Myanmar – Volksaufstand gegen die Militärdiktatur

Seit Anfang Februar sorgt
ein Land in Südostasien für Schlagzeilen: Der Militärputsch in
Myanmar brachte die Regierung der sozialdemokratischen NLD (Nationale
Liga für Demokratie) zu Fall, die zuvor einen Erdrutschsieg bei den
Parlamentswahlen erreicht hatte. Der zumindest teilweise
demokratische Parlamentarismus dauerte nur zehn Jahre und könnte nun
im Versuch des Militärs enden, wieder eine uneingeschränkte
Diktatur herzustellen.

Zum Land selbst

Bis heute ist das an
Indien, China und Thailand grenzende Myanmar extrem arm. Es hat ein
BIP von 70 Mrd. bei einer Bevölkerung von 54 Millionen und gehört
damit weltweit zum untersten Fünftel des BIP pro Kopf. 26% leben in
totaler Armut. 70% der Bevölkerung hat keinen Strom, ebenso viele
leben auf dem Land. Lange Zeit wurde das Land vom Militär
diktatorisch geführt, 2010 kam dann die allmähliche wirtschaftliche
und politische Öffnung. Das Wirtschaftswachstum war durch den Handel
und die Auslandsinvestitionen eines der schnellsten der Welt. Obwohl
auch Wahlen stattfanden, die die NLD an die Macht brachten, blieb das
Militär politisch und wirtschaftlich als bestimmender Machtfaktor
bestehen und völlig ohne demokratische Kontrolle.

Der Volksaufstand

Ende November wurde in
Myanmar die sozialdemokratische NLD als Regierung bestätigt, die
trotz der festen 25% Sitze der Militärpartei USDP die absolute
Mehrheit verteidigte. Aufgrund fadenscheiniger Anschuldigungen, dass
dies der NLD nur durch Wahlbetrug gelungen wäre, hat das Militär am
1.2.2021 die Macht übernommen. Der Sturz der Regierung durch das
Militär blieb von den Völkern Myanmars nicht unbeantwortet. Anfangs
wurden gewaltige Massendemonstrationen organisiert. Bald darauf
erschütterten Streiks das Land, wobei Arbeiter_Innen aus dem
Gesundheitssektor diesen Weg zuerst beschritten und ihre Klasse so in
den Kampf führten. Auch ein Großteil der Bankarbeiter_Innen und der
Staatsbürokratie traten in den Ausstand und paralysierten so die
Regierung. Der Protest war so heftig, dass das Militär die Kontrolle
über Teile des Landes verlor. Die Repression wurde jedoch immer
extremer: Mittlerweile sind über 740 Menschen (Stand 22.04.2021) vom
Militär ermordet worden, Tausende verschleppt, jeder Protest wird
sofort angegriffen. Dies hat zwar die gigantischen
Massendemonstrationen beendet, nicht jedoch die Bewegung allgemein.
Momentan besteht die Taktik der Demonstrant_Innen darin, Barrikaden
zu errichten, kurz zu demonstrieren und sich dann schnell wieder zu
verteilen, bevor das Militär die Demos mit Scharfschützengewehren,
Handgranaten und Maschinengewehren zerschlagen kann.

Im Hintergrund der
Proteste existieren die Umrisse einer zweiten Regierung. Sie besteht
aus der NLD und dem „Generalstreik Komitee“. Vor allem letzteres
hat aktiv an der Organisierung der Proteste gearbeitet, indem es
viele nationale Minderheiten und Gewerkschaften vereint, die seit der
politischen und wirtschaftlichen Öffnung des Landes legalisiert, vor
allem aber neu gegründet wurden. In mächtigen Streiks, wie z.B. im
Krankenhaussektor oder in der sehr großen und wachsenden
Textilindustrie haben sie in den letzten Jahren erfolgreich ihre
ersten Feuertaufen gemeistert. Seit dem Putsch sind die
Gewerkschaften sprunghaft gewachsen und bilden das stählerne
Rückgrat der Bewegung.

Die Jugend ist
furchtlos

Die Proteste auf der
Straße selbst werden jedoch vor allem von Jugendlichen getragen.
Wieder einmal ist die Jugend die gesellschaftliche Kraft, die die
Speerspitze der Kämpfe bildet und auch den höchsten Blutzoll zahlen
muss. Sie haben den größten Teil ihres Lebens noch vor sich und
sind nicht bereit, ihn in einer noch größeren Unterdrückung und
Armut zu verbringen, als sie es ohnehin schon erleben, denn in einer
isolierten Diktatur kann es keine Perspektive für sie geben.
Prognosen gehen davon aus, dass bis 2022 die Hälfte der Bevölkerung
unter die Armutsgrenze rutschen wird. Besonders stark betroffen sind
davon vor allem Frauen und Kinder, was es notwendig macht, die Kämpfe
gegen Repression und Frauenunterdrückung zu verbinden. Die
barbarischen Gewalttaten des Militärs gegen friedliche
Demonstrant_Innen vermitteln zudem ein ziemlich klares Bild davon,
wie das zukünftige Militärregime aussehen würde. Der Mord an ihren
Mitstreiter_Innen hat sie in ihrem wirklich beeindruckenden
Kampfgeist bisher nur gestärkt: Die Opfer sollen nicht umsonst
gewesen sein und deshalb wird nur eine völlige Niederlage des
Militärs akzeptiert! Dieser Aktivismus und Mut sollte Aktivist_Innen
weltweit ein leuchtendes Beispiel sein.

Das Militär kann
geschlagen werden!

Die unterdrückten
Völker Myanmars

Eine in Myanmar besonders
wichtige Frage ist die der unterdrückten Nationalitäten. Fast 1/3
der Bevölkerung besteht aus nationalen Minderheiten, die durch das
Militär unzählige grausame Verbrechen wie Krieg, Vertreibungen und
Völkermorde erleben mussten. Da sich die Lage auch unter der
„Demokratie“ kaum geändert hat, wie der Genozid an den Rohingya
2017 beweist, waren die ethnischen Minderheiten von der NLD-Regierung
zurecht enttäuscht. In dem Chaos des Volksaufstandes haben sich die
ca. 20 Milizen nationaler Minderheiten gegen den Putsch gestellt. Sie
haben die Demonstrationen geschützt oder ihren Kampf gegen das
Militär mit Unterstützung der Bevölkerung erfolgreich ausgeweitet.
Wichtiges Beispiel ist die Eroberung eines Militärstützpunktes
durch Milizen der Karen Ende April.

Die burmesische Mehrheit
muss den nationalen Minderheiten uneingeschränktes
Selbstbestimmungsrecht einräumen. Das würde die Minderheiten mit
großer Achtung gegenüber dem burmesischen Volk erfüllen und sie zu
treuen Verbündeten im Kampf gegen das Militär machen. Die
Nationalitäten Myanmars könnten so geeint und Myanmar zu einer
Föderation gleichberechtigter Völker werden.

Risse im Militär

Das Niederschießen der
eigenen Bevölkerung hat auch Risse im Sicherheitsapparat erkennen
lassen. Einzelne Polizist_Innen flüchteten nach Indien, nachdem sie
sich weigerten, Schießbefehle auszuführen. Obwohl es viel Unmut
gibt, hat es jedoch bisher keine Meutereien gegeben. Solange das
nicht passiert, ist das Regime relativ sicher. Es wäre also ein
entscheidender Schritt, die einfachen Soldaten auf die Seite der
Proteste zu ziehen. Es sind schon Videos aufgetaucht, in denen
Demonstrant_Innen diese angefleht haben, nicht zu schießen. Auch
Schilder und Flyer, die sich an die unteren Soldaten richten, können
helfen, sie zum Aufstand zu motivieren. Die beste Versicherung, den
Kadavergehorsam im Militär zu brechen, ist und bleibt jedoch, zu
beweisen, dass man bereit ist, bis zum Sieg voranzuschreiten. Streiks
in den vielen militäreigenen Betrieben sind dabei entscheidend. Mit
der hartnäckigen Unterdrückung des Aufstandes wird eine solche
Entwicklung jedoch unwahrscheinlicher.

Internationale
Solidarität

Bei einer Militärparade
Ende März waren ranghohe Vertreter_Innen Russlands, Indiens,
Thailands, Bangladeschs, Laos, Vietnams, Chinas und Pakistans
zugegen. So haben die Nachbarländer Myanmars den Putsch und die
Massaker demonstrativ gebilligt. Außerdem wird von der ASEAN (der
Staatenbund Südostasiens) höchstens zu einem „Ende der Gewalt“
aufgerufen, ohne sich zu positionieren. Natürlich haben sie die
berechtigte Angst, dass eine siegreiche Bewegung in Myanmar der
Startschuss für ähnliche Bewegungen in ganz Asien sein könnte. Die
unterdrückten Klassen in Asien müssen ihren Regierungen deshalb mit
Demos und Streiks zeigen, dass sie es nicht widerstandslos hinnehmen
werden, wenn ihre Klassengeschwister in Myanmar ermordet werden. So
würden gleichzeitig die Völker Myanmars unterstützt und der
eigenen Regierung der Kampf angesagt werden. Das kann zum Sturz der
Regierungen des Kapitals in Asien führen und ein Schritt in eine
neue sozialistische Gesellschaft darstellen.

Verfassungsgebende
Versammlung und Generalstreik

Die Entwicklung in
Myanmar in den letzten 10 Jahren hat gezeigt, dass eine bürgerliche
Herrschaft nur limitierte Freiheiten bringen kann, die jederzeit
wieder rückgängig gemacht werden können. Der Weg zu einer
befreiten Gesellschaft kann also nicht über den Zustand von vor dem
Putsch führen. Richtigerweise fordern die Völker Myanmars eine
verfassungsgebende Versammlung, die die kapital- und
militärfreundliche Verfassung von 2008 abschafft. Dies kann jedoch
nur mit einem unbefristeten Generalstreik erreicht werden. Die
Generalstreiks im Februar und März lassen erahnen, was möglich ist,
doch ein unbefristeter würde dem Militär die Kontrolle über das
Land vollständig entziehen und in der Lage sein, eine alternative
Herrschaftsform gestützt auf die Unterdrückten und Ausgebeuteten
hervorzubringen.

Eine neue Verfassung
sollte demokratische Freiheiten, wie Organisation, Versammlungs- und
Redefreiheit garantieren. Doch dabei dürfen sie nicht stehenbleiben!
Nur wenn die Bewegung weitergehende Forderungen gegen Kapital und
Korruption annimmt, sich damit zu einer Bewegung für den Sozialismus
entwickelt, können diese Freiheiten erkämpft und dauerhaft
gesichert werden. Die Verteilung des Landes an die Bäuer_Innen und
die Enteignung der Fabriken müssen deshalb durch die Verfassung
vorbereitet werden. Volksmilizen müssen das Militär zerschlagen und
die neue sozialistische Verfassung mit dem Gewehr verteidigen. Die
NLD als bürgerliche Partei ist dabei hinderlich. Ihr völliges
Versagen haben wir 2011-2021 erleben dürfen. Sie ist korrumpiert und
unbrauchbar. Es muss deshalb eine eigene sozialistische Partei
gegründet werden, die in der Lage ist, die bitternötigen
Forderungen Wirklichkeit werden zu lassen.

Deshalb hoch die
internationale Solidarität, Nieder mit den Generälen, Sieg den
heldenhaften Arbeiter_Innen und Bäuer_Innen Myanmars!




Queer-Unterdrückung in Pakistan

Hina Tariq & Minerwa Tahir, Fight! Revolutionäre
Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

Auf dem Aurat-Marsch (1) 2020 hissten queere (2) Genossinnen und
Genossen die Regenbogenflagge. Während wir als Sozialist_Innen stolz
auf diesen Akt des Widerstands gegen sexuelle und
Gender-Unterdrückung sind, waren einige feministische Führer_Innen
anderer Meinung. In der Folge mussten sich queere Aktivist_Innen mit
dem Vorwurf auseinandersetzen, dass es „unfair und dominierend von
queeren Menschen sei, die Aurat Marsch-Bewegung auf diese Weise zu
kapern“. In diesem Artikel werden wir argumentieren, warum
Pakistans Queers ein integraler Bestandteil der sozialen Bewegungen
des Landes sein müssen. Insbesondere die Queer- und die
Frauenbewegung teilen gemeinsame Interessen. Indem wir sie
hervorheben, wollen wir zeigen, wie queere Forderungen zu einem
dynamischen Hebel bei der Entwicklung einer sozialistischen und
Arbeiter_Innenklasse-Politik werden können.

Queer-Aktivist_Innen sehen seit langem, wie sich das Schweigen,
das sie in der Gesellschaft erfahren, in Pakistans linken und
feministischen Kreisen reproduziert. Während die meisten linken
Parteien und Organisationen sich einfach nicht darum scheren, ist die
Stimmung, insbesondere in den etablierteren und damit einflussreichen
feministischen Kreisen: „Frauenrechte zuerst“. In der
Zwischenzeit sind viele der Organisator_Innen des Aurat-Marsches, so
werden wir argumentieren, nur gegenüber Teilen der queeren Gemeinde
einladend. Nur eine kleinere und weniger einflussreiche Gruppe von
radikalen Feminist_Innen und Sozialist_Innen wie wir will, dass alle
queeren Menschen ein integraler Bestandteil des Kampfes gegen das
Patriarchat sind. Solche ausgrenzenden Praktiken der derzeitigen
Mehrheit der pakistanischen feministischen Bewegung beginnen, unseren
Bewegungen zu schaden. Dieses Jahr haben sich queere Kollektive wie
das Non-Binary Collective (Nicht-Binäres Kollektiv) aus den
Organisationsgremien des Aurat-Marsches zurückgezogen.

Nach unserem Verständnis sind obengenannte politischen Konzepte
mehr als ausgrenzend. Sie folgen einer Logik, die von den
klassenbezogenen Strategien der Bewegung geprägt ist. Obwohl der
Aurat-Marsch bisweilen eine radikale Terminologie verwendet, würden
wir seine vorherrschende Politik zum jetzigen Zeitpunkt jedoch als
bürgerlichen Feminismus charakterisieren. Es ist richtig, dass die
pakistanische Frauenbewegung mit dem neuen Jahrhundert eine neue
Wendung genommen hat. Im Mittelpunkt der heutigen Proteste stehen die
individuellen Erfahrungen und Rechte der Frauen. Auch wenn der
Aurat-Marsch jedes Jahr einen Forderungskatalog herausgibt, ist der
klassische Kampf für eine bestimmte Gesetzgebung nicht mehr so
präsent wie früher.

Eine Bewegung mit einem Mittelklassen-Standpunkt

Ohne die wohlwollende Aufmerksamkeit schmälern zu wollen, die der
Aurat-Marsch auf die verabscheuungswürdige Frauenunterdrückung in
Pakistan gelenkt hat, sei gesagt, dass es sich dabei in der Regel um
die spezifischen Erfahrungen von Frauen aus den Mittelschichten und
der Bourgeoisie handelt. Als Reaktion auf radikalere Stimmen
innerhalb der Bewegung haben einige Führer_Innen für eine
„klassenübergreifende Bewegung“ plädiert, die „alle Frauen“
repräsentiert. Das praktische Ergebnis bliebe jedoch dasselbe, da
eine solche Konzeption notwendigerweise die Zurückstellung der
spezifischen Interessen der Bäuerinnen, der Unterschicht und der
Arbeiterinnen und damit der Interessen der Mehrheit der sozial
Unterdrückten bedeuten würde. Dies hat wichtige Implikationen für
die Perspektive sowohl der Frauen- als auch der Queer-Bewegung.

Wenn sich unsere Bewegungen nicht mit der ausbeuterischen
Arbeitsteilung des Kapitalismus befassen und sie tatsächlich in den
Mittelpunkt stellen, die sowohl in der Industrie und der
Landwirtschaft (produktive Sphäre) als auch in unseren Familien
(reproduktive Sphäre) zum Ausdruck kommt, werden sie die
pakistanische Gesellschaft nicht radikal verändern können. Die
Befreiung bleibt also auf den Bereich der formalen Rechte beschränkt,
sei es durch eine Änderung des gesunden Menschenverstands oder der
Gesetze.

Dies wiederum erklärt den Alibicharakter des Aurat-Marsches in
Karatschi gegenüber Khwaja Sira (Trans-Frauen). Diejenigen, denen
eine Bühne gegeben wird, wären oft Trans-Frauen, die sich mit Hilfe
von Nichtregierungsorganisationen in glamouröse, liberale
Berühmtheiten verwandelt haben. Dieser Ansatz stellt die Frage
jedoch vom Kopf auf die Füße. Natürlich sollten queere Menschen
das gleiche Recht haben, Prominente und Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens zu werden, aber das Problem der queeren
Gemeinschaften Pakistans, insbesondere der Khwaja Sira, besteht
darin, dass sie gezwungen sind, unter den prekärsten Bedingungen zu
leben und zu arbeiten. Die Lösung ihrer Probleme liegt nicht darin,
dass einige wenige von ihnen Teil der Elite werden, sondern darin,
ein patriarchalisches Klassensystem herauszufordern, das sie in die
Prostitution, die Aufführung von Tänzen oder zum Betteln zwingt.

Außerdem zählte diese Inklusion nur für einige queere Menschen.
Wie die Cis-Het-Organisator_Innen des Aurat-Marschs 2019 sagten:
„Unsere Mitgliedschaft ist nur für Trans-Frauen offen“. Interne
Widerstände radikaler Aktivist_Innen führten dazu, dass sie ihre
Haltung aufweichten, aber nur geringfügig. Während man sich darauf
einigte, dass der Marsch die Unterdrückung von „sexuellen und
geschlechtlichen Minderheiten“ thematisieren würde, hieß es, dass
nur binäre Trans-Frauen und geschlechtsinkonforme Menschen
Organisator_Innen des Aurat-Marsches werden könnten. Schwule und
Trans-Männer wurden ausgeschlossen, da behauptet wurde, dass
„schwule Männer auch Frauenfeindlichkeit verinnerlicht haben“.

Bevor wir erörtern, was unserer Meinung nach ein sinnvoller Kampf
sein könnte, der sich in die Kämpfe und Forderungen der queeren
Menschen integriert, lasst uns einen Blick auf die bestehende
Situation der queeren Gemeinschaft in Pakistan werfen.

Vielschichtige Natur der Unterdrückung: Familie,
Gesetz und staatliche Strukturen

Die Frauenbewegung in einem halbkolonialen Land wie Pakistan wird
eindeutig von globalen Entwicklungen wie den weltweiten Frauenstreiks
beeinflusst. Gleichzeitig hat sie aber auch ihre eigenen spezifischen
Merkmale und Herausforderungen zu bewältigen, die sich aus den
besonderen objektiven Bedingungen der pakistanischen Gesellschaft
ergeben. Die Existenz der Khwaja Sirai als soziales und kulturelles
Phänomen in der südasiatischen Gesellschaft – aus Gründen, auf
die wir in diesem Artikel nicht näher eingehen können –
ermöglicht ihre Sichtbarkeit und eine gewisse Akzeptanz für ihre
wahrnehmbare Existenz in Pakistan. Für bestimmte Theoretiker_Innen
mit postkolonialen Neigungen führt dies zu einer Romantisierung der
scheinbar fortschrittlichen südasiatischen Gesellschaft im Vergleich
zu den oft offen transphoben „westlichen“ Gesellschaften. Die
objektiven Bedingungen in Ländern wie Pakistan zeigen jedoch ein
anderes Bild. Für die meisten queeren und Transgender-Menschen ist
finanzielle Unabhängigkeit nach wie vor das größte soziale Problem
für das Funktionieren ihres Lebens. Aber die Schwere dieses Problems
ist im Fall von binären Trans-Menschen noch viel gravierender. Ihre
Geschlechtsidentität entspricht nicht dem biologischen Geschlecht,
das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, was bedeutet, dass sie
durch ihr Geschlechtsverhalten und sexuellen Ausdruck sehr sichtbar
sind. Der Preis für diese Sichtbarkeit wird zuerst im Elternhaus
bezahlt. Familien von Trans-Personen werfen sie aus dem Haus und
entziehen ihnen ihren Anteil am Erbe. Dies ist eine weit verbreitete
soziale Realität für die große Mehrheit der Trans-Menschen. In
diesem Sinne wird die spezifische Natur der Sexualität von
Trans-Menschen von der Institution Familie gegen sie verwendet. Diese
spezifische Natur nimmt ihnen auch die Möglichkeit, ein geheimes
Doppelleben zu führen wie binäre Schwule oder Lesben. Infolgedessen
bleiben den Khwaja Sira drei Berufe zur Auswahl: Sexarbeit, Tanzen
auf Partys und Betteln.

Während das weithin gefeierte Transgender-Schutzgesetz eine
dritte Geschlechtskategorie in allen offiziellen Dokumenten vorsieht,
zeigt die Frage der Erbschaft, wie Transgender-Frauen gezwungen
werden, sich als Männer eintragen zu lassen. Das liegt daran, dass
nach dem Scharia-Gesetz Männer zwei Anteile am Erbe bekommen, Frauen
nur einen. Aufgrund dieser patriarchalen Diskriminierung würden sich
die meisten Transgender-Frauen in ihren Ausweisdokumenten als Männer
eintragen lassen, in der Hoffnung, dass sie in der grausamen Anarchie
des Kapitalismus einen größeren Anteil am Erbe erhalten würden.

Transgender-Schutzgesetz: eine progressive
bürgerliche Reform?

Das 2018 von der pakistanischen Nationalversammlung verabschiedete
Transgender-Schutzgesetz (3) bietet auf dem Papier eine Reihe von
Schutzmaßnahmen für Transgender-Menschen, darunter das Recht auf
Selbstidentifikation. Es wird sowohl von Liberalen und
Nichtregierungsorganisationen (4) (5) als auch von bürgerlichen
Medien (6) (7) als fortschrittliche Maßnahme angepriesen. Während
wir die Verabschiedung eines Gesetzes begrüßen, das Menschen das
Recht auf Selbstidentifikation zugesteht, bleibt das Gesetz
weitgehend ein Fortschritt nur auf dem Papier. Erst letztes Jahr
wurde eine Transgender-Überlebende einer Vergewaltigung, Julie, acht
Tage lang mit männlichen Insassen im Gefängnis eingesperrt. (8)

Außerdem wird die Verabschiedung dieses Gesetzes als eine
bürgerliche Reform dargestellt, die von einem Teil der herrschenden
Klasse Pakistans aus der Güte ihres „fortschrittlichen“ Herzens
gewährt wird. Doch wie jeder anderen Reform geht auch dieser
Gesetzgebung eine Geschichte des Widerstands voraus. Sie folgt auf
das Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2012, das
pakistanischen Transgender-Personen zwar die Anerkennung als
Bürger_Innen eines dritten Geschlechts gewährte, aber auch empfahl,
Tests durchzuführen, um festzustellen, ob „Eunuchen“ – wie das
Urteil sie gerne nannte – tatsächlich „Eunuchen“ waren. Diese
Empfehlung führte zu Protesten von Trans-Menschen, die
argumentierten, dass Männern und Frauen die Identität auf der
Grundlage ihres Wortes zugestanden wird. Warum also müssen sich
Trans-Menschen entsetzlichen Prozeduren solch invasiver Tests
unterziehen? (9)

Darüber hinaus gewährt das Transgender-Personen-Gesetz 2018
Trans-Männern und -Frauen aller Religionen die gleichen Erbrechte,
die cis-geschlechtlichen Männern und Frauen nach islamischem Recht
zustehen (der Anteil der Frau beträgt die Hälfte des Anteils ihrer
männlichen Geschwister am Erbe). (10)

In ähnlicher Weise darf es laut dem Gesetz keine Diskriminierung
von Transgender-Personen bei der Zulassung zu öffentlichen oder
privaten Bildungseinrichtungen geben, „vorbehaltlich der Erfüllung
der vorgeschriebenen Anforderungen“. Wie Semra Islam jedoch
veranschaulicht, berücksichtigen die vorgeschriebenen Anforderungen
nicht, dass die gelebten Erfahrungen von Trans-Personen diese
Anforderungen nicht erfüllen können, da sie oft aus ihren
Familienhäusern geflohen sind, unter anderem aufgrund der
Auferlegung von normativen männlichen Rollen. (11) Dies wird auch
durch Shahnaz Khans Forschung unterstützt:

Viele brechen die Schule ab und laufen von zu Hause weg, um eine
einladendere Umgebung unter der Leitung eines Gurus zu finden, der
sie ermutigt, zu singen, zu tanzen und Formen der Lust auszudrücken,
die zu Hause und in der Schule verboten sind. (12)

Islam weist auch auf die transphobe gelegentliche Verwendung des
männlichen Pronomens „er“ für alle Transgender-Personen als
eine „eklatante ,Inkonsistenz’ im Gesetz“ (13) hin. Die
Verwendung des Begriffs „Eunuchen“ zeigt auch, wie sich die
juristischen Eliten an die diskriminierende koloniale Ausdrucksweise
angepasst haben. Kurzum, entgegen der Darstellung in den bürgerlichen
Medien ist das Gesetz in einem begrenzten Sinne fortschrittlich, und
das auch nur auf dem Papier. Das Fehlen von Strafmaßnahmen (14), die
für alles, was das Gesetz kriminalisiert, skizziert werden,
reduziert es auf einen progressiven Alibicharakter, dessen
Anwendungsbereich nur in der Theorie besteht.

Der Fluch von Abschnitt 377 und Hudood-Gesetzen
für die sexuell Unterdrückten

Eine weitere wichtige Überlegung, die berücksichtigt werden
muss, ist das Vorhandensein von Gesetzen wie Section 377 und der
Hudood Verordnungen (4 Verordnungen zur Islamisierung des Strafrechts
in Pakistan, die der Diktator Zia ul-Haq 1979 erließ), die Teil des
komplexen Rechtssystems in Pakistan sind, in dem zwei parallele
Systeme gleichzeitig gelten. Es gibt Gesetze, die auf der Verfassung
beruhen, und solche, die sich aus einer bestimmten (hanafitischen;
eine der 4 Rechtsschulen des sunnitischen Islams) Lesart der Scharia,
also der islamischen Rechtsprechung, ableiten. Wie Khan darlegt,
gewähren diese Gesetze Männern und Frauen unterschiedliche Rechte
in Bezug auf Heirat und Erbschaft. (15) Auf diese Weise lassen andere
diskriminierende Gesetze und soziale Strukturen trotz scheinbar
antidiskriminierender und trans-anerkennender Gesetze oft wenig Raum
für Trans-Frauen, sich in Personaldokumenten tatsächlich als Frauen
auszuweisen. Denn wenn sie das täten, würde dies bedeuten, dass sie
auf die Hälfte des Anteils am Erbe verzichten müssten, den sie
erhalten würden, wenn sie sich als Männer auswiesen.

Dies verdeutlicht das objektive Interesse von Trans-Frauen und
Cis-het-Frauen, einen kollektiven Kampf gegen eine solche
Gesetzgebung unter der Führung eines Programms der
Arbeiter_Innenklasse zu führen. Warum bestehen wir auf der
Notwendigkeit eines Programms der Arbeiter_Innenklasse?

Wir erkennen zwar an, dass Trans-Menschen aus allen Klassen unter
schwerer und systematischer Unterdrückung leiden, aber ihre
unterschiedlichen Klasseninteressen verleihen ihr auch einen anderen
Ausdruck und prägen das politische Programm und die Forderungen, die
sie vertreten und priorisieren. Für Trans-Frauen (und -Männer) aus
der Arbeiter_Innenklasse, binäre lesbische Frauen oder schwule
Männer und nicht-binäre Menschen ist die Unterdrückung selbst an
ihre Klassenposition gebunden. Das bedeutet nicht nur, dass sie
dieselben objektiven Interessen mit allen Teilen der
Arbeiter_Innenklasse teilen, sondern auch, dass ihre Befreiung eng
mit der Bewältigung der sozialen Benachteiligung, der Armut und des
Elends verbunden ist, mit denen sie als Trans-Menschen mit einem
Arbeiter_Innenhintergrund konfrontiert sind.

Die Situation für unterdrückte Menschen aus einem
kleinbürgerlichen oder Mittelschichts-Hintergrund (um nicht von der
herrschenden Klasse zu sprechen) stellt insofern anders dar, als sie
auch an die sozialen Privilegien gebunden sind, die mit ihrer
Klassenposition einhergehen. Daher neigen sie dazu, sich auf den
Kampf um gleiche Rechte zu konzentrieren oder ihn sogar zu begrenzen,
und vernachlässigen dabei die große Masse der Trans-Menschen.
Während wir möglichst viele Unterdrückte aus der
Arbeiter_Innenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, aber auch aus
dem städtischen Kleinbürger_Innentum und den Mittelschichten
vereinen wollen, bleibt die Frage, welche soziale Klasse eine solche
Bewegung anführt.

Aus unserer Sicht ist ein Programm der Arbeiter_Innenklasse der
Schlüssel, wenn wir konsequent für die Befreiung aller
Unterdrückten kämpfen wollen, denn nur ein solches Programm kann
den Kampf mit seinen gesellschaftlichen Wurzeln, der
geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Kapitalismus und der damit
einhergehenden patriarchalischen Familieninstitution und -gesetze,
verbinden.

Wie wir in den folgenden Abschnitten zeigen werden, weist die
diskriminierende Gesetzgebung auf die Notwendigkeit eines kollektiven
Kampfes zusammen mit allen queeren Menschen hin, einschließlich der
binären schwulen und lesbischen sowie der nicht-binären Menschen.

Während es für Transgender-Personen einen gewissen Schutz gibt,
wenn auch nur auf dem Papier, gibt es in Pakistan keine
Bürger_Innenrechtsgesetze zum Schutz von Schwulen und Lesben vor
Diskriminierung. (16) Homosexuelle Handlungen sind nach Gesetzen aus
der Kolonialzeit wie Abschnitt 377 illegal. Ebenso können eine
heterosexuelle Frau und ein heterosexueller Mann, die nicht
miteinander verheiratet sind, nach Abschnitt 496B des pakistanischen
Strafgesetzbuchs ins Gefängnis gehen und mit einer Geldstrafe belegt
werden, wenn sie einvernehmlichen Sex miteinander haben. (17) Wie
Rechtsexpert_Innen wie Rafia Zakaria betonten:

„Die Unterlagen über Frauen, die unter dem Vorwurf der Unzucht
oder des Ehebruchs nach den Hudood-Verordnungen inhaftiert wurden,
zeigen, dass es die armen Frauen Pakistans sind, die am häufigsten
Opfer der unkontrollierten Macht des Staates bei der Gesetzgebung zur
Moral im Namen des Islam werden. Daher mögen die versprochenen
Änderungen der Rechtsprechung im Rahmen des [Frauenschutz-]Gesetzes
zwar ein linderndes Pflaster auf eine eiternde Wunde legen, aber sie
gehen an der Realität vorbei, dass eine arme Frau, die sich dazu
entschließt, eine Vergewaltigungsklage einzureichen, immer noch mit
unglaublichen Herausforderungen konfrontiert ist, die von diesem
politisch inspirierten Stück Gesetzgebung grob ignoriert werden.“
(18)

In ähnlicher Weise haben schwule Männer und Khwaja Sira aus der
Arbeiter_Innenklasse nur zwei Möglichkeiten, wenn sie Angst vor
einer HIV/AIDS-Exposition haben: in ein öffentliches Krankenhaus zu
gehen, um innerhalb von 72 Stunden nach der Exposition Zugang zu PEP
(Postexpositionsprophylaxe) zu erhalten oder zu riskieren, HIV/AIDS
zu bekommen, indem sie nichts dagegen unternehmen. An dieser Stelle
kommen Abschnitt 377 und die Heuchelei des pakistanischen Staates ins
Spiel. Einerseits wird PEP aufgrund internationaler Abkommen und der
finanziellen Unterstützung des pakistanischen Staates von der
Regierung in öffentlichen Krankenhäusern angeboten, in denen es
Abteilungen gibt – separate Räume für Khwaja Sira, Schwule und
Lesben. Auf der anderen Seite wird Abschnitt 377 gegen diese Menschen
eingesetzt, weil sie „unnatürlichen Sex“ haben, und es gab sogar
schon Fälle, in denen Ärzt_Innen diese Menschen wegen dieses
„Verbrechens“ bei der Polizei angezeigt haben. Die Ärzt_Innen in
solchen Einrichtungen verfügen über immense Macht über diese
verletzlichen Patient_Innen, weil PEP nur nach dem Sammeln nicht nur
persönlich identifizierbarer Informationen, sondern auch übermäßig
eindringlicher Details wie dem Geschlecht der Person, mit der man Sex
hatte, bereitgestellt wird.

Währenddessen müssen Schwule aus reichen, gehobenen und
bürgerlichen Verhältnissen nicht mit all diesen Hürden kämpfen,
wenn sie die „richtigen Kontakte“ haben. Natürlich gibt es auch
in der queeren Gemeinschaft verschiedene Klassen, deren objektive
Interessen im Kapitalismus unvereinbar sind. Kleinbürgerliche queere
Menschen hatten ebenso wie die entsprechenden Cis-het-Menschen ein
Problem damit, die Erkennungsfahne beim Aurat-Marsch zu hissen. Ihrer
Meinung nach ist eine solche Sichtbarkeit „nicht“ das, was wir
brauchen, weil sie uns angreifbarer macht. Auf der anderen Seite sind
kleinbürgerliche Queers, die Nichtregierungsorganisationen leiten,
ins Ausland reisen und Zuschüsse von der EU bekommen, bereits
sichtbar und als schwul geoutet. Ihre sexuelle Identität ist bereits
offengelegt, weil sie nicht denselben Gefahren ausgesetzt sind wie
ein schwuler Mann aus der Arbeiter_Innenklasse aufgrund des Privilegs
ihrer sozialen Klasse. Queere Menschen aus der Arbeiter_Innenklasse
fragen ihre kleinbürgerlichen Kolleg_Innen, warum sie ihre
privilegierte Position in der Gesellschaft nicht nutzen, um die Frage
der Offenlegung der eigenen sexuellen Identität zu politisieren.
„Warum kämpfen sie nicht dafür, dass die große Mehrheit von uns
sich outen kann?“, fragen sie. „Queerness ist ein politisches
Problem, das im Mainstream verankert werden muss. Unsere Sichtbarkeit
ist nicht irgendein liberales Narrativ, es ist eine politische Frage.
Indem sie sich weigern, die Frage zu politisieren, drängen
privilegierte queere Menschen die größere queere Gemeinschaft dazu,
im Verborgenen zu bleiben.“

All dies verdeutlicht, dass Cis-het-Frauen, binäre Trans-,
schwule und lesbische sowie nicht-binäre Menschen aus der
Arbeiter_Innenklasse aufgrund ihrer Klassenlage einer spezifischen
sozialen Unterdrückung ausgesetzt sind und daher ein objektives
Interesse hegen, gemeinsam zu kämpfen. Es ist wahr, dass
Machtkämpfe, Konkurrenz und Gleichgültigkeit die Gemeinschaft
derjenigen plagen, die aufgrund ihres Geschlechts unterdrückt
werden. Wir sehen das an der mangelnden Bereitschaft von
Arbeiterinnen, für die bürgerlichen Freiheiten lesbischer
Kolleginnen zu kämpfen. Wir sehen dies auch in der Gleichgültigkeit,
die gegenüber der Unterdrückung von Schwulen und Lesben von
Trans-Frauen an den Tag gelegt wird, nachdem das
Transgender-Schutzgesetz verabschiedet wurde. Der Terfismus
(Transphobie) in der Frauen- oder binären Schwulen- und
Lesbenbewegung ist ein weiteres Beispiel dafür.

Dies verdeutlicht, was die Liga bereits in ihren Thesen zur
Trans-Unterdrückung festgestellt hat: „ … Konflikte zwischen
sozial Unterdrückten, das Aufeinanderprallen von gegenseitigen
Forderungen und Ansprüchen sind in der bürgerlichen Gesellschaft
keine Seltenheit, sie kommen immer wieder vor.“ (19)

Kampf gegen die Institutionen bürgerliche
Familie und Kapitalismus

Der entscheidende Punkt hier ist, dass, ob die geschlechtlich und
sexuell Unterdrückten sich dessen bewusst sind oder nicht, ihre
Unterdrückung in der Institution der bürgerlichen Familie im
Kapitalismus verwurzelt ist. Diese Unterdrückung ist entscheidend
für die Funktionsweise des Kapitalismus. Ob man sich dessen nun in
der gegenwärtigen Lage bewusst ist oder nicht, unser objektives
Interesse als Cis-het-Frauen, binäre Trans-, schwule und lesbische
und nicht-binäre Menschen aus der Arbeiter_Innenklasse liegt daher
darin, gemeinsam gegen repressive und diskriminierende Gesetze und
für bürgerliche Freiheiten wie das Recht zu heiraten, das Recht zu
adoptieren usw. zu kämpfen.

Unsere cis-het und schwulen männlichen Genoss_Innen aus der
Arbeiter_Innenklasse sollten auch Teil dieses Kampfes werden. Warum?
Ihr objektives Interesse liegt in einem antisexistischen Kampf. Es
sind immer diejenigen aus dem Arbeiter_Innenmilieu, die für etwas so
Menschliches und Natürliches wie Sex zum Opfer werden. Unser Recht
auf körperliche Autonomie als Menschen sollte nicht von diesem oder
jenem religiösen oder kulturellen Dogma abhängig gemacht werden.

Es stimmt, dass es angesichts der extrem rückständigen Natur des
pakistanischen Patriarchats gefährlich sein kann, seine Stimme gegen
ein solches Dogma zu erheben. Aber jede politische Arbeit in Pakistan
birgt die Gefahr staatlicher Unterdrückung. Wenn wir schon in Bezug
auf unsere grundlegenden bürgerlichen Freiheiten unterdrückt 
werden, können wir genauso gut mit staatlicher Repression rechnen,
wenn wir für das kämpfen, was unser kollektives Recht ist, nämlich
das Recht, unser Leben in Würde und mit den Freiheiten zu leben, die
jeder Mensch verdient.

Aber kann dieser Kampf nur über die Gesetzgebung gewonnen werden?
Nein. Es muss ein Kampf geführt werden. Es muss ein Ringen sein, das
von Anfang an sehr klar ist über die unversöhnlichen Interessen der
queeren Menschen aus der Arbeiter_Innen- und der herrschenden Klasse
sowie auch jener queeren Menschen, die sich sozialer Privilegien
erfreuen und diese gegen die Interessen der Arbeiter_Innenklasse
verteidigen. Queere Menschen aus der Arbeiter_Innenklasse haben ihre
Verbündeten in den cis-het Männern und Frauen der
Arbeiter_Innenklasse. Gleichzeitig versuchen sie, queere
kleinbürgerliche und Mittelschichts-Menschen und cis-het Männer und
Frauen für ihre Sache zu gewinnen, ohne Zugeständnisse an
kleinbürgerliche politische Programme zu machen. Während die
Arbeiter_Innenklasse in der Lage sein kann, die Mittelschichten der
Gesellschaft hinter sich zu versammeln, ist es klar, dass diejenigen,
die aus einem bürgerlichen Hintergrund kommen, die die
Produktionsmittel besitzen und verwalten, immer im Widerspruch zu
denen stehen werden, die mit diesen Produktionsmitteln arbeiten.
Daher werden letztere mit ihrer Klasse brechen müssen. Beider
Interessen sind unversöhnlich, und das ist das Wesen der
Produktionsverhältnisse und die Grundlage der politischen Ökonomie.

Als wissenschaftliche Marxist_Innen erkennen wir auch die
grassierende Trans- und Queerphobie in der Arbeiter_Innenklasse, und
wir wollen eine Strategie entwickeln, mit der wir auch gegen solche
Übel in der Arbeiter_Innenbewegung aufstehen, weil unser wirkliches
materielles Interesse darin liegt, gemeinsam zu kämpfen. Aber wir
sind uns darüber im Klaren, dass dies – genau wie im Fall des
Kampfes gegen die Unterdrückung der Frauen in der
Arbeiter_Innenklasse – eine scharfe und dauerhafte
Auseinandersetzung mit männlichem Chauvinismus und Transphobie
innerhalb der Klasse erfordert, einschließlich des Rechts auf Caucus
für Trans-Personen und der offenen Herausforderung aller Formen von
Transphobie innerhalb unserer Bewegung.

Letztendlich liegt es im objektiven Interesse der gesamten
Arbeiter_Innenbewegung, einschließlich der cis-het Männer und
Frauen sowie aller queeren Menschen der Arbeiter_Innenklasse, zu
verstehen, dass die Wurzel der geschlechtsspezifischen sozialen
Unterdrückung in der Institution der bürgerlichen Familie liegt. 
Um gegen diese Wurzel zu kämpfen, müssen wir kollektiv uns für die
Abschaffung des Privateigentums engagieren. Damit meinen wir
keineswegs, dass wir den Kampf für die gleichberechtigte Teilhabe
von Frauen der Arbeiter_Innenklasse und queeren Menschen am Erbe
aufgeben. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen persönlichem
Eigentum und Privateigentum. Letzteres ist das Eigentum an den
Produktionsmitteln, das die Essenz der bestehenden gesellschaftlichen
Verhältnisse ist.

Was wir meinen, ist, dass unsere Kämpfe darauf ausgerichtet sein
müssen, die Wurzel unserer kollektiven Unterdrückung und Ausbeutung
abzuschaffen, das heißt, die ungleichen Eigentumsverhältnisse unter
der Anarchie des Kapitals. Nur unter der Führung einer wirklich
revolutionären Strategie können wir die gemeinsame Ursache unserer
Unterdrückung mit Stumpf und Stiel ausreißen. Eine solche Strategie
muss auf unnachgiebiger Klassenunabhängigkeit und der kollektiven
Notwendigkeit beruhen, das ausbeuterische und unterdrückerische
System des Kapitalismus abzuschaffen und es durch eine demokratische
Regierung der Arbeiter_Innen zu ersetzen, die alle umfasst, also auch
cis-het und queere Arbeiter_Innen.

In der gegenwärtigen Situation müssen wir unmittelbare
demokratische und soziale Forderungen für Trans-Personen mit den
breiteren Fragen der Arbeiter_Innenklasse verknüpfen.

Wir können unseren Kampf in diese Richtung beginnen, indem wir
eine Kampagne für die Abschaffung von Abschnitt 377 und aller
anderen diskriminierenden Gesetze aufbauen. Frauen und Trans-Personen
müssen auf allen Ebenen, vor den Gerichten und im privaten und
öffentlichen Leben die gleichen Rechte erhalten.

Wir müssen ein Recht auf Bildung, Ausbildung und Arbeit für alle
Trans-Menschen bei voller Bezahlung sicherstellen, damit sie nicht
zur Prostitution und zum Betteln gezwungen werden.

Trans-Menschen müssen, genau wie Frauen, das Recht auf Schutz vor
Gewalt und Entbehrung zu Hause sowie durch reaktionäre Kräfte
haben. Wir fordern den Bau von sicheren Häusern für Opfer solcher
Gewalt – öffentlich finanziert, aber von Trans-Menschen selbst
betrieben.

Solche unmittelbaren Forderungen sollten beim Aurat-Marsch in
diesem Jahr und von der gesamten Frauenbewegung sowie von den
Gewerkschaften und allen linken Organisationen als Teil des Kampfes
gegen soziale Diskriminierung im ganzen Land aufgegriffen werden.

Endnoten

(1) Aurat ist das Urdu-Wort für Frauen. Der Aurat-Marsch wird
seit 2018 am achten März organisiert. Für weitere Informationen
lesen Sie den Artikel von Minerwa Tahir in Fight 8/2020

(2) Wir verwenden queer als allumfassenden Begriff, um alle
Menschen zu bezeichnen, deren sexuelle oder geschlechtliche
Identitäten nicht dem heteronormativen binären Geschlecht
entsprechen.

(3) Nadir Guramani, “National Assembly passes bill seeking
protection of transgender rights”, Dawn, May 8, 2018
https://www.dawn.com/news/1406400

(4) Rimmel Mohydin, “With Transgender Rights, Pakistan has an
Opportunity to be a Pathbreaker”, Amnesty International, January
22, 2019
https://www.amnesty.org/en/latest/news/2019/01/with-transgender-rights-pakistan-has-an-opportunity-to-be-a-path-breaker/

(5) “Kami Sid expresses joy as the Transgender Persons
(Protection of Rights) Bill 2017 passes”, Images, May 8, 2018
https://images.dawn.com/news/1180033/kami-sid-expresses-joy-as-the-transgender-persons-protection-of-rights-bill-2017-passes

(6) “Education for trans people”, Dawn, April 18, 2018
https://www.dawn.com/news/1402275

(7) “Affirming trans identity”, Dawn, May 11, 2018
https://www.dawn.com/news/14

(8) Saniyah Eman, “The not-so-curious case of trans oppression
in Pakistan”, The News, September 11, 2020
https://www.thenews.com.pk/magazine/us/712330-the-not-so-curious-case-of-trans-oppression-in-pakistan

(9) Semra Islam, “The Transgender Community and the Right to
Equality in Pakistan: Review of the Transgender Persons Act 2018”,
2020, LUMS Law Journal 2020, 7:1
https://sahsol.lums.edu.pk/law-journal/transgender-community-and-right-equality-pakistan-review-transgender-persons-act-2018

(10) Ebenda

(11) Ebenda

(12) Shahnaz Khan, “What is in a Name? Khwaja Sara, Hijra and
Eunuchs in Pakistan”, Indian Journal of Gender Studies,
23(2):218-242, May 18, 2016
https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0971521516635327

(13) Semra Islam, “The Transgender Community and the Right to
Equality in Pakistan: Review of the Transgender Persons Act 2018”,
2020, LUMS Law Journal 2020, 7:1
https://sahsol.lums.edu.pk/law-journal/transgender-community-and-right-equality-pakistan-review-transgender-persons-act-2018

(14) Ebenda

(15) Shahnaz Khan, “What is in a Name? Khwaja Sara, Hijra and
Eunuchs in Pakistan”, Indian Journal of Gender Studies,
23(2):218-242, May 18, 2016
https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0971521516635327

(16) Meghan Davidson Ladly, “Gay Pakistanis, Still in Shadows,
Seek Acceptance”, The New York Times, November 3, 2012
https://www.nytimes.com/2012/11/04/world/asia/gays-in-pakistan-move-cautiously-to-gain-acceptance.html?pagewanted=all&_r=0

(17) Rafia Zakaria, “Sex and the state”, The Hindu, December
29, 2006
https://frontline.thehindu.com/world-affairs/article30211901.ece

(18) Ebenda

(19) International Executive Committee, “The Oppression of
Transgender People”, League for the Fifth International, March 17,
2019
https://fifthinternational.org/content/oppression-transgender-people




Russland: Der Fall Nawalny und das Regime Putin

Robert Teller, Infomail 1140, 22. Februar 2021

zuerst veröffentlicht unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/02/22/russland-der-fall-nawalny-und-das-regime-putin/

Am 20. Februar schloss der bislang letzte Akt der juristischen Farce um Alexei Nawalny, der Galionsfigur der russischen Opposition. Das Moskauer Babuschkinskij-Gericht wies die Berufung gegen seine Verurteilung zu rund 3,5 Jahren Lagerhaft ab. Im selben Gerichtssaal wurde auch die Strafe von umgerechnet 9.500 Euro wegen Diffamierung eines Kriegsveteranen bestätigt.

Zu 3,5 Jahren Haft war Nawalny schon Anfang Februar verurteilt worden. Das Berufsgericht bestätigte dies, auch wenn die Strafdauer um einige Wochen reduziert wurde.

Überraschend kamen weder die Festnahme Nawalnys am Moskauer Flughafen am 17. Januar, die von der russischen Regierung im Voraus angekündigt war, noch das Urteil, das offensichtlich darauf ausgerichtet ist, die Galionsfigur der bürgerlichen, prowestlichen Opposition gegen Putin zumindest bis zur nächsten Präsidentschaftswahl aus dem Verkehr zu ziehen – sei es durch Anschläge, sein Exil oder eben jederzeit durch willfährige Richter_Innen verlängerte Haft.

Die Begründung der Justiz wirft ein bezeichnendes Licht auf das System Putin. Nawalny hätte, so das Urteil, gegen Bewährungsauflagen verstoßen, die sich aus früheren Strafverfahren ergeben hätten. Als er knapp der Vergiftung – mutmaßlich durch Agent_Innen des russischen Staates – entgangen war, wurde er in Berlin behandelt. Einige Zeit war er komatös. Während dieser Zeit, so das Gericht, hätte er sich nicht an die Bewährungsauflagen gehalten, zu denen u. a. eine zweiwöchentliche Meldung bei den russischen Behörden gehört.

Das Skandalurteil stellt alles andere als einen Einzelfall dar. Russische Oppositionelle – ganz zu schweigen von Angehörigen unterdrückter Nationalitäten oder von regimekritischen Linken – sind seit Jahren solchen Formen staatlicher Unterdrückung ausgesetzt, die selbst nur einen Teil des Herrschaftssystems Putins darstellen.

Tatsächlich trifft die politische Repression Linke im Allgemeinen härter als bürgerliche Rival_Innen. Vor einem Jahr wurde im sog. „Network Case“ eine Gruppe antifaschistischer Aktivist_Innen in der Stadt Penza zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Urteile stützten sich auf erzwungene Geständnisse. Ende Dezember wurde Sergei Udalzow, ein führendes Mitglied der Parteienkoalition „Linksfront“, der bereits eine viereinhalbjährige Haftstrafe wegen seiner Beteiligung an den Protesten 2012 abgesessen hat, verhaftet und wegen einer nicht genehmigten Protestaktion zu 10 Tagen Haft verurteilt.

Massenproteste

Der entscheidende Unterschied zu den unzähligen Fällen politischer Repression, inklusive Skandalurteilen, langjähriger Haft wegen der Ausübung demokratischer Rechte, liegt aber in Folgendem: Über lange Jahre erzielten diese eine abschreckende Wirkung, weil sich das System Putin neben Repression und einer Monopolisierung der Medien auf eine gewisse soziale Stabilität im Inneren stützen konnte.

Diesmal ist es anders. Die Verhaftung und die Verurteilung Nawalnys lösten eine Welle von Massenprotesten im ganzen Land aus. Diese wurden zu den größten der vergangenen Jahre, mit etwa 15.000 Teilnehmer_Innen in Moskau und über 100.000 in 80 oder mehr Städten landesweit. Die Bedeutung der nicht genehmigten Demonstrationen lässt sich auch an der Anzahl verhafteter Demonstrant_Innen ablesen. Laut OVD-Info, einer russischen Menschenrechtsorganisation, wurden allein Mitte Januar mindestens 4.000 Teilnehmer_Innen festgenommen. Gegen viele wurden Strafverfahren eingeleitet oder in Schnellverfahren Geldstrafen oder Administrativhaft verhängt. Auf weiteren Demonstrationen am 31. Januar wurden erneut mindestens 5.600 Teilnehmer_Innen festgenommen. Menschen wurden nicht erst wegen der Teilnahme an Protesten verhaftet, sondern auch wegen des Teilens von nicht genehmigten Protestaufrufen auf Social Media. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, dass die Polizei ohne Anlass brutal gegen Demonstrant_Innen vorgeht. Auch einige linke Organisationen unterstützten die Proteste kritisch, also ohne dabei Nawalnys politischen Zielen Anerkennung zukommen zu lassen. Nach den Verhaftungen vom 23. und 31. Januar ruft Nawalnys Bewegung nun dazu auf, weitere Proteste zu unterlassen und sich stattdessen für die Duma-Wahlen im September bereitzuhalten.

Wie immer die weitere Mobilisierung verlaufen wird, so signalisiert die Bewegung doch eine bedeutende Veränderung der politischen Lage in Russland, die weit über die Frage der Freilassung von Nawalny hinausgeht. Angesichts der ökonomischen und politischen Probleme des russischen Imperialismus kann das Regime Putins selbst ins Wanken geraten. Nawalny und die bürgerlichen, prowestlichen Kräfte hoffen, aus dieser Lage Kapital schlagen zu können. Es ist kein Zufall, dass sie, anders als in früheren Jahren, die Kritik an Putin vor allem auf Korruptionsvorwürfe lenken, auf die Bereicherung durch ihn und seine Unterstützer_Innen. Eine eigens von Nawalny gegründete Antikorruptions-Stiftung veröffentlichte u. a. ein bekannt gewordenes Video über einen teuren Palast am Schwarzen Meer, der Putin zugeschrieben wird und dessen persönliche Bereicherung belegen soll. Mit diesen Enthüllungen versucht er zugleich, sozial heterogene Putin-Gegner_Innen, die von unzufriedenen Lohnabhängigen und Armen über städtische Mittelschichten und Aufsteiger_Innen bis zu unzufriedenen Kapitalist_Innen reichen, anzusprechen, die meinen, im System Putin zu kurz gekommen zu sein.

Nawalny und die rechtsliberale Opposition

Das darf aber nicht über seine politische Ausrichtung hinwegtäuschen. Die Korruptionsvorwürfe sind für Nawalny Mittel zum Zweck und haben darüber hinaus den Vorteil, dass er seine eigentlichen politischen, programmatischen Ziele in den Hintergrund treten lassen kann.

Nawalny ist ein Rechtsliberaler, der Russland vor Putin retten will. Er fand in der Vergangenheit an liberalen wie auch rechtsnationalistischen Gruppierungen und Organisationen Gefallen und hat – durchaus in Übereinstimmung mit Putins Ansichten – „russische Interessen“ gegenüber den demokratischen Ambitionen nichtrussischer Völker und Nationen verteidigt. Von seinen extrem rassistischen Sprüchen – so bezeichnete er 2007 die Menschen aus dem Kaukasus als „Kakerlaken“ – hat er sich zwar nicht distanziert, doch der Rassismusvorwurf scheint nun entweder mit der Zeit verblasst oder durch Märtyrertum getilgt zu sein. Seine rassistischen Ausfälle u. a. gegen Tschetschen_Innen zeigen, dass er der demokratische Weltverbesserer, als den ihn westliche Fans gerne sehen, nicht ist und nicht sein will. Nawalny präsentiert sich als ein Verbesserer der russischen Nation. Beschönigend bezeichnete er sich als „nationalistischen Demokraten“. Als solcher muss er mit Putin um die Gunst der Nation wetteifern und will nicht zurückfallen, wenn es gilt, die „Gefühle“ des Volkes zu bedienen.

Aktuell reduziert Nawalny alles Schlechte in Russland auf eine behauptete Korruptheit der Eliten. Damit knüpft er erstens an die Wahrnehmung vieler Menschen an, ihnen werde „alles geraubt“. Das stimmt zwar, aber die Korruption in Russland ist dabei eher ein Nebenaspekt gegenüber der  formell legalen Privatisierung von ehemaligem Volkseigentum nach der Restauration des Kapitalismus, die unter Putin fortgesetzt wurde. Politisch ist der bloße Korruptionsvorwurf im Übrigen vor allem demagogisch, weil Nawalny als bürgerlicher Populist natürlich nicht die politökonomischen Ursachen kritisiert, die sie hervorbringen, sondern letztlich selbst an die Futtertröge rankommen will.

Zweitens kritisiert Nawalny damit die Eigenschaft des russischen Systems, die Teilhabe sowohl des Volkes als auch von Teilen der herrschenden Klasse an der Gestaltung der politischer Macht zu beschneiden. Dies entspricht nicht seiner Vorstellung einer anständigen kapitalistischen Großmacht, die auf Augenhöhe mit anderen, v. a. westlichen, Großmächten agieren will und über entsprechende politische Strukturen verfügen sollte, in welchen vor allem auch die verschiedenen Teile der Bourgeoisie selbst demokratisch um die politische Vorherrschaft konkurrieren können. Der Zustand des russischen Staates passt in seinen Augen nicht recht zu einem imperialistischen Land, das zu neuem nationalen Selbstbewusstsein gelangt ist.

Und drittens macht ihn dieser Populismus auch für seine deutschen und westeuropäischen Unterstützer_Innen interessant, die die vorliegenden imperialistischen Konflikte mit Russland lieber als Auseinandersetzungen um „Demokratie und Rechtsstaat“ statt um Märkte und imperiale Einflusszonen verstanden haben wollen. Es handelt sich um solche, die insbesondere dort, wo unmittelbar deutsche Geschäftsinteressen in Frage stehen, auch weiterhin „vernünftig“ mit Russland zusammenarbeiten und gleichzeitig ein legitimes, gesittetes, freiheitlich-demokratisches politisches und militärisches Drohpotential schaffen und vergrößern wollen. Um Russlands Illegitimität Putin direkt in die Schuhe schieben zu können, ist es hilfreich, ein Gesicht der Legitimität vorzuführen, einen Anti-Putin. Nawalny reduziert die Ära Putin auf Korruption und Despotismus. Das reicht, um von den Vertreter_Innen des imperialistischen Deutschlands geadelt zu werden.

Nawalnys Politik drückt primär die Interessenlage nicht allzu großer Teile der Bourgeoisie und des städtischen Kleinbürger_Innentums aus, die von einer stärkeren Öffnung zum Westen mehr zu gewinnen als zu verlieren haben. Er findet, wie die Reichweite der Proteste zeigt, aber auch Anklang in der städtischen Jugend, unter Arbeiter_Innen und Mittelschichten, die entweder Illusionen in seine Version eines modernen, aufgeklärten Populismus hegen oder sich trotz Fehlens solcher Illusionen auf gemeinsame Ziele wie die Beseitigung politischer Verfolgung beziehen.

Nawalny konnte lange mit seinem Populismus einen eher beschränkten Kreis an Wähler_Innen und Unterstützer_Innen mobilisieren und diese Basis reichte bei weitem nicht aus, eine ernsthafte Bedrohung für Putin darzustellen. Dies könnte sich jedoch ändern. Bei Wahlen propagiert er die Taktik des sog. „Smart Voting“. Diese besteht darin, stets die aussichtsreichsten Putin feindlichen Kandidat_Innen zu unterstützen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit oder ihrem Programm. Bisher konnten Putins Leute oft tatsächlich deutliche Stimmenmehrheiten erzielen, was nicht in erster Linie manipulierten Wahlen zugeschrieben werden konnte, sondern auch mit der Zersplitterung und teilweisen Integration der Opposition ins Herrschaftssystem zu tun hatte. Mit seiner Wahltaktik versucht Nawalny gewissermaßen automatisch, alle Anti-Putin-Stimmen für sich zu beanspruchen. Zu den von ihm unterstützten Kandidat_Innen gehören gegebenenfalls auch Angehörige der „systemtreuen Opposition“ wie der KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation) oder der ultrarechten LDPR (Liberaldemokratische Partei Russlands).

Seine begrenzte Massenbasis und die nicht vorhandene Legitimation aus dem Staatsapparat heraus stellt bisher aber auch die Grenze der Figur Nawalny dar – und damit der möglichen Einflussnahme westlicher Mächte. Nawalny biederte sich diesen dadurch an, dass er abgesehen von dem Wunsch nach einer Öffnung zum Westen wesentliche außenpolitische Fragen – wie die der militärischen Interventionen, der Nahostpolitik usw. – offenließ oder mit unverbindlichen Phrasen beantwortete. Umgekehrt verteidigte er auch russische Interessen wie z. B. auf der Krim oder in der Ostukraine.

Auch wenn Nawalnys populistische Methode zu gewissen Wahlerfolgen führen und der Legitimität von Putins System Kratzer zufügen sollte, beinhaltet sie kein politisches Konzept für ein „Russland ohne Putin“. Nawalny mag für manche als authentische und mitreißende Oppositionsfigur erscheinen, weil er seit Jahren einen Gegenpol zu Putin bildet, sein persönliches Schicksal dabei hintenanstellt und sich nicht auf die begrenzten Möglichkeiten der „systemtreuen“ Parteien beschränkt. Letztlich ordnet er aber nicht nur sich selbst, sondern auch die Bewegung auf der Straße seiner Wahltaktik unter.

Nawalnys politisches Programm ist, soweit es überhaupt explizit formuliert wurde, reaktionär. Aber natürlich ist das längst nicht alles, was es über seine Verhaftung und die Protestbewegung zu sagen gibt. Die Verfolgung Nawalnys ist ein bewusster Akt eines bürgerlich-bonapartistischen Regimes, dessen politische Legitimität Risse bekommen hat. Dies spielt sich ab auf dem Boden einer Klassengesellschaft, einer imperialistischen Macht, die in einer wirtschaftlichen Krise steckt und ihre Interessen gegenüber imperialistischen Rival_Innen zu behaupten hat.

Ursprung des Konflikts mit Putin

Die Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen UdSSR hat aus den ehemals vergesellschafteten Industrien, vor allem im Energiesektor, privates Kapital entstehen lassen. Doch die neu entstandene bürgerliche Klasse, die Oligarchie, hatte als solche keine kontinuierliche Geschichte. Sie vermochte nicht, ein gemeinsames gesamtkapitalistisches Interesse zu verfolgen, vielmehr drohte ihre mehr oder minder ungezügelte Aneignung und Plünderung des Volksvermögens, die Wirtschaft zu ruinieren. Die Zukunft Russlands als kapitalistische Großmacht war in den 1990er Jahren ernsthaft in Frage gestellt. Das zeigte sich damals, als Kaugummi und McDonald’s das Land eroberten, es aber unter Jelzin zu zerfallen drohte. Nicht nur an der Peripherie, wo Völker und Nationen neue oder alte Ansprüche auf politische Eigenständigkeit stellten, war der Staat im Zerfall, sondern auch im Innern, wo Oligarch_Innen regionale Regierungen aus dem föderalen System herauskauften und dadurch zeigten, wie wenig „nationales Gesamtinteresse“ sie zu verfolgen beabsichtigten. Der desolate Zustand des politischen Überbaus spiegelte den inneren Zustand der Bourgeoisie wider, einer Klasse, die kein Bewusstsein dafür besaß, welche Herausforderung es bedeutet, sich in der globalen Konkurrenz zu behaupten.

Putin hat in den vergangenen 20 Jahren ein bonapartistisches Regime geschaffen, das sich durch starke zentralistische Machtstrukturen, ein Übergewicht des Sicherheitsapparates und mit diesem historisch verbundener Teile der Bourgeoisie auszeichnet. Putin setzte der drohenden Balkanisierung und Herabstufung Russlands zur Halbkolonie im Zuge der neoliberalen Schocktherapie der 1990er Jahre ein Ende und schuf einen politischen Überbau, mit dem Russland wieder als kapitalistische Großmacht auf der Weltbühne stehen kann. Dieses System funktioniert so, dass ein „nationales Gesamtinteresse“ nicht notwendigerweise durch die, sondern gegebenenfalls und häufig gegen oder über die Köpfe der Bourgeoisie hinweg zur Geltung kommen muss. Die Anerkennung Putins als Repräsentanten des „ideellen Gesamtkapitals“ durch die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie ist nicht ein Resultat, sondern eine Vorbedingung für die politische Repräsentation ihrer Interessen. Oligarch_Innen, die sich dem widersetzten, erhielten entsprechende Lektionen, wie etwa Chodorkowski 2004. Natürlich ist das nicht eine Abweichung von irgendeiner „Idealform“ bürgerlicher Demokratie, sondern ihre spezielle Form unter einer bestimmten historisch bedingten Klassenkonstellation. Der Konflikt, den Nawalny mit Putins Staatsapparat austrägt, ist letztlich ein Resultat der Art und Weise, wie das gesellschaftliche Eigentum der UdSSR privatisiert worden war. Putins „Partei von Räuber_Innen und Halunk_Innen“ entspricht einer Bourgeoisie mit genau diesen Eigenschaften.

Klassenkampf und imperialistische Konfliktlage

Der russische Imperialismus steht vor großen Herausforderungen. Abgesehen von der Rüstungsindustrie verfügt er nicht über starke Exportindustrien, mit denen er die Dominanz über andere Länder sichern kann. Die Extraprofite aus dem Export fossiler Energieträger ermöglichen zwar die Finanzierung des staatlichen Renten- und Gesundheitssystems, das gerade aufgrund der Prekarisierung weiter Teile der Bevölkerung bislang ein wichtiges integratives Element des bonapartistischen Systems darstellt. Die gefallenen Energiepreise gefährden aber das staatliche Distributionssystem und zwangen die Regierung 2018 zu einem historischen Angriff auf die Renten. 2020 brachen die Einnahmen aus dem Gasexport um 39 % und der Gesamtexport um 24 % ein. Der Öl- und Gasexport ist zudem natürlich Gegenstand imperialistischer Rivalität. Die europäischen Hauptabnehmer_Innen sind angesichts des globalen Überangebots an Energieträgern zu einem verstärkten Import aus Russland nur zu für sie vorteilhaften Bedingungen bereit, d. h. bei ihrer Beteiligung an dem dabei erzielten Extraprofit. Die genannten Aspekte beschreiben eine krisenhafte Entwicklung Russlands, die zu politischen Brüchen im Staatsapparat und Opposition innerhalb der herrschenden Klasse führen kann, und damit zu einer Zuspitzung der Verhältnisse. Sie wird zu sozialen Angriffen auf die Massen führen, die Widerstand notwendig machen.

Die schwierige ökonomische Lage geht zugleich mit einer menschenverachtenden Pandemie-Politik und dem weitgehenden Verzicht auf Einschränkungen der Wirtschaft einher – mit fatalen Folgen für die Gesundheit der Massen. Insgesamt hat das Land über 80.000 Tote zu beklagen.

Politische Schlussfolgerungen

Diese aktuelle wirtschaftliche Krise unterhöhlt die soziale Basis des politischen Herrschaftssystems Putins. Das betrifft die Masse der Lohnabhängigen, die Mittelschichten, aber auch die Superreichen und Kapitalist_Innen. Im System Putin überließen sie weitgehend der Staatsbürokratie mit einem bonapartistischen Führer die politische Macht. Im Gegenzug sicherte dieser massive Profite des Großkapitals und die Stabilität der Geschäfte.

Dieser grundlegende gesellschaftliche Krisenprozess bildet auch die Grundlage dafür, dass sich hinter Nawalny tatsächlich eine Massenbewegung formierten könnte, die Putin in Frage stellt. Das Regime ist sich dessen offenbar bewusst und sperrt daher den Oppositionsführer weg. Doch die Repression gegen Nawalny stellt dabei nur die Spitze des Eisbergs dar. Weit über zehntausend Menschen wurden in den letzten Monaten festgenommen, brutal angriffen und warten auf Verfahren.

Auch wenn Nawalny selbst ein bürgerlich-nationalistischer Reaktionär ist, dem Linke keinerlei politische Unterstützung zukommen lassen dürfen und dem gegenüber sich jegliche Illusionen in seine „demokratischen“ Absichten verbieten, so geht es bei seiner fadenscheinigen Aburteilung nicht primär um dessen Person oder Charakter.

Vielmehr geht es darum, dass das russische bürgerlich-bonapartistische Regime ein Exempel statuieren will, um jedes Aufbegehren, jede Opposition einzuschüchtern, um diese im Keim zu ersticken. Daher auch tausende weitere Festnahmen.

Die Arbeiter_Innenklasse und Revolutionär_Innen können und dürfen der staatlichen Repression nicht gleichgültig gegenüberstehen, weil die Durchsetzung dieser Urteile und willkürlichen Festnahmen die Staatsgewalt stärkt und sich nicht nur gegen Nawalny, sondern auch gegen jeden zukünftigen linken Widerstand, gegen jede Arbeiter_Innenaktion richtet.

Revolutionär_Innen müssen daher für Nawalnys Freilassung und die aller Festgenommen eintreten sowie die Einstellung aller Verfahren gegen diese fordern. Sofern Demonstrationen zu seiner Freilassung einen Massencharakter annehmen, sollten Linke auch an diesen Protesten teilnehmen und dort mit ihren eigenen Losungen und Bannern auftreten.

Außerdem wäre es falsch, eine politische Zuspitzung innerhalb des bürgerlichen Lagers links liegenzulassen. Die Auseinandersetzung unterstreicht, dass Putins Bonapartismus entgegen seinem äußeren Anschein zur Zeit ein politisch geschwächtes und instabiles Regime darstellt, das von Klassenkämpfen erschüttert werden kann. Die politische Schwäche der Arbeiter_Innenbewegung und die bonapartistische Herrschaftsform sind zwei Faktoren, die dazu beitragen, dass ein bürgerlicher Populist und Nationalist zur Ikone werden konnte, wie es auch in den Massenprotesten 2011/2012 der Fall war. Die Lösung der „demokratischen Frage“ liegt aber nicht in den Händen der liberalen Bourgeoisie, sondern der Arbeiter_Innenklasse. Sie braucht ihr eigenes Programm, das weder auf ein reformiertes Putin-Regime setzt, wie es die KPRF und die mit ihr verbundenen Gewerkschaften tun, noch auf ein besseres Russland unter einem Anti-Putin hofft. Die klassenkämpferische und radikale Linke muss vielmehr versuchen, die Lohnabhängigen aus dem Lager der Opposition politisch herauszubrechen, indem sie den Kampf für demokratische Rechte mit der sozialen Frage verbindet, mit dem Aufbau kampfstarker, vom Regime unabhängiger Gewerkschaften und sozialer Bewegungen sowie einer von Putin und Nawalny unabhängigen revolutionären Arbeiter_Innenpartei.




Militärputsch in Myanmar – vom Widerstand zur Revolution

Liga für die Fünfte Internationale, 9.2.2021, Infomail 1138, 11. Februar 2021

zuerst veröffentlicht unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/02/11/militaerputsch-in-myanmar-vom-widerstand-zur-revolution/

Seit einigen Tagen füllen Hunderttausende von Demonstrant_Innen die Straßen der größten Stadt Myanmars, Rangun, der zweitgrössten Stadt, Mandalay, der Hauptstadt Naypyidaw und vieler anderer Städte und Ortschaften. Sie skandieren „Military dictator, fail, fail; Democracy, win, win“ („Militärdiktator, scheitern, scheitern; Demokratie, siegen, siegen“) und fordern ein Ende des Putsches, der von der Junta unter dem Oberbefehlshaber der Armee, Min Aung Hlaing, durchgeführt wurde. In der Stadt Bago setzte die Polizei Wasserwerfer ein, schaffte es aber nicht, die Menschenmenge zu zerstreuen. In der Hauptstadt, wo sich das militärische Oberkommando befindet, wurden Gummigeschosse abgefeuert.

Das Militär, bekannt als Tatmadaw, startete den Coup vom 1. Februar, weil es zutiefst beunruhigt war über das Ausmaß des Sieges der Nationalen Liga für Demokratie (National League for Democracy; NLD) der Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi in den Novemberwahlen, die 396 von 476 Sitzen im Parlament gewann. Ihre eigene Marionette, die Union Solidarity and Development Party (Partei für Einheit, Solidarität und Entwicklung), erlitt eine vernichtende Demütigung und erhielt nur 33 Sitze. Infolgedessen stehen Staatsrätin Suu Kyi und der Präsident der NLD, Win Myint, unter Hausarrest.

Das Militär behauptet, ohne jeglichen Beweis, dass die Wahlergebnisse vom November gefälscht waren. In Wirklichkeit hatte es Angst, dass eine weitere NLD-Regierung mit einer so großen Mehrheit im Parlament versucht sein könnte, die Verfassung von 2008 zu ändern. Diese verlieh den Streitkräften enorme Privilegien, einschließlich 25 Prozent der Sitze im Parlament, und die Kontrolle über wichtige Sicherheitsministerien. Sie schützt auch die Kontrolle der Militärelite über große Teile der Wirtschaft des Landes.

Bewegung

Student_Innen, Beamt_Innen, Ärzt_Innen, Lehrer_Innen und Fabrikarbeiter:Innen, viele aus Firmen, die mit dem Militär verbunden sind, haben Streiks und Arbeitsniederlegungen begonnen. Um die Demonstrationen zu unterbinden, blockierten die Militärs sofort Facebook, Twitter und Instagram, und dann wurde die Verbindung zum gesamten Internet auf nur 16 Prozent der normalen Rate gedrosselt. Dennoch ist es ihnen nicht gelungen, die Demonstrationen zu unterdrücken, die am Wochenende des 6. und 7. Februar massenhafte Ausmaße annahmen.

Am dritten Tag der Mobilisierung wurden weit verbreitete Rufe nach einem Generalstreik laut. Trotz der Schließung der Social-Media-Kanäle haben die Mobilisierungen ihre eigenen Mittel zur Verbreitung der Aktionsaufrufe hervorgebracht. Von einem Ende des Landes zum anderen wird immer deutlicher, dass sich eine Revolution entwickelt, die nur mit brutalstem Vorgehen niedergeschlagen werden könnte.

Die Generäle haben in der Vergangenheit bewiesen, dass sie durchaus bereit sind, zu massiver Gewalt zu greifen. Tausende wurden getötet, als sie 1988 den Volksmacht-Aufstand niederschlugen, und erneut 2007, als die Armee die „Safran-Revolution“ zermalmte, die so genannt wurde, weil so viele buddhistische Mönche an den Demonstrationen beteiligt waren. Seitdem haben jedoch zehn Jahre einer „demokratischen Öffnung“ und die Nutzung sozialer Medien den Mut und das Selbstvertrauen einer großen Zahl junger Menschen gestärkt.

Bis jetzt scheint die Junta zu zögern, vielleicht aus Angst, die Moral ihrer Truppen zu testen, sollten sie aufgefordert werden, auf eine so extrem populäre Bewegung zu schießen. Stattdessen haben sie Pro-Armee-Gruppen mobilisiert, um gegen die DemonstrantInnen aufzumarschieren. Es ist klar, dass diese Krise nicht unendlich weitergehen kann. Zwei Hauptakteur_Innen, die Arbeiter_Innenklasse und die einfachen Soldat_Innen werden bestimmen, wie sie sich weiterentwickelt. Wird ein umfassender Generalstreik das Land lahmlegen? Kann man sich auf die Soldat_Innen verlassen, dass sie das Feuer auf ihre Landsleute eröffnen?

Führung

Das Problem, mit dem die Bewegung konfrontiert ist, ist das gleiche wie bei früheren Revolten, nämlich das Fehlen einer Führung, die organisch in den Massen verwurzelt ist. Von der NLD, deren rote Banner und Hemden überall zu sehen sind, wird nicht berichtet, dass sie die organisierende Kraft ist. Sie konzentriert sich ganz auf den Kult um ihre Führerin, Aung Sang Suu Kyi, die zuvor 15 Jahre in Haft verbracht hatte und ein unvergleichliches Prestige besitzt. Ihr Vater (Bogyoke) Aung Sang (1915–1947) war der Gründer der damaligen burmesischen Streitkräfte und trägt den Titel „Vater der Nation“.

Im Ausland wurde ihr Ruf jedoch durch die schändliche Art und Weise befleckt, wie sie 2017 die ethnische Säuberung und den versuchten Völkermord am Volk der Rohingya deckte, als 740.000 zur Flucht nach Bangladesch gezwungen wurden, wo sie in Lagern unter entsetzlichen Bedingungen leben. Trotz ihres Versagens, die Rechte der Minderheitsnationalitäten Myanmars, etwa 32 % der Bevölkerung, zu unterstützen, was ein Ergebnis ihres burmesischen (Bamar-)Nationalismus ist, ist sie immer noch enorm beliebt bei der Masse. Sollten die Dinge für die Generäle schlecht laufen, könnten sie sogar auf einen Deal mit ihr zurückgreifen, um eine revolutionäre Bewegung zu befrieden. In Anbetracht ihres bisherigen Verhaltens könnte sie dies durchaus akzeptieren.

Um das Fortschreiten des Putsches aufzuhalten, sind drei Dinge notwendig: die Fortsetzung der Massendemonstrationen, die Einleitung eines umfassenden unbefristeten Generalstreiks, der das Land zum Stillstand bringen wird, und dabei das Brechen der einfachen Soldaten der Streitkräfte und der unteren Ränge der Polizei von ihren Befehlshabern und ihre Gewinnung für die Bewegung.

Im Zuge eines solchen Generalstreiks sollten in allen Betrieben und
Bildungsstätten Aktionsräte als Führung der Revolution gewählt werden.
Aus diesen Mobilisierungen heraus sollten Verteidigungsgruppen von
ArbeiterInnen, Jugendlichen, SoldatInnen, Bauern und Bäuerinnen gebildet
werden. Wenn die SoldatInnen zur Revolution übergehen, müssen auch sie
ihre eigenen Räte organisieren und die OffizierInnen und KommandantInnen
durch gewählte, den Massen ergebene ersetzen.

Allein die Tatsache, dass die Generäle trotz eines Jahrzehnts „demokratischer Öffnung“ und der Präsenz der NLD in der Regierung seit 2015 immer noch an der wirklichen Macht, sowohl wirtschaftlich als auch militärisch, festhielten, zeigt einfach, dass ihre Diktatur hinter einer Fassade der zivilen Herrschaft versteckt war.

Die Lehre aus den Revolutionen des Arabischen Frühlings von 2011 ist, dass ohne eine politische Partei der Arbeiter_Innenklasse und der Jugend die Revolution entweder zerschlagen wird oder die Massen durch eine Umgruppierung der Generäle und der Politiker_Innen an der Spitze getäuscht werden. Eine konterrevolutionäre Führung von oben wird ein Vakuum füllen, das durch das Fehlen einer revolutionären Führung von unten entsteht. So ist heute, in Ägypten, Abd al-Fattah as-Sisi trotz der Mobilisierungen auf dem Tahrir-Platz ein noch brutalerer Diktator als Hosni Mubarak, der durch diese Demonstrationen gestürzt wurde.

Permanente Revolution

Nur eine durchgreifende demokratische politische Revolution, angeführt von der Arbeiter_Innenklasse und der Jugend, die sich zu einer sozialen Revolution weiterentwickelt, kann diese Situation grundlegend verändern. Es muss eine Revolution sein, die die Macht der Kaste der Generäle vollständig auflöst und die Repressionsmaschinerie des Staates endgültig zerschlägt. Sie muss auch ihre ökonomische Macht beenden, ihre unrechtmäßigen Gewinne beschlagnahmen, die Arbeiter_Innenkontrolle in den Fabriken und Büros, den Schulen, Krankenhäusern und anderen Arbeitsstätten etablieren. Auf dem Lande müssen die Bauern und Bäuerinnen ihre eigenen Räte organisieren. Eine solche Revolution sollte die Militärregierung vertreiben und eine Regierung der Arbeiter_Innen und Bauern sowie Bäuerinnen an die Macht bringen.

Angesichts der demokratischen Hoffnungen und Bestrebungen des Volkes nach so vielen Jahrzehnten der Diktatur wird es sehr wahrscheinlich notwendig sein, die Forderung nach Wahlen zu einer völlig souveränen verfassunggebenden Versammlung zu erheben und nicht einfach eine weitere NLD-Regierung zu installieren, die bereit ist, einen Deal mit der Tatmadaw einzugehen. Diese Wahlen sollten unter der Kontrolle von Komitees und Räten der Arbeiter_Innen, der Jugend, von Bauern und Bäuerinnen durchgeführt und von deren Verteidigungsorganisationen bewacht werden. Die Versammlung sollte nicht nur die Rechte der burmesischen Mehrheitsethnie berücksichtigen, sondern auch das auf Selbstbestimmung aller nationalen Minderheiten des Landes, einschließlich der Rückkehr der Rohingya-Flüchtlinge.

Nicht zuletzt muss im Verlauf der Revolution eine revolutionäre Partei der Arbeiter_Innenklasse gebildet werden, die alle Versuche Suu Kyis und der NLD, erneut Kompromisse mit dem Militär einzugehen und das Land für ausländisches Kapital, ob aus dem Westen oder aus China, zu öffnen, herausfordern kann.

Schließlich sollten die Kommunist_Innen dafür kämpfen, dass eine konstituierende Versammlung alle ausländischen und einheimischen Großkapitalist_Innen enteignet und das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln einführt. Obwohl die Revolution in Myanmar also als eine Revolution für Demokratie beginnt, muss sie sich, um diese vollständig zu erreichen, zu einer Revolution für Arbeiter_Innenmacht und Sozialismus entwickeln.

Unterstützung und Solidarität – von wem?

Zwei imperialistische „Lager“ verfolgen die Krise in Myanmar: zum
einen die USA und ihre westlichen Verbündeten, zum anderen China und in
geringerem Maße Russland. Die NLD, seit 2015 an der Regierung, hat
versucht, Myanmar für den Westen zu öffnen. Trump zeigte wenig
Interesse, aber der neue US-Präsident forderte die Generäle schnell auf,
die Demokratie wiederherzustellen.

Sein nationaler Sicherheitsberater, Jake Sullivan, hat gesagt, das Weiße Haus prüfe „spezifische gezielte Sanktionen sowohl gegen Einzelpersonen als auch gegen vom Militär kontrollierte Einrichtungen, die es bereichern“. Diese „gezielten Sanktionen“, wie sie gegen Russland oder Venezuela gerichtet sind, werden der Sache der arbeitenden Menschen und der Jugend dieser Länder nicht ein Jota helfen.

Sie werden ebenso wenig ändern wie Erklärungen des UN-Sicherheitsrates, der lediglich „tiefe Besorgnis“ über die willkürliche Inhaftierung von Mitgliedern der Regierung Myanmars zum Ausdruck brachte und ihre sofortige Freilassung forderte. Natürlich war dieser Entwurf einer Erklärung verwässert worden, um ein Veto Russlands und Chinas zu verhindern. China bleibt jedoch vorsichtig, um zu sehen, wer sich durchsetzen wird. Der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Wang Wenbin, erklärte, dass Peking immer noch versuche, die Situation in Myanmar zu verstehen“, während er gleichzeitig betonte, dass China „Myanmars freundlicher Nachbar“ sei und die Regierung hoffe, dass „alle Parteien in Myanmar ihre Streitigkeiten beilegen und die soziale und politische Stabilität aufrechterhalten können, indem sie die Verfassung und die Gesetze anwenden“. Chinas Außenminister, Wang Yi, hatte das Land Mitte Januar besucht und sowohl Aung Sang Suu Kyi als auch Min Aung Hlaing getroffen.

China hat große strategische und wirtschaftliche Interessen in Myanmar. Es ist ein wichtiges Glied im berühmten „one belt, one road“-Projekt, das chinesischen Händler_Innen direkten Zugang zum Indischen Ozean verschafft. Aber wie in anderen Ländern auch gab es in letzter Zeit Reibereien zwischen dem Militär und China wegen eines Wasserkraftprojektes und den Praktiken chinesischer Firmen bei großen Infrastrukturplänen. Wenn der Westen ernsthafte Maßnahmen ergreift, um Myanmar zu isolieren, wird er das Land mit Sicherheit in das Lager Pekings treiben, und das könnte seine Hand draufhalten.

Eines ist sicher, keine dieser Gruppen rivalisierender imperialistischer Mächte ist wirklich an den demokratischen Rechten oder der Souveränität Myanmars und seiner Völker interessiert, geschweige denn an der Unterstützung der Kämpfe der Arbeiter_Innen und der Jugend Myanmars.

In den letzten Jahren ist das Land zum Ziel für immer mehr ausländisches Kapital geworden. Chinesische Bekleidungshersteller_Innen gehören zu denjenigen, die sich im Land niedergelassen haben. Mittlerweile gibt es 350 große Fabriken, die 240.000 Arbeiter_Innen beschäftigen, von denen über 90 Prozent Frauen sind. Die meisten ausländischen Direktinvestitionen kommen jedoch immer noch aus der südostasiatischen Region und hatten im Steuerjahr 2020 einen Wert von 5,5 Mrd. US-Dollar (4 Mrd. Britische Pfund). Singapur war der größte ausländische Investor mit einem Anteil von 34 Prozent an den gesamten genehmigten Investitionen. Hongkong war der zweitgrößte, mit 26 Prozent. Auf Immobilien und die verarbeitende Industrie entfielen jeweils etwa 20 Prozent.

Dennoch geht ein Großteil der Produktion der Fabriken des Landes nach Europa. Deutschland, Spanien und Großbritannien führen die Liste der Importeur_Innen von Produkten der Bekleidungs- und Schuhindustrie Myanmars an. Die großen Textilketten wie H&M könnten ein Ziel für Streikposten und Proteste in Solidarität mit den Arbeiter_Innen und Jugendlichen des Landes werden.

Die westlichen imperialistischen Demokratien werden wie bisher nichts tun, um den Massen in Myanmar zu helfen, während vor allem China weiterhin die Generäle unterstützen wird. Es ist die Arbeiter_Innenklasse auf der ganzen Welt, die ihre Solidarität mit einem Generalstreik und dem Widerstand ausdrücken sollte, falls das Militär zum Blutvergießen greift. SozialistInnen und KommunistInnen sollten ihre volle Unterstützung für den Widerstand gegen die Militärherrschaft in Myanmar erklären und einen ArbeiterInnenboykott als Zeichen unserer Solidarität verhängen.

  • Nieder mit der Militärjunta!
  • Solidarität mit dem Widerstand!
  • Vorwärts zu einer demokratischen und sozialen Revolution in Myanmar!



Über Islamophobie und die Frage, ob es eine religiöse Revolutionärin geben kann

von Dilara Lorin

Antimuslimischer Rassismus, sogenannte Islamophobie ist in den letzten Jahren so dauerpräsent geworden, dass man irgendwie das Gefühl hat, er gehöre zum „guten Ton“ der spätkapitalistischen Gesellschaft. Gerade aktuell ist in den Medien die Debatte wieder aufgeflammt: „Ist der Islam an sich rückschrittlich?“. Wir wollen daher die Gelegenheit nutzen, um mit diesem, wie mit anderen Mythen mal wieder ein wenig aufzuräumen.

Vorab
sei bemerkt, dass bei der Betrachtung von antimuslimischem Rassismus
auch die Frage, was eigentlich „Islamismus“ sei, eine große
Rolle spielt, der wir jedoch in dieser Zeitung nicht den angemessenen
Platz einräumen können und die wir daher in der nächsten Ausgabe
behandeln wollen.

Was
ist Islamophobie?

Islamophobie ist laut Wörterbucheintrag die Abneigung gegen den Islam (und seine Anhänger_Innen) und die negative, feindliche Einstellung gegenüber Muslim_Innen. Politisch diente das Schüren von Islamophobie dazu jedes imperialistische Eingreifen und sogar Besetzung und Kriege in der muslimischen Welt zu rechtfertigen, ebenso wie den staatlichen Rassismus im eigenen Land, d.h. repressive Gesetze und sonstige Unterdrückung gegen nationale oder religiöse Minderheiten. Antimuslimischer Rassismus ist im Spätkapitalismus ein Hauptbestandteil imperialistischer Ideologie geworden. Ihm bedienen sich auch rechtspopulistische Kräfte wie AfD, Marine Le Pen, FPÖ und andere, die ihn nutzen um ihre rassistischen Propaganda darauf aufzubauen. Auch wenn Islamophobie als relativ neues Phänomen erscheint, wurzeln viele der heute präsenten Bilder tief in der europäischen Geschichte. Darstellungen des Orients als primitiv, rückständig und despotisch im Vergleich zum modernen und aufgeklärten Westen oder das in Europa verbreitete Schreckbild des expandierenden Osmanischen Reiches als Bedrohung des christlichen Abendlands haben eine lange Geschichte und werden im modernen antimuslimischen Rassismus oftmals wieder aufgegriffen und auf die „Rasse“, „Natur“ oder „Kultur“ der Betroffenen zurückgeführt. In Westeuropa und Nordamerika führt er zu rassistischer Agitation gegen Immgirant_Innen aus dem Nahen Osten, dem indischen Subkontinent und Ostafrika geworden.

Er
führt dazu, dass Grenzen geschlossen werden, Überwachung der
Bevölkerung zunimmt, Attentate auf Migrant_Innen zunehmen und vieles
mehr.

Wie
auch andere Spielarten von Rassismus hat Islamophobie in
imperialistischen Ländern die Funktion, dass ein Teil der
Arbeiter_Innenklasse noch schlechter bezahlt wird als die anderen und
daher als Lohndrücker_Innen wirkt. Darüber hinaus werden die
Arbeiter_Innen gegeneinander ausgespielt, anstatt gemeinsam für ihre
Interessen einzustehen.

Hintergrund
in den Weltordnung

Schauen
wir uns die heutigen Staaten im Nahen/Mittleren Osten an, erkennen
wir schnell, dass sie von westlichen Medien als zurückgeblieben,
barbarisch angesehen werden und diese Zuschreibung auch immer
einhergeht mit einer islamfeindlichen Anschauung. So als würde
gerade der Islam diese Zurückgebliebenheit der Regionen verursachen.
Dabei sind diese Staaten, weil sie Halbkolonien sind, wirtschaftlich
künstlich unterentwickelt, d.h. die imperialistischen Staaten, von
denen sie abhängen, wollen erst gar nicht, dass sie sich weiter
entwickeln und am Ende noch wirtschaftlich unabhängig machen. Mit
der wirtschaftlichen Abhängigkeit, können auch die Staaten gar
nicht selber entscheiden worin sie investieren, wird die Korruption
erhöht und vor allem die Arbeiter_Innen, Jugendliche und Frauen
leiden darunter und müssen unter unmenschlichen Lebensbedingungen
leben und arbeiten und werden dabei systematisch ausgebeutet. Diese
Perspektivlosigkeit, diese künstlich unterentwickelte Wirtschaft hat
dabei nichts mit dem Islam zu tun, so wie es viele konservative,
Rechte aber auch Bürgerliche behaupten, sondern schlicht und einfach
mit der wirtschaftlichen Ausbeutung und dem imperialistischen
Machtgefüge.

Es
ist daneben kein Zufall, dass das Aufleben der Islamophobie im 21.
Jahrhundert zeitlich mit der Intervention der USA in ölreiche aber
muslimisch geprägte Regionen wie z.B. der Irak zusammenfällt. Die
traditionelle islamische Kultur wurde so ein Brennpunkt
US-imperialistischer Kritik – mit arroganten Aufforderungen, sich
selbst zu modernisieren, d.h. zu verwestlichen. Doch genau das ist
ein überhebliches, ekliges und unmögliches Verfangen. Denn Staaten
die der Imperialismus von sich abhängig macht, können sich nicht
aus den Fesseln befreien, unabhängig werden und entwickeln um
„westlichen“ Standards zu entsprechen.

Religion
nur Opium fürs Volk?

Wenn
man sich vor Augen führt wie die Mehrheit der Menschen auf dieser
Welt leben, meist ohne eine Zukunft, mit Krieg, Armut, Unterdrückung
und Leid als ständigen Begleiter ist, steht für viele von Ihnen der
Glaube an eine höhere Macht, an Gerechtigkeit und an ein besseres
Leben nach dem Tod nicht weit. Es ist diese Hoffnung und die Kraft,
die es ihnen ermöglicht das Leid zu ertragen. Darum dürfen wir als
Revolutionär_Innen den religiösen, an einem Gott/Allah glaubenden
Teilen der Arbeiter_Innenklasse nicht uninteressiert entgegenstehen.

Als
Kommunist_Innen ist gleichzeitig der dialektische Materialismus
unsere philosophische Grundlage, die daher im Widerspruch zu allen
religiös-idealistischen Erklärungsansätzen steht. Das heißt
jedoch nicht, dass nicht auch ein_e ehrliche_r Revolutionär_In sich
rekreativ religiösen Ritualen widmen kann, wenn er_sie daraus Kraft
schöpft. Religion bleibt also Privatsache, und wir sollten keine_n
entschlossene_n Klassenkämpfer_In wegen seiner religiösen
Vorstellungen zurückweisen.

Wofür
wir aber einstehen und kämpfen müssen,

ist
die unbedingte Trennung von Religion und Staat, egal ob man
Atheist_In, oder religiös ist, das heißt: keine
religiös inspirierten Gesetze, keine Finanzierung von religiösen
Schulen, kein verpflichtender Religionsunterricht, keine
Zurschaustellung religiöser Symbole durch öffentliche Einrichtungen
(wie zum Beispiel Kreuze in Schulen) und die Offenlegung aller
Finanzquellen von religiösen Institutionen. Trotz freier
Religionsausübung darf niemand in seinen demokratischen Rechten
eingeschränkt werden. Wir verteidigen jede Person, die auf Grund
ihrer Religion diskriminiert wird und stellen uns gegen jede
Diskriminierung, die mit religiöser Überzeugung gerechtfertigt
wird.

Wir
verteidigen das Recht von Muslim_Innen, ihre Religion auszuüben und
Moscheen zu erbauen. Ebenso haben Frauen das Recht, sich zu
verschleiern, auch mit einer Burka, wenn sie es wollen. Dass wir für
diese Freiheit zur Ausübung ihres Glaubens eintreten, geht für uns
darüberhinaus Hand in Hand damit, gegen den Zwang zu kämpfen, dass
sich Frauen und Jugendliche diesen oder jenen religiösen
Vorstellungen wider eigenen Willens unterwerfen müssen.

In
unserem Kampf, den wir gemeinsam führen, verfallen wir nicht
islamfeindlichen Gedanken, sondern rufen die Arbeiter_Innenbewegung
dazu auf ihren muslimischen Geschwistern beizustehen, wo sie
unterdrückt werden. Auf diese Weise kann die Arbeiter_Innenbewegung
den Einwander_Innen und religiösen Minderheiten in den
imperialistischen Ländern demonstrieren, dass sie die
demokratischste und fortschrittlichste Kraft ist und kann dadurch
auch dem Islam seine Führungsrolle streitig machen.




Atomwaffenverbotsvertrag: Ende des Schreckens?

Von Flo Schwerdtfeger

Jedes Wort über Frieden
in der Welt von den imperialistischen Staaten der Welt ist eine Lüge,
wenn man nicht nur die Aufrüstung der letzten Jahre verfolgt,
sondern auch einen Blick auf die bestehenden Arsenale von Atomwaffen
wirft. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut schätzt, dass die
Atommächte derzeit rund 13.400 Nuklearwaffen besitzen. 6000 davon
sind jeweils bei den USA und Russland zu verbuchen. 4.000 davon
jederzeit einsetzbar und 1.800 in höchster Alarmbereitschaft. Damit
sind es zwar um das Fünffache weniger, als während der heißesten
Phase des kalten Krieges, allerdings sind es immer noch genug um den
Planeten in Schutt und Asche zu legen.

Neben den beiden
genannten Staaten gehören noch Frankreich, Großbritannien und China
zu den Staaten, die innerhalb des Atomwaffensperrvertrags liegen.
Außerhalb dieses Vertrages sind Indien, Pakistan, Nordkorea und
Israel. Bei diesen vier Staaten ist bekannt gegenwärtig Waffen zu
besitzen und zu produzieren.

Nach dem Einsatz der zwei
Atombomben in Hiroshima und Nagasaki sah man zum Glück von weiteren
kriegerischen Einsätzen ab. Allerdings hinderte es die Staaten nicht
daran jahrzehntelang weiterentwickelte Bomben zu testen und dafür,
wie im Falle der USA, Einheimische entschädigungslos von ihren
Inseln zu vertreiben, um diese als Testgelände zu nutzen.

In der jüngeren
Geschichte wurden im Kosovokrieg und Irak normale Geschosse und
Bomben mit Uranummantelung eingesetzt, da sie dadurch härter und
durchschlagskräftiger wurden. Auch wenn dies keine Atomwaffen mit
Kernspaltung sind, kam es dazu, dass das Grundwasser in vielen Fällen
verschmutzt wurde und nicht nur Soldat_Innen, sondern auch
Zivilist_Innen an Strahlenkrankheiten erkrankten, da Uran beim
Einschlag frei wurde.

Die moderne Doktrin für
den Einsatz von Atomwaffen sieht vor schnell und gezielt agieren zu
können. Nicht mehr mit städtevernichtenden Bomben, sondern mit
gelenkten und kleinen Geschossen, die Bunker durchbrechen sollen und
nur kleinräumig Schaden anrichten. Trotzdem kann sich daraus eine
Eskalationsspirale entwickeln, die dann doch wieder in einem
Atomkrieg endet.

Verträge gegen
Kriege?

Dies zu verhindern
versuchen mehrere Verträge, die den Einsatz, die Forschung oder den
Verkauf von Atomwaffen zumindest beschränken oder in Teilen
verbieten. Hinzu kommen Verträge, die das teilweise Abrüsten der
USA und Russland garantieren sollten. Letzterer ist allerdings 2019
ausgelaufen, da beide Staaten sich immer wieder Vorwürfe über
Vertragsverletzungen machten.

Derzeit ist die
Aufmerksamkeit aber auch auf den Atomwaffenverbotsvertrag gerichtet,
der am 22. Januar 2021 in Kraft treten soll. Dieser beinhaltet ein
allumfassendes Verbot des Besitzes, der Erforschung, Verbreitung und
des Einsatzes von Atomwaffen aller Art. Die vorigen Verträge bezogen
sich meist auf spezielle Gattungen, wie z.B. nur landgestützte
Mittelstreckenraketen. Des Weiteren sichert es den Staaten aber auch
die zivile Nutzung von nuklearem Material zu, z.B. für die
Stromerzeugung durch Atomenergie. Die Unterzeichnenden verpflichten
sich ebenfalls dazu das erlebte Leid der Hibakusha (Überlebende von
Hiroshima und Nagasaki) und der Vertriebenen durch die Tests
anzuerkennen und ihnen psychologische Hilfe zu gewähren, als auch
wirtschaftliche Hilfe beim Wiederaufbau und der Dekontaminierung der
Gebiete zu bieten.

Unterzeichner dieses
Vertrages sind vor allem halbkoloniale Länder des globalen Südens,
aber auch Länder ohne oder mit aufgegebenen Nuklearwaffenprogramm.
Keine Atommacht oder Verbündeter dieser unterschrieb diesen Vertrag.

Entstanden ist der
Verbotsvertrag als Folge aus dem bereits bestehenden Nuklearen
Nichtverbreitungsvertrag (NVV). Dieser wird dafür kritisiert nicht
genügend Mittel zu haben seine Ziele umzusetzen und Fehlverhalten zu
sanktionieren. Beispielsweise ist die schrittweise Abrüstung als
Friedensbestreben der Atommächte dort deklariert, dass jedoch weder
entscheidend kontrolliert werden kann und auch kaum stattfindet.

Das größte Problem ist
jedoch, dass es auf freiwilliger Basis ist. Die Beschränkungen
gelten also nur für die Unterzeichnerstaaten, was teilweise witzlos
ist, da diese ja meist gar keine Atomwaffen besitzen. Ziel ist es
aber auch durch den Vertrag Druck auf die Atommächte auszuüben,
diesem beizutreten. Allerdings boykottieren diese den Vertrag schon
seit Jahren.

Den Vertrag innerhalb der
UN und des Sicherheitsrates durchzusetzen und so rechtlich bindende
Konditionen zu schaffen, erscheint ebenfalls unmöglich, da die
offiziellen Atommächte (USA, RU, CH, UK, FR) diejenigen Mitglieder
dort sind, die auch einen ständigen Sitz samt Veto-Recht inne haben.
Ein Veto eines der 5 Staaten kann einen Antrag des Sicherheitsrates
blockieren. Damit kann die Arbeit der 10 weiteren zweijährig
wechselnden Mitgliedsstaaten zum Halten gebracht werden. Diese
Erfahrung zeigt, dass die UN eine imperialistische Institution ist,
auf die die Anti-Kriegsbewegung keine Hoffnung zu setzen braucht!

Kein Ende ohne
Arbeiter_Innenklasse

Was in den Verträgen
versucht wird festzuschreiben, ist zahnlos gegenüber den
herrschenden Verhältnissen. Friedensverträge sind in der
Vergangenheit entweder Ergebnisse eines Krieges gewesen, die den Sieg
über den Besiegten, also die militärischen Machtverhältnisse
politisch festschrieben oder aber sie wurden zur Verhinderung eines
Krieges geschlossen. Wer in die Geschichte schaut, weiß: Oft waren
Friedensverträge nur Vorboten des Krieges. Beim ersten wie dem
zweiten Weltkrieg gingen zahlreiche Verträge dem Morden voraus.

Kriege sind die
Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Alle Nationen stehen in
Konkurrenz zueinander, denn: Politik wiederum ist die Fortsetzung
wirtschaftlicher Konkurrenz mit anderen Mitteln. Kapitalistische
Staaten werden sich immer wieder um eine Aufteilung von Ressourcen,
Absatzmärkten, Einflussgebieten usw. bekriegen müssen.

Deswegen: Echter
Antimilitarismus geht nur antikapitalistisch.

Was bedeutet:

  • Für die
    entschädigungslose Enteignung der Rüstungsindustrien unter
    Arbeiter_Innenkontrolle
  • Für die
    Zerschlagung sämtlicher bürgerlicher Armeen und imperialistischer
    Institutionen und Bündnisse (NATO, OVKS, Sicherheitspolitik der EU
    („Vertrag von Lissabon“), …)
  • Für eine
    demokratische Arbeiter_Innenmiliz sowie die Rätemacht von
    Arbeiter_Innen und einfachen Soldat_Innen

  • Gegen alle
    „Friedensverträge“, die doch nur die Unterdrückung der
    halbkolonialen Welt sichern oder den nächsten Krieg vorbereiten
  • Für die
    Zerschlagung der UN – Ersetzung durch einen wähl- und abwählbaren
    Welt-Arbeiter_Innenrat als höchste Instanz
  • Für die Abrüstung
    jeglicher nuklearer Bewaffnungssysteme durch demokratisch
    kontrollierte Komitees der Arbeiter_Innenklasse
  • Keine zivile Nutzung
    von spaltbarem Material – Atomkraft ist keine nachhaltige
    Zukunftstechnologie



Solidarität mit dem Generalstreik der indischen Gewerkschaften!

Zuerst veröffentlicht am 26. November 2020 unter: https://arbeiterinnenmacht.de/2020/11/26/solidaritaet-mit-dem-generalstreik-der-indischen-gewerkschaften/

Martin Suchanek

Seit dem Morgen des 26. November erfasst ein weiterer Generalstreik
Indien. Die Gewerkschaften rechnen mit bis zu 250 Millionen
TeilnehmerInnen. Begleitet wird die Arbeitsniederlegung außerdem von
Massenaktionen von Bauern/Bäuerinnen und LandarbeiterInnen gegen neue
drakonische Gesetze, die Farm Laws, die die Arbeit auf dem Land
(de)regulieren sollen.

Zur Vorbereitung und Durchführung des Generalstreik haben sich
zahlreiche landesweite Verbände und regionale Organisationen in der 
Joint Platform of Central Trade Unions (CTUs; Vereinigte Plattform der
Gewerkschaftszentralen) zusammengeschlossen.

Diese besteht aus folgenden Verbänden Indian National Trade Union
Congress (INTUC), All India Trade Union Congress (AITUC), Hind Mazdoor
Sabha (HMS), Centre of Indian Trade Unions (CITU), All India United
Trade Union Centre (AIUTUC), Trade Union Coordination Centre (TUCC),
Self-Employed Women’s Association (SEWA), All India Central Council of
Trade Unions (AICCTU), Labour Progressive Federation (LPF) und United
Trade Union Congress (UTUC). Politisch repräsentieren sie das volle
Spektrum von der bürgerlich-nationalistischen Kongresspartei
nahestehenden Verbänden über die den kommunistischen Parteien
verbundenen bis hin zu unabhängigen, teilweise radikaleren
klassenkämpferischen Organisationen. Wenig überraschend fehlt mit
Bharatiya Mazdoor Sangh (BMS), der „gewerkschaftliche“ Arm der
regierenden, hinduchauvinistischen Bharatiya Janata Party (Indische
Volkspartei; BJP), die sich faktisch wieder einmal als gelber Verband
von StreikbrecherInnen betätigt.

Historischer Angriff

Der Generalstreik am 26. November richtete sich – wie schon jene der
letzten Jahre, die mehr als 100 Millionen Lohnabhängige mobilisieren
konnten – gegen einen fundamentalen Angriff durch die
KapitalistInnenklasse und die Modi-Regierung. Die Regierung brachte seit
2019 vier neue Arbeitsgesetze in die Look Sabha (Parlament) ein, die 44
bisher gültige ersetzen sollen. Im Grunde sollen damit die Überreste
der Beziehungen zwischen Kapital und Lohnarbeit, wie sie nach der
Unabhängigkeit Indiens etabliert wurden, endgültig beiseitegeschoben
werden. Dieser Prozess begann zwar mit der neoliberalen Wende der
Kongress-Partei und der Öffnung der indischen Wirtschaft nach 1980,
beschleunigte sich jedoch seit dem Ausbruch der globalen Krise 2007 und
der Regierungsübernahme der hindu-chauvinistischen Bharatiya Janata
Party (BJP) 2014. Das ist auch der Grund, warum sich entscheidende
Fraktionen des Großkapitals vom Kongress, der traditionellen Partei der
indischen Bourgeoisie, abwandten und, ähnlich den imperialistischen
Großunternehmen, in der BJP die verlässliche Sachwalterin ihrer
Interessen sehen.

Die Ideologie des Hindutva, nach der Indien ausschließlich den Hindus
gehöre und in der religiöse Minderheiten wie Muslime, Indigene, die
„unteren“ Kasten, Frauen und sexuelle Minderheiten BürgerInnen zweiter
Klasse sein sollen, bildet den Kitt, um große Teile der Mittelschichten,
des KleinbürgerInnentums und rückständige ArbeiterInnen vor den Karren
des Kapitals zu spannen. Die „größte Demokratie der Welt“ bildet die
Fassade für die zunehmend autoritäre, bonapartistische Herrschaftsform
des Regimes Modi, das sich dabei auf extrem reaktionäre und auf
faschistische Massenorganisationen stützen kann. In den letzten Jahren
forcierte sie die Angriffe auf demokratische Rechte und ging brutal
gegen  Proteste vor, die sich gegen die nationalistische „Reform“ der
Melde- und Staatsbürgerschaft richteten. Vielerorts, wie in Delhi
provozierten Parteiführer der BJP Pogrome gegen Muslime und
Protestierende. Indien annektierte Kaschmir und beendete dessen formal
autonomen Status endgültig. Die „Reform“ der Arbeitsgesetze stellt ein,
wenn nicht das klassenpolitische Kernstück der Politik der
Modi-Regierung dar. Hier nur einige zentrale Aspekte:

  • Das neue Arbeitsgesetz erlaubt die fristlose Entlassung ohne
    weitere Angabe von Gründen und ohne Zustimmung der Behörden von bis zu
    300 Beschäftigten. Bisher war diese Zahl auf 100 ArbeiterInnen
    festgelegt. Dies schafft wichtige Beschränkungen der Unternehmenswillkür
    in Klein- und Mittelbetrieben ab, die in den letzten Jahren ebenfalls
    zunahm.
  • Das Fabrikgesetz von 1948 galt bislang für alle Betriebe mit
    mehr als 10 Beschäftigten, sofern sie mit Elektrizität versorgt wurden,
    und für alle mit mehr als 20, die diese nicht haben. Jetzt werden diese
    Zahlen verdoppelt, auf 20 bzw. 40 Beschäftigte.
  • Diese Methode durchzieht zahlreiche andere Bestimmungen der
    neuen Arbeitsgesetze. Die Mindestzahl an regulär Beschäftigten, ab denen
    sie überhaupt erst gelten, wurde deutlich erhöht, oft auf das Doppelte
    oder Dreifache der ursprünglichen Zahl. Dies betrifft insbesondere
    Mindeststandards für Arbeitssicherheit.
  • Erhöht wurde außerdem die Quote für LeiharbeiterInnen unter den Beschäftigten.

All diese Maßnahmen zielen auf die Ausweitung der
UnternehmerInnenfreiheit. Die weitgehende Entrechtung, die schon heute
die Lage eines großen Teils der indischen ArbeiterInnenklasse prägt, der
in verschiedene Formen der Kontraktarbeit (wie  Tagelöhnerei,
Leiharbeit, prekäre Beschäftigung, …) gezwungen wird, soll weiter
ausgedehnt werden. Auch bisher „regulär“ Beschäftigte sollen von ihr
erfasst werden.

Zugleich werfen diese Maßnahmen auch ein bezeichnendes Licht auf das
Geschäftsmodell des indischen Kapitalismus. Die vom Weltmarkt und den
internationalen Finanzmärkten abhängige halbkoloniale Ökonomie kann die
Profitabilität der wachsenden kleineren Kapitale nur sichern, wenn diese
weiter die Arbeitskräfte extrem ausbeuten, also unter ihren
Reproduktionskosten kaufen und verwerten können. Ansonsten sind sie
nicht in der Lage, sich auf dem Markt zu halten, die Vorgaben von
Konkurrenzbedingungen, die das multinationale Großkapital aus den
imperialistischen Ländern diktiert, zu erfüllen. Zugleich begünstigt
diese Form der Überausbeutung auch die indischen Großkonzerne, die
ihrerseits um größere Anteile am Weltmarkt ringen.

Diese Ausweitung selbst erschwert schon die Möglichkeiten der
gewerkschaftlichen Organisierung massiv, die durch neue legale
Einschränkungen zusätzlich eingeschränkt werden sollen.

Ergänzt werden die Angriffe auf die Arbeitsgesetze auch durch
drastische Verschlechterungen für die Landbevölkerung, also für die
ärmsten Schichten der Bauern und Bäuerinnen sowie für LandarbeiterInnen.
Das ist auch der Grund, warum das All India Kisan Sangharsh
Coordination Committee (AIKSCC) den Generalstreik unterstützt und mit
Aktionstagen am 26. und 27. November verbindet.

Über die Forderung nach Abschaffung der gesamten reaktionären
Reformen des Arbeitsgesetzes hinaus verlangen die Gewerkschaften
außerdem eine monatliche staatliche Unterstützung von 7.500 Rupien (rund
85 Euro) für alle Familien, die keine Einkommenssteuer zahlen müssen,
sowie 10 Kilogramm kostenloser Lebensmittel für alle Bedürftigen. Diese
und ähnliche Forderungen verdeutlichen, dass die Corona-Pandemie und die
kapitalistische Krise Millionen ArbeiterInnen und  Bauern/Bäuerinnen in
Not und Elend stürzen, sie gegen Armut, Hunger und Tod ankämpfen
müssen.

Internationale Solidarität und Perspektive

Der Generalstreik der indischen Gewerkschaften erfordert unsere Solidarität – und zwar weltweit.

Zugleich macht er aber – gerade vor dem Hintergrund etlicher
Massenstreiks der letzten Jahre – deutlich, dass die
ArbeiterInnenbewegung und alle Bewegungen von Unterdrückten gegen das
Hindutva-Regime eine Strategie brauchen, die über beeindruckende, aber
auch nur auf einen Tag beschränkte Aktionen hinausgeht. Die Regierung
Modi wird sich davon nicht stoppen lassen. Das haben die letzten Jahre
gezeigt. Wie die letzten Monate verdeutlicht haben, wird sie auch die
Pandemie und die Krise zu nutzen versuchen, weitere Angriffe
durchzuziehen.

Es geht daher darum, dem permanenten Angriff einen permanenten
Widerstandskampf entgegenzusetzen – auf den eintägigen Generalstreik
einen unbefristeten gegen die Arbeitsgesetze und für ein
Mindesteinkommen und Mindestlohn für alle in Stadt und Land
vorzubereiten und durchzuführen.

Die Koordinierung der Gewerkschaften und BäuerInnenorganisationen
muss sich einer solchen Aufgabe stellen und zur Bildung von
Aktionskomitees in den Betrieben, den Stadtteilen, in den Gemeinden und
auf dem Land aufrufen, also Kampforgane bilden, die alle Schichten der
Lohnabhängigen und der Klein- und MittelbäuerInnen einschließen,
unabhängig von Religion, Nationalität, Kaste, Geschlecht oder sexueller
Orientierung.

Angesichts der staatlichen Repression und der reaktionären
hinduchauvinistischen Verbände müsste ein solcher Streik auch
Selbstverteidigungsstrukturen aufbauen.

Ein politischer Generalstreik, der das Land dauerhaft lahmlegt, würde
unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und somit auch die Möglichkeit
und die Notwendigkeit, vom Abwehrkampf zur Offensive überzugehen. Diese
erfordert freilich mehr als nur gewerkschaftlichen Widerstand. Sie
erfordert die Verbindung dieses Kampfes mit dem gegen alle Formen der
Unterdrückung, die Verbindung des Kampfes gegen die BJP-Regierung mit
dem gegen den Kapitalismus, den Aufbau einer revolutionären politischen
Partei der ArbeiterInnenklasse, die sich auf ein Programm von
Übergangsforderungen stützt und die für eine ArbeiterInnen- und
BäuerInnenregierung kämpft, die eine Räteherrschaft errichtet, das
Großkapital enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt.

Zur Zeit existiert keine politische Kraft in Indien, die ein solches
Programm vertritt. Die verschiedenen kommunistischen Parteien haben sich
vom revolutionären Sturz des Kapitalismus faktisch schon lange
verabschiedet, die radikale Linke ist zersplittert und oft
desorientiert. Die politische Krise zu überwinden, erfordert daher nicht
nur die Unterstützung der Mobilisierungen der ArbeiterInnenklasse und
sozialen Bewegungen. Alle, die nach einer sozialistischen und
internationalistischen Antwort suchen, stehen auch vor der Aufgabe, in
Diskussion um die programmatischen Grundlagen einer revolutionären
Partei zu treten und deren Aufbau in Angriff zu nehmen.




5 Fragen, 5 Antworten: Indonesien – Zwischen Unterdrückung und Widerstand

Leila Cheng

Indonesien: Ein Land mit 264 Millionen Einwohnern und damit das 4. bevölkerungsreichste Land der Welt, sowie auch der größte Inselstaat. Dennoch ist es stark abhängig von ausländischen Konzernen und Banken. Und jetzt beschließt die Regierung ein Gesetz, das auf Kosten der indonesischen Arbeiter_Innen ausländische Investitionen und Unternehmen anlocken soll und damit die Abhängigkeit und die Armut der Massen verschärfen würde. Dagegen erhebt sich im ganzen Land verbissener Widerstand bis hin zu militanten Streiks! Die Hintergründe und Perspektiven wollen wir in diesem Artikel klären.

1. Wie zeigt sich die aktuelle Weltwirtschaftskrise in Indonesien?

Während
sich die Covid-19-Pandemie im Land wieder verstärkt und sich auch
hier bereits eine zweite Welle abzeichnet, werden von der Regierung
jede Menge neoliberale Reformen durchgedrückt. Privatisierungen,
Entlassungen und weitere Angriffe auf Arbeiter_Innenrechte, angeblich
um die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Doch was ist der
wirkliche Grund?

Staatsverschuldung und Wirtschaftskrise!

Im
Jahr 2018 betrug die Staatsverschuldung Indonesiens rund 30,3 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts (Unter anderem eine langfristige Folge der
Kredite des IWF nach der Finanzkrise 2008/2009) und stieg in der
Coronakrise noch weiter.
Hinzu
kamen massive privatwirtschaftliche Einbußen während der Pandemie:
Indonesiens Wirtschaftsleistung ist nach Angaben des Statistikamtes
BPS im 2. Quartal 2020 im Vorjahresvergleich um 5,3 Prozent
geschrumpft, was damit das schwächste Quartal seit der Asienkrise
des Jahres 1999 ist. Auch der Rückzug ausländischer Kapitale
während der Pandemie hat wirtschaftliche Einbußen gebracht. Zudem
musste die Hauptinsel Bali wegen Corona alle Tourist_Innen dieses
Jahres abweisen. Dies sorgt für wirtschaftlichen Einbruch bei einer
Insel, die fast komplett vom Tourismussektor abhängig ist.

Hinzu kommt das internationale Machtgefüge, in dem sich Indonesien befindet. Der Staat ist abhängig von den USA. Diese nutzen die Regionalmacht auch als Stützpunkt gegen ihren Hauptkonkurrenten China im Pazifik. Aber neben den engen militärischen Beziehungen gibt es auch große Mengen US-amerikanischer Kredite in Indonesien. Zudem ist das Land für viele transnationale, meist US-amerikanische Konzerne eine profitbringende Kapitalanlage, was durch das neue Gesetz mit verstärkter Ausbeutung der Arbeiter_Innen und weniger Umweltstandards verschärft werden wird. Aber warum machst sich Indonesien so abhängig von den USA? Wenn es amerikanische Weisungen und „Bitten“ ignorieren würde, würde es schnell weh tun, z.B. durch wirtschaftliche Sanktionen oder Rückforderung der Schulden oder sogar einen militärischen Einmarsch. Abgesehen davon wird die Wirtschaftsentwicklung, also die Hauptsektoren Bergbau (Export von Rohstoffen) und der Tourismussektor, ja meist von US-amerikanischen Konzernen dominiert. So ist zum Beispiel der größte Gold- und Kupferproduzent PT Freeport Indonesia ein US-amerikanisches Unternehmen, was auch gleichzeitig der größte Steuerzahler des Landes ist. Eine weitere große Einnahmequelle ist die Landwirtschaft: So ist Indonesien weltweit der größte Palmölproduzent, was zwar gewinnbringend aber auch sehr schädlich für die Umwelt ist, denn den Monokultur-Plantagen weichen die riesigen Urwälder, die im Grunde nur noch in Nationalparks existieren. Dieser Zweig wird von einem transnationalen Unternehmen aus Singapur dominiert. Hier zeigt sich die Konkurrenz, aber auch die Abhängigkeit von anderen Regionalmächten, die sich natürlich in erster Linie wirtschaftlich äußert.

2. Welche neoliberalen Reformen hat die Regierung beschlossen?

Die
Regierung hat 79 neue Gesetze (Omnibus Law beziehungsweise Gesetz zur
Arbeitsplatzbeschaffung) verabschiedet. Die Regierung behauptet: Die
Reformen
sollen Bürokratie abbauen, um
mehr ausländische Direktinvestitionen zu fördern, das
Wirtschaftswachstum zu unterstützen und Beschäftigungsmöglichkeiten
für Indonesier_Innen zu schaffen.

Doch
das Gesetz sorgt für massive Angriffe auf Arbeiter_Innenrechte,
leichtere Entlassungen,
Kurzzeitverträge, Lohnsenkungen (auch des Mindestlohnes), geringere
Abfindungen und die Auslagerung von Arbeitsplätzen. So können
imperialistische Staaten einfacher ihre billige und umweltschädliche
Produktion zur Profitmaximierung nach Indonesien auslagern. Dies
sorgt im Endeffekt nur für eine verstärkte Ausbeutung des
indonesischen Proletariats, das in Elend, Arbeitslosigkeit und Hunger
gedrängt wird.

Es
sorgt auch für eine verstärkte Ausbeutung der Natur, sowie eine
stärkere Umweltverschmutzung. Denn durch das Gesetz wird zudem die
Verpflichtung von Unternehmen gelockert, eine Analyse von
Umweltrisiken zu erstellen. Unmittelbare Folgen von
Umweltverschmutzung und Klimakrise sind Umweltkatastrophen wie
Überschwemmungen, die das Land knapp über dem Meeresspiegel immer
wieder stark belasten, sowie auch eine verstärkte Smogbelastung der
Städte, insbesondere der riesigen Slums.

Auch die Jugend und die Frauen der Arbeiter_Innenklasse sind besonders von den Reformen betroffen. Gerade Jugendliche und nicht voll arbeitenden Personen werden als erstes entlassen oder noch schlechter bezahlt. Zudem werden proletarische Jugendliche früher arbeiten müssen, wenn sich die Familie ihre Ausbildung/Studium nicht mehr leisten kann. Hinzu kommt, dass die Jugend noch am längsten leben wird: Sie wird mitbekommen, wie ihre Heimat aufgrund der Klimakrise immer mehr im Meer versinkt, sie wird hauptsächlich von den Umweltkatastrophen betroffen sein und sie wird vermutlich zu großen Teilen später vor den Überflutungen fliehen müssen. Auch Frauen werden eher entlassen oder schlechter bezahlt. Neben ihrer harten Arbeit haben sie auch noch zu großen Teilen unbezahlte Hausarbeit und Kindererziehung allein zu tragen. Nun soll durch eine Reform auch noch das Recht auf bezahlten Mutterschaftsurlaub eingeschränkt werden.

3. Wie sieht der Widerstand gegen diese Reformen aus?

ArbeiterInnen,
Student_Innen und Umweltschützer_Innen demonstrieren gegen die
neoliberalen Reformen während der Corona-Pandemie. Die großen
Proteste haben vor allem gesellschaftlichen und Klassencharakter.
Inzwischen hat sich die Union of all Indonesian workers (KSPSI), ein
mittelgroßer Gewerkschaftsbund (ca. 4,6 Millionen Arbeiter_Innen),
als teilweise führende Kraft der ArbeiterInnen herausgebildet. Die
KSPSI hatte bereits vor dem Beschluss des Gesetzes zu Streiks
aufgerufen. Der sehr viel größere und reformistischere indonesische
Gewerkschaftsbund (KSPI) hatte vereinbart, ein Team zur
Umformulierung des Gesetzesentwurfs des Omnibus Laws zu bilden. Wie
so oft sieht man hier den Verrat der Gewerkschaftsbürokratie, die
bei minimalen und reformistischen Forderungen stehen bleibt, anstatt
die die Massen in den Kampf zu führen.

Als
dies jedoch gescheitert ist und die Regierung dieses Gesetz
verabschiedet hat, haben sich die Gewerkschaftsverbände
KSPI,
KSPSI und die National Welfare Movement (GEKANAS) geeinigt und zu
3-tägigen Streiks (06.
bis 08. Oktober 2020)
aufgerufen.
Insgesamt wollten sie bis zu 5 Millionen ihrer Arbeiter_Innen zu
diesem Streik mobilisieren. In Wirklichkeit waren es
höchstwahrscheinlich noch viel mehr.
Insgesamt 32
Gewerkschaftsverbände, sowie Bauernverbände organisierten Streiks.
Es gibt aber keinen Überblick darüber, wie viele Streiks mit wie
vielen Teilnehmer_Innen tatsächlich stattgefunden haben.

Hier
zeigen sich zwei Dinge:

Erstens:
Wie eine kämpferische Basis, wenn sie konsequent kämpferisch
vorwärts geht, ihre reformistische und opportunistische Führung
zwingen kann, mitzuziehen. Immerhin gab es schon vorher Demos und
vereinzelte Streiks, die sich auch mit Hilfe der SPSI immer mehr
zuspitzten.

Und
zweitens: Welche enormen Ausmaße ein politischer Streik annehmen
kann.
Ein Beispiel für diese enormen Ausmaße ist ein Streik in einem
Frauenbetrieb: Dort mobilisierten 70.000 Arbeiterinnen in einer von
Asiens größten Schuhfabriken zum dreitägigen Streik.

Neben
den großen Streiks fanden, wie schon erwähnt, auch
Massendemonstrationen statt. Daran beteiligten sich auch viele
Student_Innen
(vor allem wegen der Auflockerung von Umweltschutzmaßnahmen). Da
zeigt sich auch, wie die Jugend in den Kämpfen mit ganz vorn dabei
ist. Dies ist ein Phänomen, was man weltweit betrachten kann, ob bei
den sozialen Protesten in Chile oder bei der internationalen
Umweltbewegung, so jetzt auch in Indonesien. In Indonesien haben sich
sogar bereits Ansätze der Organisation von Studierenden in
Räte-ähnliche Gremien gebildet, über die aber noch nicht viel
bekannt ist.

Doch wie sehen die Forderungen der Streiks und Demonstrationen aus? Es gibt eigentlich nur eine einheitliche Forderung und die lautet: Ersatzloser Verzicht auf das Gesetz! So ist es eine soziale Forderung und der Streik ein politischer Streik, aber revolutionär sind die Proteste damit noch nicht. Und das Problem, dass die kommunistische Partei Indonesiens seit 1965 verboten und damals ein Großteil der Kommunist_Innen ermordet wurde, macht es auch nicht besser. Dennoch sind die Proteste sehr fortschrittlich und können je nach der Entwicklung zu einem revolutionären Katalysator werden. Das liegt in ihrer letzten Besonderheit, der Vereinigung der antiimperialistischen, antikapitalistischen, Umwelt-, Jugend- und Antirepressions-Kämpfe, und vor allem ihrem im Grunde proletarischen Klassencharakter.

4. Wie sieht die Repression durch Staat und Kapital aus?

Wie
immer bei Protesten und Straßenkämpfen zwischen dem bürgerlichen
Staat und Demonstrant_Innen herrscht ein ungleiches Kräfteverhältnis.

Auf
der Insel Sumatra z.B. gingen Polizisten mit Tränengas gegen junge
Demonstrant_Innen vor, die Steine auf die Beamten geworfen hatten.
Auch in West Java kam es an dem Streiktag zu Zusammenstößen mit der
Polizei. In der Hauptstadt Jakarta versammelten sich Tausende
Student_Innen und Arbeiter_Innen vor dem Präsidentenpalast des
südostasiatischen Inselstaats. Als Steine geworfen wurden, setzte
die Polizei Tränengas und Wasserwerfer ein. Weitere Protestzüge
wurden aus Yogyakarta, Medan, Palembang und Makassar gemeldet.
Bereits am Tag vor den Streiks waren die Polizist_Innen zum Teil mit
Gummigeschossen gegen Demonstrant_Innen vorgegangen.

Die
Polizei begründete ihr hartes Vorgehen und das Verbot eines Teils
der Proteste mit Corona-Schutzmaßnahmen. Die besonders prekäre Lage
und Notwendigkeit der Proteste werden dadurch unmissverständlich
unterstrichen, dass man die Infektionsgefahr in Kauf nimmt, um die
eigene Lebensgrundlage zu sicher. Vielen Menschen dort geht es sehr
schlecht, genauso wie in vielen weiteren Ländern. Auch so lässt
sich eine Verbindung zu den momentanen Protesten in Chile ziehen. Nur
dass die Gewalt durch die Polizei dort noch viel enormer ist, man
erinnert sich nur mal an die massenhaften Vergewaltigungen von
Verhafteten und die mit Säure versetzten Wasserwerfer.

Auch in Indonesien setzte die staatliche Repression sehr stark auf Massenverhaftungen. Die Polizei meldete allein für den dritten Tag 3862 Festnahmen landesweit (darunter 796 “Anarchisten_Innen“). Die Massenverhaftungen trafen vor allem schwarz-gekleidete Jugendliche, die die Polizei für “Anarchisten_Innen“ hielt. Hier zeigt sich wieder eine bürgerliche Hetze, wonach Anarchismus nur Zerstörung und Durcheinander wäre und dass alle, die für soziale Ziele demonstrieren, als solche verrufen werden.

5. Was muss getan werden, damit die Proteste und Streiks eine Perspektive haben?


Unsere Klasse darf sich nicht
unterkriegen lassen unter einer bürokratischen Gewerkschaftsführung,
die auf einen Kompromiss mit dem Staat und den Unternehmen hofft.
Auch nach den 3 Tagen müssen die Streiks konsequent weitergeführt
werden!


Die
sozialen und antiimperialistische Forderungen sind gut, sollten aber
auch mit dem Kampf gegen die eigene Kapitalist_Innenklasse
verbunden werden und für Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien
unter ArbeiterInnenkontrolle einstehen!


Dafür sollte die Führung ein
konkretes revolutionäres Programm aufstellen, in dem die
Minimalforderungen (reformistische Forderung) der Ablehnung des
Gesetztes und die Ablehnung der Angriffe auf die Klasse mit
revolutionären und Übergangsforderungen bis hin zur sozialistischen
Revolution verbunden werden. Ein Problem dabei ist, dass es seit dem
bis heute anhaltenden Verbot der kommunistischen Partei von 1965
keine Arbeiter_Innenpartei in Indonesien gibt, sondern nur eine etwas
linkere stark populistische Partei, deren Führung aus
Gewerkschaftsverbänden besteht. Andererseits sind diese offenbar
bereit, unter dem Druck der Massen auch politische Streiks
durchzuführen.


Die gemeinsamen Kämpfe mit
der besonders unterdrückten Jugend sollten weiterhin geführt
werden. Die Jugend sollte sich jedoch noch in eigenen Organisationen
zusammenfinden, um auch spezifisch ihre Lage im kapitalistischen
System besprechen zu können. Die studentischen Räte sind gute
Ansätze dafür. Dasselbe sollte jedoch auch in Schulen und Betrieben
durchgeführt werden.


Zur besseren Koordinierung der
Demos sollten ArbeiterInnen-, Jugend- und Bäuer_Innenräte
eingerichtet werden und das Mittel des politischen Streiks bis zum
Generalstreik angewandt werden, da es den stärksten wirtschaftlichen
Druck ausübt.


aber die Bewegung kann nur
gelingen, wenn sie sich international koordiniert und mit anderen
sozialen Bewegungen vernetzt (wie z.B. der sozialen Bewegung in
Chile, den antimonarchischen Protesten in Thailand, Gewerkschaften in
den USA, …)




Bergkarabach: Krieg droht zum Flächenbrand zu werden

zuerst veröffentlicht unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/10/02/bergkarabach-krieg-droht-zum-flaechenbrand-zu-werden/

Martin Suchanek, Neue Internationale 250, 2. Oktober 2020

Am Morgen des 27. September eskalierte der seit über drei Jahren mal offen ausgetragene, mal vor sich hin schwelende Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Aserbaidschanische Truppen beschossen Stepanakert, die Hauptstadt von Bergkarabach (Nagorny Karabach), einer armenischen Enklave, die formell zum Staatsgebiet Aserbaidschans gehört, aber seit Mitte der 1990er Jahre faktisch als unabhängige Region mit Armenien eng verbunden ist und um ihre internationale Anerkennung ringt. 2017 erklärte sich Bergkarabach unabhängig unter dem Namen Republik Arzach, wird aber seither international nicht anerkannt.

Reaktionärer Angriff

Die Bombardierung durch die Armee Aserbaidschans stellt eine qualitative Verschärfung der Kampfhandlungen im schwelenden Konflikt dar, der schon seit Juli von beiden Seiten verstärkt bewaffnet ausgetragen wird.

Die Führung Aserbaidschans unter dem autokratischen Präsidenten Alijew steht ihrerseits unter Druck extrem nationalistischer oppositioneller HardlinerInnen, die der Regierung zu große Nachgiebigkeit gegenüber Armenien und Bergkarabach vorwerfen. Eine Mobilisierung gegen den Erzfeind Armenien, militärische Erfolge im umkämpften Grenzgebiet und erst recht die Rückeroberung Bergkarabachs wären für das Regime angesichts einer tiefen Wirtschaftskrise, grassierender Korruption und sinkender Öl- und Gaspreise (und damit der wichtigsten Einnahmequelle des Landes) ein „Befreiungsschlag“. Und wie so oft wird ein nationalistischer Angriff als Selbstverteidigungsaktion legitimiert. Die massiven Artillerieangriffe auf armenische Siedlungen am 27. September wurden vom Verteidigungsministerium Aserbaidschans als „Gegenoffensive“ deklariert, „um Armeniens militärische Aktivitäten zu stoppen und die Sicherheit der Bevölkerung zu schützen“.

In Wirklichkeit ist der Angriff eindeutig reaktionärer Natur. Im Falle eines Erfolges würde die armenische Bevölkerung Bergkarabachs zu einer unterdrückten Nation, ihr Selbstbestimmungsrecht mit Füßen getreten werden. In Aserbaidschan würde die Herrschaft der OligarchInnen und des seit 15 Jahren mit halb-diktatorischen Mitteln regierenden Präsidenten Alijew neue Legitimität erhalten. Nicht nur die Minderheiten, sondern auch die ArbeiterInnenklasse und die Jugend, die als Kanonenfutter im reaktionären Waffengang verheizt werden soll, wären verstärkter, nationalistisch legitimierter Unterdrückung ausgesetzt.

Angesichts dieser Lage gilt unsere Solidarität allen Kräften der Linken, wie der Azerbaijani Leftist Youth (http://www.criticatac.ro/lefteast/anti-war-statement-of-azerbaijani-leftist-youth), die sich dem reaktionären, nationalistischen Treiben widersetzen und ein Ende des Angriffs fordern.

Zweifellos kann die Bevölkerung Bergkarabachs ein legitimes Recht auf Selbstbestimmung (und Selbstverteidigung) für sich reklamieren. RevolutionärInnen, ja alle DemokratInnen sollten ihr Recht anerkennen, selbst zu entscheiden, ob sie einen eigenen Staat gründen oder sich Armenien anschließen wollen.

Wurzeln des Konflikts und Armeniens Rolle

Ginge es nur um Bergkarabach und die Frage von dessen Selbstbestimmungsrecht, so wäre der Charakter des Gesamtkonflikts recht einfach zu bestimmen. Doch im seit über drei Jahrzehnten offen ausgetragenen Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien verhält sich die Sache nicht so unkompliziert.

Gegen Ende der Existenz der Sowjetunion brach der selbst weit zurückliegende Konflikt um Bergkarabach offen aus. In der UdSSR war die Region entgegen dem Willen der armenischen Bevölkerung Aserbaidschan zugeschlagen worden. Mit dem Zerfall der Sowjetunion reklamierte diese erneut  das Recht auf Lostrennung für sich und stieß dabei auf den erbitterten Widerstand Aserbaidschans. Das Land befand sich auf dem Weg in die Unabhängigkeit und die NationalistInnen – ihrerseits ehemalige ParteibürokratInnen und städtische Intellektuelle – wollten nicht auf Bergkarabach verzichten, lehnten sowjetische Vermittlungsversuche ab und suchten eine militärische Lösung.

Am Beginn des von 1992 bis 1994 andauernden offenen Krieges schienen die Streitkräfte Aserbaidschans als Siegerinnen hervorgehen – nicht zuletzt aufgrund ihres brutalen Vorgehens, das tausenden ZivilistInnen das Leben kostete und in barbarischen Massakern ganzer Dörfer gipfelte. Doch das Blatt wendete sich. Die militärischen Verbände Armeniens und Bergkarabachs waren nicht nur in der Lage, die Enklave zu verteidigen, sondern eroberten auch mehrere Provinzen, die Armenien von dieser trennten. Diese mehrheitlich aserbaidschanischen Siedlungsgebiete wurden unter dem Kommando des nicht minder brutal vorgehenden armenischen Nationalismus ethnisch gesäubert. Er beschränkte sich offensichtlich nicht auf die Unterstützung der eigenen Verbündeten, sondern vertrieb hunderttausende AserbaidschanerInnen aus sieben Bezirken, die seit dem Waffenstillstand 1994 von Armenien kontrolliert werden.

Bis 1994 wurden über 1,1 Millionen Menschen aus Aserbaidschan und Armenien vertrieben, also fast 10 % der gesamten Bevölkerung der beiden Staaten. 25.000 bis 50.000 Menschen starben nach unterschiedlichen Schätzungen. Seit damals befinden sich Armenien und Aserbaidschan in Lauerstellung. Nicht nur die Frage Bergkarabachs ist ungelöst. Beide Seiten verweigern die Rückkehr hunderttausender Geflüchteter.

Reaktionärer Nationalismus auf beiden Seiten

Der Nationalismus wurde faktisch zur Staatsdoktrin beider Seiten einschließlich einer oft extremen religiösen und ethnischen Überhöhung. Seit 1994 kam es immer wieder zu begrenzten bewaffneten Konflikten zwischen den beiden Parteien, zuletzt im sog. „Vier-Tage-Krieg“ 2016.

Beide Staaten erlebten zwar einen massiven ökonomischen Einbruch nach dem Zerfall der Sowjetunion, auf deren gesamtstaatliche Arbeitsteilung ihre Wirtschaftsplanung bezogen war. Der Maschinenpark in der Industrie war weitgehend veraltet. Die Einführung der Marktwirtschaft und die Privatisierungen nahmen die Form einer Plünderung, einer Art ursprünglicher Akkumulation durch mafiöse, oligarchische Strukturen an.

Beide Staaten bzw. deren Regime unterhielten weiter enge wirtschaftliche Beziehungen zu Russland. Dieses fungierte als Moderator zwischen den befeindeten Seiten – sei es auf eigene Rechnung, sei es im Rahmen der sog. Minsker Gruppe, die 1993 zur Vermittlung und Befriedung des Konflikts ins Leben gerufen wurde und neben Russland auch solche Staaten wie Deutschland, Frankreich und die USA umfasst. Im Grunde wurde der Konflikt eingefroren. Die UN verweigert die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes von Bergkarabach. Umgekehrt wurden dessen enge Verbindung mit Armenien und eine Wirtschafts- und Währungsunion ebenso faktisch geduldet wie die armenische Kontrolle über Gebiete mit ehemals aserbaidschanischer Mehrheitsbevölkerung.

Armenien und Aserbaidschan bezogen beide den größten Teil ihrer Waffen aus Russland, wenn auch zu unterschiedlichen Konditionen. So musste das öl- und gasreiche Aserbaidschan zu Weltmarktpreisen kaufen, während die armenische Armee zu günstigeren, russischen „Inlandspreisen“ aufrüsten konnte. Auch Serbien verkaufte an beide „befreundete“ Staaten, während Israel und die Türkei exklusiv an Aserbaidschan lieferten.

Während sich die Regionalmacht Türkei als Schutzpatronin Aserbaidschans ins Zeug legt und extrem aggressive Töne anschlägt, band sich Armenien stärker an Russland und den Iran. Dieser ist der wichtigste Energielieferant des Landes. Russland ist faktisch die Schutzmacht Armeniens, unterhält dort mehrere Militärbasen. Außerdem ist das Land Mitglied in den von Russland dominierten wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bündnissen, in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wie auch in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), dem von Russland dominierten Gegenstück zur NATO.

Warum jetzt?

Dass der Konflikt im Juli wieder bewaffnete Formen annahm, inkludiert möglicherweise auch ein zufälliges Element. So ist bis heute umstritten, wie die ersten Kampfhandlungen in den letzten Monaten ausgelöst wurden.

Wir können jedoch drei Faktoren ausmachen, die das Gleichgewicht unterminierten, das seit 1994 zu einem brüchigen Waffenstillstand geführt hatte und von der Minsker Gruppe und insbesondere auch von Russland weiter „vermittelt“ worden war.

Erster besteht in der politischen und wirtschaftlichen Instabilität beider Staaten. Beide sind nicht nur hart von der Weltwirtschaftskrise betroffen, beide Länder werden auch von repressiven, kapitalistischen und anti-demokratischen Regimen geführt, selbst wenn sich der armenische Präsident rühmt, über die samtene Revolution an die Macht gekommen zu sein. Für beide bietet der Nationalismus daher eine Möglichkeit, von inneren Konflikten abzulenken und die „Einheit des Volkes“ zu beschwören.

Zweitens haben sich aber die wirtschaftlichen Gewichte zwischen den Staaten verschoben. Aserbaidschan verfügt, anders als Armenien, über große Öl- und Gasvorkommen und damit Devisenquellen, auch wenn dieser Reichtum vor allem der kapitalistischen Oligarchie und den führenden Schichten im Staatsapparat zugutekommt. Die Rendite aus dem Öl- und Gasexport konnte Aserbaidschan aber auch für Rüstungsausgaben verwenden, die jene Armeniens in den letzten Jahren um das Fünffache übertreffen. Angesichts der Ziele des Regimes (und der nationalistischen Opposition) dürfte es nur zu verlockend sein, die größeren wirtschaftlichen Reserven und die militärische Aufrüstung in Gebietsgewinne praktisch umzumünzen.

Drittens sind es die veränderten geo-strategischen Verhältnisse, die diesen Konflikt befeuerten – insbesondere die wachsende Rivalität zwischen dem russischen Imperialismus und der Regionalmacht Türkei. Diese beiden geraten schließlich nicht nur im Kaukasus, sondern auch in Syrien und Libyen aneinander, was den Konflikt noch explosiver macht.

Auch wenn EU und USA vor allem als VermittlerInnen agieren wollen, wenn beide mit größeren inneren Problemen und anderen Prioritäten konfrontiert sind, so ist es fraglich, dass v. a. die USA abseits stehen werden, falls sich der Konflikt verschärft oder regional ausweitet, also z. B. der Iran hineingezogen wird.

Drohender Flächenbrand

Der Konflikt um Bergkarabach und der drohende Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan droht somit leicht zu etwas Größerem zu werden, so wie die Balkankriege vor 1914 leicht zu einem Weltkrieg hätten werden können.

Beide Seiten, Aserbaidschan und Armenien, lehnen bisher jede Vermittlung ab, beide haben das Kriegsrecht verhängt. Beide beschuldigen andere Mächte mit mehr oder minder viel Recht der Unterstützung der Gegenseite. Während sich die Türkei offen und ganz hinter Aserbaidschan, logistische Hilfe stellt und reaktionäre MilizionärInnen aus dem Syrien-Krieg als „Freiwillige“ schickt, bezichtigt sie den Iran und Russland der Unterstützung Armeniens.

Zur Zeit zieht Russland (und wohl auch China und der größte Teil des Westens) eine „friedliche“ Lösung, also das weitere Einfrieren des Konflikts vor. Das würde Russland enge Verbindungen zu Aserbaidschan und Armenien und eine dominante Rolle erlauben. Eine geostrategische Expansion der Türkei kann es hingegen schwer dulden, weil diese seine Rolle als Ordnungsmacht sowohl in Eurasien als auch im Nahen Osten und im Mittelmeer schwer erschüttern würde.

So würde sich die OVKS als Papiertigerin entpuppen, wenn sie ein in Bedrängnis geratenes Armenien und das von ihm gestützte Bergkarabach nicht einmal gegen aserbaidschanische Kräfte und wachsenden Einfluss der Türkei schützen könnte.

Die Kriegsgefahr ist real. Der Konflikt kann sich leicht zum Flächenbrand ausweiten, selbst wenn das niemand will, denn jede Aktion der einen Seite droht eine Reaktion der anderen hervorzurufen. Selbst wenn die groß-türkische Rhetorik Erdogans teilweise „nur“ leeres Gerede sein mag, so können gerade bonapartistische Regime wie das seinige den Bogen ihrer außenpolitischen Abenteuer leicht überspannen – mit fatalen Konsequenzen.

Welche Perspektive?

Die internationale ArbeiterInnenbewegung und die gesamte Linke müssen der nationalistischen Mobilmachung auf beiden Seiten und jeder Einmischung der Türkei, Russlands und anderer Mächte entschieden entgegentreten. Es gilt, alle Kräfte in Armenien und Aserbaidschan zu unterstützen, die sich einem drohenden Gemetzel widersetzen, und diese durch Aktionen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten insbesondere in der Türkei und Russland zu stärken.

Ein zentrales Mittel zum Stopp der geo-strategischen Interventionen der Türkei und Russlands (wie anderer Mächte) besteht im Kampf gegen die autokratischen Regime Erdogans und Putins selbst.

Um dem Nationalismus in Armenien und Aserbaidschan eine politische Alternative entgegenzusetzen, braucht es aber auch ein Programm, das eine Lösung der drängenden demokratischen und sozialen Fragen leisten kann.

Das beinhaltet die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes aller Nationen, also auch der Bevölkerung von Bergkarabach. Es beinhaltet ebenso das Recht auf Rückkehr aller Vertriebenen und Geflüchteten des Krieges und die Entscheidung über den weiteren Status der durch die armenischen Streitkräfte besetzten Bezirke durch die Bevölkerung. Das Selbstbestimmungsrecht bildet im Kaukasus – ähnlich wie auf dem Balkan – dabei nur ein Element der Lösung der nationalen Frage. Das andere muss in der Bildung einer freiwilligen Föderation der Staaten des Kaukasus bestehen, um so offene Grenze zwischen den verschiedenen Regionen zu gewährleisten.

Demokratie und Sozialismus

Wie die Geschichte der Sowjetunion, vor allem aber der Restauration des Kapitalismus gezeigt hat, ist eine demokratische Lösung der nationalen Frage untrennbar mit der Klassenfrage verbunden, der Frage, in welchem Interesse die Ökonomie organisiert wird. Auf der Basis von oligarchischem Kapitalismus, neoliberalem Markt, Mangel, Arbeitslosigkeit und Armut werden immer wieder reaktionäre, nationalistische oder rassistische Scheinlösungen von den Herrschenden präsentiert werden.

Der Kampf um das Selbstbestimmungsrecht und eine Föderation der Staaten des Kaukasus muss daher verbunden werden mit dem für revolutionäre Arbeiter- und Bauern-/Bäuerinnenregierungen und die Bildung einer sozialistischen Föderation auf Basis demokratischer Planwirtschaften.




China: Auf dem Weg zur Weltherrschaft dank Coronakrise?

Resa Ludvin

Fast die gesamte Welt steht still,
nur in China scheint es eine schrittweise Rückkehr zur Normalität
zu geben. Auch die allgemeine Angst vor einer Rezession sucht man in
China vergeblich. Ganz im Gegenteil. China inszeniert sich als großer
Helfer betroffener Länder, Bezwinger des Virus‘ und scheint schon
jetzt Gewinner der Krise zu sein.

Und das trotz der immensen
Bevölkerungszahl, Zusammenleben auf engstem Raum und einem
Gesundheitssystem, das alles andere als
sozial ist. Waren Krankenhäuser einst staatliche
Institutionen mit Hauptaugenmerk: Gesundheit der Bevölkerung ohne
Wenn und Aber, ist das System heute gerade auf dem Land unterversorgt
und Behandlung gibt es nur mit Vorkasse – wer hier zuerst versorgt
wird, ist offensichtlich, denn auch im angeblich „kommunistischen“
China hat sich in den letzten Jahrzehnten eine
Bourgeoisie herausgebildet.

Genau dieser Ort soll also nicht nur
Ausgangspunkt, sondern auch erfolgreicher Bezwinger des Virus sein?
Im November 2019 trat das Coronavirus
zum ersten Mal bei einem Menschen in China auf. Wurde es da
noch totgeschwiegen und jene, die darüber
sprechen wollten, mundtot gemacht, erfolgten ab Ende Januar
die ersten großflächigen Maßnahmen zur Eindämmung. Für über
eine Milliarde Menschen, die in der
Volksrepublik leben, bedeutete dies Ausgangssperren,
Reisebeschränkungen und Kontaktreduzierungen bis hin zum kompletten
Lockdown der am schwersten
getroffenen Region, die 60-Millionen-Provinz Hubei mit ihrer
Hauptstadt Wuhan. Doch schon ab April 2020 verzeichnet China
offiziell keine neuen Fälle, Hubei wurde wieder zur Ein- und
Ausreise geöffnet und man überlegt sogar, die Schulen demnächst
wieder zu öffnen. Doch ist auch hier nicht alles Gold, was glänzt:
So kam es im März 2020 in Wuhan zu spontanen Protesten, die in China
aufgrund fehlender Versammlungsfreiheit verboten sind. Grund hierfür
war, dass die Lebensmittelversorgung durch Peking nur schlecht
funktionierte.

Warum kommt China
schneller wieder auf die Beine?

Schauen wir uns an, warum es China
leichter fallen könnte, den kapitalistischen Normalbetrieb
wiederaufzunehmen: Durch das autoritäre Regime kann berechtigter
Widerstand sowie die
Interessen der Bevölkerung aus der Entscheidungsfindung
herausgehalten werden, was zu einem entschlossenen aber auch
rücksichtslosen Vorgehen führt. Doch noch deutlich wichtiger als
die politische Sphäre ist die wirtschaftliche: Auch wenn China seit
der Öffnung in den 70er Jahren weit von der maoistischen Linie
abgewichen ist, so haben sie doch eine spezielle Form der
kapitalistischen Wirtschaft.
Vergleichen wir das chinesische Wirtschaftssystem mit dem
Deutschlands: In Deutschland herrscht bis auf wenige Ausnahmen freie
Markt- und Konkurrenzwirtschaft in der unterschiedliche Firmen in
erster Linie für ihre eigenen Interessen einstehen, getreu dem Motto
„Der Markt regelt sich selbst“.
In China gilt dieses Prinzip nur zum Teil, denn dort sind viele
Schlüsselindustrien nicht in der „freien Hand des Marktes“,
sondern staatlich bzw. teilstaatlich oder zumindest eng mit der
Partei verbunden. Insgesamt ist der Einfluss der Regierung auf die
Produktion wesentlich höher als in anderen imperialistischen
Ländern. Man könnte es also als „Kapitalismus unter der Diktatur
einer Partei“ bezeichnen. So sind
die nationalen Bestrebungen der Regierung eine der treibende Kräfte
der chinesischen Wirtschaft und ihres Aufschwungs. Dies verbindet
sich mit den Interessen der Bourgeoisie, die durch die geöffnete
Kapitalakkumulation entstanden ist und mit enger Verbindung zum
Parteiapparat, neben der Arbeiter_Innenklasse existiert.

Da sich viele jener
Schlüsselindustrien in Staatshand befinden, die nicht nur für die
Versorgung, sondern vor allem im internationalen Wettbewerb wichtig
sind, gab es weniger Blockaden, die Produktion in Zeiten der
Coronakrise bedarfsorientiert umzustellen. Ziehen wir hier wieder den
Vergleich zu Deutschland, so sehen wir, dass eben jene
Schlüsselindustrien einerseits nie in Staatshand waren und
andererseits weitere lebenserhaltende Bereiche, die früher staatlich
waren, in den letzten Jahrzehnten zunehmend privatisiert oder
runtergekürzt wurden, allen voran im Gesundheitssektor. Nur so kann
man verstehen, warum sich China schneller erholt. Zusätzlich dazu
gab es geplante Interventionen der Regierung wie ein riesiges
Krankenhaus, das in Wuhan innerhalb weniger Tage für die
Corona-Infizierten entstanden ist. Allerdings ist es für die
chinesische Regierung gerade wichtig, dass Hubei schnell wieder
einsatzfähig ist, denn dort befinden sich wichtige Standorte der
Automobil- und Elektronikbranche.

Nichtsdestotrotz
ist auch anzuzweifeln, dass die Zahl der Neuansteckungen wirklich auf
0 gesunken ist und diese Nachricht nicht eher dem Propagandaapparat
der Kommunistischen Partei
entspringt. Der Verdacht kommt nicht von ungefähr, wenn man
bedenkt, dass China schon zu Beginn die Krankheitsfälle
verheimlicht hat und es Journalist_Innen in China immer noch schwer
haben über die Situation zu
berichten. Unabhängige Journalist_Innen waren in den letzten
Monaten aus der Krisenregion Wuhan ausgesperrt worden. Laut Reporter
Ohne Grenzen verschwand sogar ein chinesischer Journalist spurlos,
der in Wuhan recherchierte. Weitere Maßnahmen waren die Zensur der
chinesischen Äquivalenten zu Youtube und WhatsApp,
indem Inhalte blockiert wurden, die den Virus betreffen. Das
Interesse, es nun kleinzureden, läge darin, als erster wieder die
Wirtschaft voll anlaufen zu lassen. Alle betroffenen Länder
konkurrieren nämlich gerade darum, wer als erstes die Maßnahmen
lockern kann und damit die freigewordenen Märkte und
Profitmöglichkeiten für sich zu beanspruchen. Dass jetzt China als
erstes wieder zur Normalität zurückkehrt, ob legitimerweise oder
nur durch Beschönigung der Situation, dürfte dazu führen, dass die
chinesische Wirtschaft alle Möglichkeit hat, die Konkurrenz
abzuhängen und damit auf der Gewinnerseite der kommenden Krise zu
stehen.

Resultat: Verstärkte
Abhängigkeit als Kollateralnutzen der Krise

In den letzten Jahren befand sich
China auf dem Weg, ihren Einflussbereich zu vergrößern, nicht
zuletzt mit Projekten wie der neuen Seidenstraße.
Infrastrukturprogramme in Zentralasien, Verlagerung der Produktions-
und Umweltkosten in afrikanische Länder und dem Einkaufen von
chinesischen Investor_Innen in europäische Firmen dabei unter
anderem strategisch nützliche wie der Hafen von Piräus oder
Medienbetriebe. Vor allem in Zeiten der Zerstrittenheit der EU, die
sich darin ausdrückt, dass sich in puncto Corona-Hilfen über ein
lange Zeit jede_R der Nächste war, springt China ein. Warum hatte
China es da so einfach? Man könnte meinen, bei einer Krise diesen
Ausmaßes helfen in der „Werteunion EU“ die, die können, indem
sie Ressourcen in Form von Masken, medizinischer Geräte o.ä.
entbehren können. Weit gefehlt. Deutschland hat lange zugeschaut wie
in Italien und Spanien die Menschen massenhaft sterben und jetzt
kommt verspätet ein kleines Hilfspaket. Doch wir dürfen uns nicht
davon und von den Worten Heiko Maas‘ täuschen lassen, dass es
„gelebte EU-Solidarität“ sei, während der Corona-Krise „Hilfe
ohne Folterwerkzeug, also ohne Troika und harte Sparauflagen“ zu
leisten. Denn das bedeutet mit
anderen Worten:„Die EU ist gerade zu instabil, um Südeuropa
weiterhin dreist ausbluten zu lassen. Machen wir also jetzt erstmal
langsam, damit wir sie nicht als Halbkolonien verlieren und das
„Folterwerkzeug“ vielleicht zu einem anderen Anlass nochmal zum
Einsatz kommen kann!“

Aber auch Chinas Hilfe und
Nichthilfe ist politisch motiviert. In den Ländern, in denen sie
Hilfe leisten, wollen sie das Narrativ des „Anführers der kleinen
Länder“ stärken, was daher kommt, dass sie weiterhin offiziell
als Schwellenland gehandelt werden und das ironischerweise für den
Ausbau ihrer Weltmachtstellung benutzen. So sollen sich die Hilfen in
Europa, Afrika und Zentralasien doch auch irgendwann auszahlen.
Hierbei sind besonders einige afrikanische Länder gefährdet, in
Abhängigkeit zu fallen, da ohnehin schon der Einfluss Chinas immens
ist. Noch deutlicher sieht man die politischen Hintergedanken in den
Fällen, in denen China nicht hilft, allen voran den USA: Schon seit
geraumer Zeit vor Corona gibt es gewaltige Spannungen zwischen den
Weltmächten durch den Handelskrieg, Nordkorea und der allgemeinen
Konkurrenz. Nun wird die USA zum neuen Zentrum der weltweiten Krise.
Naiverweise könnte man meinen, dass dennoch die Leben der Menschen
in den USA vor allem der besonders bedrohten Arbeiter_Innen und
Minderheiten gerade mehr zählen als die Worte eines Präsidenten,
der China die Schuld an der Pandemie gibt. Dennoch weigert sich
Peking, fehlendes Material wie Schutzmasken in die USA zu schicken.
Corona mutiert zum Mittel der Erpressung und wieder einmal zeigt
sich, dass die wahre Pandemie der Kapitalismus ist.

Reaktionen auf chinesische
Maßnahmen

Schaut man sich die Reaktionen in
puncto chinesischer Coronamaßnahmen an, so finden sich auch hier die
stets wiederholende Erklärungsmuster und gut verinnerlichte
Reaktionen gegenüber China wieder. Von Rassist_Innen, die
irrationale Ängste und gezielte politische Hetze auf asiatisch
aussehende Menschen projizieren bis hin zu China-Verehrer_Innen.
Schauen wir uns drei Reaktionen an.

Typ1: „Schaut wie effektiv der
Sozialismus sein kann“

Man könnte ganz platt antworten:
Wenn das der Sozialismus ist, ist das nicht unser Sozialismus. Jedoch
sollte man sich vor Augen führen was China ist: eine aufstrebende
kapitalistische Macht mit imperialistischen Interessen, die ihren
Ansatz gänzlich aufgegeben hat, auch wenn das Land immer noch von
der KP regiert wird. Die wachsende Macht der Bourgeoise, das Halten
von Halbkolonien, Diskriminierung von Arbeiter_Innen, Minderheiten,
Frauen und die sonstige Liste der Dinge, die nicht mit dem
Sozialismus vereinbar sind, ist lang.

Typ2: „Wie effektiv doch
Zentralisierung ist“

Ja, gerade in Deutschland zeigt sich
in Zeiten der Krise die Schwäche des bürgerlich-„liberalen“
Staates. Lange Abwägungen zwischen der Gefährdung der Bevölkerung
und der Gefährdung der Wirtschaft und dadurch verspätete und
halbherzige Entscheidungen, die
für die Arbeiter_Innenklasse nicht zufriedenstellend sein können.
Doch liegt der „zentralstaatsliebende Typ mit Hang zum
Autoritarismus“ (denn nichts anderes steckt dahinter) falsch. Es
sind eben nicht straffe bürgerliche Staaten mit starker Führung,
die „uns“ aus der Krise navigieren, sondern höchstens die eigene
Wirtschaft. Auch in China stecken hinter dem entschlossen wirkenden
Handeln ständige Überlegungen, wie man die Wirtschaft möglichst
schnell wieder zum laufen bringen kann und dabei ist es bloß Glück
für uns, dass man dafür gewissermaßen auch Menschenleben retten
muss. In einer
sozialistischen Gesellschaft hingegen, also jene mit dem höchsten
Maß der Demokratie, wären die Voraussetzungen endlich gegeben,
wirklich zielstrebig solche Gefahren einzudämmen, da es
keinen Druck gibt, weiter Profiten hinterherzujagen, wodurch zum
Beispiel alle nicht-lebenswichtigen Arbeiten tatsächlich eingestellt
werden könnten. Außerdem kann die Produktion nach Bedarf umgestellt
werden. Und das ganz ohne autoritären Zentralstaat, sondern unter
der Kontrolle der Arbeiter_Innenklasse.

Typ3: „Ja ok, aber ich will meine
Freiheit trotzdem nicht einschränken lassen“

Manchmal müssen für
außergewöhnliche Situationen außergewöhnliche Maßnahmen her und
dazu gehören auch solche wie jetzt. So könnte es sein, dass einige
der Einschränkungen tatsächlich sinnvoll sind. Doch an welchem
Punkt der „freiheitsliebende Typ“ sehr wohl Recht hat, ist, ob
wir uns „einschränken“ oder uns „einschränken lassen“. Mit
anderen Worten: Die Frage sollte nicht sein, inwiefern es
Einschränkungen der persönlichen Freiheitsrechte zur Bekämpfung
einer Krise in diesem Ausmaß gibt, sondern wer diese, aber auch die
Rückkehr zur Normalität kontrolliert und organisiert. Wir haben
gesehen, dass es die Regierungen und Kapitalist_Innen der freien
Wirtschaft nicht stört, Arbeiter_Innen in nicht-lebenswichtigen
Fabriken weiterarbeiten zu lassen wie in Spanien oder selbst dem
beschränkten bürgerlichen Staat weitere Freiheitsrechte zu
entnehmen wie in Ungarn. Doch wäre es falsch, zu sagen, dass es hier
allein um bürgerliche Freiheitsrechte der_des Einzelnen geht, hier
geht es um die Systemfrage. Im Kapitalismus ist Freiheit nur ein
Trugbild, das auch nur wenige zu Gesicht bekommen.

Stoppt das imperialistische
Taktieren – Gesundheit ist keine Druckmittel!

Auch wenn Corona als Virus
ungreifbar erscheint, darf man trotzdem bei Corona als Krise weder
ihre Wurzeln, die im Kapitalismus selbst liegen, noch ihre Auswirkung
auf die Neuaufteilung der Welt, die ebenfalls systembedingt ist,
verkennen. China macht sich die finanzielle Schwäche von Ländern zu
Nutze, nachdem sie jahrelang große Investitionen vor allem auf dem
afrikanischen und asiatischen Kontinent, aber auch in Europa getätigt
haben. Unsere Antwort als Sozialist_Innen muss daher sein:
Bedingungslose Hilfe über nationale Grenzen hinaus statt zu Nutze
machen der Krise für Profitinteressen. Die Krise ist global und
trifft vor allem die Arbeiter_Innenklasse hart. Wir fordern daher,
Kurzarbeit, sprich Kürzungen der Bezüge und Entlassungen, zu
stoppen. Für eine Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich –
lasst die Kapitalist_Innen zahlen!

Doch in einem System, dass auf
internationale Konkurrenz und somit Ausnutzen von Vorteilen basiert,
ist das illusorisch. Die Pandemie namens Kapitalismus bleibt. Derzeit
sehen wir auf wessen Händen die Gesellschaft tatsächlich steht,
wenn im Krankenhaus oder im Einzelhandel Menschen für das Überleben
schuften und es dennoch weiterhin Firmen gibt, die die Arbeiter_Innen
weiter in der Fabrik arbeiten lassen, weil sie nicht auf ihre Profite
verzichten wollen. So kam es in vielen Ländern zu spontanen Streiks
wie im März in einem norditalienischen Werk von Fiat-Chrysler. Genau
diese Kräfte müssen wir bündeln. Eine Arbeiter_Innenkontrolle muss
her, die nach Bedarf und nicht nach Profit produziert – in der
jetzigen Situation heißt das bspw. Produktion von
Desinfektionsmitteln statt Parfüm,
Beatmungsmaschinen statt Autos und die Verstaatlichung des
Gesundheitssystems unter Kontrolle der Arbeiter_Innenklasse als
notwendige Maßnahme!