Mali: Massenproteste und der Putsch vom 18. August

Der Putsch in Bamako vom 18. August hat den Blick auf eine Massenbewegung gelenkt, der bis dahin wenig Aufmerksamkeit zukam. Er hat auch Reaktionen der in Mali involvierten ausländischen Interventionsmächte hervorgerufen, die die Anliegen dieser Bewegung bis dahin für nicht beachtenswert gehalten haben.

Dem Putsch vorausgegangen ist seit Anfang Juni eine Massenbewegung, die zehntausende Menschen in der Hauptstadt Bamako auf die Straßen mobilisiert hat. Sie forderte den Rücktritt von „IBK“, dem seit 2013 regierenden Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta, und die Auflösung des Parlaments. Ein Auslöser der Proteste war eine umstrittene Entscheidung des Verfassungsgerichts, das die Parlamentswahlen vom März 2020 in Teilen für ungültig erklärt hatte und dadurch IBKs Partei ermöglicht hatte, ihre Mehrheit auszubauen. Doch die Proteste gründen sich auf eine weit umfassendere Krise. Im Zentrum steht dabei eine Welle reaktionärer ethnischer Gewaltverbrechen durch bewaffnete Gruppen und die Unfähigkeit oder der Unwillen der Regierung, ihre Autorität im Land durchzusetzen. Eine große Rolle spielt auch der neoliberale Niedergang des Landes durch eine Reihe aufgezwungener Reformprogramme seit den 1990er-Jahren, die die Lebensgrundlage eines großen Teils der ländlichen Bevölkerung bedroht oder zerstört hat und mit der Verdrängung der traditionellen Landwirtschaft durch modernes Agrobusiness einhergeht.

Die Macht im Land liegt nun in den Händen eines bis vor kurzem unbekannten Zirkels von Militärs unter der Führung des Offiziers Assimi Goita. Er hat versprochen, internationale Vereinbarungen einzuhalten, besonders mit Hinblick auf die ausländischen Militärinterventionen (derer es drei verschiedene gibt). Dennoch dominiert unter den imperialistischen Mächten die Befürchtung, dass der Putsch deren Kriegsziele und strategische Interessen zurückwerfen wird.

2012: Tuareg-Aufstand und Islamisches Kalifat

Mali umfasst eine Vielzahl verschiedener Ethnien, von denen die meisten wiederum in mehreren Staaten leben. Auf die Interessen der Bevölkerungsgruppen wurde bei der Grenzziehung durch die ehemaligen Kolonialmächte in Westafrika im Einzelnen keine Rücksicht genommen. Daher ist einerseits rassistische und nationale Unterdrückung in diesen heute halbkolonialen Ländern strukturell angelegt und muss andererseits ein destabilisierendes Moment ausüben, das sich den üblichen sozialen Verheerungen, mit denen der globale Kapitalismus dem afrikanischen Kontinent aufwartet, überlagert. Der Tuareg-Aufstand von 2012 bestätigt das. Er brachte die ehemalige „Musterdemokratie“ Mali auf den Weg in den Strudel der „failed states“. Burkina Faso und Niger sind von dieser Entwicklung ebenfalls betroffen.

Die Gemeinschaften der Tuareg, die sich über mehrere Länder im Zentrum der Sahara verteilen, waren mehr als andere Völker der Region im Zuge der Dekolonialisierung marginalisiert worden. Die blutige Niederschlagung des ersten Tuareg-Aufstandes von 1963 hatte viele Tuareg aus ihren Heimatregionen vertrieben. Die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch wirtschaftliche Misere und die Dürren der 1970er und 80er Jahre verstärkten dies und schufen eine entrechtete, transnationale Jugend (Ishumar), die als ArbeitsmigrantInnen umherziehen. Diese waren die hauptsächliche soziale Basis der bewaffneten Rebellionen von 1990-95 und 2007. Die Rebellionen wurden vom malischen Militär mit Unterstützung von ethnischen Hilfstruppen bekämpft und mit Versprechungen von begrenzter Selbstverwaltung und stärkerer Integration der Tuareg in die Sicherheitskräfte beigelegt.

Die Tuareg wurden notwendigerweise Gegenstand regionaler Auseinandersetzungen. Von politischem Interesse waren sie stets nur insoweit, wie sie für spezifische Interessen – insbesondere des libyschen Regimes – von Nutzen sein konnten. So waren sie im „Gastland“ Libyen als Arbeitskräfte und Rekruten in den Repressionsorganen gerade dadurch geschätzt, dass es ihnen an staatsbürgerlichen Rechten mangelte. Außenpolitisch konnten sie Gaddafis pan-afrikanische Ambitionen unterstreichen. Obwohl Gaddafi das Konfliktpotential, das in der ungelösten nationalen Frage der Tuareg liegt, gezielt ausnutzte, konnte er die politischen Ambitionen der Tuareg kanalisieren. Dies zeigte sich etwa 2009 im Tuareg-Aufstand in Niger, wo Gaddafi mit einem Teil der Tuareg-Kräfte eine Vereinbarung aushandelte, die den Aufstand spaltete und beendete. Der Nutzen der Tuareg lag für Gaddafi darin, dass er sich gegenüber dem Ausland als Vermittler anbieten konnte. Es überrascht nicht, dass sein Sturz 2011 nachhaltigen Einfluss auf die Tuareg-Frage genommen hat.

Der Tuareg-Aufstand 2012 resultierte in der Erklärung des kurzlebigen Staates von Azawad. Sein rascher Zerfall war die Folge einer prinzipienlosen Bündnispolitik der MNLA-Führung (frz. Mouvement national de libération de l’Azawad) mit Ansar Dine, lokaler Ableger von AQIM (Al Qaida im Islamischen Maghreb), und der falschen Orientierung der MNLA auf Anerkennung und Unterstützung durch den Imperialismus. Der Aufstand scheiterte vor allem an daran, dass seine von Tuareg dominierte Führung kaum Unterstützung unter den übrigen Volksgruppen in Nordmali gewinnen konnte. Ansar Dine attackierte die MNLA für ihren azawadischen Nationalismus und rekrutierte selbst unter den Tuareg. Zugleich nutzten die Salafisten bestehende rassistische Ressentiments aus und gewann die Unterstützung von Kräften in den Gemeinschaften der Songhai und Fula (frz. Peul), die vormals an der Seite der Regierung standen. Diese Allianz unter Führung von Salafisten brach mit der MNLA und konnte im Sommer 2012 ihre alleinige Kontrolle über Nord-Mali errichten. Der rasche Kontrollverlust der Regierung in Bamako triggert außerdem am 21. März 2012 einen Putsch.

Der Putsch von 2012 mit linker Rückendeckung

Der Putsch von 2012 gegen Präsident „ATT“ (Amadou Toumani Touré) bekam es mit Gegenwind zu tun. Die „Verweigerungsfront“ (frz. Front du Réfus), bestehend aus etwa 100 gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen und 50 Parteien, beharrte auf einer zivilen und demokratisch legitimierten Regierung und weigerte sich, die Junta anzuerkennen oder mit ihr zusammenzuarbeiten. Bezeichnenderweise war die reform-stalinistische SADI-Partei die einzige parlamentarische Kraft, die sich zu einer Zusammenarbeit mit der Junta bereit erklärte. Trotz dieser verbreiteten Ablehnung des Putsches kam es zu keiner Massenmobilisierung, die der Herrschaft des Militärs etwas hätte entgegensetzen können. Die Junta-GegnerInnen bildeten einen prinzipienlosen Block mit nationalistischen, bürgerlichen Kräften, die auch UnterstützerInnen des gestürzten Präsidenten umfasste. Zugleich stellte sich ein anderer Flügel der Gewerkschaftsbewegung hinter die Militärjunta.

Etliche linke Intellektuelle bezogen sogar eine durch und durch chauvinistische Position. Beispielhaft hierfür steht das „Forum für ein anderes Mali“ (Forum pour un Autre Mali, FORAM), das über Verbindungen zur Sozialforenbewegung verfügt und u.a. von der malischen Linken Aminata Traoré unterstützt wird. Sie argumentierten 2012, dass der Tuareg-Aufstand Teil einer planmäßigen Neuaufteilung Westafrikas durch die imperialistischen Mächte sei. Daher sei die Herrschaft des Militärs das kleinere Übel gegenüber des drohenden Verlusts der „territorialen Einheit“. Natürlich zeigte sich schnell, dass das Militär und die korrupten Eliten im Interesse ihres eigenen Machterhalts den imperialistischen Interventionen bereitwillig zustimmen würden. Die vollkommene Preisgabe einer linken Programmatik hat die politische Orientierungslosigkeit dieser malischen und westafrikanischen Linken verschärft und dazu beigetragen, dass sie oftmals als linke Flankendeckung für reaktionäre despotische Regime und deren Politik agieren – ganz zu schweigen davon, dass sie mit der „territorialen Einheit“ genau die postkoloniale, d.h. imperialistische Ordnung verteidigen, als deren GegnerInnen sie sich präsentieren. Die Linke kann im westafrikanischen Nationalitätenmosaik keine progressive und anti-imperialistische Perspektive vertreten, ohne das Selbstbestimmungsrecht der Völker bedingungslos anzuerkennen. Die nationale Frage muss mit dem Kampf gegen die herrschenden Eliten verknüpft werden, die die postkolonialen Staaten ausplündern und deren Macht und internationale Anerkennung die Verteidigung der bestehenden staatlichen Ordnung zur Voraussetzung hat.

Konflikt in Zentralmali

Angesichts der Etablierung der militanten salafistischen Kräfte hat die Regierung und das Militär auf ethnische Milizen gesetzt. Beispielhaft hierfür steht die Miliz Dan Na Ambassaou, deren Mitglieder aus den Dogon-Gemeinschaften kommen. Sie wurde von der Regierung zu Beginn des Konflikts als nützliches Gegengewicht betrachtet und hat sich mittlerweile selbst als Machtfaktor etabliert. Sie ist bekannt für reaktionäre Verbrechen gegenüber den Fula, die den Charakter von ethnischen Säuberungen annehmen, wie das Ogossagou-Massaker vom 23. März 2019 mit 160 Todesopfern. Die rassistische Grundstimmung, die Fula als angebliche UnterstützerInnen von Ansar Dine stigmatisiert, ist eine Begleiterscheinung des „Kriegs gegen den Terror“.

Ethnische Konflikte sind zugleich Vorraussetzung und Folge der imperialistischen Interventionspolitik. Die Imperialisten versuchen, durch militärische „Hilfestellung“, Ausbildung etc. das malische Militär zum kompetenten Ordnungsfaktor aufzubauen. Angesichts dessen, dass das Militär seit der Unabhängigkeit immer die letztendlich entscheidende Rolle im Land gespielt hat, liegt diese Strategie auf der Hand. Die Massenbewegung der vergangenen Wochen hat gezeigt, dass dieses System gestürzt werden kann, aber um die Krise in progressiver Weise zu lösen, ist eine politische Strategie notwendig. Die Führung der M5-RFP (Mouvement du 5 Juin 2020, Rassemblement des Forces Patriotiques) hat die Militärjunta anerkannt. Assimi Goita hat angekündigt, dass seine Junta während einer „Übergangsperiode“ von 3 Jahren regieren wird. Ein großer Teil der malischen Linken scheint die Fehler von 2012 zu wiederholen, indem sie die „nationale Einheit“ als ein den unmittelbaren Interessen der Massen übergeordnetes Ziel vertritt.

Natürlich wird die Militärjunta keines der elementaren Probleme des Landes lösen können. Sie wird wie jede andere bürgerliche Regierung vom Wohlwollen des französischen Imperialismus und der sog. „internationalen Gemeinschaft“ abhängig sein. Der bis vor kurzem im Zentrum der M5-RFP stehende salafistische Prediger Mahmoud Dicko gibt sich als „Brückenbauer“ zwischen Nationalisten und Islamisten. Er gehörte 2013 zu den UnterstützerInnen der imperialistischen Intervention und bis 2017 zum Lager von IBK. Assimi Goita selbst kommt aus den malischen Spezialkräften, die seit 2013 von imperialistischen Mächten für den Anti-Terror-Krieg trainiert werden. Die Militärjunta repräsentiert keine grundsätzlich andere Politik, sondern einfach jenen Teil der nationalen Elite, der für einen etwas inklusiveren Umgang mit dem islamistischen Aufstand eintritt.

Die Krise in Mali beruht auf dem Erbe des Kolonialismus und auf ungelösten nationalen Fragen, auf der Landfrage und dem Verlust der Lebensgrundlage von SubsistenzbäuerInnen durch neoliberale Reformpolitik und Klimawandel, und allgemein auf der ungelösten demokratischen Frage. Um diese Krise im Sinne der unterdrückten Massen zu lösen, ist ein Programm nötig, das sich zentral auf die ArbeiterInnenklasse bezieht und diese Fragen mit der Mobilisierung und Bewaffnung der Massen verbindet.

Der Militärjunta muss eine verfassungsgebende Versammlung entgegengestellt werden, die von Massenversammlungen der ArbeiterInnen, BäuerInnen und Armen organisiert wird, und in der die Klassenfrage politisch offen zutage treten kann. Dies stellt natürlich unmittelbar die Macht der Militärjunta in Frage, was den Kampf innerhalb des Militärs für das Recht auf politische Organisierung und Agitation für SoldatInnen, für das Recht auf Befehlsverweigerung und letztlich für die Zersetzung der Macht der Junta von innen heraus auf die Tagesordnung setzt.

Die reaktionäre ethnische Gewalt erfordert die Bewaffnung der Massen und die Bildung von Selbstverteidigungseinheiten, die von den Massen kontrolliert werden und diese vor Angriffen der Islamisten, des Militärs oder anderer Gruppen schützen.

In Anbetracht der nationalen Frage müssen Linke unbedingt für ein Programm eintreten, das die politischen und sozialen/wirtschaftlichen Gegensätze zwischen den Nationalitäten überwindet und jegliche Formen von Diskriminierung bekämpft. Dies muss nicht die Lostrennung des Nordens beinhalten, aber das unbedingte Recht auf diese, falls die Bevölkerung dies dort mehrheitlich wünscht. Die nationale Frage muss auch verbunden werden mit dem Kampf gegen alle imperialistischen Interventionen und für den Abzug aller ausländischer Truppen.




Neue militärische Eskalation in Libyen!

Unser Autor Jonathan Frühling erklärt, was genau in Libyen los ist und warum niemand darüber spricht.

Während hierzulande Corona die Nachrichtenwelt dominiert,
gehen die kriegerischen Konflikte zwischen Imperialist_Innen und Regionalmächte
unvermindert weiter. Dabei ist ein alter Konfliktherd mit besonderer Heftigkeit
wieder ausgebrochen: Libyen.

Libyen ist ein weitläufiger nordafrikanischer Wüstenstaat
mit einer Bevölkerung von knapp 7 Millionen Menschen. Das BIP beträgt ca. 30
Mrd. US-Dollar, was ungefähr der wirtschaftlichen Stärke Syriens entspricht,
wobei die Wirtschaft vor allem auf der Förderung von Öl basiert.

2011 wurde der langjährige Diktator al-Gaddafi durch einen
Bürgerkrieg gestürzt. Damals zerfiel die Armee und es bildeten sich lokale
Milizen, die von der NATO aus der Luft unterstützt wurden. Recht bald nach dem
Krieg ist diese Allianz gegen al-Gaddafi jedoch zerfallen und hat zu einem bis
heute andauernden Bürger_Innenkrieg geführt.

Politische Ausgangslage

Das Land ist momentan gespalten in einen Ost- und einen
Westteil. Der Westen wird geführt von der Übergangsregierung GNA (Government of
National Accord) unter dem Ministerpräsidenten as-Sarradsch, indem er die ehemalige
Hauptstadt Tripolis und die umliegenden dicht besiedelten Gebieten kontrolliert.
Diese Regierung wird auch von der UN als die legitime Regierung anerkannt und
vom Westen unterstützt. Im Osten herrscht der General Haftar und seine Libyan
National Army (LNA), die auch einen Großteil der Ölquellen unter ihrer
Kontrolle haben. Er stützt sich auf eine Reihe von im Nord-Osten des Landes
ansässiger Stämme, die hoffen, bzw. hofften, nach seinem Sieg eine bevorzugte
Stellung im neuen Staat zu erhalten.

Neuste Entwicklungen

Vor gut einem Jahr begann das Militärbündnis von Haftar mit
einer großangelegten Offensive, die zu der Eroberung der Hauptstadt Tripolis
führen sollte. Politische Verhandlungen hatte Haftar zuvor abgebrochen. Bei der
Offensive wurden einige Erfolge erzielt und bis in die Vorstädte der Hauptstadt
Tripolis eingedrungen. Dann allerdings stoppte die Offensive, denn die GNA
bekam militärische Unterstützung vor allem durch die Türkei. Diese sendete
unzählige Schiffe mit schwerem militärischen Gerät, vor allem gepanzerte
Fahrzeuge, sowie der Türkei treuen Islamisten aus Syrien, was wohl
ausschlaggebend für die Wende im Krieg war.

Dadurch konnten die Truppen der GNA selbst offensiv werden
und Städte im Westen des Landes und südlich von Tripolis zurückerobern. Die
Rückeroberung eines großen Militärflughafens war dabei der jüngste Erfolg. Dies
hat zudem dazu geführt, dass die Türkei nun eine festere militärische Präsenz
als bisher aufbauen kann. Zudem kann die Türkei die GNA Truppen jetzt
komfortabel aus der Luft unterstützen und damit die fast vollständige Lufthoheit
Haftars Truppen brechen.

Die Militärallianz der Regierung Haftars droht aufgrund
dieser Rückschläge zu zerbrechen, da es nämlich in Libyen auf keiner Seite eine
zentral strukturierte Armee gibt. Vielmehr gibt es lokale Milizen, die vor
allem ihre eigene Macht im Auge haben und deshalb leicht die Seiten wechseln können.
In den von der GNA eroberten westlichen Städten haben die lokalen Milizen,
vorher noch auf Haftars Seite, bereits der GNA die Treue geschworen.

Doch nicht nur die lokale Unterstützung Haftars bröckelt.
Russland, welches bislang Haftar unterstützte, hat seine Militärberater_Innen
und militärisches Gerät, wie z.B. Flugabwehrraketen aus der Frontnähe in den
Osten des Landes abgezogen. Russland scheint also zumindest die Hoffnung auf
eine baldige Offensive zur Rückeroberung der verlorenen Gebiete zu bezweifeln.
Auch von Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emiraten hört man bisher zur
Unterstützung der LNA wenig. Dabei hatte Ägypten bei einer Ausweitung des
Krieges durch die Türkei vor einigen Monaten noch mit dem Einsatz von
Bodentruppen gedroht.

Hunderte Menschen haben in dem letzten Jahr der Kämpfe den Tod gefunden. 200.000 wurden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen.

Die Lage von Flüchtenden

Das subsaharische Afrika ist von völliger Verarmung,
Rechtlosigkeit und Kriegen geprägt. Deshalb fliehen viele Menschen, um Arbeit
in Europa zu finden. Lange Zeit diente der Diktator al-Gaddafi der EU als
gutbezahlter Türsteher der Festung Europa. Nach dem Sturz Gaddafis nutzen nun
viele Flüchtende das entstandene Chaos, um in Libyen zu versuchen, illegal nach
Europa überzusetzen. Dabei müssen sie sich in die Hände von skrupellosen
Schleppern begeben. Oftmals werden sie vergewaltigt und/oder geraten in die Hände
von Menschenhändlern, die sie versklaven. In Libyen wartet eine Regierung auf
sie, die sich von der EU bezahlen lässt, mit militärischer Gewalt das
Übersetzen von Flüchtlingen zu verhindern. Viele Boote werden sogar noch
außerhalb der libyschen Gewässer zur Rückkehr gezwungen. Menschen auf der
Flucht werden gefangen genommen und interniert. Dort warten jahrelange
Inhaftierung unter erbärmlichen Bedingungen auf sie. Zudem sind Folter und
Missbrauch an der Tagesordnung, sodass nicht wenige durch Selbstmord diesem
Schrecken entfliehen.

Forderungen

Klar ist für uns als Kommunist_Innen, dass das Land in ein
solches Chaos abgedriftet ist, weil die Revolution zwar das diktatorische
Regime von Gaddafi gestürzt hat, die Eigentumsfrage aber unangetastet ließ. Wie
viele Revolutionen im sogenannten „Arabischen Frühling“ hatten auch die
Bewegungen in Libyen große Potentiale, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Ihr
trauriges Schicksal erinnert an die ägyptischen oder syrischen Aufstände, in
denen ebenfalls die Arbeiter_innenklasse nicht die programmatische Führung über
die Widerstandsbewegungen übernahm und somit den Weg für neue machthungrige
Cliquen frei machte statt ihr objektives Interesse an allgemeiner Emanzipation
zu verfolgen. Ähnliche Fragen stellen sich heute auch für die aufständischen
Bewegungen im Libanon oder im Irak.

Keine der in Libyen momentan befehlenden Milizen oder
Milizverbände hat ein Interesse daran, Verbesserungen für die lokale
Bevölkerung einzuführen. Letztlich geht es nur darum, welche kapitalistischen
Cliquen und hinter ihnen stehenden Mächte die Kontrolle über das Land, bzw. die
Ölreserven des Landes, bekommen.

Wir als Vertreter_Innen der Arbeiter_Innenklasse vertreten
eine ganz andere Position: Wir treten für eine Bewegung der Arbeiter_Innen und
Bäuer_Innen ein, die Schluss macht mit Fremdherrschaft und Ausbeutung.

Um das zu erreichen, müssen wir für folgenden grundlegenden
Forderungen kämpfen:

  • Für Versammlungsfreiheit,
    Pressefreiheit und Organisationsfreiheit
  • Regionalmächte und
    Imperialisten raus aus Libyen. Keine Kriegsunterstützung für bürgerliche
    Milizen!
  • Entwaffnet und zerschlagt
    die Milizen, die das Land seit 2011 ins Chaos getrieben haben!
  • Für eine Enteignung des
    Großgrundbesitzes. Das Land muss denen gehören, die es bestellen!
  • Für eine Vergesellschaftung
    der Industrie. Die Wirtschaft soll nach einem Plan der Produzent_Innen und
    Konsument_Innen reorganisiert werden!
  • Keine Folter und
    Internierung von Geflüchteten. Jeder Mensch, der Libyen nach Europa verlassen
    will, soll dies ohne Einschränkung tun können!
  • Für den Aufbau einer
    revolutionären Partei unter deren Banner die Unterdrückten sich sammeln,
    bewaffnen und kämpfen können!
  • Für ein sozialistische
    Föderation der Staaten Nordafrikas!



Crash, Kürzung und Corona

Christian Mayer & Felix Ruga

Nachdem die
Kursverläufe an der Börse in den letzten Jahren vergleichsweise
stabil verlaufen sind, brechen sie seit ca. einem Monat weltweit
rapide ein. Und spätestens mit der Ausbreitung des Corona-Virus‘ zur
Pandemie wird die globale Krise immer greifbarer. Doch betrachtet man
zentrale Wirtschaftszweige in Deutschland wie Autos oder Chemie, war
es nur eine Frage der Zeit, denn der Niedergang war dort schon in
vollem Gange.

Was zuvor geschah:
Die deutsche Industrie baut auch ohne Virus ab.

In den letzten sechs
Monaten wurden von verschiedenen mittelgroßen bis großen
Unternehmen Stellenabbau und Sparprogramme angekündigt, nachdem
ständig das Wirtschaftswachstum nach unten korrigiert wurde und sich
überall die Sorge um eine kränkelnde Industrie breit machte.
Hauptsächlich kündigten die großen Autobauer diese Sparprogramme
an, die sehr harte Einschnitte bei der Belegschaft darstellen. Egal
ob nun VW, Daimler, Audi oder auch Zulieferer wie Bosch, Continental,
Mahle, Brose; ja sogar der Chemiekonzern BASF hat Personalabbau von
insgesamt mehreren 10.000 Beschäftigten angekündigt.

Die offiziellen
Begründungen seitens der Kapitalist_Innen waren damals zumindest in
der Automobilindustrie immer dieselben: Neben den Altlasten des
„Abgasskandals“ müsse man auf die aktuellen Entwicklungen des
Weltmarktes reagieren, bzw. Geld für die bevorstehende
„Transformation“ beiseitelegen. Mit „Transformation“ ist hier
die Umstellung auf E-Mobilität gemeint, wie auch die Einführung von
Industrie 4.0 im Zuge einer weiter voranschreitenden Digitalisierung
der Produktionsprozesse. Laut Studien werden mehrere 100.000
Arbeitsplätze allein durch die Einführung vollständig
automatisierter Fertigungsprozesse überflüssig, die ohne
menschliches Zutun auf Basis der Nutzung von künstlicher Intelligenz
ablaufen und bei der die Maschinen mittels Datennetzen miteinander
kommunizieren. Nichts anderes bedeutet die Einführung von Industrie
4.0: Es wird ein riesiges Heer an Arbeitskräften freigesetzt, die
alle auf den Arbeitsmarkt drängen und nach Ersatzbeschäftigungen
suchen. Diese kann aber das bestehende System nicht anbieten, da
mögliche Umschulungsprogramme aus Kostengründen abgelehnt werden.

In den letzten 10
Jahren, also seit der letzten großen Finanzkrise, hat sich die
Weltwirtschaft sehr unterschiedlich entwickelt.
Zwar konnten sich große Binnenwirtschaften wie die der USA
wieder erholen und Länder wie China verzeichnen seit Jahren ein
permanent hohes Wirtschaftswachstum. Allerdings konnten andere
Wirtschaftsräume wie die EU kaum bis gar kein Wachstum erzielen, die
gegenteilige Entwicklung ist der Fall. Auch Lateinamerika, das eine
Zeit lang der Hoffnungsträger für die positive Entwicklung der
Weltwirtschaft war, steckt seit Jahren in einer zunehmenden Krise
fest. Allein Staaten wie Venezuela oder auch Argentinien stehen am
Rande des Staatsbankrotts mit noch nicht absehbaren Folgen für die
lokale wie auch die Weltwirtschaft und das trotz eines
Freihandelsabkommens zwischen den Staaten des Mercosur-Raumes und der
EU. Dies wurde noch mit einem beschleunigenden Niedergang an den
Rohstoffmärkten verstärkt. Vor allem der Ölpreis fiel schon seit
letztem September im Zuge fehlgeschlagener Verhandlungen zwischen den
ölfördernden Ländern rapide und man sprach schon von einer neuen
Ölkrise. Dies stellt eine existentielle Bedrohung für die Länder
dar, die von dessen Förderung abhängig sind. Hinzu kommen auch die
nach wie vor unklaren Auswirkungen des Brexits, bei dem die
Feinarbeiten an der Entflechtung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen
den EU-Staaten und Großbritannien erst begonnen haben.

Die
Corona-Pandemie ist also letztlich nur ein Auslöser aber nicht die
Ursache der Wirtschaftskrise. Diese liegt weitaus tiefer in der
kapitalistischen Produktionsweise selber. 2007/2008 ist sie in eine
tiefe Absatzkrise geraten, sodass die Produktivität und die
Investitionen massiv gesunken sind. Diese Krisenursachen wurden
jedoch nicht behoben, sondern nur durch Niedrigzinspolitik und
riesige Bankenrettungspakete abgefedert und das hat bis heute
destabilisierende Auswirkungen auf die Wirtschaft, indem sich zum
Beispiel durch Spekulation in einigen Sektoren große Blasen bilden.

Und dann auch noch
Corona

In diese Schwächelage
hat nun Anfang diesen Jahres ein weiterer Faktor die Karten neu
gemischt: das Corona-Virus. Die Auswirkungen und dabei vor allem die
notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung sorgen seitdem
dafür, dass die so empfindliche globalisierte Marktwirtschaft
vollends crasht. Wir sollten
uns jedoch nichts vormachen: Die Quarantänemaßnahmen, die in vielen
kapitalistischen Staaten beschlossen wurde, sind nicht aus
Menschenliebe passiert. Vielmehr drücken sie Kalkulationen des
Kapitals aus, dass eine ungehemmte Ausbreitung der Pandemie die
Wirtschaft mehr kosten würde, als es aktuellen Schutzmaßnahmen tun.
Das ewige Hinundher und das lange Zögern der bürgerlichen
Regierungen widerspiegeln diesen Abwägungsprozess, der darüber
hinaus auch schnell zu anderen Resultaten kommen kann.

Die Rezession hat sich
jedoch schon vor der Pandemie abgezeichnet: China als Lokomotive des
Weltmarktes wurde als erstes in der Millionenstadt Wuhan getroffen
und hat Ende Januar begonnen, riesige Gebiete vom Verkehr abzuriegeln
und mit Essen und medizinisch zu versorgen, was sowohl Kapital als
auch Arbeitskraft band. Das öffentliche Leben vor Ort kam durch
Ausgangssperren zum erliegen und in ganz China wurden
Wirtschaftsabläufe gestört und teilweise heruntergefahren, wenn
deren Produktion mit den abgeriegelten Gebieten zusammenhing. Dadurch
sank zunächst der Ausstoß und bald auch die Nachfrage des
chinesischen Marktes und damit kamen auch weltweite Produktions- und
Lieferketten zum Erliegen. Ironischer Weise kann etwa das
Organisieren von Nachschub für Atemschutzmasken schwieriger sein, da
diese überwiegend in China produziert werden. Auch Apple spürte die
ersten Auswirkungen schon damals, da z.B. der Elektronik-Riese
Foxconn ebenfalls überwiegend in China produzieren lässt und Apple
mit massenhaft Teilen beliefert. Daher wurde auch der
Produktionsbeginn für ein neues Smartphone um Monate verschoben.
Gerade anhand der Ausfälle in der Produktion kann man sehr gut
sehen, wie stark die Abhängigkeit von China als Produktionsstandort
weltweit geworden ist.

Diese Belastung wurde
selbstverständlich ungleich verstärkt, indem sich Covid-19 von
einer lokalen Massenerkrankung zur Pandemie entwickelt hat und nun
vor allem Europa und die USA betrifft. Dadurch bricht nun Panik aus,
jedes Land fährt einen nationalen Alleingang und die Grenzen werden
dicht gemacht. Dies blockiert nun auch hier die Produktions- und
Lieferketten. Dazu werden wie auch in China heftige und sehr
autoritäre Einschränkungen des öffentlichen Lebens wie
Ausgangssperren und Zwangsschließungen öffentlicher Treffpunkte
verordnet. Zwar werden die meisten Industriestandorte nicht
zwangsgeschlossen, doch aus Gewinneinbrüchen fahren Stück für
Stück alle großen Betriebe runter: Zunächst die Flug- und
Reiseunternehmen, nun auch die Autoindustrie, Zulieferer,
Chemieunternehmen und weite Teile der restlichen Industrie. Wenige
schaffen es, dann doch noch mit der Krise ihre Profite zu machen:
Trigema macht jetzt Atemschutzmasken, BASF Desinfektionsmittel,
Maschinenbauunternehmen wechseln zu Beatmungsgeräten.
Selbstverständlich ist das bloß ein Tropfen auf den heißen Stein,
die deutsche Industrie hat momentan nichts zu lachen und die Börsen
befinden sich auch im freien Fall. Wie tief der Fall wird, kann
natürlich niemand voraussehen.

Wie
die Staaten reagieren und was wir machen müssen!

Die staatlichen Hilfsmaßnahmen für das nationale Kapital sind dabei weitestgehend ausgereizt: Der Leitzins kann nicht mehr gedrückt, die Steuern für’s Kapital kaum noch herabgesenkt werden. Klar ist, dass die Unternehmen versuchen werden, die Kosten der Krise auf die Arbeiter_Innenklasse abzuladen. Wenn wir keinen Widerstand organisieren, warten also massive Entlassungswellen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Sozialkürzungen und der weitere Abbau öffentlicher Dienstleistungen auf uns.

Ebenso
werden die kapitalistischen Staaten, die zur Eindämmung der Pandemie
dringend nötigen Einschränkungen von Produktion und öffentlichem
Leben nicht solange aufrechterhalten können, wie es aus
medizinischer Sicht notwendig wäre. Kein kapitalistischer Staat kann
über mehrere Monate oder gar Jahre hinweg mit einem so niedrigen
Produktionsniveau überleben. Da im Kapitalismus Profite mehr als
Menschenleben zählen, werden die Infektionsschutzmaßnahmen
spätestens dann zurückgefahren, wenn sie für die Kapitale zu teuer
werden. Und, wenn ein Staat beginnt die Wirtschaft wieder
hochzufahren, müssen die anderen nachziehen, da ein derartiger
Konkurrenznachteil ihr volkswirtschaftliches Todesurteil bedeuten
könnte. Es warten also nicht nur massive soziale Angriffe, sondern
auch ein tausendfaches Sterben auf uns.

Eine
internationale sozialistische Planwirtschaft könnte dagegen über
längere Zeit hinweg mit dem rein gesellschaftserhaltenden
Produktionsniveau überleben, da es in ihr ja keinen
konkurrenzbedingten Zwang zur Profitmaximierung gibt. Ebenso wäre
sie weitaus schneller und effektiver in der Lage, die Produktion auf
die dringend notwendigen Güter wie Beatmungsgeräte,
Desinfektionsmittel, Atemschutzmasken etc. umzustellen. Es gäbe
genug Intensivbetten für alle, da das Gesundheitssystem als
gesellschaftliche Aufgabe verstanden wird, in der Sparmaßnahmen,
Privatisierungen, Pflegemangel oder Fallpauschalen keinen Sinn
ergeben. Auch die ökonomische Existenz eines jeden Menschen wäre
gesichert, da niemand um seinen_ihren Arbeitsplatz oder seine_ihre
Miete fürchten müsste. Da es auch keine nationale Abschottung und
Konkurrenz um das Patent für Impfstoffe gäbe, wäre auch (im
Gegensatz zu den aktuellen nationalen Alleingängen) ein
koordiniertes internationales Vorgehen gegen die Pandemie möglich.

Der Kampf für ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem beginnt damit, dass wir uns den geplanten Angriffen auf unsere Klasse entgegenstellen. Die Gewerkschaften und Arbeiter_Innenparteien sind dagegen aktuell eher auf nationalistischen Kuschelkurs mit dem Kapital aus. Aus den Reihen der Linkspartei wurde geäußert, dass es aktuell „nicht die Zeit für Oppositionspolitik“ sei. Wir Arbeiter_innen, Jugendliche und Migrant_innen müssen unsere Interessenvertretungen durch eigene Forderungen unter Druck setzen und selber die Initiative ergreifen, wenn wir das Schlimmste verhindern wollen. Wir fordern:

  • Keine Entlassungen während der Pandemie! Volle Lohnfortzahlung aus den Profiten der Kapitalist_Innen!
  • In Berufen, die die gesellschaftliche Grundversorgung garantieren, müssen die Arbeiter_Innen ausreichenden Arbeitsschutz, Arbeitszeitverkürzungen und massive Lohnerhöhungen erhalten!
  • In allen Berufen 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn und Personalausgleich!
  • Kostenlose Test-Kits, Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel, Seife und Handschuhe für alle! Die dafür notwendigen Fabriken müssen sofort entschädigungslos enteignet und unter Kontrolle der Beschäftigten gestellt werden, um die Produktion auf die notwendigen Güter umzustellen. Für Beatmungsgeräte statt SUVs!
  • Verstaatlichung aller Kliniken, Pharmakonzerne, Forschungsinstitute und Labore!
  • Für offene Grenzen, um auch Menschen aus anderen Ländern vor Corona retten zu können!
  • Corona war nur Auslöser der Krise, nicht die Ursache! Das Problem liegt im kapitalistischen System!



Corona-Pandemie: 4 Fragen und 4 revolutionäre Antworten!

Kein Thema hat in letzter Zeit unsere Gespräche, Gedanken und Social Media Feeds so geprägt wie das neuartige Coronavirus / Sars-CoV-2, kurz: Corona. Weltweit ist bereits eine Viertelmillion Menschen an dem Virus erkrankt, wovon bisher etwas fast 12.000 (Stand 21.3.) Menschen sterben mussten. Europa ist, nachdem in China die Zahl von Neuinfektionen wieder leicht rückgängig ist, zum neuen Zentrum der Pandemie geworden. Nachdem die Zahl von Infizierten in Italien blitzartig in die Höhe schoss, ist ein ähnlich steiler Anstieg auch in Deutschland zu beobachten. Vor einigen Tagen meldete sich nun auch Kanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehansprache zu Wort: Die Rede war vor allem vom Zusammenhalten, von Vertrauen und von Geduld. Man könnte sie auch so verstehen, dass wir alle schön die Klappe halten und machen sollen, was man uns sagt. Das würde nämlich bedeuten, dass wir stillschweigend hinnehmen, wie deutsche Banken und Unternehmen durch Milliardenkredite gerettet werden, während wir durch Entlassungen, Kurzarbeiter_Innengeld und Grundrechtseinschränkungen die Kosten dessen tragen sollen. Aber ist in der aktuellen Krisensituation der richtige Zeitpunkt für Widerstand? Diese und andere Fragen wollen wir hier beantworten.

Sollten wir nicht gerade jetzt in der Krise zusammenhalten und Kritik hinten anstellen?

Zusammenhalten sollten wir auf jeden
Fall, denn die aktuell stattfindenden Einschränkungen im
öffentlichen Leben und die permanente Angst, sich anzustecken, sind
für uns alle nicht leicht. Positiv sind in diesem Zusammenhang die
an vielen Orten entstehenden Nachbarschaftsinitiativen zur
Lebensmittelversorgung. Hierbei muss aber klar angeprangert werden,
dass diese vor allem deshalb notwendig werden, weil der Staat in
dieser Versorgungsaufgabe versagt.

Die Frage ist für uns, mit wem wir
zusammenhalten. Sicherlich nicht mit den Bossen, die unsere Löhne
kürzen, uns entlassen oder uns auf der Arbeit mit schlechten
Schutzmaßnahmen einem erhöhten Infektionsrisiko aussetzen.
Bestimmte Beschäftigungsverhältnisse wie Scheinselbstständigkeit,
Stunden- oder Projektverträge und Angestellte im Gastro- und
Kulturbetrieb sind aktuell besonders hart betroffen. Während wir uns
also fragen, wie wir unsere Miete bezahlen sollen, versuchen die
Unternehmer_Innen ihre getätigten Investitionen noch irgendwie ins
Trockene zu bringen und uns die Kosten dafür zahlen zu lassen. Für
sich können sie auch nur im kleinsten Verdachtsfall auf ein weiches
Intensivbett in einer Privatklinik mit ausgewiesenem Fachpersonal
vertrauen, während wir und insbesondere ältere Menschen und
Menschen mit Vorerkrankungen das Hauptrisiko tragen.

Die Bundesregierung setzt in ihren
Krisenmaßnahmen vor allem die Interessen der Kapitalist_innen um.
Während Schulen, Unis, Kindergärten, Theater, Clubs, Bars, Museen
und Schwimmbäder geschlossen bleiben, müssen vor allem die Leute
(trotz Infektionsrisiko) an den zentralen Wirtschaftsstandorten
weiterarbeiten. Dass in der Autoindustrie kaum noch mehr gearbeitet
wird, ist viel mehr Folge des Absatzeinbruchs als von
Gesundheitsmaßnahmen.

Ebenso auch Beschäftigte im öffentlichen Dienst, die die Grundversorgung einer Gesellschaft durch Pflege, Erziehung, Infrastruktur und Lebensmittelhandel sicherstellen. Für sie hat Merkel ganz viel Danke und Applaus übrig, doch davon kann sich niemand etwas kaufen. Während Gesundheitsminister Jens Spahn uns lange erzählt hat, dass das deutsche Gesundheitssystem bestens auf eine Corona-Pandemie vorbereitet sei, sehen wir nun, wie überfordert es ist. Kein Wunder, denn jahrelang wurden die Krankenhäuser kaputtgespart und privatisiert. Der erzeugte Personalmangel in der Pflege wurde zusätzlich befeuert durch Unterbezahlung, Ausbeutung und Auslagerung von Beschäftigtengruppen an Dienstleistungsunternehmen, um Tarifverträge zu umgehen. Und zwar nicht nur in Deutschland, auch in Südeuropa waren deutsche Politiker_Innen im Zuge der Euro-Krise ganz vorne mit dabei, durch erzwungene Sparmaßnahmen die lokalen Gesundheitssysteme zu zerstören. Dafür verantwortliche Politiker_Innen und die Bildzeitung versuchen nun, der Öffentlichkeit die Schuld zuzuschieben, um die eigene Verantwortung an dieser katastrophalen Situation unter den Teppich zu kehren. Zusammenhalten müssen also vor allem wir Jugendliche, Lohnabhängige und Migrant_Innen, und zwar über Nationalstaatsgrenzen hinweg. Unsere Kritik dürfen wir dabei nicht verschweigen, sondern müssen sie gerade jetzt durch eigene Forderungen und Maßnahmen zum Ausdruck bringen. Wenn wir keinen eigenen gesamtgesellschaftlichen Notfallplan aufstellen, wird es von der Bundesregierung nur einen Notfallplan zur Rettung der Konzerne geben.

Was wären denn sinnvolle Maßnahmen, die umgesetzt werden sollten?

Unsere Forderungen sollten sich
einerseits gegen die sozialen Angriffe richten und andererseits
wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vorschlagen.
Zuallererst müssen wir für ein sofortiges Entlassungsverbot
eintreten. Ebenso fordern wir statt Kurzarbeiter_Innengeld (also eine
Weiterzahlung von 60 % des letzten Nettolohns durch Steuergelder)
Lohnfortzahlungen, finanziert aus den Profiten der Unternehmen.
Überall, wo es möglich ist, müssen die Leute ohne Konsequenzen von
der Arbeit freigestellt werden,
damit die Eindämmung durch soziale Distanzierung wirklich
funktioniert. In Berufen, die die gesellschaftliche
Grundversorgung garantieren, müssen die Arbeiter_Innen ausreichenden
Arbeitsschutz, Arbeitszeitverkürzungen und massive Lohnerhöhungen
erhalten. Welche Berufe für die gesamtgesellschaftliche
Grundversorgung wichtig sind, entscheiden demokratisch gewählte
Komitees aus Schulen, Unis und Betrieben und nicht die
kapitalistischen Politiker_Innen. Auch unter den erschwerten
Bedingungen können wir solche demokratischen Prozesse online möglich
machen, um eine soziale Antwort auf diese Krise zu finden!

Auch müssen wir entscheiden können,
welche Grundrechtseinschränkungen uns auferlegt werden. Die Gefahr
ist ganz real, dass sie zwar zum Zwecke der Eindämmung beschlossen
werden, aber nur teilweise zurückgenommen werden und generell das,
was „ok“ ist, verschoben wird. So wurde beispielsweise könnte
in Bayern bald der Notstand ausgerufen werden und damit wäre der
Einsatz der Bundeswehr im Inneren legalisiert. Dagegen zu
demonstrieren ginge natürlich nicht, weil das Versammlungsrecht
praktisch abgeschafft wurde. Obwohl es in der aktuellen Situation
nicht sinnvoll wäre, große Massendemonstrationen abzuhalten, sollte
die Regierung uns dieses Recht nicht einfach nehmen dürfen!
Einschränkende Maßnahmen im öffentlichen Raum zur Eindämmung der
Neuinfektionen können natürlich richtig sein, die Frage ist aber,
wer diese festlegt und vor allem wer diese wieder abschafft. Wenn
diese Verantwortung Seehofer und Co. zufällt, die schon vor Corona
versucht haben, autoritäre Polizeistaatsmaßnahmen durchzusetzen,
warum sollte man dann die Teile der Einschränkungen, die man eh
schon vorhatte, nicht einfach beibehalten? Das wäre nicht das erste
Mal in der Geschichte, dass die „Verteidigung gegen einen äußeren
Feind“ dazu benutzt wurde, die Grundrechte der eigenen Bevölkerung
dauerhaft einzuschränken. Beispiel hierfür ist der „Kampf gegen
den Terror“, der schon für Kriege, Einschränkung des Asylrechts
und der Spionage der eigenen Bevölkerung herhalten musste. Der beste
Schutz dagegen ist es, dass wir uns als Betroffene gemeinsam mit
Wissenschaftler_Innen organisieren und selbst die Menschen
delegieren, die in demokratischen Krisenkomitees verbindliche
Maßnahmen festlegen.

Um eine Ausbreitung des Virus‘ zu verhindern, benötigen wir sofort einen kostenlosen und freien Zugang zu Gesundheitsversorgung für alle. Ebenso müssen Test-Kits, Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel, Seife und Handschuhe für alle kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Die dafür notwendigen Fabriken müssen sofort entschädigungslos enteignet und unter Kontrolle der Beschäftigten gestellt werden, um die Produktion auf die notwendigen Güter umzustellen. Statt SUVs brauchen wir halt gerade nun mal Beatmungsgeräte. Das klingt nach einem krassen Schritt, aber beispielsweise waren die kapitalistischen Regierungen mit solchen Maßnahmen während der zwei Weltkriege überhaupt nicht zimperlich, indem sie der Industrie vorgeschrieben haben, dass sie nun Munition, Waffen und Feldversorgung herstellen müssen. Neben massiven Investitionen in Forschung und Versorgung, was auch eine schnellstmögliche Anlernung und gute Bezahlung von Pflegekräfte bedeutet, müssen ebenso alle Kliniken, Pharmakonzerne, Forschungsinstitute und Labore verstaatlicht werden. Es ist sehr problematisch, dass momentan einige Forscher_Innen-Teams nebeneinander her an ähnlichen Projekt arbeiten, aber wegen des Geschäftsgeheimnisses keine vollständige Zusammenarbeit stattfindet, vor allem unter privaten Unternehmen. Die Jagd ist wild, denn wer den Impfstoff oder Schnelltest findet, wird dabei sicherlich Milliarden verdienen. Jetzt kommt es aber auf die Rettung von Menschenleben an und nicht auf Profite!

Wären diese ganzen Maßnahmen aber nicht insgesamt sehr schlecht für die Wirtschaft?

Die Corona-Krise ist nur ein
weiteres Beispiel dafür, wie die freie Marktwirtschaft nicht dazu in
der Lage ist, die dringendsten Bedürfnisse der Menschheit zu
befriedigen und dafür, wie viel effizienter und
bedürfnisorientierter eine demokratische Planwirtschaft agieren
könnte. Das Chaos des Marktes führt zur Anfälligkeit für
Zusammenbruch und Krise, so auch nun mit dem Ausbruch von Corona: Der
DAX fällt täglich ins Bodenlose, die Ölpreise sinken und die für
die deutsche Exportwirtschaft so wichtige just-in-time-Produktion
gerät durch Grenzschließungen immer weiter ins Stocken. Corona ist
dabei jedoch nur der Auslöser und nicht die Ursache der Krise. Diese
liegt weitaus tiefer in der kapitalistischen Produktionsweise selber.
2007/2008 ist sie in eine tiefe Absatzkrise geraten, sodass die
Produktivität und die Investitionen massiv gesunken sind. Diese
Krisenursachen wurden jedoch nicht behoben, sondern nur durch
Niedrigzinspolitik und riesige Bankenrettungspakete abgefedert. Das
Coronavirus ist nun die Nadel, die die riesige Blase gerade zum
Platzen bringt. Weitere Fabrikschließungen, Massenentlassungen und
Sparmaßnahmen werden bald auf der Tagesordnung stehen.

Zugleich verschärfen sich bereits aktuell die Spannungen unter den imperialistischen Ländern und Regionalmächten. Der Wettlauf um einen Corona-Impfstoff ist bereits ein Ausdruck davon. Die Volkswirtschaft, die sich am schnellsten von den Coronafolgen erholt, wird einen gewaltigen Vorteil auf dem Weltmarkt haben und für Verschiebungen im innerimperialistischen Kräfteverhältnis sorgen. Momentan scheinen die Zeichen ganz auf China zu stehen, aber auch andere Ländern setzen in diesem Kampf auf das Konzept „Herdenimmunität“, also das absichtliche Krankwerdenlassen der Bevölkerung bei gleichzeitiger Überlastung des Gesundheitssystems, sodass unzählige Menschen sterben könnten. In Europa hängen prominent die Niederlande und bis vor kurzem noch Großbritannien dieser Taktik an. Die Maßnahmen, die nun doch ergriffen werden, kommen zu spät.

Ist es aber nicht gerade wichtig, die Grenzen zu schließen, um eine weitere Ausbreitung der Infektionen zu verhindern?

In der aktuellen Abschottungspolitik
der kapitalistischen Staaten zeigt sich deutlich, dass ihr ganzes
Gerede von Solidarität nur eine leere Worthülse ist. Wer nur
national beschränkte medizinische Krisenmaßnahmen ergreift, aber
sich nicht für 20.000 von Corona bedrohte, auf der griechischen
Insel Lesbos eingeschlossene und unter schlimmsten hygienischen
Bedingungen lebende Geflüchtete interessiert, braucht uns nichts von
Solidarität zu erzählen. Da eine Pandemie
auch so nicht vor Nationalstaatsgrenzen halt macht, bedeutet
nationale Abschottung darüber hinaus auch immer eine Behinderung von
wirksamen internationalen Schutzmaßnahmen oder der Entwicklung eines
Impfstoffes. Und nicht nur das, nationale Abschottung bedeutet auch,
dass die reichen imperialistischen Länder die ärmeren Ländern mit
ihren schlechter ausgestatteten Gesundheitssystemen alleine lassen
und somit eine weitere Ausbreitung der Infektionen in Kauf nehmen,
solange es nicht auf dem eigenen Staatsgebiet passiert. Dabei wirkt
es so, als wären die imperialistischen Länder nicht dafür
verantwortlich, dass die Gesundheitssysteme in den ärmeren Ländern
so schlecht ausgebaut sind. Durch Kolonialismus, Ausbeutung und
erzwungene Sparmaßnahmen haben die imperialistischen Länder dem
Rest der Welt jedoch die Möglichkeiten für einen adäquaten
medizinischen Kampf gegen das Coronavirus genommen. Zuletzt stärkt
nationale Abschottungspolitik auch immer ausgrenzende,
nationalistische und rassistische Tendenzen, die ja bekanntermaßen
schon vor Corona stark an Fahrtwind dazugewonnen haben.

Wir fordern stattdessen keine
Abschottung und Grenzschließungen sondern Grenzöffnungen, um auch
Menschen aus anderen Ländern vor Corona retten zu können.
Geflüchtete sollen wie alle anderen Einreisenden medizinisch
getestet und, im Fall einer Infektion, medizinisch und sozial
versorgt werden. Die Lager auf den griechischen Inseln müssen sofort
aufgelöst und eine Weiterreise aufs europäische Festland
gewährleistet werden. Das gilt auch für die türkisch-griechische
Grenze am Fluss Evros. Wir fordern legale Fluchtwege und
Einreisemöglichkeiten ebenso wie volle Staatsbürger_Innenrechte für
alle!




LGBTQ in Tunesien: Interview mit einem tunesischen Aktivisten

Robert Teller, Gruppe ArbeiterInnenmacht Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Alaa Khemiri ist ein tunesischer Rechtsanwalt, der auf die Verteidigung von LGBTQ-Menschen vor staatlicher Repression spezialisiert ist. Er ist seit der Revolution von 2011 ein Aktivist in der tunesischen Linken.

Hallo Alaa. Du bist Rechtsanwalt und
verteidigst LGBT-Menschen, die in Tunesien von staatlicher Repression betroffen
sind. Wie sieht diese Repression aus?

Die LGBT-Community wird vom tunesischen
Staat mithilfe des Strafrechts verfolgt. Gemäß Artikel 230 des Strafgesetzbuchs
steht auf homosexuellen Geschlechtsverkehr bis zu 3 Jahre Gefängnis und eine
zusätzliche Geldstrafe. Artikel 226 richtet sich gegen Transgender-Personen,
weil diese die „öffentliche Moral“ verletzen. Darüberhinaus sind die
tunesischen Gerichte Homosexuellen gegenüber feindlich eingestellt. Sie wenden
nicht nur die genannten Paragraphen an, sie gehen sogar über die gesetzlichen
Straftatbestände hinaus und behandeln die homosexuelle Identität als
Verbrechen, obwohl Artikel 230 nur den Geschlechtsverkehr kriminalisiert und
nicht bereits die sexuelle Orientierung.

In der Praxis wandern Homosexuelle ins
Gefängnis, ob sie sexuelle Beziehungen hatten oder nicht. Die tunesischen
Gerichte ordnen bei männlichen Homosexuellen Anal-Untersuchungen an, um
sexuelle Kontakte nachzuweisen. Andere Gerichte gehen sogar noch weiter.
Manchmal reicht es aus, dass ein Mann „verweiblicht“ erscheint, damit ein
Gericht ihn als Homosexuellen ansieht und entsprechend bestraft.

Lesbische Frauen und bisexuelle Frauen und
Männer haben es etwas leichter. Gerichte können Homosexualität bei Frauen nur
schwer nachweisen, weil kein medizinischer oder sonstiger „Test“ hierfür
anerkannt ist. Auch bisexuelle Männer können nur schwer der Homosexualität
„überführt“ werden, sofern sie mit einer Frau verheiratet oder verlobt sind.
Die Heirat verleiht ihnen eine soziale Legitimität. Viele Homosexuelle heiraten
aus diesem Grund, um ihre wirkliche Identität zu verbergen und gesellschaftlicher
Stigmatisierung und Ausgrenzung zu entgehen.

Tunesien scheint nach der Wahl von Kais
Saied von einer Welle des Populismus erfasst zu sein, wie auch viele andere
Länder. Denkst du, dass es für LGBT-Menschen schwieriger wird?

Die rechtliche Situation für Homosexuelle
hat sich nicht verändert. Aber die Äußerungen von Kais Saied vor der Wahl waren
homophob und populistisch. Für ihn ist Homosexualität pervers und ein Virus,
das der Westen verbreitet hat, um die tunesische Gesellschaft zu zerstören.

Auf welche Weise sind junge LGBT-Menschen
speziell von Unterdrückung betroffen, etwa in der Schule, an der Uni oder in
ihrer Familie?

Abgesehen von der systematischen
rechtlichen Unterdrückung erfahren Homosexuelle gesellschaftlichen Hass und
Zurückweisung. Viele Familien werfen ihr Kind aus dem Haus, wenn sie von seiner
Homosexualität erfahren – um Einschüchterung durch die erweiterte Großfamilie
oder das soziale Umfeld zu vermeiden. Auch in Schulen werden Homosexuelle Opfer
von Hass und Einschüchterung, und deshalb versuchen sie normalerweise, ihre
sexuelle Identität zu verheimlichen und dem gesellschaftlichen Mainstream zu
folgen, um gesellschaftlicher Ausgrenzung und staatlicher Repression zu
entgehen.

Welche Gründe hat die Diskriminierung von
LGBT-Personen, abgesehen von den gesetzlichen Regelungen?

Die Ausgrenzung entspringt der islamischen
Doktrin und den islamischen Institutionen. Der orthodoxe Islam sieht als Strafe
für Homosexualität die Todesstrafe vor. Der islamische Diskurs in Tunesien ist
hasserfüllt, Homosexuelle werden als pervers oder krank betrachtet. Die
islamischen Institutionen sind das größte Hindernis für Gleichberechtigung.

Staat, Religion und Gesellschaft
akzeptieren in Tunesien Homosexualität nicht, sie verbreiten Propaganda, um deren
sexuelle Identität zu erniedrigen, die sie als Bedrohung für Werte und Moral
der Gesellschaft betrachten. Die tunesische Gesellschaft ist für ihren
Konservatismus bekannt. Sogar viele Abgeordnete betrachten Homosexualität als
Sünde.

Die Tunesische Revolution hat den
Klassenkampf in Tunesien stark bestimmt. Gab es seither Verbesserungen bei den
Rechten von LGBT-Menschen?

Der einzige Fortschritt ist, dass das Thema
nun öffentlich debattiert wird. Vor 2011 war es ein Tabu, man konnte es nicht
öffentlich ansprechen. Das ist der Verdienst von LGBTQ-Vereinigungen, die das
Thema in die Öffentlichkeit gebracht haben.

Welche Positionen gibt es in den
traditionellen Organisationen der tunesischen Linken dazu? Ist sexuelle
Befreiung für sie eine Priorität?

Die traditionelle Linke ist konservativ und
betrachtet LGBTQ-Rechte nicht als Priorität ihres Kampfes. Selbst wenn dieses
Thema diskutiert wird, verteidigen die konservativen Linken die LGBT-Community
nicht. Sie betrachten das als zweitrangig gegenüber der Verteidigung
ökonomischer und sozialer Errungenschaften.

Wie organisieren sich LGBT-Menschen in
Tunesien, um für ihre Rechte zu kämpfen? Was ist deiner Meinung nach notwendig,
um den Kampf voranzubringen?

Nach der Revolution 2011 haben sich viele
Vereinigungen gegründet, die das Ziel haben, die LGBTQ-Community zu verteidigen
– und zwar zum ersten Mal in der Geschichte Tunesiens und der arabischen Welt
überhaupt. Es gibt mehr als 5 verschiedene Organisationen, die sich der
gegenseitigen Hilfe und Verteidigung der LGBTQ-Community verschrieben haben,
etwa die Organisationen „Shams“, „Damj“ und „We exist“.

Diese Organisationen machen kontinuierlich
öffentliche Kampagnen. Eine von ihnen veranstaltet seit 2015 ein jährliches
Festival für Queer-Kultur. Shams hat einen eigenen Radiosender gestartet,
„Shams Rad“, der die Belange der LGBTQ-Community verteidigt.

Dennoch, die Strategie bei den meisten
dieser Organisationen zielt nicht darauf ab, die gesellschaftliche Wahrnehmung
gegenüber LGBTQ-Menschen zu verändern, sondern durch Lobbyarbeit auf die
liberalen Kräfte einzuwirken, um die homophobe Gesetzgebung zu beseitigen. Sie
finden es zu schwer, die gesellschaftlichen Ansichten über die homosexuelle
Identität in der tunesischen Gesellschaft ändern zu wollen.

Sie versuchen durch Öffentlichkeitsarbeit,
die liberalen Kräfte und die ausländischen Stiftungen in Tunesien zu
sensibilisieren, um damit politische Entscheidungen zu beeinflussen. Ich denke,
die Community sollte geschlossen auftreten und Druck auf das Parlament ausüben,
die homophobe Gesetzgebung zu ändern.

Tunesien wird oft als das
fortschrittlichste nordafrikanische Land beschrieben, was Frauenrechte
betrifft. Trifft das zu, und widerspricht das der Situation von LGBT-Personen?

Die tunesische Gesetzgebung in Hinblick auf
die Rechte von Frauen ist tatsächlich die fortschrittlichste in ganz Nordafrika
und dem Nahen Osten, aber das gilt eben nicht für die LGBTQ-Gesetzgebung – die
ist genauso reaktionär wie überall im arabischen Raum.




Sudan: Revolution und Konterrevolution

Die Weltarbeiter_Innenklasse schaut dieser Tage mit Spannung und Hoffnung auf die politische Entwicklung im Sudan, wo wir momentan zeitgleich mit Algerien eine Fortsetzung der arabischen Revolution sehen.

Hintergrund

Nach monatelangem Demonstrieren, Campieren vor dem Militärhauptquartier in der Hauptstadt Khartum und Streiken wurde der islamistische Diktator Omar al-Bashir am 11. April gestürzt. Damit war die Revolution aber noch längst nicht beendet, denn ein militärischer Übergangsrat übt seitdem die Regierungsgewalt aus. Das Militärregime hat also bisher nur ihre Führungsfigur geopfert, um den ganzen Rest der herrschenden Militärcliquen zu retten.

Forderungen der Opposition

Die Oppositionsbewegung wird von der AFC (Alliance for Freedom and Change = Allianz für Freiheit und Veränderung) dominiert. Diese forderte eine zweijährige Übergangszeit, in der eine mehrheitlich zivile provisorische Regierung die Regierungsgeschäfte leiten und eine Wahl vorbereiten sollte. Doch nicht einmal diese tatsächlich sehr harmlose Forderung wollte die Militärjunta erfüllen. In der Folge erhöhte die Opposition weiter den Druck. Die Platzbesetzung vor dem Militärhauptquartier blieb bestehen und letzte Woche wurde sogar ein 2-tägiger Generalstreik organisiert.

Antwort des Militärs

Weil die Militärregierung nicht einmal die grundlegendsten demokratischen Rechte einführen will, ging sie am Montag den 3. Juni wieder in die Offensive. Sie richtete auf dem besetzten Platz vor dem Militärhauptquartier ein Massaker an, um den Widerstand der Protestbewegung zu brechen. Bisher sind über 100 Tote gezählt worden. Seitdem überzieht das Militär das Land mit einer brutale Repressionswelle. Gepanzerte Wagen patrouillieren durch die Hauptstadt und machen jagt auf Demonstrant_Innen. Dabei wird vor allem das RSF (Rapid Support Force) eingesetzt, welches durch abscheulichste Kriegsverbrechen im bis heute anhaltenden Darfurkrieg berüchtigt ist. Das Angebot Wahlen in 9 Monaten abzuhalten ist angesichts Repression natürlich blanker Hohn. Die Taktik der gewaltsamen Niederschlagung birgt allerdings auch die Gefahr eines flächendeckenden Bürger_Innenkrieges, wie die syrische Revolution gezeigt hat.

Reaktion der Bewegung

Auch die letzten Hoffnungen in die neue Militärregierung sind damit verpufft. Die Opposition ruft deshalb zu massenhaftem zivilem Ungehorsam auf. Demostrant_Innen erreichten überall in Khartum Straßenblockaden, um die Stadt lahm zu legen. Der „Sudanese Professionals Association“ (SAP), in Gewerkschaftsbund, der akademische Berufe organisiert, hat angekündigt die Arbeit niederzulegen, bis das Regime gestürzt ist.

Internationale Reaktion und Bedeutung

Natürlich unterstützen reaktionäre Regime, wie Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate die Militärdiktatur. Zum einen führen die beiden letzten zusammen mit dem Regime einen grausamen Krieg im Jemen, zum andern wollen diese Staaten die Revolution zu jedem Preis im Blut ertrinken sehen, um den Sudan als eine stabile islamistische Diktatur erhalten. Zu groß ist die Angst vor einer Neuauflage einer Arabischen Revolution auch in ihren Ländern. Die Widersprüche, die den Arabischen Frühling damals hervorbrachten, haben sich seit dem nämlich weiter verschärft. Motiviert durch eine erfolgreiche Revolution in der Region könnten Ländern die Menschen auch in anderen Ländern wieder gegen ihre Unterdrückung aufbegehren.

Die westlichen Politiker unterstützten heuchlerisch die zivile Opposition. So können sie sich in ihren Heimatländern als Demokrat_Innen darstellen. Außerdem erhoffen sie sich natürlich durch einen von ihnen befürworteten Regime-Change Zugriff auf die Rohstoffe, die Arbeitskräfte und natürlich den Markt des Sudan. Russland und China unterstützen aus demselben Grund wiederum die Militärjunta.

Perspektiven der Bewegung

Entscheidend wird sein, ob sich die Gewerkschaften der gesamten Arbeiter_Innenklasse zu einem unbefristeten Generalstreik entschließen. Dieser würde zwangsläufig die Machtfrage stellen, weil die Arbeiter_Innen die Arbeit erst dann wieder aufnehmen würden, wenn ihr Widerstand endgültig gebrochen oder ihr Ziele eines Sturzes des Regimes erreicht ist.

Um der Repression des Militärs zu begegnen müssen die Massen aber auch in die Kasernen strömen und die unteren Soldatenränge zu Befehlsverweigerung und zur praktischen Solidarität mit der Bewegung aufrufen. Momentan werden allerdings zur Niederschlagung der Proteste nur absolut loyale Spezialkommandos eingesetzt. Die Bewegung muss deshalb so groß werden, dass die Armee gezwungen ist, die einfachen Soldaten zu zwingen auf ihre eigenen Schwestern und Brüdern zu schießen. Das erhöht die Chance enorm, dass die Soldaten sich gegen ihre Offiziere erheben. Außerdem kann nur eine potentiell siegreiche Bewegung den Soldaten Schutz vor Repression in Aussicht stellen.

Die Revolution kann aber nur erfolgreich sein, wenn sie nach dem Sturz des Regimes die Arbeiter_Innenklasse an die Macht bringt. Nur sie ist nämlich in der Lage ein Programm zu verwirklichen, welches säkulär ist, den unterdrückten Völkern (z.B. in der Dafur-Region) Selbstbestimmung bringt und die Wirtschaft auf Grundlage eines sozialistischen Plans reorganisiert. Dafür muss aber auch eine kommunistische Partei aus der Opposition heraus gegründet werden, die in der Lage ist dieses Programm zu formulieren und die Massen für eben jenes Programm zu gewinnen und zu mobilisieren. Es braucht aber auch praktische internationale Solidarität, die jedwede Unterstützung für das Regimes sabotiert, ähnlich, wie es französische Hafenarbeiter bei ihrer Weigerung ein Schiff mit Waffen für Saudi-Arabien zu beladen, getan haben.

Die Arbeiter_Innenklasse braucht in Zeiten von Rechtsruck, verstärkter staatlicher Repression und neoliberalen Angriffen endlich wieder einen Sieg, um international gestärkt in die kommenden Kämpfe zu gehen!




Algerien- ein Volksaufstand gegen das alte Regime

 

von Mo Sedlak, zuerst veröffentlicht auf http://arbeiterinnenmacht.de/

Es gibt Marionettenregierungen, und dann gibt es Abd al-Aziz Bouteflika. Der algerische Präsident kann seit einem Schlaganfall 2014 nicht mehr sprechen und ist ein offensichtlich machtloses Feigenblatt der herrschenden algerischen Eliten. Trotzdem wurde er am 22. Februar für eine fünfte Amtszeit aufgestellt. Dieser Tropfen hat das Fass in Algerien zum Überlaufen gebracht: Seitdem gehen Millionen auf die Straßen. Sie kämpfen gegen weit mehr als die mittlerweile zurückgezogene Kandidatur, nämlich gegen extrem ungleich verteilten Reichtum und eine kaum versteckte Diktatur von MilliardärInnen, ManagerInnen und Militärs.

Charakter, Erfolg, Aufgaben

Die bisherigen Erfolge der algerischen Bewegung unterstreichen die zentrale Rolle der ArbeiterInnen und Jugendlichen in sozialen und politischen Kämpfen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre. Sie hatte die Massendemonstrationen dominiert. Und obwohl Teile der Gewerkschaften der herrschenden Nationalen Befreiungsfront FLN die Treue halten, wurde Bouteflikas Kandidatur genau am 11. März zurückgezogen, nachdem die Kampagne für einen Generalstreik immer mehr Fahrt aufnahm. Dafür wurden die Wahlen auf unbestimmte Zeit verschoben, was die Bewegung weiter anstachelt.Auch die VeteranInnen der algerischen Befreiungsbewegung aus den 1960er Jahren mobilisieren gegen die herrschende Ein-Parteien-Ordnung, die den Namen der antikolonialen KämpferInnen, der FLN für sich beansprucht. Aber auch Teile der KapitalistInnen und des Staatsapparats haben sich von ihrer ehemaligen Marionette distanziert. Kleine Gewerbetreibende nahmen am Generalstreik am 22. März teil und der Armeechef verkündete, das Militär werde auf Seiten der protestierenden Bevölkerung stehen. Das ist natürlich unrichtig – die Freitagsdemonstrationen richten sich gegen das ganze herrschende System aus OligarchInnen, ÖlmanagerInnen und Staatsapparat. Es zeigt aber, wie viel Angst die Generalstreikforderung und die anhaltende Massenmobilisierung den Herrschenden einjagt. Die Bewegung in Algerien ist ein Massenaufstand gegen ein System, das exemplarisch für den kapitalistischen Imperialismus steht. Trotz der Weigerung der Gewerkschaften und des Unvermögens der Linken, die Bewegung anzuführen, treiben Jugendliche, ArbeiterInnen, Arme und unteres Kleinbürgertum den Kampf voran. Mit ihren weitestgehend friedlichen Massendemonstrationen haben sie dem Regime bereits Niederlagen zugefügt.

Gleichzeitig fehlt eine Organisierung, die mehr als die Überwindung der himmelschreiendsten Ungerechtigkeiten bringen kann. Die Gefahr besteht, dass die Bewegung wie in Ägypten, Tunesien und Libyen in einem konterrevolutionären Rückschlag vernichtet wird. Aber selbst wenn das nicht eintreten sollte, wird auch die Einführung einer formaleren bürgerlichen Demokratie die Grundprobleme der Bevölkerung nicht lösen. Für eine darüber hinausgehende Perspektive, in der die Macht und der relative Reichtum im Land in den Händen der ArbeiterInnen liegt, fehlt aber die Organisation, um sie umzusetzen. So eine Organisation zu schaffen und den Aufstand nicht versanden zu lassen, ist heute die wichtigste Aufgabe.

Die FLN

Die heute herrschende FLN (Nationale Befreiungsfront) führte den Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich an, der 1962 gewonnen wurde. Davor begingen die BesatzerInnen vor allem seit dem Erstarken der Bewegung ab 1945 brutale Massaker mit insgesamt Hunderttausenden oder sogar mehr als einer Million Toten. Folter, Massenhinrichtungen und das Zerstören ganzer Dörfer gehörten zur französischen Strategie. Der Sieg gegen die UnterdrückerInnen war ein zentraler antiimperialistischer Erfolg des 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig etablierte sich der algerische bürgerliche Nationalismus als neue Herrschaft. Die heldenhaft und aufopfernd Kämpfenden unter den algerischen ArbeiterInnen und Armen fanden sich in einem nationalen Kompromiss und einer bürgerlichen Herrschaft wieder. Die Rolle der Guerilla wurde hervorgehoben, die Arbeits- und Straßenkämpfe wurden dagegen heruntergespielt.

Entwicklung der Regimes

Dabei hatten sie eine zentrale Rolle gespielt: Ab Mitte der 1950er Jahre erschütterten eintägige Streiks die algerische Kolonie und das französische Festland. 1955 besetzten Soldaten, die nicht gegen die algerische Bewegung eingesetzt werden wollten, ihre Kaserne. Als die Polizei vorrückte, schlossen sich mehrere Tausend ArbeiterInnen den Straßenkämpfen an. In Algerien waren es vor allem HafenarbeiterInnen, deren Kämpfe bis hin zu einem gemeinsamen Generalstreik mit tunesischen ArbeiterInnen 1956 eskalierten. Leider spielten linke Organisationen nicht immer eine rühmliche Rolle. Es waren französische SozialdemokratInnen der alten SFIO (Französische Sektion der ArbeiterInneninternationale, d. h. der II. Internationale) unter Guy Mollet, die den terroristischen Ausnahmeberechtigungsakt, der Folter und Erschießungen zur Folge hatte, durchsetzten. Die Französische Kommunistische Partei (PCF) und die UdSSR unter Chruschtschow kooperierten mit de Gaulle in seinem verlogenen „Selbstbestimmungsprozess“ ab 1959, dem noch 3 Jahre brutaler Krieg folgten. Die Vierte Internationale unter Michel Pablo verharmloste derweil die bürgerlich-nationalistische FLN-Regierung unter Ben Bella. Pablo trat ihr sogar als Minister bei, statt eine unabhängige Organisation der ArbeiterInnen aufzubauen und die Revolution voranzutreiben. Nach wenigen Jahren Unabhängigkeit gelang es der FLN-Fraktion um Houari Boumedienne und der Nationalen Volksarmee ANP 1965, die Macht in einem Putsch an sich zu reißen. Auf den Putsch folgte ein Ein-Parteien-Regime, ein korruptes Netz aus Staatsapparat, Ölbranche und Militär. Ab den 1980er Jahren zeigte der FLN-Nationalismus sein grausames Gesicht, als der Widerstand der BerberInnen-Bevölkerung gegen die Unterdrückung ihrer nationalen Identität brutal niedergeschlagen wurde. Ihnen wurden alle kulturellen Veranstaltungen untersagt, der Anti-BerberInnen-Chauvinismus wurde zur ideologischen Stütze des Regimes. 1988 kam es zu einem Aufstand gegen die FLN, die unter dem Druck dieser Proteste Wahlen für 1991 ansetzte. Als sich ein Sieg der islamistischen „Islamischen Heilsfront“ FIS abzeichnete, wurden die Wahlen abgebrochen. Es kam zu einem blutigen BürgerInnenkrieg zwischen FLN und FIS, in dem mehr als hunderttausend Menschen starben. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die FLN selbst ab 1976 versuchte, den Islam in der Verfassung zu verankern, und damit die islamistische Kanalisierung der Unzufriedenheit quasi vorprogrammierte.

Es war der heutige Marionettenpräsident Bouteflika, 1999 vom Militär eingesetzt, der einen Versöhnungsprozess anstieß und die FLN-Herrschaft stabilisierte. Ab 2002 führte er umfassende Privatisierungen durch. Damit zerstreute er die Illusionen, die auch manche Linke in den angeblichen „ArbeiterInnenstaat“ Algerien hegten, die auf nichts mehr als ein paar Zugeständnissen an besonders gut organisierte FabrikarbeiterInnen und einer staatskapitalistischen Industriepolitik basierten. Nach ökonomischer oder demokratischer Kontrolle durch die ArbeiterInnenklasse konnte unter der FLN lange gesucht werden.

Massive Ungleichheit

In Algerien besitzt das reichste Zehntel der Bevölkerung 80 % des Vermögens. Zum Vergleich: In Österreich, nicht gerade einem Vorreiterland, was gleiche Vermögensverteilung angeht, sind es etwas über 50 %. Vor allem die Renten aus dem Öl- und Gasgeschäft, das etwas weniger als ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, gehen an die mit der FLN verbundenen Eliten. Die Arbeitslosenrate liegt bei etwa 6 %, unter Jugendlichen bei fast 24 %. Die Unzufriedenheit nimmt derweil nicht ab. Seit dem Beginn der Proteste waren Schätzungen zufolge 10-15 Millionen auf der Straße. In Algerien leben etwa 41 Millionen Menschen. Seit mehreren Wochen gibt es umfassende Bildungsstreiks. Die Generalstreikwelle konnte ursprünglich mehrere Hunderttausende mobilisieren. Auch die besonders privilegierten und speziell von Repression betroffenen ArbeiterInnen der Ölindustrie legten die Arbeit nieder. Trotzdem dürfte die Streikbewegung abschwellen, nicht zuletzt weil die Gewerkschaftsbewegung ihre teilweise Loyalität zur FLN nicht abgelegt hat. Die Erfolge, auf denen eine algerische Revolution aufbauen könnte, sind ebenso offensichtlich wie deren Hindernisse. Die ArbeiterInnenklasse hat ihre Macht bewiesen und dürfte sich ihrer auch bewusst werden. Sie muss sie jetzt in Organisationsformen unabhängig vom Regime gießen und die Gewerkschaften auf einen radikalen Oppositionskurs zwingen. Eine Partei, die den Aufstand in die Revolution übergehen lässt, kann ArbeiterInnen, Jugendliche und arme Bäuerinnen und Bauern vereinen und die Macht erobern.

Gleichzeitig werden in Algerien die Lehren der permanenten Revolution offensichtlich, die Leo Trotzki als erster systematisch ausformuliert hat. Im Widerspruch zwischen entwickelten kapitalistischen Klassenverhältnissen und Machtstrukturen abseits der bürgerlichen Demokratie kann nur die ArbeiterInnenklasse die Aufgaben einer bürgerlich-demokratischen Revolution durchführen. Sie muss sie aber, wenn sie die demokratische Revolution mit der Macht in den Händen vollenden will, zur sozialistischen Revolution weiterführen.

Permanente Revolution

Das bedeutet, dass die ArbeiterInnenklasse selbst demokratische Forderungen – nach Organisationsfreiheit, Gleichheit von Mann und Frau, Selbstbestimmungsrecht für nationale Minderheiten, Abschaffung des Präsidialsystems, Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung – aufstellen muss, um die Masse der Lohnabhängigen, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, der städtischen und ländlichen Armut für sich zu gewinnen. Doch selbst die demokratischste Konstituierende Versammlung wird die Frage nicht lösen, welche Klasse herrscht. Daher müssen RevolutionärInnen für eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung kämpfen, die sich auf Räte und bewaffnete Milizen stürzt. Der bürgerliche Staatsapparat muss zerschlagen, die einfachen Soldaten für die Revolution und zur Bildung von Soldatenräten gewonnen werden. Eine ArbeiterInnenregierung muss unmittelbar die demokratischen und sozialen Forderungen der Massen durch ein Notprogramm zu Linderung der Not und sozialen Ungleichheit angehen. Dies ist freilich nur möglich durch die Enteigung der Superreichen und großen Unternehmen unter ArbeiterInnenkontrolle und das Erstellen eines demokratischen Plans. Die größte Fallgrube ist hier die Allianz mit den Bürgerlichen und der Eliten, die sich jetzt von Bouteflika abwenden, wo seine Niederlage glasklar geworden scheint. Sie versuchen mit Wahlverschiebung und ähnlichen Manövern den Aufstand versanden zu lassen. Die Emeute in Algerien zeigt: Eine Revolution im 21. Jahrhundert ist möglich. Sie ruft aber auch die Fehler des 20. Jahrhunderts, die Kapitulation vor den Bürgerlichen und die Führungskrise der ArbeiterInnenklasse wieder in Erinnerung. Es muss gelingen, aus den Niederlagen zu lernen und die objektiven Möglichkeiten in zukünftige Siege umzuwandeln.




Libyen: Totgeschwiegenes Leid

Jaqueline Katherina Singh, REVOLUTION-Germany, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 6

Während im Innern der Festung Europa rechte Hetze und Gewalttaten zunehmen, scheinen die Außengrenzen unbezwingbar. Menschen, die vor Hunger, Krieg, Gewalt und Ausbeutung fliehen, lässt man im Mittelmeer ertrinken oder in Massenlagern an der Grenze von Griechenland oder der Türkei ihr Dasein fristen. Damit man sich gar nicht erst mit dem „Problem“ der Flucht herumschlagen muss, wurde in den letzten Jahren viel getan. Kriegsgebiete wie Afghanistan wurden zu sicheren Herkunftsländern erklärt, um jene, die es nach Europa geschafft haben, wieder abschieben zu können. Daneben wurden auf unzähligen Gipfeltreffen und Konferenzen Abkommen geschlossen, die Länder, durch die zentrale Fluchtrouten verlaufen, dazu verpflichteten, die Menschen, die fliehen wollen, gar nicht erst passieren zu lassen. Aktivist_Innen wie von der Organisation Jugend rettet!, die hingegen versuchen, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, oder Leute bei ihrer gefährlichen Flucht unterstützen, werden kriminalisiert.

Zusammengefasst: Man tut viel, um sich nicht mit dem Leid, oftmals durch die EU selbst erzeugt, herumzuschlagen. So wundert es auch nicht, dass es nur bei einem kurzem medialen Aufschrei, der schnell in der Leere verhallte, blieb, als im letzten Jahr an die Öffentlichkeit kam, wie die praktische Umsetzung der „Fluchtverhinderung“ aussieht. Die Rede ist hier von den Gefängnislagern und Sklavenauktionen in Libyen. Das Land selbst steht seit dem Sturz von Diktator Gaddafi unter der Kontrolle von Milizen, unterschiedlichen Warlords und zwei konkurrierenden Regierungen. Doch das hinderte die EU nicht, 2016 die Zusammenarbeit zu erneuern. Schließlich hatte diese bereits Tradition. Laut einem Bericht von Amnesty International gibt es die Kooperation zur Migrationsverhinderung seit den 1990er Jahren zwischen Italien und Libyen, die bis heute beispielsweise in Form von gemeinsamen Patrouillen im Mittelmeer anhält. Aktuell wird diese Küstenwache übrigens von einem Warlord angeführt. Die Europäische Union mischt zwar „erst“ seit 2005 mit, investierte aber bisher dreistellige Millionenbeträge, damit das Land in den Grenzschutz investieren kann. Zusätzlich gibt es Lehrgänge und Unterstützung für den dortigen Polizei- und Militärapparat.

Das alles geschieht im Namen der „Schlepperbekämpfung“. Doch schaut man sich die Situation an, merkt man, dass man eher Schlepper, Sklavenhandel, Folter und Tod finanziert, anstatt diese Übel zu beenden. Denn Menschen, die nach Libyen kommen, sind per se illegal. Aktuell sollen es 700.000 bis 1.000.000 sein. Meist werden sie von Schleppern oder Menschenhändlern mit dem Versprechen eines Arbeitsangebotes gewonnen und kommen oftmals Nigeria, Niger, Bangladesch oder Mali. Einmal in den Fängen solcher Leute, sind sie ihnen komplett ausgeliefert. Sie werden von ihrer Heimat nach Libyen gebracht, viele sterben auf dem Weg oder werden an andere Schlepper oder Milizen verkauft. Bei diesen müssen sie dann die Kosten für ihre Flucht abarbeiten. Für rund 400 Dollar werden Männer als Arbeitskräfte verkauft, Frauen als Sexsklavinnen oder Prostituierte. Geflüchtete, die von der Küstenwache auf der Flucht übers Mittelmeer erwischt werden, landen in Internierungslagern. Die dort erlebte Gewalt ist kaum in angemessene Worte zu fassen. Auf zu wenig Raum, mit maximal einer Mahlzeit am Tag sind sie dann der Willkür der Gefängniswärter ausgesetzt. 2017 veröffentlichte Oxfam einen Bericht, demzufolge 80 % der Befragten schilderten, Gewalt und Misshandlungen erlitten zu haben. Alle weiblichen Befragten gaben , Opfer von sexueller Gewalt geworden zu sein. Viele der Frauen berichteten, dass es keine Rolle spiele, ob sie schwanger seien.

Was ist unsere Perspektive?

Weltweit befinden sich 65,5 Millionen auf der Flucht. Viele davon Frauen und junge Mädchen, die besonders mit sexueller Gewalt zu kämpfen haben. Für diejenigen, die es nach Europa schaffen, hört der Schrecken nicht auf. Je nachdem, wo man landet, hat man es mit Massenlagern, mangelnder Privatsphäre etc. zu tun. Hinzu kommen die steigende Gewalt von Rechten und rassistische Gesetze. Um dagegen zu kämpfen, bedarf es einer antirassistischen Bewegung auf europäischer Ebene. Diese sollte sich gegen die Festung Europa richten und gegen rassistische Asylgesetze, Abschiebe- und Migrationsabkommen stellen sowie für sichere Fluchtrouten, offene Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für alle eintreten. Daneben muss sie auch für die spezifischeren Forderungen für geflüchtete Frauen einstehen wie den Ausbau und die kostenlose Nutzung von Frauenhäusern, die Möglichkeit, einen Asylantrag unabhängig vom Mann zu stellen, sowie für den Ausbau der medizinischen und physischen Versorgung für Geflüchtete.

Um Grauen wie in Libyen zu beenden, reicht es nicht, darauf zu hoffen, s sich aus dem „gescheiterten Staat“ eine zentrale Regierung entwickelt. Vielmehr verschleiert dies das Problem. Denn auch eine neue bürgerliche Zentralregierung würde Politik im Interesse der EU umsetzen – oder dazu gezwungen werden. Die unmenschliche Behandlung von Geflüchteten würde also weitergehen. Um das Problem an der Wurzel zu packen, müssen wir uns gegen den Imperialismus als Weltsystem stellen. Denn dieser ist verantwortlich für Armut, Kriege, Umweltzerstörung und Unterdrückung.




Sklaverei in Libyen

VON LEONIE SCHMIDT

Seit kurzem ist das, was schon länger spekuliert wurde, klar: in Libyen werden Geflüchtete als Sklaven verkauft. Kürzlich aufgetauchte Videos bestätigen nun, dass in Libyen junge afrikanische Männer für 400 Dollar pro Kopf verkauft werden. In Interviews erzählen Migrant_Innen vom schlechten Umgang den sie in Libyen erleiden mussten und viele auch immer noch müssen: Misshandlungen, Mord, Vergewaltigung und Hunger. Viele berichten auch davon, dass vor allem die Frauen als Sexsklavinnen gehalten werden.

Aber warum gibt es überhaupt noch Sklaverei im Weltsystem Kapitalismus?

Kapitalismus hat’s nicht schon immer gegeben. In der Vergangenheit gab’s die Sklavenhaltergesellschaft und den Feudalismus. Diese Zeitalter sind von bestimmten Abhängigkeitsverhältnissen zur jeweiligen herrschenden Klasse geprägt. Deswegen ist die Aussage, dass Arbeiter_Innen auch nur Sklaven seien marxistisch nicht 100% richtig. Richtig ist, dass weder Sklave noch Arbeiter zur besitzenden Klasse gehören und beide von der besitzenden Klasse ausgebeutet werden. Mehr noch, sie stehen im Gegensatz zur herrschenden und besitzenden Klasse.

Der Unterschied, indem die (Mehr)Arbeit aus der besitzlosen Klasse gepresst wird, liegt lediglich in der Form: ein Sklave gehört dem Sklavenhalter, er bekommt kein Geld für seine Arbeit, sondern Essen, Kleidung, einen Schlafplatz. Alles auf einem Niveau, sodass er gerade so überleben kann. Da der Sklave dem Sklavenhalter gehört, kann dieser ihn auch beispielsweise verkaufen, zur Arbeit zwingen, misshandeln usw.

Ein Arbeiter hingegen, gehört nicht dem Bourgeois, er verkauft seine Arbeitskraft an ihn. Das führt zu einem ungerechten Tausch, denn dabei bekommt der Proletarier weniger als ihm zusteht – sonst könnte der Kapitalist nicht überleben und müsste selber arbeiten gehen. Von dem Geld, welches der Arbeiter bekommt, kann er sich nun alles gerade so kaufen, was er zum Überleben braucht. Anders als beim Sklaven ist aber kein direkt physischer Zwang zur Arbeit nötig, der Zwang seine Arbeitskraft zu verkaufen besteht darin, „dass die Bedingungen der Produktion fremdes Eigentum sind…“ (K. Marx, Grundrisse der politischen Ökonomie, 484.) mit anderen Worten: die Produktionsmittel gehören den Kapitalisten, der Arbeiter braucht Tauschwert um Dinge zu kaufen die überlebensnotwendig sind und muss deshalb seine Arbeitskraft verkaufen.

Die Lohnarbeit ist eine raffinierte Ausbeutung. Während der Arbeitstag der Sklav_Innen wirkt, als würden sie zu 100% für den Sklavenhalter arbeiten. So wirkt der Arbeitstag der Arbeiter_Innen so, als würde er zu 100% entlohnt werden. Somit ist es also gut verdeckt.

Nun aber zurück zur eigentlichen Frage: warum gibt es heutzutage noch „echte“ Sklaven?

Eigentlich ist der Kapitalismus von Lohnarbeit geprägt. Doch der Kapitalismus funktioniert nicht so einwandfrei wie die herrschende Klasse es sich wünschen würde. Nur wenn sich der Kapitalismus ständig weiter entwickelt und die Produktivkräfte sich ständig verbessern und für Wettbewerbsvorteile sorgen, kann daraus gut Profit geschlagen werden. Das Problem aber ist, dass das nicht mehr passiert. Die Industrie entwickelt sich nicht mehr weiter, die Effizienz kann nicht durch neue Maschinen ins unermesslich gesteigert werden. Denn Profit entsteht dadurch, dass die Arbeiter_Innen , weniger bekommt als ihnen zusteht. Selbst Leo Trotzki hat es schon im 20. Jahrhundert erkannt: „Der menschliche Fortschritt steckt in einer Sackgasse. Trotz der letzten Triumphe der Technik wachsen die natürlichen Produktivkräfte nicht an.“ Trotzki spricht hier hauptsächlich von der Arbeiterklasse und ihrer Entwicklung als „Produktivkräfte“. Somit ist auch die Frage zu beantworten: der Kapitalismus muss sich veralteten Formen der Arbeit bedienen um weiter existieren zu können, da die Widersprüche zwischen Produktionsverhältnissen (wem gehören die Produktionsmittel) und den Produktivkräften (wie effektiv sind die Arbeitenden) zu groß geworden sind. Eigentlich müsste an dieser Stelle eine Revolution kommen um diese Widersprüche zu beseitigen und eine gerechte, befreite Gesellschaft zu schaffen, jedoch liegt es natürlich an der Organisierung und am Bewusstseinsgrad der Arbeiter_Innen , ob diese auch zu Stande kommt.

Was hat die EU mit dem Sklavenhandel in Libyen zu tun?

Zurück zu Libyen: die Sklaven_Innen werden nicht an Europäer_Innen verkauft, sondern an Wohlhabende Libyer_Innen, Ghanaer_Innen und Nigerianer_Innen. Trotzdem hat auch die EU Schuld am Sklavenhandel vor Ort. Ein Zitat vom Präsidenten der afrikanischen Union, Alpha Conde, unterstreicht das sehr gut: „Was in Libyen passierte, ist schockierend, skandalös, aber wir müssen die Verantwortlichkeiten einwandfrei feststellen. In Libyen gibt es keine Regierung, so kann sich die Europäische Union nicht ein Entwicklungsland aussuchen und es bitten, die Flüchtlinge festzuhalten (…), wenn es nicht die Mittel dazu hat. Die Flüchtlinge sind in einem fürchterlichen Zustand … also lagen unsere europäischen Freunde nicht richtig, als sie Libyen darum baten, die Migranten zu behalten. Die Europäische Union ist verantwortlich.“

In Libyen gibt es 3 Regierungen, die den Namen beanspruchen, aber nur eine, die Einheitsregierung Libyens, wird international anerkannt. Das entspricht jedoch nicht den Machtverhältnissen vor Ort und durch bewaffnete Milizen und Warlords werden ständig neue gesetzesfreie Räume in Libyen geschaffen. Eine Folgerung daraus ist, dass keine der drei Regierungen in Libyen ausreichend territoriale Kontrolle über das Land hat, um menschenwürdige Bedingungen und Sicherheit für Migranten zu garantieren, wie es die EU fordert. Aber das ist natürlich noch nicht alles. Gerade Italien arbeitet gerne mit libyschen Milizen zusammen, um Geflüchtete davon abzuhalten, europäisches Festland zu betreten. Milizen in Libyen arbeiteten früher viel mit Schleusern zusammen, dank eines Abkommens und Geldern von der italienischen Regierung ist das jetzt nicht mehr so, die Geflüchteten werden abgefangen, in Camps festgehalten und eben auch weiter verkauft. Der allgemeine Kurs der europäischen Union in der Flüchtlingsfrage ist besser mit den Ländern zusammen zu arbeiten und Geflüchtete vor Ort abfangen zu lassen.

Was tun?

Offensichtlich geht dieser Plan der EU nach hinten los. Es liegt nicht im Interesse der EU die Geflüchteten zu unterstützen, sondern sich von ihnen abzuschotten, ja nichts abzugeben oder sich weiter mit den Problemen und Fluchtursachen zu befassen. Das ist höchst unmenschlich und widerwärtig, wie mit diesen Menschen umgegangen wird.

Klar ist: Wir müssen uns dagegen stellen! Rassismus und Nationalismus sind Spaltungsversuche der Bourgeoisie gegenüber der Arbeiter_Innenklasse und Fluchtursachen liegen hauptsächlich im imperialistischen Krieg. Deswegen müssen wir dem kapitalistisch – imperialistischem Weltsystem eine sozialistische Perspektive ohne Nations – und Staatskonstrukte gegenüberstellen!

Dennoch fordern wir auch innerhalb des Kapitalismus Dinge ein, die die Lage von Geflüchteten zumindest ansatzweise verbessern könnten! Die revolutionäre Linke muss der kapitalistischen Weltordnung mit einem gemeinsamen Kampf für mehr demokratische und soziale Rechte entgegentreten und zu europaweiten Aktionen gegen Spardiktate, imperialistische Ausbeutung und Kriege, gegen alle Abschiebungen und für die Rücknahme aller Verschärfungen der Asylgesetze europaweit eintreten. Für offene Grenzen und gleiche Staatsbürger_Innenrechte für alle Geflüchteten! Weg mit der Festung Europa, für sichere Fluchtwege!

 




Gegen Krise, Krieg und Kapitalismus – Auf zur SIKO!

Am 07. Februar findet wie in den vergangenen Jahren die „Sicherheitskonferenz“ (SIKO) in München statt. Alljährlich wird dabei der Tagungsort, das Hotel Bayerischer Hof, von Bullen und Spezialeinheiten aus den einzelnen Bundesländern abgeriegelt. In der gesamten Münchner Innenstadt herrscht deshalb Ausnahmezustand und die Bewegungsfreiheit wird auf ein Minimum reduziert. Die SIKO ist das weltweit größte Treffen von Politikern, Militärs, Geheimdiensten, Polizei und Industriellen, rund um das Thema Sicherheitspolitik. Ziel ist die Wahrung von Machtinteressen der führenden Industrienationen.

Die Sicherheit weniger ist nicht die Sicherheit aller

Auf der SIKO geht es um das Thema „Sicherheit weltweit“. Hiermit ist jedoch nicht die Sicherheit der Bevölkerung gemeint, sondern die der Großkonzerne, Banken und Staatsführungen. Der Platz an der Spitze bedeutet Reichtum und Macht. Durchgesetzt wird dies mit einem monströsen Sicherheits- und Repressionsapparat. In Deutschland beispielweise besteht dieser aus diversen Polizeieinheiten und paramilitärischen Spezialeinheiten wie dem bayrischen USK, dem SEK, die Bundeswehr und Geheimdienste wie der BND oder der Verfassungsschutz. Man tauscht Informationen aus, analysiert die Weltlage, setzt gemeinsame Ziele und plant Militäroperationen wie etwa den seit nunmehr 13 Jahren andauernden „Krieg gegen den Terror“. Als gemeinsame Gefahrenlage wird auch die Verknappung von Ressourcen, Energie und Trinkwasser angesehen oder der Kampf gegen das Aufbegehren der eigenen Bevölkerung.

Neben Politikern aus der ganzen Welt, treffen sich bei der SIKO auch Wirtschaftslobbyisten und Vertreter_innen der Rüstungsindustrie, um die neueste Waffentechnik vorzustellen und Rüstungsgeschäfte zu machen. Auf der letztjährigen Eröffnungsrede rief Joachim Gauck, Bundespräsident und „Friedenspastor“ Deutschland dazu auf, wieder mehr Verantwortung und Teilnahme am politischen Weltgeschehen zu übernehmen. Auch der Einsatz der Bundeswehr solle nicht kategorisch ausgeschlossen werden. Für Deutschland als Wirtschaftsgroßmacht ist es unumgänglich sich ebenfalls Einflusssphären, Rohstoffquellen und Absatzmärkte zu sichern – Das hat Gauck klar erkannt. Auch Krieg unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe ist ihm dabei ein legitimes Mittel.

Dies verdeutlicht einerseits, dass Deutschland seinen Einfluss in der Weltpolitik halten und ausbauen will und andererseits dass sich der innerimperialistische Konkurrenzkampf massiv verschärft hat. Hier geht es nicht um den Wettstreit in Europa, bei dem Frankreich und Italien mehr und mehr abgehängt werden, sondern der Nationen weltweit. Seit Beginn der Krise 2007/2008 zeigt sich vor allem eines deutlich: Die imperialistischen Staaten und mit ihnen die Bourgeoisie als herrschende Klasse, sind nicht mehr in der Lage die Widersprüche, die der Kapitalismus erzeugt, auf eine Weise zu lösen, die für alle Beteiligten zufriedenstellend ist.

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REVOLUTION, mitten drin statt nur dabei: Auf die Straße für den internationalen Kommunismus aller staatlichen Unterdrückung zum Trotz!

Es geht um die Absteckung der Einflussgebiete auch deswegen, weil die alten dominierenden Kräfte wie z.B. Japan oder Russland zunehmend ins Straucheln geraten. Ihnen entgleitet zusehends der Machtanspruch über Länder die noch vor wenigen Jahren von ihnen ökonomisch abhängig waren. Mit dem rasanten Aufstieg des chinesischen Imperialismus kommt ein neuer Konkurrent hinzu. China setzt auf eine Mischung aus staatlich rigide kontrolliertem Wirtschaftswachstum und der Öffnung hin zu ausländischen Kapitalmärkten. Dieser aufstrebende Imperialismus fordert alle anderen etablierten Imperialisten wie etwa die USA, Großbritannien oder auch Deutschland heraus und beansprucht eine Führungsrolle. China will sich als neuer Gegenpol des US-Imperialismus und dessen Hegemonialstellung etablieren. Die Führung Chinas wird in diesem Wettstreit als wichtiger strategischer Bündnispartner angesehen, besonders im asiatischen Raum.

 

Die Krisen der Welt treffen den Imperialismus

Die Neuaufteilung der Welt unter den diversen imperialistischen Weltmächten bleibt jedoch nicht ohne Konsequenzen. Der Irakkrieg und der letztliche Truppenabzug der USA 2011 schufen ein Machtvakuum und hinterließen das Land in einem Bürgerkrieg zwischen den islamischen Strömungen der Sunniten und Schiiten. Die durch den US-Imperialismus eingesetzte Marionettenregierung unter Präsident Nuri al Maliki (schiitischer Machthaber und Nachfolger Saddam Husseins) unterdrückte die sunnitische Bevölkerung im Irak rigoros. Der fundamentalistische Flügel gewann in diesem Machtkampf an Einfluss und der „Islamische Staat“ (IS) bildete sich. Auch der seit 2011 anhaltende Bürgerkrieg in Syrien und die schwindende Macht und Kontrolle von Assad über das Land leisteten ihren Anteil am Erstarken des IS. Die Gruppe brachte den Nordirak und halb Syrien unter seine Kontrolle und erbeutete beachtliche Waffenreserven der irakischen Armee – moderne US-Waffen. Der IS ist nun ein Machtfaktor der für Syrien, den Irak und die Türkei eine wichtige Rolle spielt in der Unterdrückung des selbstverwalteten kurdischen Gebiets Rojava. Seit vergangenem Herbst kämpfen die Truppen der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) gegen die Eroberung durch die islamistischen Klerikal-Faschisten des IS: Die Stadt Kobane ist zum Symbol des Widerstandes geworden.

Gleichzeitig sorgte auch der arabische Frühling dafür, dass die USA in der arabischen Welt wichtige Verbündete wie z.B. den ägyptischen Diktator Mubarak oder den libyschen Diktator Gaddafi verloren bzw. am Ende wegbombten. Gaddafi stellte für die EU einen hilfsbereiten Partner dar, wenn es darum ging, Flüchtlinge an der Überfahrt über das Mittelmeer zu hindern. Libyen wurde dafür von EU-Staaten großzügig mit Waffen versorgt.

Der Konflikt in der Ukraine und der seit einem Jahr andauernde Kampf der ostukrainischen Bevölkerung gegen die faschistischen Mörderbanden aus Kiew, verdeutlicht den Interessenkampf zwischen Russland, den USA und der EU. Hier geht es vor allem darum, dem russischen Imperialismus einen Schlag zu versetzten, sich gleichzeitig einen neuen Absatzmarkt zu erschließen, sowie billige und leicht auszubeutende Arbeitskräfte zu sichern. Die politische Führung in der Ukraine mit Staatspräsident Poroschenko an der Spitze, bringt massive Kürzungen und Spardiktate der EU auf den Weg, um einem drohenden Staatsbankrott zu begegnen. Die dortige Arbeiter_innenklasse verarmt jedoch massiv, ist nun in einer ähnlichen Situation wie beispielsweise Spanien und Griechenland.

Ein Feind, ein Kampf: Der Imperialismus muss zerschlagen werden!

Diese Auseinandersetzungen im Zuge der Interessenskämpfe der Industrienationen führen dazu, dass Menschen zu Flüchtlingen werden und entweder vor dem Grauen des Krieges fliehen oder emigrieren müssen, weil sie zu einer Generation gehören, die bereits jetzt perspektivlos und ohne Arbeit ist. Die Antwort der Kapitalist_innen auf die zunehmenden Flüchtlingsströme aus den Krisenländern der Welt ist Abschottung und Repression. So wurde der europäische Grenzschutz FRONTEX ebenfalls auf der SIKO ins Leben gerufen. Auch die Totalüberwachung (NSA), deren Auffliegen vor etwa eineinhalb Jahren zeigte, wie umfassend die Bevölkerung ausgespäht wird, kann zu dieser Liste gezählt werden.

Die zunehmende mediale Hetze gegen den Islam kann als Legitimierung einer aggressiveren Außenpolitik, sowie als ein gewolltes Verbindungselement der sich zunehmend entfremdenden Staaten der EU angesehen werden: Der gemeinsame Feind Islamismus. Rechte Kräfte gewinnen dadurch an Einfluss wie die Front National in Frankreich oder die islamfeindlichen PEGIDA-Demonstrationen im deutschsprachigen Raum. Mit dem griffigen Slogan „Kriminelle Ausländer raus“ gibt man sich den Eindruck der Rechtmäßigkeit und greift dabei nur den offenen Rassismus von rassistischen, faschistischen Parteien wie ‚Die Rechte‘ oder der NPD auf.

Dazu kommt die antimuslimischer Rassismus der Bourgeoisie, wie z.B. von DER SPIEGEL, welcher mit diversen Leitartikeln („Deutschland das stille Mekka“ oder „Der Koran – das gefährlichste Buch der Welt“) sich schon einen Wettkampf mit rechten Verschwörungsblättern wie dem Compact Magazin liefert.

 siko17Die durch die Krise in vielen Ländern massiv angewachsene Arbeitslosigkeit raubt den Menschen die Perspektive und verunsichert sie. Doch gerade jugendliche und junge Erwachsene standen und stehen bei den Kämpfen gegen die Krisenlösungsmodelle (soziale Kürzungen, Arbeitsplatzabbau und Deklassierung breiter Schichten der Bevölkerung) der herrschenden Klasse und dem einhergehenden Rassismus in der ersten Reihe. Besonders Jugendliche sind am meisten von der Krise
betroffen und machen den Großteil der Arbeitslosen in Europa und weltweit aus. Sie fliehen vor Bürgerkriegen, Arbeitslosigkeit, Hunger und Verfolgung und lassen dabei meist ihr ganzes Leben zurück.

Unser Ziel im Kampf gegen diese Verhältnisse lautet daher, sich nicht durch die herrschende Klasse in Migrant_innen/“Einheimische“ oder anhand von religiösen Trennlinien spalten zu lassen. Unser Ziel ist der Aufbau einer internationalen, revolutionären Jugendorganisation, die die Kämpfe in den einzelnen Ländern verbindet und zu einem gemeinsamen Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse führt. Wir treten für den Aufbau einer internationalen Arbeiter_innenpartei ein, um die Kämpfe der Arbeiter_innen zu koordinieren und dem imperialistischen Ausbeutermodell einen internationalen Sozialismus entgegen zu halten. Unser gemeinsamer Feind ist die Bourgeoisie! Der internationalen Interessenspolitik der SIKO müssen wir eine Antwort entgegensetzen: Mit dem Aufbauprozess der Neuen Antikapitalistischen Organisation NAO wollen wir die Spaltung der radikalen Linken in Deutschland überwinden, mit dem Ziel eine revolutionäre Arbeiterpartei zu erschaffen, die diesem Kampf gewachsen ist.

Deshalb rufen wir dazu auf euch an der Demo gegen die SIKO zu beteiligen.

Samstag, 07. Februar 2015 13:00 Uhr Marienplatz, München

  • Schluss mit den Massakern in der Ostukraine und in Kurdistan! Solidarität mit den Kämpfern von YPJ/YPG und den Genoss_innen von Borot’ba!
  • Weg mit dem Verbot der PKK! Freilassung aller Gefangenen der PKK! Biji Azadi, Biji Rojava!
  • Zerschlagung aller Geheimdienste, der Bundeswehr, der NATO und FRONTEX!
  • Offenlegung aller Geheimdienstakten, egal ob vom Verfassungsschutz oder der NSA!
  • Unterstützt die Kampagne Waffen für Rojava! Weitere Infos unter www.waffenfuerrojava.org
  • Organisiert den Kampf im „Herzen der Bestie“, dem deutschen Imperialismus! Mach mit bei REVOLUTION!
  • Zusammenarbeit der Arbeiter_innenklasse und der Jugend statt kapitalistischem Konkurrenzkampf!

Ein Aufruf von REVOLUTION Germany