Basis der Moral offiziöser, aber heuchlerischer bürgerlicher Prüderie geschehen, sondern vielmehr auf der einer dialektisch-materialistischen Kritik. Hier wäre anzumerken, dass es natürlich schon fatal ist, dass Sexualität zu einer Ware verkommt, nicht nur in Form von Sexarbeit, sondern auch Schönheitsindustrie und den damit verbundenen Instrumenten, Werbung sowie Dating Apps etc.

Dementsprechend können wir auf die Frage, ob es im Sozialismus Sexarbeit geben wird, antworten: Nicht so, wie sie heutzutage funktioniert. Genauso, wie es auch keine Lohnarbeit und kein Geld in dieser Form mehr geben wird. Allerdings kann es durchaus vorkommen, dass sexuelle Dienstleistungen, natürlich frei von ökonomischen und sonstigen Zwängen, angeboten werden könnten, je nachdem, ob sich dafür Menschen finden, die dies tun wollen. Die Frage der Notwendigkeit kann aus heutiger Sicht natürlich nicht komplett beantwortet werden. Fakt ist aber, dass diese durchaus mit dem endgültigen Absterben der bürgerlichen Familie und der Monogamie verschwinden könnte.

Feministisches „Empowerment“?

Einige Teile des liberalen Feminismus werfen die These in den Raum, dass Sexarbeit grundsätzlich  „empowernd“, selbstermächtigend sei, während Teile des Radikalfeminismus die Ansicht vertreten, dass jede Sexarbeit Zwangsprostitution wäre, das Patriarchat direkt unterstützen würde und somit zu unterbinden ist. Beide Annahmen ignorieren die Realität von Sexarbeitenden, denn natürlich ist Sexarbeit nicht grundsätzlich empowernd, nur weil sich die Person freiwillig dazu entscheidet und der ökonomische Zwang ignoriert wird. Grundsätzlich ist im Kapitalismus überhaupt keine Lohnarbeit und keine Form der Ausbeutung selbstermächtigend.

Allerdings können insbesondere eine Verbesserung des Arbeitsumfeldes und ein offener Umgang mit der Tätigkeit und der Kampf für die eigenen (Arbeits-)Rechte durchaus eine positive und fortschrittliche Wirkung zeitigen sowie grundsätzlich auch eine Möglichkeit bieten, offen mit seiner Sexualität und seinem Körper umzugehen (allerdings besteht diese Möglichkeit nur außerhalb von Armutsprostitution und ist eher selten anzutreffen). Insbesondere zu beachten ist hier auch, dass es viele Sexarbeitende gibt, die sich in keine Opferrolle drängen lassen, sondern selbstbestimmt für ihre Rechte, gegen Gewalt und gegen Stigmatisierung eintreten möchten.

Auf der anderen Seite ist es natürlich auch eine falsche These zu behaupten, alle, die sich bewusst für Sexarbeit entschieden, wären ganz einfach privilegiert und Sklavinnen des Patriarchats. Man kann sich natürlich auch bewusst für diese Form der Lohnarbeit entscheiden und trotzdem einen ökonomischen Zwang verspüren. Dem Kampf gegen das Patriarchat wäre auch nicht geholfen, wenn diese Einzelpersonen sich für einen anderen Job im Niedriglohnsektor entscheiden würden. Allerdings darf Sexarbeit natürlich auch nicht romantisiert und als der „Girlboss-Move“ schlechthin dargestellt werden, denn leider denken viele, insbesondere junge Frauen mit der ansteigenden Popularität von OF, dass dies schnelles und leicht verdientes Geld wäre. Diese Einstellung wird allerdings besonders durch RadikalfeministInnen den offen auftretenden SexarbeiterInnen in die Schuhe geschoben, was keineswegs auf alle zutrifft und nur einen sehr marginalen und vermutlich besser gestellten Teil der SexarbeiterInnengemeinde betrifft.

Verbot von Sexarbeit – die Lösung?

Viele Linke schlagen als Lösung ein Verbot vor, indem Zuhälterei und Freierschaft bestraft werden und nicht die Sexarbeitenden selber. Das mag auf den ersten Blick sinnvoll klingen, allerdings hat das sogenannte „Nordische Modell“ viele Tücken, über die auch SexarbeiterInnen aufklären. Aktuell wird dieses Modell auch schon u. a. in Schweden praktiziert. Daher ist es möglich, die Folgen zu analysieren. Dadurch, dass nicht das Gesellschaftssystem, der Kapitalismus, welches Sexarbeit notwendig macht, abgeschafft werden soll, besteht die Nachfrage der Kundschaft natürlich weiterhin. Durch dieses Verbot wird die Sexarbeit aber in die Illegalität gedrängt, wodurch es vermehrt zu Übergriffen und schlechten Arbeitsbedingungen kommt, und die Möglichkeit, bspw. eine Anzeige aufgrund sexualisierter Gewalt zu erstatten, wird ebenfalls stark eingeschränkt.

Gleichzeitig wird mit einer Illegalisierung auch die Stigmatisierung der Sexarbeitenden befestigt und sie werden ihrer aktuellen ökonomischen Grundlage beraubt, ohne aktive Unterstützung und Berufsalternativen. Des Weiteren fördert es auch Sextourismus. Wenn es nicht möglich ist, in der Heimat an diese Dienstleistungen zu kommen, fliegt man eben für wenig Geld in den Urlaub und lässt sich da bedienen, wo die meisten Personen wirklich Zwangsprostituierte und die Arbeitsbedingungen viel schlimmer sind. Das Nordische Modell ist letztlich ein Weg in die Sackgasse, weil es die Verhältnisse, die es zu bekämpfen vorgibt, nur illegalisiert und verlagert. Es stellt ironischer Weise an ein patriarchales System die Aufgabe, eine Tätigkeit abzuschaffen, von welcher es insbesondere auch profitiert. Außerdem ist es realitätsfern zu glauben, dass der bürgerliche Staat wirklich das Interesse verfolgt, Sexarbeit abzuschaffen, ohne Sexarbeitende zu kriminalisieren, und es überhaupt möglich ist, diese Arbeit, genauso wie ganz grundsätzlich die Lohnarbeit, innerhalb des Kapitalismus abzuschaffen.

Vier Ansatzpunkte

Was aber ist nun die Lösung? Grundsätzlich müssen wir als MarxistInnen an vier Punkten ansetzen. Erstens müssen wir Seite an Seite mit SexarbeiterInnen für die komplette Entkriminalisierung und gegen jegliche Repression von staatlicher Seite kämpfen sowie für bessere Arbeitsbedingungen und Selbstorganisierung  (natürlich auch in Form von Selbstverteidigungsstrukturen) eintreten, denn nur wenn die Sexarbeit ohne Zuhälterei und Kriminalisierung organisiert ist, kann überhaupt erst eine Kontrolle über die Verkaufs- und Arbeitsbedingungen durch die SexarbeiterInnen selbst durchgesetzt werden. Das inkludiert natürlich nicht nur die Selbstorganisierung am Arbeitsplatz, sondern schließt auch eine gewerkschaftliche Organisierung mit ein (wie es sie zeitweise bei ver.di in Hamburg gab), um größeren Druck im Kampf gegen Diskriminierung und für ArbeiterInnenrechte auszuüben, der Vereinzelung der Sexarbeitenden und der Stigmatisierung entgegenzuwirken.

Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch notwendig, den Personen, welche unter dem ökonomischen Zwang und den teilweise sehr schlechten Arbeitsbedingungen leiden, eine Möglichkeit zu bieten, ohne größere Probleme auszusteigen. Dahingehend müssen wir uns für kostenfreie und seriöse Beratungsstellen und bezahlte Umschulungen, Aus- und Weiterbildungen für berufliche Alternativen einsetzen. Nur wenn der ökonomische Zwang und die Illegalisierung entfallen, können Ausstieg und Umschulung eine attraktive reale Option werden. Ansonsten bleiben sie eine schöne, aber letztlich leere Versprechung.

Egal, wofür sich die individuelle Person entscheidet, es gilt das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und die Person sollte in ihrer Entscheidung unterstützt werden, natürlich ohne einerseits die Sexarbeit zu stigmatisieren oder andererseits sie zu romantisieren.

Um Zwangsprostitution insbesondere in Kombination mit Menschenhandel entgegenzuwirken, müssen wir uns neben ihrem Verbot auch für offenen Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle einsetzen, denn nur so kann den Versprechungen eines besseren Lebens in einem fremden Land unter Kontrolle von Mafiastrukturen entgegengewirkt werden.

Langfristig muss das Ziel von MarxistInnen darin bestehen, die materielle gesellschaftliche Basis umzugestalten und somit die ökonomischen Zwänge zu zerstören, die Menschen dazu nötigen, sexuellen Dienstleistungen aufgrund von Gewalt oder Not nachzugehen. Es wäre allerdings verkürzt und nicht hilfreich, ein Verbot zu fordern, da sich Prostitution, wie bereits beschrieben, nicht einfach abschaffen lässt, zumal nicht innerhalb einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft, die diese erst hervorgebracht hat. Dementsprechend ist es natürlich auch nötig, eine Massenbewegung aufzubauen, in welcher SexarbeiterInnen Seite an Seite mit allen Unterdrückten gemeinsam für das Ende von Kapitalismus und Patriarchat kämpfen können, ohne stigmatisiert zu werden.




Wie weiter im Kampf für mehr Personal im Krankenhaus- und Gesundheitsbereich?

von Helga Müller, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Nachdem innerhalb eines Jahres – 2021 in Berlin bei Charité und Vivantes und 2022 bei den 6 Unikliniken in NRW – Tarifverträge für Entlastung durch wochenlange Durchsetzungsstreiks erreicht werden konnten, ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen und sich Gedanken zu machen, wie der Kampf für mehr Personal bundesweit erfolgreich weitergeführt werden kann. Auch wenn beide Kämpfe zu einem erfolgreichen Abschluss kamen mit der Durchsetzung von Tarifverträgen für Entlastung – in NRW ein gemeinsamer Tarifvertrag für alle 6 Unikliniken –, sind weder an diesen Krankenhäusern bereits die Stellen besetzt noch die fehlenden bundesweit im Pflegebereich und den übrigen Abteilungen durchgesetzt.

Die Errungenschaften der beiden Krankenhausbewegungen

1. Erfolgreiche Mobilisierungen der Belegschaften und Einbeziehung dieser in die Entscheidungen über ihre Forderungen:

Die Kolleg:innen der verschiedenen Abteilungen wurden aktiv in die Aufstellung der Forderungen pro Abteilung und Schicht einbezogen, sie haben selbst darüber diskutiert und entschieden, mit Hilfe von Teamdelegierten. Damit verbunden war eine aktive und erfolgreiche Mitgliederwerbung, was zu einen höheren Organisationsgrad führte. Dadurch wurden wochenlange Durchsetzungsstreik möglich.

2. Einbeziehung aller Kolleg:innen aller Abteilungen in den Kampf und die Aufstellung der Forderungen:

Vor allem in NRW wurden auch die Bereiche außerhalb der Pflege – wie Krankentransport, IT, Rettungssanitäter:innen etc. – in die Aufstellung der Forderungen und den Kampf dafür einbezogen.

3. Ansätze einer demokratischen Streikführung:

Vor allem in der Krankenhausbewegung Berlinhaben die Aktivist:innen dafür gesorgt, dass aktive Kolleg:innen aus den Abteilungen in die Tarifkommission entsandt wurden und jeder Schritt mit den Teamdelegierten besprochen wurde. In NRW wurde das Ergebnis auf Streikversammlungen in den 6 Unikliniken zur Diskussion gestellt und abgestimmt. Es wurde, außer in Düsseldorf, mehrheitlich angenommen. Zum anderen hatte sich die Tarifkommission – freiwillig – dazu bereit erklärt, erst zuzustimmen, wenn bei der Urabstimmung über das Ergebnis auch die Mehrheit einwilligt. Die magere Zustimmung von 73,58 % in NRW im Vergleich zu über 96 % in Berlin zeigt, dass die Kolleg:innen sich selbst Gedanken über das Ergebnis gemacht haben und sich nicht allein auf die Zustimmung der Tarifkommission verließen.

Dies alles wurde von den Kolleg:innen selbst durchgesetzt. Weder von den Organizer:innen noch von den ver.di-Verantwortlichen war vorgesehen, die Teamdelegierten oder den Delegiertenrat der 200 der 6 Unikliniken in NRW als Kontroll- und Entscheidungsorgane über den Streikverlauf und die Tarifkommission einzusetzen. Letzten Endes lag die Entscheidung über die Fortführung des Kampfes und über die Annahme des Abschlusses  – zumindest in Berlin – bei der Tarifkommission und den ver.di-Verantwortlichen.

4. Solidaritätsaktionen durch die arbeitende Bevölkerung und öffentliche Kundgebungen der Streikenden:

In beiden Krankenhausbewegungen wurden Treffen mit Initiativen und Kolleg:innen aus Betrieben or-ganisiert. Am weitestgehenden waren die gemeinsamen Solidaritätsaktionen in Berlin: Dort wurden vor allem gemeinsame Aktionen mit der Kampagne „Deutsche Wohnen enteignen“ organisiert, aber auch mit den im Streik befindlichen Kurier:innen von Gorillas. Teilweise kam es auch zu gemeinsamen Soliaktionen mit Kolleg:innen aus einzelnen Betrieben. Aber weder vom DGB noch von anderen DGB-Gewerkschaften gab es den Willen, gemeinsame Soliaktionen zu organisieren. In Berlin und NRW organisierten die Kolleg:innen große und machtvolle Kundgebungen und Demos.

5. Nachhaltigkeit: von den Teamdelegierten zum Aufbau fester Strukturen und Organe:

Zumindest in Berlin gab es die Aussage, von Aktivist:innen aus den Teamdelegiertenstrukturen auch systematische und kontinuierliche Gremien wie ver.di-Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörper aufzubauen. Das wäre ein Fortschritt, da damit nicht immer wieder zu Beginn eines Arbeitskampfes neue Strukturen zur Mobilisierungen geschaffen werden müssten.

Doch was hat gefehlt? Was sind die Konsequenzen für die Fortführung eines erfolgreichen Kampfes für mehr Personal daraus?

Was hat gefehlt?

1. Fehlende Kontrolle über den Kampfverlauf und über die Abstimmung des Ergebnisses:

Es gab zwar Fortschritte bzgl. der Transparenz über die Verhandlungen (s. Punkt 3 oben), aber letzten Endes hatten immer noch die ver.di-Verantwortlichen die Kontrolle über Streikverlauf und das Ergebnis. Deswegen braucht es klare Strukturen/Organe, die den Kolleg:innen gegenüber rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar sein müssen.

Dafür würde sich ein Streikkomitee, wie es an der Uniklinik Essen im Kampf um den TVE aufgebaut wurde, anbieten. Dieses wurde aus von den Kolleg:innen gewählten Delegierten aus den verschiedenen Abteilungen gebildet. Die Delegierten waren direkt den Kolleg:innen gegenüber rechenschaftspflichtig und konnten jederzeit neu gewählt werden. Dieses Komitee hatte sich zur Aufgabe gestellt, den Diskussionsprozess unter den Kolleg:innen über die Zwischenverhandlungsergebnisse und den Fortgang des Kampfes zu organisieren. Dafür wurden Streikversammlungen einberufen, auf denen die Kolleg:innen über den Zwischenstand der Verhandlungen der Tarifkommission (TK) informiert wurden und sie auch darüber entschieden, ob diese zu akzeptieren sind oder der Streik weitergeführt werden muss. In dieser Phase hatten sie tatsächlich die Entscheidung über ihren Kampf um mehr Personal unter ihrer Kontrolle. Und im Voraus wurde mit der TK vereinbart – wohlgemerkt, eine freiwillige Vereinbarung der TK mit dem Streikkomitee (!) –, keine Entscheidung ohne Diskussion unter den Kolleg:innen zu fällen. Auch die gewählten Teamdelegierten würden sich dafür anbieten, ein solches Streikkomitee zu bilden, aber die oben aufgeführten Bedingungen müssten auch hier konsequent angewendet werden. Aber von Seiten des ver.di-Apparates waren die Teamdelegierten nie als Organ oder Struktur vorgesehen gewesen, damit die Kolleg:innen wirklich über ihren Kampf selber entscheiden können, sondern eher als Element, sie überhaupt mobilisieren zu können, durchaus, indem sie über ihre Forderungen selber diskutieren und entscheiden konnten. Auch die Organizer:innen haben dem politisch nichts entgegengesetzt. Diese Teamdelegierten sind sicherlich ein demokratisches Element, was auch gezeigt hat, dass die Kolleg:innen selbst am besten wissen, welcher Personalschlüssel und welche anderen Bedingungen nötig sind, um eine gute Gesundheitsversorgung zu realisieren. Das war durchaus ein demokratisches Element, mit dessen Hilfe sie auch tatsächlich für mehrwöchige Durchsetzungsstreiks mobilisiert werden konnten. Diese Errungenschaften wären auch Vorbild für permanente Vertrauensleutestrukturen, die auch nach dem Streik weiter existieren und sich die Aufgabe stellen, mit den Kolleg:innen in Diskussion zu bleiben und im Falle eines Streiks wieder dafür zu sorgen, dass sie nicht nur über die Forderungen, sondern auch über den Kampf diskutieren und entscheiden können.

2. Kontrolle über die Sanktionen bei Nichteinhaltung der Regelungen aus dem TVE:

Beide TVE enthalten die Regelung, Punkte zu sammeln, wenn Schichten unterbesetzt arbeiten. Ab einer bestimmten Punktezahl (gestaffelt) soll ein Freizeitausgleich erfolgen. Die Hoffnung dabei: dadurch würde ökonomischer Druck auf die Klinikleitungen ausgeübt, um neue Kolleg:innen einzustellen. Doch zum einen zögern diese – wie bei Vivantes in Berlin, in NRW erhalten sie 1 ½ Jahre Zeit, um eine entsprechende Software einzuführen – die Umsetzung dieses Punktesystems hinaus. Zum anderen kann diese Verfahrensweise auch dazu führen, dass es zum Aufbau von Langzeitarbeitszeitkonten missbraucht wird, ohne dass es zu einem sofortigen Freizeitausgleich kommt. Damit verpufft die Wirkung. Die Kolleg:innen selbst – dafür würden sich die Teamdelegierten bzw. der Delegiertenrat anbieten – müssen über die Sanktionen entscheiden können, wenn die Regelungen nicht eingehalten werden: wie Bettensperrungen, Nichteinbestellung von Patient:innen, Verschiebung von nicht sofort notwendigen OPs etc. Diese hatten schon während der Streikphase – sofern keine Notdienstvereinbarungen zustande kamen – selbst entschieden, wann wie viele Betten gesperrt oder Patient:innen einbestellt werden.

Vor Einführung der Punkteregelung in den TVE waren u. a. solche Maßregeln vorgesehen. Die Entscheidung darüber lag aber bei den Pflegedienstleitungen, die letzten Endes der Klinikleitung gegenüber rechenschaftspflichtig sind und nicht den Kolleg:innen. Aber es sind Letztere selbst, die ein ernsthaftes Interesse daran haben, dass sich die Arbeitsbedingungen ändern müssen. Deswegen müssen sie die Entscheidungen über Sanktionen in den Händen halten.

3. Bundesweiter Kampf aller Kliniken für mehr Personal statt Häuserkampf:

Der TVE in NRW wurde in einem 79-tägigen Durchsetzungsstreik aller 6 Unikliniken durchgesetzt. Das ist der richtige Weg, um mehr Schlagkraft gegenüber den Klinikleitungen zu entwickeln. Alle Kliniken – egal ob privatwirtschaftlich organisiert oder noch unter kommunaler oder Landesverwaltung stehend – müssen von ver.di gemeinsam in den Kampf für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen geführt werden. Dafür würde sich die Tarifrunde im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen anbieten: Alle Kolleg:innen aus den kommunalen Krankenhäusern sind zu Streiks aufgerufen zusammen mit denen aus dem Erziehungsbereich, die auch seit Jahren unter Personalmangel leiden. Die Aktivist:innen aus den beiden Krankenhausbewegungen, die Veranstaltungen organisieren und ein persönliches Netzwerk aufbauen, könnten zu einer bundesweiten Konferenz aller Kolleg:innen aus dem Gesundheitsbereich aufrufen und dort über weitere Schritte für einen erfolgreichen Kampf für mehr Personal bundesweit diskutieren und entscheiden.

4. Notwendigkeit eines gesamtgesellschaftlichen Kampfes gegen Privatisierung und DRGs – bis hin zum politischen Streik:

Alle Erfahrungen aus den bisherigen Kämpfen für Entlastung zeigen: Das Hauptproblem liegt in der Finanzierung des Gesundheitssystems. Solange die DRGs, die nicht die Gesamtkosten einer Behandlung refinanzieren, existieren, solange im Gesundheitssektor – durch die Privatisierungen – das oberste Gebot die Profitlogik ist, wird sich an der Pflegemisere und Stellensituation in den Krankenhäusern nichts ändern!

Deswegen:

  • Abschaffung der Fallpauschalen!
  • Für eine Refinanzierung, die die gesamten Behandlungskosten umfasst.!
  • Rekommunalisierung und Verstaatlichung aller privatisierten Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und Patient:innen, die ein Interesse an guten Arbeitsbedingungen und guten Gesundheitsversorgung haben.

Dafür braucht es eine gesellschaftliche Kraft: das Personal aus den Krankenhäusern zusammen mit dem in den Betrieben, die ein Interesses an einer guten, flächendeckenden Gesundheitsversorgung haben, gemeinsam für die Abschaffung der DRGs, Wiederverstaatlichung privatisierter Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und der Patient:innen kämpfen. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die sich die DGB-Gewerkschaften gemeinsam auf die Fahne schreiben und dafür mobilisieren müssen bis hin zum politischen Streik!

  • Tarifrunde öffentlicher Dienst – Bund/Kommunen nutzen, um Strukturen aufzubauen, mit denen für ausreichend Personal und gute Arbeitsbedingungen gekämpft werden kann!

Leider hat ver.di davor zurückgeschreckt, diese Tarifrunde auch für den Kampf für mehr Personal zu nutzen. Dabei hätte man eine Verbindung über den Gesundheitsbereich hinaus organisieren können, denn die GEW-Kolleg:innen aus Berlin streiken bereits seit mehreren Wochen für einen Gesundheits-Tarifvertrag mit der Hauptforderung nach kleineren Klassen, weil auch hier der Personalnotstand eklatant ist. Die Bedingungen dafür wären gut: zum einen hatten die Beschäftigten aus den Unikliniken in NRW es allen praktisch vor Augen geführt, dass ein konsequenter gemeinsamer Kampf für mehr Personal erfolgreich in einem Tarifvertrag enden kann. Zum anderen sind gerade in dieser Tarifrunde alle Kolleg:innen aus den kommunalen Krankenhäusern zu Arbeitskampfmaßnahmen aufgerufen. Diese könnten zusammen mit Erzieher:innen und Lehrer:innen für insgesamt mehr Personal streiken verbunden mit einer Bezahlung, die auch tatsächlich die Preissteigerungen auffängt! Das erweitert die Durchsetzungskraft und wäre sicherlich für viele Kolleg:innen noch ein zusätzlicher Motivationsfaktor gewesen, sich in dieser Tarifrunde an Arbeitskampfmaßnahmen zu beteiligen. Es ist jetzt nötig, dass die Kolleg:innen in den verschiedenen gewerkschaftlichen Strukturen, seien es Vertrauensleute, Betriebsgruppen oder neu aufzubauende gewerkschaftliche Organe oder auch in lokalen Gremien, von den ver.di-Verantwortlichen verlangen, auch die Frage des Personalnotstandes bundesweit anzugehen! Dafür sind bundesweite Streiks für einen Flächentarifvertrag Entlastung und eine Kampagne gegen Privatisierung, Abschaffung der Profitlogik in der öffentlichen Daseinsvorsorge, wozu ja der ganze Gesundheitsbereich gehört, und für ein Ende des gesamten Fallpauschalensystems und für die Refinanzierung der realen Behandlungskosten nötig. Dies brauchen wir mehr denn je, da  durch die Pandemie und der dadurch angefallenen Versorgung vieler Schwerkranker auf Intensivstationen viele kommunale Krankenhäuser in eine finanzielle Schieflache gebracht wurden. Doch ändert auch die Lauterbach’sche „Revolution“ nichts am Fallpauschalensystem. Im Gegenteil! Die angestrebte verstärkte Ambulantisierung der Gesundheitsversorgung wird unwillkürlich zu einem weiteren Krankenhaussterben beitragen. Das Mindeste, was in dieser Tarifrunde passieren muss, und das ist nicht allein die Verantwortung der gewerkschaftlich Aktiven im Betrieb oder auf lokaler Ebene, sondern eben auch aller Gewerkschaftssekretär:innen, ist, dafür zu sorgen, dass funktionierende gewerkschaftliche Basisorgane in den Betrieben entstehen, die die Kolleg:innen nicht als Manövriermasse verstehen, sondern als aktive Kämpfer:innen für bessere Arbeitsbedingungen und die tatsächlich Änderungen durchsetzen können.

Damit dies wirklich umgesetzt wird, ist es nötig, eine politische Kraft in ver.di, aber auch allen anderen Gewerkschaften zu organisieren. Diese muss sich bewusst gegen den Anpassungskurs der Gewerkschaftsführungen an die Interessen des Kapitals und der Regierenden stellen und sich zum Ziel setzen, die Gewerkschaften wieder zu handelnden Verteidigungsinstrumenten der gesamten Klasse umzukrempeln. Unserer Meinung nach sind die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und ihre lokalen Strukturen im Moment das beste Mittel dazu, um darüber zu diskutieren und Konsequenzen fürs Handeln daraus zu ziehen (siehe auch unter: www.vernetzung.org).




TVöD: der 8. März als Streiktag?

von Anne Moll/Resa Ludivien, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Abgesehen von Berlin ist in keinem anderen Bundesland der Frauenkampftag ein Feiertag. Und zu feiern gibt’s auch nicht viel, schaut man sich die derzeitige TVöD-Runde an. Ein prädestinierter Streiktag also?

Was aus Clara Zetkins Frauentag wurde

Historisch gesehen ging es beim Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen zuerst um das Wahlrecht, um das gleiche Recht, sich zu organisieren und Gewerkschafts- wie Parteimitglied zu werden, um Zugang zur Universität, Gesundheitsschutz der arbeitenden Frauen und um das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen. Doch der Versuch seiner Vereinnahmung und Entpolitisierung ist auch nichts Neues. Immer wieder wird deutlich, dass die bürgerlichen Frauen, aber auch die Gewerkschaftsführung andere Forderungen im Sinn haben als Frauen aus der Arbeiter:innenklasse.

So versuchten 1994 Frauen in Stuttgart, den DGB von einem Frauenstreiktag zu überzeugen, bei dem auf die ungleiche Bezahlung und Doppelbelastung aufmerksam gemacht werden sollte. Trotz der Versuche des Vorstandes, die Aktionen als „Streittag“ zu verharmlosen, kam es zur Besetzung einer Kreuzung sowie zum Teil einer Teilnahme während der Arbeitszeit, sprich zu einem Streik. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, wie viel Mitverantwortung die Entschlossenheit der Basis trägt. Auch 29 Jahre später hat sich an der Situation von Frauen nur wenig geändert.

TVöD-Runde Bund und Kommunen: Wer streikt und was ist bis jetzt passiert?

Der 8. März 2023 fällt in Deutschland in eine spannende Zeit: Tarifauseinandersetzungen bei öffentlichen Betrieben, der Post, kommunalen Busunternehmen, im öffentlichen Dienst (TVöD-Runde), Streiks bei den Lehrer:innen in Berlin sind einige Beispiele dafür. Wir leben in Zeiten der Inflation. Sollten die geforderten 10,5 % durchgesetzt werden können, dann würden sie die aktuelle Preissteigerung wenigstens ausgleichen. Mindestens 500 Euro würden, vor allem für die Niedriglohngruppen, tatsächlich eine große Änderung bewirken und eine wichtige Signalwirkung ausstrahlen.

Das betrifft 1,6 Millionen Menschen, die nach TVöD bezahlt werden, d. h. diejenigen, die im öffentlichen Dienst bei Bund und Gemeinden tätig sind. Das sind beispielsweise Arbeiter:innen in kommunalen Kitas, in Altenpflegeeinrichtungen oder Krankenhäusern. Es gab viel Applaus, dass sie während der Pandemie weitergearbeitet haben, viele schöne Worte von Politiker:innen, dass sich die Arbeitssituation für Pflege- und Erziehungsberufe verbessern muss. Passiert ist bisher wenig. Gleichzeitig existiert ein Vorbild, wie erfolgreiche Streiks aussehen können: 2021 und 2022 erkämpfte die nordrhein-westfälische Krankenhausbewegung in wochenlangen Streiks den Tarifvertrag Entlastung.

Federführend für die derzeitige Verhandlungsrunde innerhalb des DGB ist ver.di. Die Mobilisierung läuft bereits seit letztem Jahr in Form von Mitgliederversammlungen und Vorbereitungen in den Betrieben. In Gewerkschaftskreisen hatte man zeitweise den 8. März ins Auge gefasst, um zu streiken. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass es sich um Bereiche handelt, in denen sehr viele Frauen arbeiten. Neben einer dauerhaften Überlastung und Unterfinanzierung dieser Sektoren sind Frauen und Migrant:innen strukturell schlechter bezahlt oder gar ohne Tarifverträge outgesourct – in Zeiten der Inflation ein tägliches Spiel mit dem Feuer.

Schaut man sich die Bereiche, zu denen auch Reinigung oder Behörden zählen, nochmal genauer an, so verwundert es nicht, dass zu den ursprünglichen Forderungen der Beschäftigten auch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen gehörte. Dazu zählen „utopische“ Wünsche wie Arbeitszeitverkürzung oder mehr Urlaub bei Dauerschichtdienst. Doch das war den Gewerkschaften zu heiß. Der 8. März als Streiktag ist auch weg vom Fenster und man konnte sich im Oktober lediglich auf einen versöhnlichen Forderungskatalog einigen, welcher sich lediglich auf die Löhne bezieht. Ebenso offensichtlich ist die gezielte Schwächung des Streikes durch eine Teilmobilisierung. Warum alle zusammen mobilisieren, wenn man auch nur einzelne Sektoren wie die BSR (Stadtreinigung) in Berlin aufrufen kann? Und das mit dem Wissen, dass die Kolleg:innen am Limit sind, alles immer teurer wird, sodass sogar Butter, geschweige denn Gas- oder Mietpreise ein Luxusprodukt darstellen. Und das, nachdem nach Corona vor allem im Krankenhaus viele mit dem Gedanken spielen, ganz auszusteigen, und die Arbeit„geber“:innenseite auch diese niedlichen Forderungen noch herunterhandeln wird. Das ist Politik gegen die Arbeiter:innenklasse!

Frage dich mal, was deine Gewerkschaft für dich tun kann

Am 24.01.2023 fand die erste Verhandlungsrunde zum TVöD statt. Eine der Teilnehmer:innen aufseiten der Arbeit„geber“:innen war Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Diese hat wieder einmal gezeigt, dass diese sich zwar auf ihre „guten alten Zeiten“ als Arbeiter:innenpartei stützt, aber keineswegs Politik für die Arbeiter:innenklasse betreibt. Ergebnis: nächste Runde, denn es gab nichts zu „verhandeln“. Dafür hätten die Gemeinden und Kommunen ein Angebot unterbreiten müssen. Besonders interessant ist, dass die minimalen Forderungen der Gewerkschaften zu hoch und unrealistisch angesichts leerer Kassen ausfallen sollen. Doch wo bleiben dann Forderungen nach einem höheren Spitzensteuersatz, sodass endlich mal die Reichen für die Krise bezahlen?

Diese Argumentation hat nicht nur etwas mit der aktuellen Situation zu tun: Sie hat System. Es gibt nur eine Möglichkeit, diesem zu entrinnen, nämlich, indem die Warn- in unbefristete Erzwingungsstreiks überführt werden. Daneben müssen Demonstrationen organisiert und Solidaritätsbündnisse geschlossen werden. Unsere Aufgabe als klassenkämpferische Gewerkschafter:innen und Revolutionär:innen liegt darin, dies voranzutreiben, Druck auf die Gewerkschaftsführung auszuüben, die Kämpfe zusammenzuführen und unter Kontrolle demokratisch gewählter, den Mitgliedern verantwortlicher Streikkomitees zu stellen.

Frauenkampftag, Streiktag – gemeinsam auf die Straße!

Es wird knapp in der Kasse. Schon allein, wenn wir nach dem Einkauf in unser Portemonnaie sehen. Die nächste Gasrechnung bereitet uns schlaflose Nächte. Wir sind es leid, dass alle die Krisen von Corona über Klima- und Energiekrise auf unseren Rücken ausgetragen werden! Lasst uns unseren Anteil zur Tilgung der Kosten und Ermöglichung eines anständigen Lebens erstreiken! Der Internationale Frauentag ist dafür wie geschaffen und ursprünglich als Kampftag gedacht. Diese Bedeutung müssen wir ihm zurückgeben. Bremen geht hier mit gutem Beispiel voran: Hier ist der Streik durch die ver.di-Mitglieder beschlossene Sache.

Dass er in Berlin zu einem Feiertag geriet, kann nur unter Berücksichtigung der wenigen Feiertage dort allgemein positiv bewertet werden. Es trägt parallel zur Entpolitisierung des Tages bei und das ist gewollt. Man mag es als Form der Transformation sehen, wenn sich die Regierenden eine zunächst kämpferische Thematik zu eigen machen und nach ihrem Gusto interpretieren. Dass es gerade von einer rot-rot-grünen Politik befürwortet wird, zeigt die tief verwurzelte Sozialpartnerschaft, die kein Interesse aufkommen lässt, tatsächlich an diesem Tag die Belange von Frauen wie schlechte Bezahlung, Sexismus am Arbeitsplatz oder geringere Aufstiegschancen zu thematisieren. Der Frauenkampftag ist kein Feiertag, kein Streittag, sondern Streiktag!

Es ist daher Aufgabe der Basis, die Gewerkschaftsführungen daran zu erinnern, wessen Interessen sie ursprünglich vertreten sollten, und dies zu erzwingen. Doch ein Streiktag reicht nicht. Die nordrhein-westfälische Krankenhausbewegung hat es vorgemacht. Es darf nicht nur um Geld, sondern muss auch um Entlastung und bessere Arbeitsbedingungen gehen. Dafür brauchen wir Streikkomitees in allen Betrieben.

  • Hinaus zum Frauenkampftag! Frauenkampftag ist Frauenstreiktag!
  • Regelmäßige Vollversammlungen, Wahl und Abwählbarkeit der Streikkomitees!
  • Volle Kampfkraft für 10,5 % jetzt und mindestens 500 Euro für alle!
  • Früheren Renteneintritt ermöglichen, Altersteilzeitregelung verlängern! Mehr Urlaub bei Dauerschichtdienst!
  • Für eine Arbeitszeitverkürzung mit paralleler Einstellungsoffensive unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Finanzierung der Maßnahmen durch massive Besteuerung der Unternehmensgewinne und Vermögen!



„Die Pflege muss enteignet werden!“

Interview mit einem Pflegeazubi aus Leipzig, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Das Wort Pflegenotstand ist in aller Munde: Überall fehlt es an Pflegekräften und Fachpersonal, Löhne sind viel zu niedrig. Die Politik hat nichts weiter übrig als vermeintlich wertschätzende Worte, aber es brennt an allen Enden und Ecken. Aber nicht nur die festangestellten Pflegekräfte bekommen etwas von den Problemen mit, auch die Azubis spüren es am eigenen Leib. Daher habe ich mich mit D., 19 Jahre, aus Leipzig getroffen, welcher eine Ausbildung zur Pflegefachkraft in einem privaten Altenpflegedienst in Leipzig absolviert. Das Interview führte Leonie Schmidt.

Hallo D., warum hast du dich für die Ausbildung zur Pflegefachkraft entschieden und was sind deren Inhalte?

Ich habe mich dafür entschieden, weil ich Menschen helfen will und ich auch so sozialisiert wurde. Meine Eltern waren auch schon Pfleger:innen.

Die Ausbildung zur Pflegefachkraft dauert 3 Jahre. Da ist alles drin von der Grundpflege, wie man einen Menschen richtig pflegt, wie man mit ihm kommuniziert, wie man psychischen Support leistet. Dann geht es weiter zu den Medikamenten, zum Aufbau des menschlichen Körpers. Durch die Zusammenführung der Ausbildung ist es so, dass man echt viel Medizin, darunter Anatomie lernen muss. Und das ist natürlich auch ein riesiger Stress, der auf die Azubis zukommt. Von dir als Azubi wird verlangt, dass du 8 Stunden in der Schule sitzt und dann 8 Stunden zu Hause nochmal lernst bzw. dich auf der Arbeitsstelle nochmal hinsetzt und am besten noch Hausaufgaben machst, was einfach nicht möglich ist in den meisten Fällen. Und am Ende der Ausbildung bist du dann eine Pflegefachkraft, die Allrounderin ist und überall eingesetzt werden kann– und auch wird. Also man hat diesbezüglich keine Probleme später, wenn man nach einer Arbeitsstelle sucht.

Das klingt auf jeden Fall ziemlich interessant, aber auch anspruchsvoll. Es gibt ja sowieso schon aktuelle Probleme in der Pflege. Wie schlägt sich denn der Pflegenotstand auf deine Ausbildung nieder?

Es ist definitiv der Personalmangel, der sich hier zeigt, also dass die Fach- und Führungskräfte total überlastet sind, Dienstpläne nicht geschlossen werden können. Wenn sich jemand krankmeldet, dann wird Druck gemacht. Jemand muss aus dem Urlaub oder freien Tag geholt werden. Und das sind dann meistens wir Azubis, zumindest war es bei mir so. Du wirst für die „Drecksarbeit“ eingesetzt, der Klassiker. Du lernst in den meisten Fällen nicht mal wirklich was bei den Aufgaben. Entweder hast du im betreuten Wohnen gar nichts zu tun oder im Krankenhaus richtig viel Stress, wo du den ganzen Tag rumläufst, Betten beziehst, Medikamente verteilst und so weiter. Auch Sachen, die du eigentlich noch gar nicht machen darfst wie Spritzen oder Infusionen vorbereiten und anhängen sind dann alles Aufgaben, die auf dich abgewälzt werden, weil die Fachkräfte das zeitlich nicht schaffen. Natürlich ist es auch ein großes Problem, dass du dauerhaft am Arbeiten bist. Du hast keine Freizeit. Du bist am Wochenende arbeiten, wenn deine Freunde feiern gehen. Du bist abends arbeiten, wenn deine Freunde zuhause sitzen und Serien schauen. Du hast nie Zeit, was einen natürlich auch psychisch total fertigmacht – vor allem in so einem jungen Alter. Dann hat man einfach keine Jugend, weil man die ganze Zeit nur auf der Arbeit ist oder lernt.

Die Azubis werden also wie überall als volle Arbeitskraft eingesetzt, aber weder ordentlich entlohnt noch ordentlich ausgebildet, was gerade in Kombination mit dem Pflegenotstand besonders heftig ist. Das ist natürlich ein Sache, die man ganz klar angehen muss. Und was gibt es für Probleme speziell an deinem Arbeitsplatz?

Ein ganz großes Problem bei dem privaten Pflegedienst, wo ich meine Ausbildung mache, ist, dass es keine Kommunikation im Team gibt. Man bekommt erst Sachen mit, wenn es wirklich zu spät ist, bspw. bei einer Abmahnung. Es gibt keinen mentalen Support. Niemand fragt zum Beispiel, warum du zu spät gekommen bist, es dir schlecht geht oder du keine Motivation zeigst. Und das zweite sehr große Problem ist, dass es ein privater Pflegedienst ist, und das führt dazu, dass der Mensch dort eine Ressource ist, egal ob Arbeit„nehmer“:in oder Patient:in.  Beide Gruppen werden extrem ausge-beutet und nur der Profit steht im Vordergrund.

Gibt es bei deiner Ausbildungsstelle auch Fälle von Rassismus oder Sexismus?

Bei meiner Stelle, am Randgebiet von Leipzig, gibt es auch sehr viel alltäglichen Rassismus. Wir haben zum Beispiel einen Pflegeazubi, der ist super lieb, 27 Jahre alt und wohnt seit 7 Jahren in Deutschland. Er spricht perfekt Deutsch, hat vorher auch eine Sozialassistentenausbildung gemacht und danach eine zum Krankenpflegehelfer. Jetzt macht er gerade eine Ausbildung zur Pflegefachkraft und studiert nebenbei. Er hat so viele Jahre fürs Gesundheitssystem in Deutschland gearbeitet und immer noch keinen deutschen Pass. Von Patient:innen und auch von den Mitarbeiter:innen kommen oft dumme rassistische Kommentare, wenn er nicht da ist.

Und der alltägliche Sexismus von der älteren Generation, was man nun mal leider kennt, kommt auf jeden Fall auch vor. Es gibt hier viele kleinbürgerliche Rechte mit Freiwildtattoo und „Böhse Onkelz“-Sticker am Auto. Mehr habe ich so konkret nicht mitbekommen, aber man merkt diese Stimmung immer, wenn es um solche Themen geht.

Das klingt nach einer Situation und Arbeitsbedingungen, die so nicht hinnehmbar sind. Was denkst du, wo müssten wir im Arbeitskampf im Pflegebereich ansetzen?

Definitiv Pflege enteignen! Pflege darf nicht, egal in welchem System, privat sein. Es kann nicht sein, dass Menschen so ausgebeutet werden, dass ihre Gesundheit als Ressource angesehen wird. Ich denke, das wird es wahrscheinlich in jedem Bereich des Kapitalismus geben. Aber in der Pflege ist es natürlich nochmal was ganz anderes, wenn wirklich spezifisch damit Geld gemacht wird, dass Menschen auf dich angewiesen sind. Und das sollte es nicht geben. Es sollte also alles unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse verstaatlicht werden, höhere Einheitslöhne und bessere Arbeitsbedingungen geben. Gerade die Ausbildung sollte attraktiver gemacht werden, besonders für junge Menschen. Und es sollte einfach viel mehr Support von der breiten Masse für diese Ausbildung geben, zum Beispiel Boni. Das Schulsystem sollte angepasst werden, dass man auch einfach mal Jugendliche/r sein kann während der Ausbildung. Wenn man zum Beispiel neben der Berufsschule arbeitet, sollte es angepasst werden, dass man nicht 12 – 13 Tage durcharbeiten darf. Gewerkschaftliche Arbeit, auch im Azubibereich, ist ein wichtiger Ansatz, um das zu erreichen.

Das klingt nach einer sehr sinnvollen Perspektive. Viel Kraft für den gemeinsamen Kampf und vielen Dank für das Gespräch!




Eine neue Friedensbewegung?

von Susanne Kühn, zuerst erschienen in der Infomail 1412 der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Februar 2023

Den Beginn einer neuen „Friedensbewegung“ verkündeten Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer bei der Kundgebung „Aufstand für den Frieden“ am 25. Februar. 50.000 Menschen wollen Ordner:innen gezählt haben. Die Polizei wiederum konnte nur 13.000 ausmachen. Die Wahrheit dürfte irgendwo in der Mitte bei 25.000 liegen.

Zweifellos ein Achtungserfolg, zumal die regierungsoffiziellen Ukrainesolidaritätsdemos nach offiziellen Berichte weniger Menschen – rund 10.000  – auf die Straße gebracht haben dürften.

Vorweg: Die Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, mit den lohnabhängigen Massen, den Hauptopfern des imperialistischen Angriffskriegs Russlands, blieb letztlich bei beiden vor allem eine Beschwörungsformel, ein Lippenbekenntnis. Für die NATO, für die USA und auch für den deutschen Imperialismus bedeutet die „Solidarität“ mit den Ukrainer:innen nur einen Vorwand für die Verfolgung ihrer eigenen ökonomischen und geostrategischen Interessen in der Konkurrenz mit Russland.

Wagenknecht, Schwarzer und Co. vermögen den Ukrainer:innen auch nicht mehr zu bieten  als einen von den Großmächten ausgehandelten Frieden. Kein Wunder also, dass sie der ukrainischen Bevölkerung letztlich nicht viel mehr zu sagen haben, als dass ein halbkoloniales Land eben die „Sicherheitsinteressen“ der Großmächte zu akzeptieren habe.

Teilnehmer:innen

Nichtsdestotrotz verdeutlichen über 600.000 Unterzeichner:innen des „Manifest für den Frieden“ und der Mobilisierungserfolg der Kundgebung, dass sich die öffentliche Stimmung in Deutschland dreht. Der Kurs der Bundesregierung wird zu Recht für seine „unklare“ Zielrichtung, für sein widersprüchliches Schwanken zwischen offener Kriegstreiberei durch FPD und Grüne im Gleichklang mit den Unionsparteien und einer hinhaltenden SPD, die letztlich immer einknickt, kritisiert. Zu Recht wird bemängelt, dass der Westen selbst den Konflikt befeuert hat und natürlich versucht, Russland in die Schranken zu weisen.

Die 600.000 Unterzeichner:innen und rund 25.000 Teilnehmer:innen an der Kundgebung bringen berechtigte Sorgen zum Ausdruck. Zweifellos finden sich unter diesen auch Anhänger:innen der rechtspopulistischen AfD und neurechter Gruppierungen wie der Querdenker:innen. Doch diese machten sicher nicht das Gros der Kundgebung aus, von der offen faschistische Kräfte wie die Leute vom Compactmagazin auch lautstark verwiesen wurden.

Die deutliche Mehrzahl der Teilnehmer:innen kam allerdings aus den Reihen frustrierter oder ehemaliger Anhänger:innen von SPD, Grünen und Linkspartei, also jenen Kräften, die einst den Kern der Friedensbewegung ausmachten oder die Wagenknecht und Schwarzer zu einer neuen Friedensbewegung formieren wollen.

Neue Friedensbewegung

Ihr Ziel besteht darin, eine solche Friedensbewegung wieder aufzubauen. Als Bündnispartner:innen schweben ihnen dabei nicht die Rechte, auch nicht die AfD vor. Vielmehr zielen Wagenknecht und Schwarzer auf „respektable“ Bürgerliche wie den ehemaligen Brigadegeneral und Merkelberater Vad, der auch als einer der Hauptredner:innen der Kundgebung fungierte. Auch einer der Architekten der Schocktherapie der Restauration des Kapitalismus in Russland und Osteuropa, Jeffrey Sachs, kam als Redner zu Wort. Schließlich will der etwas moderater gewordene Neoliberale auch „Frieden“ für eine Ukraine, deren ökonomische Krise in den 1990er Jahren seine Politik massiv verschärft hatte.

Eine solche klassenübergreifende Friedensbewegung erinnert an die der 1980er Jahre. Sie hat auch dieselben Schwächen. Den russischen und US-amerikanischen Imperialismus benennen Wagenknecht und Schwarzer durchaus. Vom deutschen wollen sie aber nichts wissen. Schließlich werfen sie der Bundesregierung ja nicht die Verfolgung der nationalen, kapitalistischen Interessen vor, sondern dass sie dies viel zu wenig täte.

Daraus erklärt sich auch das Paradox ihrer Ausrichtung. Einerseits werden die Kriegstreiberin Baerbock und der „Panzer“-Toni Hofreiter ebenso wie der „Zauderer“ Scholz heftig kritisiert. Niemand dürfe ihnen vertrauen, wurden wir auf der Kundgebung ermahnt. Andererseits wird von derselben Regierung die Bildung „einer Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen“ gefordert – am besten in Zusammenarbeit mit Frankreich und der EU-Kommission, mit China und Brasilien. Am deutschen Verhandlungswesen soll die Welt genesen. Scholz, dem eine vollständige Unfähigkeit und Unzuverlässigkeit attestiert wird, soll federführend einen „Frieden“ herbeiführen, der alle Großmächte zufriedenstellt.

Dieses Konzept läuft letztlich bloß auf eine alternative, sozialpazifistische Ausrichtung des deutschen Imperialismus hinaus. Die ukrainische Bevölkerung und die russische Antikriegsbewegung dürfen nur als Verhandlungsmasse zu ihrem vermeintlich Besseren zusehen. Aber auch für die Arbeiter:innenklasse der imperialistischen Ländern sind nur Plätze auf den Zuschauerrängen vorgesehen. Als Akteur:innen, geschweige denn als prägende Subjekte einer Antikriegsbewegung sind die Lohnabhängigen bei Schwarzer und Wagenknecht nicht vorgesehen. Bei aller Kritik an der gegenwärtigen Politik der Regierungen soll die internationale Politik auch weiter von Großmächten unter Wahrung von deren Interessen bestimmt werden,

Eine solche Politik ist nicht nur rein bürgerlich. Sie ist auch vollkommen utopisch. Der Konflikt zwischen den alten, westlichen Mächten wie der USA oder auch Deutschland mit den „neuen“ wie Russland und China liegt in der Krise des Kapitalismus begründet, im Niedergang der US-Hegemonie und im Aufstieg Chinas. Zur Zeit wird er um die Ukraine ausgefochten, doch selbst ein imperialistischer Frieden wäre nicht nur reaktionär, weil er auf dem Rücken der ukrainischen Massen vereinbart werden würde, sondern auch nur von begrenzter Dauer, nur eine Zwischenstation zu einer weiteren Verschärfung der imperialistischen Konkurrenz.

Auf der Kundgebung haben die Gruppe Arbeiter:innenmacht und Genoss:innen der Jugendorganisation Revolution gemeinsam eine internationalistische, klassenkämpferische Perspektive vertreten und ein gemeinsames Flugblatt verteilt. Dessen letzten Abschnitt wollen wir hier noch einmal darlegen:

Welcher Frieden? Welche Bewegung?

Ein dauerhafter Frieden, der diesen Namen verdient, kann nicht durch diplomatische Manöver von Großmächten erzielt werden. Dazu müssten diese selbst ihre eigenen ökonomischen, politischen und militärischen Interessen zurückstellen, was angesichts des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt und der schärfer werdenden globalen Konkurrenz einfach unmöglich ist. Der Imperialismus kann nicht friedlich gestaltet werden – weder in Russland, noch in den USA, aber auch nicht in Deutschland oder der EU.

Wir können uns daher nur auf uns selbst verlassen. Ein echter Frieden, eine gerechte Lösung für die Ukraine müsste die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des Landes bei gleichzeitiger Wahrung der Selbstbestimmung der Volksrepubliken im Donbass und auf der Krim beinhalten.

Um aber überhaupt dorthin zu kommen, müssen wir eine internationale Bewegung gegen den Krieg und dessen Auswirkungen aufbauen; eine Bewegung der gemeinsamen Aktion der deutschen, der europäischen, der US-amerikanischen, der ukrainischen und russischen Arbeiter:innenklasse, der Gewerkschaften, der Linken und Arbeiter:innenparteien. Eine solche Bewegung muss sich um bestimmte, gemeinsame Forderungen formieren. Dazu schlagen wir vor:

  • Nein zu Putins Angriffskrieg! Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!
  • Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter:innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Festgenommenen!
  • Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle – finanziert durch den Staat; Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!
  • Nein zu jeder NATO-Intervention! Gegen jede Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen und Waffenlieferungen! Gegen NATO-Ausweitung, sofortiger Austritt aus der NATO!
  • Keinen Cent für die Bundeswehr! Nein zum 100-Milliarden-Programm der Ampelkoalition! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Nein zu allen Sanktionen! Streichung der Schulden der Länder der sog. Dritten Welt, die durch die Sanktionen in wirtschaftliche Not geraten sind!
  • Die Kosten für die Preissteigerung müssen die Herrschenden zahlen! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Unterstützung der Tarifkämpfe der Gewerkschaften! Für eine automatische Anpassung der Löhne und Einkommen an die Preissteigerung für alle Beschäftigten, Rentner:innen, von Erwerbslosen und Studierenden!



#wirfahrenzusammen: Streiks im Leipziger Nahverkehr

von Niliam, zuerst erschienen bei der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Februar 2023

Zweimal stand der ÖPNV Leipzigs in den letzten Tagen komplett still.

Am Mittwoch, dem 22.02. fanden wie auch am Freitag, dem 17.02. Warnstreiks statt. Nachdem letzte Woche alle vom TVöD (Tarifvertrag öffentlicher Dienst, unter ihn fällt auch Leipzigs Nahverkehr) betroffenen Beschäftigten streikten, waren es am Mittwoch ausschließlich die Beschäftigten der LVB (Leipziger Verkehrsbetriebe). Der für den Streik gewählte Tag war brisant: trafen doch RB Leipzig und Manchester City im Rahmen eines Champions League Spiels aufeinander. Tausende von Menschen und internationale Gäste waren zu erwarten. Ein erheblicher Reputationsverlust für die Stadt Leipzig war vorauszusehen.

Dies unterstreicht einmal mehr den Kampfeswillen der Beschäftigten, nach ihrer Forderung von 10,5% mehr Lohn, aber mindestens 500€ bei einer Laufzeit von 12 Monaten für die nächste Verhandlungsrunde Ende März. Wir zeigten uns im Rahmen der Kampagne #wirfahrenzusammen u.a. zusammen mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht an Streikposten in der Stadt und auf der Großkundgebung am Freitag mit den Streikenden solidarisch. Auch wenn es sich nur um eine reine Lohntarifrunde handelt, müssen wir doch klarmachen, dass der Ausbau des ÖPNV dringend für eine Mobilitätswende gebraucht wird.

Während der Nahverkehr oft vernachlässigt, teuer und schlecht ausgebaut ist, wird immer noch auf klimaschädliche Fortbewegungsmittel gesetzt. Wir fordern massive Investitionen in den Nahverkehr – für die Beschäftigten, für das Klima und für die Fahrgäste! Sachsen ist Schlusslicht, was die Bezahlung der Beschäftigten im ÖPNV angeht!

Urabstimmung für Erzwingungsstreiks jetzt!

Letzten Freitag waren wir bereits ab Streikbeginn um 3 Uhr morgens am Betriebshof „Angerbrücke“.

Mit den Beschäftigten haben wir uns über die schlechten Arbeitsbedingungen sowie die bestehenden Ängste und Sorgen hinsichtlich der stark gestiegenen Verbraucherpreise ausgetauscht und darüber gesprochen, weshalb die Forderung der Tarifrunde das Mindeste ist, auf was sich eingelassen werden sollte. Sie durchzusetzen wird nur möglich, wenn die Verantwortlichen von ver.di schnell dazu getrieben werden, eine Urabstimmung für Erzwingungsstreiks durchzuführen.

Wichtig ist die gemeinsame Organisation im Arbeitskampf – der Klimaschutz steht nicht gegen die Arbeitsplätze, wie uns die Kapitalist:innen oft weis machen wollen. Die Klimabewegung kämpft mit den Beschäftigten für die gleichen Interessen! Gemeinsam werden wir am 03.03. den globalen Klimastreik in Leipzig unterstützen.

Unsere Solidarität bedeutet auch Fahrgastgespräche zu führen und auf die berechtigten Belange der Streikenden aufmerksam zu machen. Der ÖPNV muss für eine klimaneutrale Zukunft zwingend ausgebaut werden. Mit Plakaten wurde an den Haltestellen darauf aufmerksam gemacht, weshalb die Busse und Bahnen still standen. Mit den Gäst:innen haben wir über die Gründe des Streiks gesprochen und wie berechtigt und wichtig die Unterstützung dieser ist – höhere Löhne dürfen nicht durch Ticketpreise ausgeglichen werden! Im Gegenteil fordern wir einen kostenlosen Nahverkehr, der durch die Besteuerung der Gewinne von VW und Co. finanziert wird.

Am Freitagvormittag kamen rund 2.000 Beschäftigte auf die Kundgebung der Gewerkschaft ver.di. Das Bündnis #wirfahrenzusammen hielt einen Redebeitrag über den gemeinsamen Kampf von Klimaschutz und den Forderungen für den Tarifvertrag. Die Masse zog nach weiteren Redebeiträgen einmal ums Leipziger Rathaus und machte OB Burkhard Jung deutlich klar: „Zusammen geht mehr“ und dass die vergangenen und zukünftigen Reallohnverluste zwingend aufgefangen werden müssen!

Die Arbeitgeberseite hat ein erstes Angebot vorgelegt, welches nicht als solches bezeichnet werden kann. Ihr Vorschlag: Eine Lohnerhöhung von drei Prozent zum 1. Oktober 2023, sowie eine weitere lineare Erhöhung der Entgelte um zwei Prozent zum 1. Juni 2024. Statt eines monatlichen Mindestbetrags mit sozialer Komponente bieten die Arbeitgeber zwei einmalige Inflationsausgleichszahlungen an: 1.500 Euro im Mai 2023 und erneut 1.000 Euro im Januar 2024. Für Nachwuchskräfte sollen die Einmalzahlungen 750 Euro bzw. 500 Euro betragen.

Fallen wir nicht darauf rein! Mit Einmalzahlungen und Verlängerung der Dauer des Tarifvertrages versuchen die Arbeitgeber eine wirkliche Verbesserung vorzutäuschen. Diese bedeuten aber weiterhin Reallohnverluste, welche nicht hinnehmbar sind. Auch wenn ver.di das Angebot sicher nicht annimmt, heißt es wachsam sein! Es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Tarifkommission auf einen faulen Kompromiss einlässt.

  • Verkehrswende heißt gute Arbeitsbedingungen für Nahverkehrsarbeiter:innen!
  • Macht Stunk – die ver.di-Verantwortlichen müssen zur Einleitung der Urabstimmung gezwungen werden! Kündigt die Schichtungsklausel!
  • Für einen Streik in den Händen der Beschäftigten: Organisiert Euch selbst im Betrieb, wählt ein Streik- und Aktionskomitee, fordert öffentliche Verhandlungen sowie eine direkte Wähl- und Abwählbarkeit der Tarifkommission!
  • Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive!



Manifest für Frieden: bürgerlicher Pazifismus am Pranger

Wilhelm Schulz, zuerst erschienen in der Infomail 1214 der Gruppe Arbeiter:innenmacht, 22. Februar 2023

Die Petition „Manifest für Frieden“ wurde am 10. Februar von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer veröffentlicht. Sie stellt einen Aufruf für die sofortige Einstellung von Waffenlieferungen und Einleitung von Friedensverhandlungen dar. Der Text fordert die Bundesregierung und den Bundeskanzler auf, Verhandlungen einzuleiten, um „Schaden vom deutschen Volke [zu] wenden“. Der Entrüstungssturm über die Petition zeigt jedoch weniger deren politische Begrenztheit auf als den Beweis, welche Anfeindungen selbst linksliberaler oder sozialchauvinistischer Pazifismus aktuell erfährt.

Auch wenn wir die Petition nicht unterstützen, so halten wir sie doch für den momentan lautstärksten Vorstoß aus den Reihen der Friedensbewegung. Die Versammlung am 25. Februar wird rund um das bittere erste Jubiläum des russischen Angriffs auf die Ukraine vermutlich die größte jener sein, die sich gegen den Aufrüstungs- und Eskalationskurs der deutschen Regierung stellen wollen. Auch wenn wir Pazifismus als Form bürgerlicher Ideologie ablehnen, so ist der der Massen ein nachvollziehbarer Ansatz angesichts drohender Verschärfung der Barbarei und des Mangels an einer fortschrittlichen Perspektive zu ihrer Überwindung. Aus diesem Grund werden wir an der Versammlung teilnehmen, während wir von den Organisator:innen fordern, sich vor Ort deutlich von etwaigen rechten Akteur:innen abzugrenzen und diese, falls sie anwesend sollten, durch Ordner:innen aus der Versammlung zu werfen.

Die Petition verzeichnet mittlerweile fast 600.000 Unterstützer:innen (Stand: 22.02.23). Neben den beiden Initiatorinnen gibt es noch 69 Erstunterzeichner:innen – eine breite Palette, die mit dem Begriff linksliberal nur verzerrt zusammengefasst werden kann.

Auch wenn aufgrund des öffentlichen Drucks einige wie die ehemalige Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche (EKD), Margot Käßmann, ihre Unterschrift zurückgezogen haben, so bleiben die meisten Unterzeichner:innen Wissenschaftler:innen und Kulturschaffende, die dem Spektrum von SPD, Linkspartei und Grünen nahestehen.

Es ist aber bezeichnend für die politische Ausrichtung der Initiatorinnen Schwarzer und Wagenknecht, dass einige Prominente aus dem konservativen und rechten Spektrum, darunter Erich Vad, Brigadegeneral a. D. der Bundeswehr und von 2006 bis 2013 Militärpolitischer Berater von Angela Merkel im Kanzler:innenamt, dahinterstehen. Vad hat zudem in der Vergangenheit vor rechten Burschenschaftlern referiert und für die rechtspopulistische Junge Freiheit vor etwa 20 Jahren geschrieben.

Die Unterstützer:innenliste umfasst jedoch nicht nur Ex-Funktionsträger:innen und mehr oder weniger bekannten linke Persönlichkeiten, sondern auch Repräsentant:innen der reformistischen Arbeiter:innenbewegung wie Christof Ostheimer, der ver.di-Bezirksvorsitzende Südholsteins, oder Michael Müller, den Bundesvorsitzenden der sozialdemokratischen Naturfreunde. Daneben natürlich Wagenknecht, die Galionsfigur der Linken, die in den letzten Jahren der Klassenpolitik den Rücken kehrte und ein linkspopulistisches Programm für DIE LINKE zu etablieren versucht. Und Schwarzer, eine bürgerliche Feministin der zweiten Welle des Feminismus, die vor allem durch Transfeindlichkeit in den letzten Jahren bei neuen Generationen von Feminist:innen angeeckt ist.

Insgesamt handelt es sich um ein volksfrontartiges, klassenübergreifendes Personenbündnis. Der Aufruf stellt keine Aufforderung zum aktiven Handeln dar, sondern letztlich nur den kleinsten gemeinsamen Nenner der Initiator:innen. Aber er hat hunderttausende Unterschriften erhalten, weil nicht zuletzt Millionen Lohnabhängige über die Militarisierung und den Kriegskurs der Bundesregierung zu Recht beunruhigt sind.

Zum Inhalt

Das Manifest selbst spricht sich für die sofortige Einstellung von Kriegshandlungen aus. Es droht vor einer latenten Gefahr der Ausweitung über ihre bisherigen Grenzen bis hin zum Weltkrieg. Der Überfall Russlands auf die Ukraine und die Notwendigkeit von Solidarität mit ihrer Bevölkerung wird benannt. Dies bleibt allerdings letztlich ohne konkrete politische Folgen, weil nirgendwo das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine verteidigt oder als Ziel eines etwaigen Friedens benannt wird. Nirgendwo wird der Rückzug der russischen Invasionstruppen aus den seit Februar 2022 eroberten Gebieten gefordert.

Der Text spricht sich im Anschluss nur gegen den Kriegskurs der Bundesregierung und des ukrainischen Präsidenten Selenskyj aus. Militärstrategisch sieht sich der Petitionstext vor einer Pattsituation. So schreiben die Initiatorinnen: „Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen.“ Aus dieser Erkenntnis folgt der Aufruf an die Bundesregierung, zwischen den USA und Russland zu vermitteln oder auf die europäischen Nachbar:innen einzuwirken. Demnach soll Olaf Scholz die Waffenlieferungen einstellen und eine „Allianz für einen Waffenstillstand“ aufbauen.

Die hier aufgeworfene Perspektive verbleibt vollständig innerhalb des Horizonts bürgerlicher Diplomatie. Den Krieg können anscheinend nur Diplomat:innen stoppen. So heißt es: „Wir Bürgerinnen und Bürger Deutschlands können nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäischen Nachbarn einwirken.“ Daher müssten wir „unsere Regierung“ in die Pflicht nehmen und Olaf Scholz zum Anführer einer „Friedensallianz“ krönen.

Doch die „Friedensallianz“, die keine eigenen Klasseninteressen vertritt, gibt es nicht und kann es nicht geben. So wie die deutsche Regierung mit Sanktionen und Waffenlieferungen ihre eigenen imperialistischen Interessen verfolgt, die Ukrainer:innen im Krieg für ihre eigenen geostrategischen und wirtschaftlichen Zwecke unterstützt, wird sie das natürlich auch am Verhandlungstisch tun – und genauso werden das alle anderen Beteiligten auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung versuchen.

Letztlich soll der geforderte Frieden dem deutschen Interesse dienen. Demnach ist der Krieg einer zwischen den USA (im Aufruftext Amerika) und Russland. Eine Beteiligung oder genauer deren Fortsetzung entsprächen nicht den Interessen Deutschlands bzw. denen des deutschen Kapitals. In diesem Sinne appelliert der Aufruf an die deutsche Bourgeoisie und ihren Staat, um diese für die Linie der vergangenen Jahrzehnte zurückzugewinnen. Eben jene konnte den Kriegskurs aber nicht stoppen, weil sie keine oder nur wenige Anhänger:innen unter der herrschenden Klasse in Deutschland besitzt. Das kann sich natürlich ändern – und darauf hoffen letztlich Schwarzer und Wagenknecht.

Es ist auch kein Wunder, dass daher Forderungen, die das direkte Interesse des deutschen Imperialismus auch in der Konkurrenz zu Russland berühren, außen vor bleiben. So werden weder die Abschaffung der Sanktionen noch der Stopp der Aufrüstung der Bundeswehr und NATO auch nur erwähnt. Dabei befeuern die Sanktionen nicht nur die Inflation und Armut hierzulande, sondern vor allem auch den Hunger und Not in der Welt. Ihre Folgewirkungen bedrohen das Leben Hunderttausender.

Das 100-Milliarden-Programm, die europäische Rüstungsinitiative und die Aufstockung der schnellen NATO-Eingreiftruppe auf 300.000 Soldat:innen finden sich im Aufruf mit keinem Wort.

Zu diesen Fragen gibt es unter den Initiator:innen entweder keine Einigkeit oder man möchte konservative Gegner:innen des Ukrainekriegs nicht mit Abrüstungsforderungen an die deutsche Regierung „abschrecken“. So bleibt es beim allgemeinen Ruf nach Frieden – im deutschen Interesse. Der Sozialpazifismus wird als die beste Politik für „unseren“ Imperialismus präsentiert.

Und wie wird darüber gesprochen?

Die öffentliche Kritik am Aufruf lässt sich in zwei Stoßrichtungen einteilen, wobei die eine die andere erkennbar bestimmt. Einerseits jene, die jedweden Bruch mit der konfrontativen Politik gegenüber dem russischen Imperialismus als reaktionär abstempelt. Andererseits jene, die dem ausweicht und die Gefahr der Beteiligung reaktionärer Anhänger:innen über die Notwendigkeit stellt, für eine internationalistische und klassenkämpferische Ausrichtung der Opposition gegen die Kriegspolitik der Bundesregierung zu kämpfen. Als Produkt kommt bei beiden Kritiken ähnliches raus: Passivität gegenüber der neuen Orientierung des deutschen Imperialismus.

Die Petition ist in der Linken, aber vor allem in DIE LINKE, sehr umstritten. Der Parteivorstand der LINKEN hat am Donnerstag, dem 16.2, bekanntgegeben, den Protest zu unterstützen, der sich für Frieden und Waffenstillstand einsetzt und von rechts abgrenzt – nicht aber die größte Kundgebung gegen die Bundesregierung. Das Ausbleiben einer Erwähnung des „Manifest für Frieden“ spricht hier Bände, denn es ist aus den Reihen der Partei der aktuell bekannteste Ansatz. Die Stellungnahme stellt dementsprechend eine indirekte Distanzierung dar, die umgekehrt aber allen freistellt, doch hinzugehen oder den Aufruf zu unterzeichnen.

Das Manifest ist in seiner Perspektive weder neu noch innovativ. Es vertritt eine Form bürgerlicher Politik, die mittels eines Appells an den Staat in Form von Bundesregierung und -kanzler zum Richtungswechsel in Fragen der Waffenlieferungen und Friedensverhandlungen drängen möchte und die alles mit dem Verweis auf deutsche Interessen begründet. Der Richtungsstreit wird im Militärjargon als jener zwischen Falken, den sogenannten Hardliner:innen, und Tauben, der Orientierung auf Verhandlungen, beschrieben. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) formuliert den Standpunkt der Hardliner:innen, aber auch ihren Punktsieg in der politischen Stimmung in Deutschland deutlich, wenn sie die Unterzeichner:innen des Manifests „zu propagandistischen Helfern eines Kriegsverbrechers“ abstempelt.

Dabei greift sie zwar genüsslich wirkliche Schwächen des Aufrufs auf und dessen Verharmlosung des russischen Imperialismus, aber die FAZ unterschlägt dabei natürlich die imperialen Kriegsziele der NATO, der USA und auch Deutschlands.

Vorwurf der Querfront oder zumindest rechten Unterwanderung

Der AfD Co-Vorsitzende Tino Chrupalla hat öffentlich verkündet, das Manifest unterschrieben zu haben. Dies hat er nicht als einer der Erstunterzeichnenden getan, sondern einfach nur ein Kontaktformular auf einer Homepage unterschrieben. Chrupalla und das von Jürgen Elsässer geführte, neurechte Magazin Compact riefen darüber hinaus zur Beteiligung an der Kundgebung am 25. Februar in Berlin auf. Wagenknecht distanzierte sich im Interview mit dem SPIEGEL öffentlich davon und untersagte die Beteiligung von AfD und anderen Akteur:innen der Rechten. Oskar Lafontaine, der ehemalige Mitbegründer der LINKEN und Erstunterzeichner, riss diese Brandmauer kurz darauf erneut nieder, indem er die „Gesinnungsprüfung“ oder Parteibuchkontrolle bei Einlass zur Demonstration ausschloss. Eine politische Schmierenkomödie mit ungewissem Ausgang.

Im Aufruf selbst wird die Abgrenzung nach rechts jedoch nicht deutlich formuliert. Auch wenn wir diese bereits im Petitionstext für notwendig erachtet hätten, so fand die Distanzierung schlussendlich doch statt. Die konsequente Fortsetzung dessen müsste eine eindeutige Abgrenzung im Rahmen der Versammlung und ein Rauswurf öffentlich bekannter oder auftretender rechter Akteur:innen durch Ordner:innen bedeuten. Ob es dazu kommt, steht in den Sternen.

Die AfD versucht mittels ihrer Kriegsposition, ähnlich wie das Manifest für Frieden, eine alternative Ausrichtung für das deutsche Bürger:innentum anzubieten. In diesem Sinne ist ihr Aufruf zur Unterstützung nachvollziehbar, aber das hat noch einen zweiten positiven Punkt für die Rechten. Es ist ihren Akteur:innen vermutlich sehr deutlich klar, dass ein Mobilisierungsaufruf ihrerseits die Demobilisierung im Lager der Arbeiter:innenbewegung befeuern würde.

Sie würden damit sowohl die Verbitterung im Lager der Initiator:innen und ihrer Unterstützer:innen anspornen, während sie ihre eigenen Mobilisierungen weiterhin als die relativ stärksten verkaufen können. Notwendig wäre eine klassenkämpferische Position, die die Schwächung des eigenen Imperialismus, die Beendigung des Krieges durch Klassenkampf ins Zentrum stellt. Ein solcher Aufruf hätte sich jedoch an den DGB und seine Mitgliedschaft richten sollen, eine Verbindung zu den das Jahr 2023 durchziehenden Arbeitskämpfen gebraucht. Eine solche Perspektive gilt es, auch in die Tarifauseinandersetzungen zu tragen.

Begrenzter Pazifismus

Laut Unterstützer:innen der Petition in der LINKEN unterstütze weiterhin eine Mehrheit der Parteimitglieder den Vorstoß. Was jedoch deutlicher zu erkennen ist, ist die Kapitulation der Partei angesichts der aktuellen Herausforderungen. DIE LINKE versteht sich seit ihrer Entstehung als Antikriegspartei, eine Position auf dem Sand des Pazifismus gebaut. Beide Bewegungsrichtungen (Parteivorstand und Regierungssozialist:innen oder Wagenknechtlager), in die pazifistische Politik angesichts des Krieges taumelnd, zeigen deren Begrenztheit auf. Die Mehrheit des Parteivorstandes hält die Füße still, da sie schlussendlich den Frieden nur durch einen militärischen Sieg der Ukraine für möglich halten will und die Rolle der NATO herunterspielt. Der andere Teil sieht dies als unmöglich an und orientiert dementsprechend auf Verhandlungen zwischen jenen Akteur:innen, die spätestens seit 2014 regelmäßig Öl ins Feuer kippen.

Beide Ansätze verstehen den Krieg als externen Schock, den es zu beseitigen gilt, um die rechtmäßige (bürgerliche) Ordnung wiederherzustellen. Dabei ist der Krieg dem Kapitalismus innerlich. Er bietet eine Chance, dessen Überakkumulationskrisen durch massive Vernichtung von Kapital und Arbeit, aber auch Verdrängung imperialistischer Konkurrenz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zu lösen. Sowohl der Fokus der Hardliner:innen als auch jener der Verhandlungsbefürworter:innen überlässt die Handlungsfähigkeit den Herrschenden. Beide bieten Arbeiter:innen und Unterdrückten keine eigenständige Handlungsperspektive.

Insgesamt lehnen wir Verhandlungspredigten ab. Sie haben auf verschiedenen Ebenen einen passiven Charakter. Erstens erhoffen sie gerade von jenen imperialistischen Regierungen einen „gerechten Frieden“, die selbst maßgeblich den Krieg befeuert haben und befeuern. Zweitens unterstellen sie den Krieg als etwas Außerordentliches, in dem es nur um Töten oder getötet Werden geht. Das Zurückholen der jeweiligen Staaten an den Verhandlungstisch, die den vorherigen „friedlichen“ Zustand wiederherstellen sollen, bleibt die letzte waffenlose Form der Vaterlandsverteidigung.

Wer ist das Subjekt einer Antikriegsbewegung?

Der Aufruf für den 25. Februar macht dies ganz deutlich. Die deutsche Bevölkerung – also auch die Arbeiter:innenklasse – können ihm zufolge nichts bewirken. Daher muss Olaf Scholz als Friedensarchitekt ran.

Doch nicht nur die deutsche Bevölkerung taucht als Subjekt nicht auf. In der Ukraine und in Russland gibt es anscheinend auch nur Herrschende. Die ukrainischen Massen, die die Hauptlast des Kriegs tragen müssen, erscheinen nur als bedauernswerte Opfer. Ihre eigenen sozialen und demokratischen Rechte und Interessen gibt’s anscheinend nur als Restgröße der Verhandlungen zwischen Putin und Biden, unter Vermittlung von Scholz und Macron. Die russische Arbeiter:innenklasse und die dortige Antikriegsbewegung werden erst gar nicht erwähnt.

Als Revolutionär:innen stellen wir im Kampf gegen diesen Krieg und seine Folgen den Klassenkampf, die Frontstellung zur herrschenden Klasse und zum „eigenen“ Imperialismus in den Mittelpunkt. Zugleich solidarisieren wir uns mit den Arbeiter:innen in der Ukraine und Russland. So haben wir schon im Mai letzten Jahres folgende Vorschläge für den Aufbau einer Antikriegsbewegung in Deutschland erbracht, die in ihren Grundzügen bis heute (leider) noch immer Gültigkeit haben:

  • Nein zu Putins Angriffskrieg! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung und Antikriegsbewegung in Russland!
  • Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!
  • Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter:innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Festgenommenen!
  • Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle – finanziert durch den Staat; Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!
  • Nein zu jeder NATO-Intervention! Gegen alle Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen und Waffenlieferungen! Gegen NATO-Ausweitung, sofortiger Austritt aus der NATO!
  • Keinen Cent für die imperialistische Politik, für die Bundeswehr! Nein zum 100-Milliarden-Programm der Ampelkoalition!
  • Die Kosten für die Preissteigerung müssen die Herrschenden zahlen! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Übernahme gestiegener Lebenshaltungskosten der Arbeiter:innenklasse, der Rentner:innen, von Erwerbslosen durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Politischer Massenstreik und Massendemonstrationen gegen jede direkte NATO-Intervention!

Doch um diese Perspektive zu verbreiten, müssen wir diese auch unter die Arbeiter:innen tragen – auch unter jene, die vom Pazifismus geprägt sind und aus diesem Grund den Aufruf unterzeichnet haben bzw. zur Kundgebung kommen. Für sie erscheint die Verhandlung, ein Mittel zur Beendigung der Barbarei darzustellen, ohne dabei jedoch die Frage nach deren Ursprung und Wiederholungspotential aufzuwerfen. In diesem Sinne rufen wir alle linken und klassenkämpferischen Organisationen dazu auf, sich an der Versammlung zu beteiligen und für eine Position des Klassenkampfes einzutreten.