Britannien: Klassenkampf gegen die Krise des Gesundheitswesens

von Andy Yorke, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Der Winter ist da und mit ihm die bisher schwerste Krise des Gesundheitssystems. Trotz der Atempause nach der Covidpandemie im Jahr 2022 erreichten die Wartelisten im Dezember einen neuen Rekord von 7,2 Millionen, mit bis zu 500 zusätzlichen Todesfällen pro Woche als Folge von Verzögerungen.

Eine Rekordzahl von Patient:innen wartete über 12 Stunden auf eine Behandlung in der Notaufnahme. Daher herrschte weithin Ungläubigkeit, als der Sprecher der konservativen Sunak-Regierung bestritt, dass es sich bei dieser „beispiellosen Herausforderung“ um eine Krise handele, und behauptete: „Wir sind zuversichtlich, dass wir den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) mit den erforderlichen Mitteln ausstatten“. So versuchte er, die Krise auf die Pandemie zu schieben.

Doch diese begann lange davor. Das jährliche Wachstum der Ausgaben von 6 % im Gesundheitswesen unter der letzten Labour-Regierung wurde durch die Sparmaßnahmen auf weniger als 1,8 % gesenkt. Das Vereinigte Königreich liegt bei der Bettenzahl pro Kopf weit unter dem internationalen Durchschnitt, selbst im Vergleich zu ärmeren Ländern, und weist seit 2010 eine dauerhaft zu niedrige Zahl freier Betten auf. Das Ziel, die durchschnittliche Belegung auf 18 Patient:innen pro Woche und Bett zu erhöhen, wurde seit 2016 nicht mehr erreicht.

In der Winterkrise 2017 war der NHS gezwungen, Zehntausende von Operationen abzusagen. Im Jahr 2022 lag die Zahl bei 350.000, also fast tausend pro Tag! Schon vor der Pandemie warteten 8.270 Patient:innen in der Notaufnahme im Jahr 2019 mehr als 12 Stunden auf eine Behandlung (ein Sechsfaches gegenüber 2015). Die Krise des Gesundheitssystems wird durch die des unterfinanzierten, überwiegend privaten Sozialfürsorgesektors noch verschärft.

Das Scheitern des NHS

Der Schlüssel zum Verständnis der Krise sind unzureichende Finanzierung und Personalmangel. Die Zahl der unbesetzten Stellen für medizinisches Personal und die Wartelisten sind parallel angestiegen. Jede Regierung der britischen Konservativen (Tories) führt eine weitere schmerzhafte Umstrukturierung durch, doch trotz der Forderungen der Gewerkschaften und der Britischen Medizinischen Vereinigung nach transparenten Personalbewertungen hat keine Regierung seit 2003 eine nationale Personalstrategie für den Gesundheitssektor vorgelegt. Stattdessen verlassen sich die Tories auf „Lückenbüßer:innen“, d. h. den privaten Sektor, Leiharbeitsagenturen mit Aushilfskräften für die Krankenhäuser.

46.000 unbesetzte Stellen für Krankenschwestern und -pfleger (11,7 % der Belegschaft) zeigen den Zusammenhang zwischen der Unterfinanzierung von Seiten der Tories und Privatisierung. In einem Teufelskreis verlassen nun tausende Pflegekräfte den NHS aufgrund von Überlastung, Stress und sinkender Bezahlung. Ihr Streik setzt einen ersten Schritt, um diese von den Konservativen verursachte Katastrophe rückgängig zu machen.

Die Regierung Sunak nutzt die Krise wie alle ihre Tory-Vorgänger:innen, um die Privatisierung weiter voranzutreiben. Sie umgeht Gespräche mit den Gewerkschaften und setzt die Covidpolitik fort, private Krankenhäuser und Pflegeheime für Betten zu bezahlen, was den öffentlichen Gesundheitsdienst bis zu eine Milliarde Pfund kostet.

Für die Tories blockieren Krankenhäuser weitere Privatisierungen. Deshalb sind die Pläne, 150 psychiatrische Behandlungszentren zu bauen und Patient:innen von den Notaufnahmen fernzuhalten, Teil des Vorhabens, die Gesundheitsversorgung in die Wohnviertel zu verlegen und den NHS zu zerschlagen.

Die Tories wollen nicht mehr Krankenpfleger:innen finanzieren, sind aber sehr darum besorgt, den NHS immer wieder umzustrukturieren, um mehr Profit herauszuholen. Bei der jüngsten Umstrukturierung wurden 42 integrierte Pflegegremien für den NHS England eingerichtet. Diese sind Teil des Ansatzes der Tories, den NHS zu fragmentieren und den Zugang für private Unternehmen auf jeder Ebene, einschließlich der Auftragsvergabe und Planung, zu verbessern.

In der Zwischenzeit schloss eine halbe Million Menschen im Jahr 2022 eine private Krankenversicherung ab, und viele weitere bezahlten für eine private Behandlung, mit der sie die Warteschlange des staatlichen Gesundheitsdienstes praktisch überspringen konnten und eine Untersuchung oder Operation beim selben Arzt/bei derselben Ärztin im gleichen Krankenhaus erhielten, von der ihnen gesagt worden war, dass sie erst in einigen Monaten verfügbar wäre!

Wird Labour das Gesundheitswesen retten?

Viele setzten ihre Hoffnungen auf Labour. Doch die New-Labour-Regierung verband die Aufstockung der Mittel mit Kürzungen bei Betten und Personal und einer weiteren Öffnung des staatlichen Gesundheitsdienstes für die Privatisierung. Labour-Vorsitzender Keir Starmer verspricht, dass seine Regierung die Mittel aufstocken wird, aber „Investitionen allein nicht ausreichen“. Das bedeutet noch mehr Umstrukturierungen und eine größere Rolle für den privaten Sektor.

In Wirklichkeit wird die Wiedereinführung des Spitzensteuersatzes von 45 Prozent nicht annähernd ausreichen, um das schwarze Loch in der Finanzierung des staatlichen Gesundheitsdiensts zu stopfen, und es gibt keinen Plan, um die Schäden von vier Jahrzehnten Marktwirtschaft und Privatisierung rückgängig zu machen. Schlimmer noch, die Lösung des Schattengesundheitsministers besteht darin, den privaten Sektor zu nutzen, um die Wartelisten zu verkürzen.

Ein siegreicher Streik der Krankenschwestern und -pfleger erfordert nicht nur das Festhalten an einer voll finanzierten realen Gehaltserhöhung, sondern hängt von der Gründung einer Massenbewegung zur Verteidigung des staatlichen Gesundheitswesens und dem Kampf für den Ausbau des öffentlichen Dienstes ab, der durch die Besteuerung der Reichen finanziert wird. Dies ist der erfolgversprechendste Weg, um sicherzustellen, dass die Beschäftigten und Nutzer:innen des NHS in der Lage sind, Labour dazu zu bringen, ihn wirklich zu verteidigen.

Streikwelle geht weiter

In einer historischen Premiere haben sich die Krankenschwestern und -pfleger der Gewerkschaft RCN (Royal College of Nursing; Britanniens größte Gewerkschaft und Berufskörperschaft für Pflegende), die bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben wurden, der Streikwelle gegen die Lebenshaltungskostenkrise angeschlossen. Und trotz der Versuche der Medien, die öffentliche Missbilligung auszutesten, erhalten sie massive Unterstützung. Eine Million Mal werden Patient:innen alle 36 Stunden im öffentlichen Gesundheitsdienst behandelt, und sie sind dem hart arbeitenden Personal in überwältigender Weise dankbar und unterstützen es.

Jahrelang sinkende Reallöhne (um mehr als 20 % seit 2010), unterbesetzte und chaotische Stationen, die nur mit Überstunden arbeiten, und der unerbittliche Druck der Covid- und Grippewinterepidemien haben viele Krankenpflegekräfte veranlasst, trotz der Ängste um ihre Patient:innen zu streiken. Weit davon entfernt, den Patient:innen zu schaden, wie in den Medien behauptet wird, scheint ein Arbeitskampf für viele die einzige Möglichkeit zu sein, nicht nur die Löhne zu erhöhen, sondern auch mehr Personal anzuwerben und das staatliche Gesundheitssystem zu retten. Es gibt über 132.000 unbesetzte Stellen.

Erstmals schließen sich auch die Krankenwagenfahrer:innen der Gewerkschaften GMB (National Union of General and Municipal Workers) sowie Unison und Unite (zwei weitere Gewerkschaften im öffentlichen und privaten Dienstleistungssektor) und außerdem Physiotherapeut:innen, Hebammen und Röntgenassistent:innen dem Kampf gegen die sinkenden Löhne an. Bei der Urabstimmung der gewerkschaftlichen medizinischen Vereinigung BMA von 45.000 Ärzt:innen in der Ausbildung über eine beleidigende Gehaltserhöhung von 2 % in diesem Jahr wird wahrscheinlich mit „Ja“ für eine Aktion gestimmt werden. Mit einer für März geplanten 72-stündigen Arbeitsniederlegung werden sich noch mehr Ärzt:innen dem Kampf für Gehalt und Finanzierung anschließen. Am 6. Februar fand der bisher größte Streik im Gesundheitswesen statt, bei dem Krankenschwestern und -pfleger, Sanitäter:innen und andere Beschäftigte die Arbeit niederlegten.

Organisiert die Basis!

Die Beschäftigten müssen Einigkeit, Koordinierung und eskalierende Maßnahmen fordern. GMB- und Unison-Ambulanzbeschäftigte streiken bisher zumeist getrennt. Das RCN lässt verschiedene Sektionen von Krankenpersonal an unterschiedlichen Tagen streiken. In Schottland und Wales haben die Gewerkschaften ihre Streiks für Gespräche mit den (dezentralen) Regionalregierungen ausgesetzt.

Belegschaftsversammlungen zur Bildung von Delegiertenausschüssen in und zwischen Krankenhäusern und weiteren Einrichtungen (z. B. ausgelagerten, privatisierten Abteilungen) sind der Schlüssel zum Erfolg der Streiks. Diese können die Entschlossenheit stärken, diejenigen unterstützen, die noch an der Urabstimmung teilnehmen, und auf weitere Maßnahmen drängen, um den Konflikt zu kontrollieren.




Ukraine: Nationale Frage und die Frauen

von Susanne Kühn / Oda Lux, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist allgegenwärtig: in den Medien und im Alltag. Man sieht vor allem Bilder von kämpfenden Männern, geflüchteten Frauen oder von Daheimgebliebenen in zerstörten Häusern. Das erfasst die Lebensrealität und die Lage der Frauen in der Ukraine nur zum Teil. Denn obwohl unter anderem aufgrund des Kriegsrechtes, welches ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 die Ausreise verbietet, ein sehr großer Teil der Menschen, die Westeuropa erreichen, Frauen sind, wird die Frage, wie es eigentlich um ihre Situation in diesem Konflikt und der Ukraine generell steht, verhältnismäßig wenig gestellt.

Um deren Lage – wie die Situation in der Ukraine – selbst zu verstehen, ist es jedoch auch erforderlich, kurz auf die nationale Unterdrückung seit dem Zarismus einzugehen.

Wir halten dies allerdings für dringend notwendig, weil bei aller berechtigten und notwendigen Kritik am ukrainischen Nationalismus Ingoranz gegenüber der nationalen Frage in der Ukraine vorherrscht – nicht nur in der bürgerlichen Öffentlichkeit oder bei unverbesserlichen Putinist:innen, sondern auch in weiten Teilen der „radikalen“ Linken.

Dies ist umso wichtiger, weil der reaktionäre und barbarisch geführte Krieg Russlands nicht nur abertausenden ukrainischen Zivilist:innen das Leben gekostet, hunderttausende obdachlos gemacht und verarmt, sondern Millionen – vor allem Frauen – zur Flucht gezwungen hat. Er hat auch einem reaktionären und historisch eher schwachbrüstigen bürgerlichen Nationalismus massiven Zulauf verschafft. Und es ist klar, dass dieser ohne Lösung der ukrainischen nationalen Frage nicht entkräftet werden kann.

Genau darin, in der Anerkennung der Bedeutung der nationalen Unterdrückung als einer Schlüsselfrage in der Ukraine bestand die historische Errungenschaft Lenins – eine Errungenschaft, die allerdings auch schon zu seinen Lebzeiten in der Bolschewistischen Partei umstritten war. Unter dem Stalinismus wurde letztlich die nationale Unterdrückung nur in anderer Form reproduziert.

Ukraine und ihre nationale Unterdrückung

Im 19. Jahrhundert, in der Phase der Herausbildung der Nation, waren die Ukrainer:innen in ihrer großen Mehrheit Bewohner:innen des zaristischen Russland, Gefangene eines Völkergefängnisses (ein bedeutender Teil der Westukraine gehörte zur Habsburger Monarchie).

Die Existenz der ukrainischen Nation wurde vom Zarismus bestritten, ja bekämpft. Sie wurden ganz im Sinne des großrussischen Chauvinismus als „Kleinruss:innen“ bezeichnet. Im Zuge der Russifizierungspolitik wurden ukrainische Literatur und Zeitungen ab 1870 verboten, um so diese Kultur zwangsweise zu assimilieren. Die Revolution von 1905 erzwang zwar die Aufhebung dieser Gesetze bis 1914, aber im Ersten Weltkrieg wurde das Verbot der ukrainischen Sprache wieder eingeführt. Erst die Revolution 1917 hob diese wieder auf.

Die entstehende ukrainische Nation setzte sich in ihrer übergroßen Mehrheit aus Bauern/Bäuerinnen zusammen, die eine gemeinsame Sprache und auch ein Nationalbewusstsein pflegten. Die herrschenden Klasse und die kleinbürgerlichen städtischen Schichten setzten sich aber vorwiegend aus Nichtukrainer:innen zusammen – westlich des Dnepr waren es vor allem polnische Grundbesitzer:innen, östlich des Dnepr russische. Die städtischen Händler:innen waren vor allem Juden/Jüdinnen.

Die Industrialisierung der Ukraine setzte Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erschließung des Donbass (Donezbeckens) ein. Die Arbeiter:innen in den Bergwerken wie auch die Kapitalist:innen waren zum größten Teil großrussische Migrant:innen.

Ende des 19. Jahrhunderts sah die nationale Zusammensetzung der ukrainischen Gouvernements im zaristischen Reich wie folgt aus: 76,4 % Ukrainer:innen, 10,5 % Großruss:innen, 7,5 % Juden/Jüdinnen, 2,2 % Deutsche, 1,3 % Pol:innen und 2,1 % andere. Auf dem Land bildeten die Ukrainer:innen mit 82,9 % die überwältigende Mehrheit, in den Städten machten sie aber lediglich 32,2 % der Bevölkerung aus.

Die nationale Frage in der Ukraine war also eng mit der Agrarfrage verbunden und nahm auch die Form eines Stadt-Land-Gegensatzes an. Zweitens war und wurde die Ukraine im Krieg auch Kampfplatz zwischen Großmächten, die ihre wirtschaftliche und geostrategische Konkurrenz auf ihrem Gebiet austrugen.

Ukrainischer Nationalismus

Der ukrainische bürgerliche Nationalismus entwickelte sich erst spät, in der zweiten Hälfte in den Städten des zaristischen Russland oder im Habsburger Reich, wo die ukrainische Kultur und Sprache weniger extrem unterdrückt wurden. Von Beginn an stützte er sich auf eine relativ schwache ukrainische Bourgeoisie und Intelligenz. Im zaristischen Russland war er außerdem von Beginn an – auch aufgrund der Rolle der orthodoxen Kirche und einer Teile-und-herrsche-Politik des Zarismus – stark antipolnisch und auch antisemitisch geprägt. Zugleich offenbarte er schon früh eine Bereitschaft, sich politisch verschiedenen Mächten unterordnen, was sich im Ersten Weltkrieg, im Bürger:innenkrieg und in extremster Form in der Kollaboration ukrainischer Nationalist:innen (insb. von Banderas OUN; Organisation Ukrainischer Nationalist:innen) mit den Nazis ausdrückte.

Es wäre aber falsch, ihn als rein reaktionäre Strömung zu betrachten. Neben einem von Beginn an überaus zweifelhaften bürgerlichen Nationalismus bildeten sich auch linkere, oft sozialrevolutionäre, populistische Strömungen heraus, die eine reale Basis unter der Bauern-/Bäuerinnenschaft besaßen (darunter auch Sozialrevolutionär:innen, später auch halbanarchistische Strömungen, deren bekannteste die Machnobewegung war). Die fortschrittlichste Kraft stellten sicher die Borot’bist:innen dar (linke Nationalist:innen, die sich dem Kommunismus zuwandten und schließlich mit der KP der Ukraine verschmolzen; Borot’ba = dt.: Kampf).

Arbeiter:innenbewegung und Bolschewismus

Die Arbeiter:innenbewegung konnte vor der Oktoberrevolution in der ukrainischen Bevölkerung – das heißt unter der Bauern-/Bäuerinnenschaft – faktisch keinen Fuß fassen (und sie hat das auch kaum versucht). Nach der Revolution trat Lenin – auch gegen massive Widerstände unter den Bolschewiki – entschieden für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine ein (einschließlich des Rechts auf Eigenstaatlichkeit). Zweifellos stellte dies einen Schlüssel für die Normalisierung des Verhältnisses zur Bauern-/Bäuerinnenschaft zu Beginn der 1920er Jahre dar. Die bolschewistische Politik in der Ukraine und im Bürgerkrieg war jedoch schon in dieser Periode keineswegs frei von großrussisch-chauvinistischen Zügen, die jedoch innerparteilich vor allem von Lenin bekämpft wurden.

Dass die Bolschewiki schließlich die Ukraine gegen verschiedene konterrevolutionäre und imperialistische Kräfte gewinnen konnten, lag, wie E. H. Carr in „The Bolshevik Revolution“ treffend zusammenfasst, daran, dass sie den Bauern/Bäuerinnen als das „kleinste Übel“ verglichen mit den Regimen aller anderen Kräfte erschienen, die ihr Land ausgeblutet hatten.

In jedem Fall versuchten die Bolschewiki teilweise schon während, vor allem aber nach dem Bürger:innenkrieg, das Verhältnis zur ukrainischen Bevölkerung zu verbessern und sie so praktisch  davon zu überzeugen, dass sie deren nationale Selbstbestimmung anerkannten und den großrussischen Chauvinismus nicht in einer „roten“ Spielart reproduzieren wollten.

Dazu sollten vor allem zwei Mittel dienen:

a) Die Korenisazija (dt.: Einwurzelung), eine Politik, die darauf abzielte, die Kultur und Sprache der unterdrückten Nationen, ihren Zusammenschluss in eigenen Republiken oder autonomen Gebieten zu fördern und Angehörige der unterdrückten Nationen entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung in den Staatsapparat und die Partei zu integrieren. Außerdem sollte so auch die Herausbildung oder Vergrößerung des Proletariats unter den unterdrückten Nationen gefördert werden.

b) Die Neue Ökonomische Politik (NEP). Dieser zeitweilige Rückzug auf dem Gebiet der ökonomischen Transformation auf dem Land sollte einerseits die Versorgung der Städte bessern und die Produktivität der Landwirtschaft steigern, andererseits aber auch das Bündnis der Arbeiter:innenklasse mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft stabilisieren, das im Bürger:innenkrieg durch das System der Zwangsrequirierung landwirtschaftlicher Produkte und Not im Dorf extrem angespannt war.

Zwangskollektivierung und großrussischer Nationalismus der Bürokratie

Der entstehenden und schließlich siegreichen Bürokratie Stalins waren jede reale Autonomie und Selbstbestimmung der Nationen in der Sowjetunion ein Dorn im Auge. Die Politik der Zwangskollektivierung, selbst eine bürokratisch-administrative Reaktion auf ihre vorhergegangenen Fehler, kostete Millionen Bauern/Bäuerinnen in der Sowjetunion das Leben. In der Ukraine nahm diese Politik besonders brutale Formen an. Hilfslieferungen an die hungernden und verhungernden Landbewohner:innen wurden verweigert, Flüchtenden wurde das Verlassen der Ukraine verwehrt.

Damit sollten auch die Reste ukrainischen Widerstandes gebrochen werden. Die Politik der Zwangskollektivierung wird von einer im Kern großrussisch-chauvinistischen Kampagne gegen den „ukrainischen Nationalismus“ und mit der Abschaffung der Korenisazija verbunden.

Der barbarische Hungertod von Millionen Ukrainer:innen erklärt auch die Entfremdung der Massen vom Sowjetregime und warum ein extrem reaktionärer Nationalismus unter diesen in den 1930er Jahren Fuß fassen konnte. Ohne eine schonungslose revolutionären Kritik, ohne einen klaren politischen und programmatischen Bruch mit dem Stalinismus und ohne ein Anknüpfen am revolutionären Erbe der Lenin’schen Politik wird es unmöglich sein, die ukrainischen Massen vom ukrainischen Nationalismus zu brechen.

Frauenpolitik und Stalinismus

Der reaktionäre Charakter der Politik des Stalinismus zeigte sich in den 1930er Jahren auf allen Ebenen, insbesondere auch bei der Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts. Mit dem Sieg der Bürokratie wird die „sozialistische Familie“ zum Leitbild ihrer Frauenpolitik. In der Sowjetunion (und auch in der Ukraine) wird eine Hausfrauenbewegung gefördert. Auch die werktätige Frau ist zugleich und vor allem glückliche Hausfrau und Mutter.

Mit der Industrialisierung, aber auch im Zweiten Weltkrieg werden Frauen zu Millionen in die Produktion eingezogen, zu Arbeiterinnen. Zugleich werden während des Krieges reaktionäre Geschlechterrollen zementiert und verstärkt. So wird die Koedukation von Jungen und Mädchen in der Sowjetunion 1943 abgeschafft, Scheidungen werden fast unmöglich und unehelich Geborene werden rechtlich schlechter gestellt.

Obwohl Frauen einen relativ hohen Anteil in einzelnen Abteilungen der Roten Armee stellten, tauchen sie in der offiziellen Darstellung kaum auf. Der Faschismus wird, offiziellen Darstellungen zufolge, von den männlichen Helden vertrieben und geschlagen, denen die Frauen in der Heimat, im Betrieb und in der Hausarbeit den Rücken frei halten.

Im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg wird das reaktionäre Frauenbild weiter ideologisch aufrechterhalten. Trotz einer weitgehenden Einbeziehung der Frauen in die Arbeitswelt wurde die Mutterschaft als Hauptaufgabe der Frau betont, gesellschaftlich gefördert und belohnt. So wurden Prämien und Orden für Mütter, die 5 oder mehr Kinder zur Welt brachten, eingeführt. Alleinlebende oder auch kleinere Familien wurden zur Zahlung eine Spezialsteuer verdonnert.

Nach Stalins Tod tritt unter Chruschtschow eine gewisse Liberalisierung ein. So wird die Abtreibung wieder legalisiert. Darüber hinaus gibt es einige Verbesserungen für die Frauen.

Diese zeigen sich vor allem auf dem Gebiet der Bildung. So steigt der Anteil der Absolventinnen von Fachhochschulen bis in die 1970er Jahre auf rund 50 % – ein Anteil, der zu diesem Zeitpunkt von keinem westlichen Staat erreicht wurde. Außerdem wurden eine Reihe von staatlichen Einrichtungen auf dem Gebiet der Kinderbetreuung oder auch ein flächendeckendes System leicht zugänglicher (wenn auch oft nicht besonders guter) Kantinen oder Speisehallen geschaffen.

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Unterdrückung der Frau bleiben jedoch bestehen. Frauen leisten weiter den größten Teil der privaten Hausarbeit. Im Berufsleben waren sie bis auf weniger Ausnahmen weiter auf typische „Frauenberufe“ oder schlechter bezahlte Tätigkeiten (Bildungswesen, Gesundheit, Ärzt:innen, Putz- und Hilfspersonal, Handel, Nahrungsmittelindustrie, Textil, auch generell Fließbandarbeiter:innen) konzentriert. Der Zutritt zu vielen von insgesamt über 450 „Männerberufen“ wurde ihnen verwehrt (darunter z. B. Lokführerin oder Fahrerin von großen LKWs). Der Durchschnittslohn lag in den 1970er und 1980er Jahren immer noch bei nur 65 – 75 % der Männer.

Restauration des Kapitalismus

Die Krise der Sowjetwirtschaft in den 1980er Jahren und die schockartige Restauration des Kapitalismus trafen die Arbeiter:innenklasse, vor allem aber die proletarischen Frauen mit extremer Härte auf mehreren Ebenen:

a) Massive Entlassungen und Schließungen treffen vor allem Frauen in den schlechter bezahlten Tätigkeiten, insbesondere wenn ganze Industrien bankrott gehen.

b) Die Verschuldung und Währungskrisen führen zu massiven Kürzungen im öffentlichen Sektor (Privatisierungen und Schließungen) und daher auch Massenentlassungen in Bereichen wie Gesundheit oder Bildung.

c) Zugleich werden soziale Leistungen massiv gekürzt, Kitas und Kantinen geschlossen (insbes. die betrieblichen). Die Preise steigen massiv für Wohnungen und Lebensmittel.

d) Zugleich werden ein reaktionäres Frauenbild und reaktionäre Geschlechterrollen ideologisch verfestigt und „neu“ eingekleidet. Sexismus, reaktionäre Familienideologie und Homophobie müssen nicht erfunden werden, sondern greifen Elemente des Stalinismus auf und kombinieren sie mit tradierten bürgerlichen Vorstellungen.

e) Der Anteil an Frauen unter den Beschäftigten sinkt in der Ukraine (wie überhaupt die Beschäftigung sinkt). Zugleich werden mehr Frauen in die Prostitution gezwungen oder verschleppt – sei es aus ökonomischer Not, sei es direkt gewaltsam in illegalen Frauenhandel.

Mit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetstaaten und der Entstehung der Ukraine als unabhängiger Staat veränderte sich also auch das gesellschaftliche Gefüge. Eine Spaltung der Gesellschaft verlief zwischen der prorussischer und proeuropäischer Seite. Die alten KP-Strukturen wurden durch neue ersetzt. Ebenso wie in anderen ehemaligen sowjetischen Staaten setzten sich Oligarch:innen, vor allem Männer, an die Macht und blieben an ihr kleben. Bezeichnend ist, dass es bis heute keine Präsidentin gab und auch nur eine weibliche Premierministerin, Julija Tymoschenko (2005; 2007 – 2010). Die sog. orangene Revolution von 2004 – 2005, die auch mit Generalstreiks einherging, verhalf ihr an die Macht. Allerdings kann sie nicht als eine progressive Führungsfigur eingeschätzt werden, die sich an die Spitze einer Bewegung für mehr weibliche Partizipation hätte setzen können. Auch die Maidanbewegung 2013/14 vermochte es nicht, den Einfluss von Frauen großartig zu steigern.

Was sie allerdings geschafft hat, ist, die Annäherung an den Westen weiter voranzutreiben. Dies umfasst Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Einerseits wäre da die Annäherung an die EU, welche zwar Privatisierungen, massive Militärausgaben, Sozialkürzungen und viele weitere Angriffe, welche auch Frauen treffen, zur Folge hatte, aber eben als Nebeneffekt auch politische Reformen voranbrachte, welche aufgrund ihrer Stoßrichtung zur „liberalen“ bürgerlichen Demokratie bessere Bedingungen für einen Kampf zur Frauenbefreiung schaffen. So wurde beispielsweise eine Frauenquote von 30 % bei lokalen Wahlen beschlossen, welche nicht umgesetzt wird, aber trotzdem eine Verbesserung darstellt. Auch die Reformen im Bereich von Justiz und Strafverfolgung sowie Korruptionsbekämpfung kommen vor allem Frauen zugute, da diese am wenigsten von den „Vorteilen“ profitieren und am meisten unter den Nachteilen leiden. Parallel dazu begann 2014 auch ein faktischer Bürger:innenkrieg in der Ukraine, der zur Gründung der Donbassrepubliken und zur Annexion der Krim durch Russland führte.

In der Zwischenzeit ist die starke Abhängigkeit des ukrainischen Staatshaushaltes vom Westen noch gestiegen. Zusammen mit den bereits vorher stattgefundenen Maßnahmen an Sozialkürzungen und Privatisierungen führte dies dazu, dass noch mehr Menschen in Armut stürzen (rund 50 % der Bevölkerung). Die Arbeitslosigkeit liegt aktuell bei knapp einem Drittel und es ist über den weiteren Winter mit vielen Stromausfällen und Heizungsengpässen zu rechnen, da knapp zwei Drittel der Energieinfrastruktur zerstört sind. All das trifft Frauen, die in der Ukraine knapp 10 % weniger Beschäftigungsanteil haben als Männer, stärker. Die Abhängigkeit von der bürgerlichen Familie fällt besonders schwer ins Gewicht, wenn der Alleinverdiener stirbt und die nun Alleinerziehende weniger Aussichten hat, einen Job zu bekommen, in dem sie dann auch noch geringer bezahlt wird.

Die Ukraine: nicht nur blau und gelb, sondern auch „rein weiß“?

Die heutige Ukraine ist auch ein Vielvölkerstaat mit diversen Ethnien, Sprachen und Religionen. Neben Ukrainer:innen und Russ:innen umfasst sie mehr als 130 ethnische Gruppen und viele Minderheitensprachgruppen, von denen die größte Gruppe Roma/Romnja sind. Etwa 400.000 leben im Land. Dies ist wichtig zu wissen, da sie nur selten erwähnt werden und historisch überall, wo sie sich aufhielten, diskriminiert und schlimmstenfalls systematisch verfolgt wurden. In den letzten 10 Jahren gab es in der Ukraine mehrere Pogrome gegen Sinti/Sintizze und Roma/Romnja bei denen Menschen getötet und vertrieben wurden. Besonders rechtsextreme Gruppen hatten es auf sie abgesehen, aber vom Staat gestützt wurden sie dennoch nicht. Auch auf der Flucht sind sie dem Antiziganismus in Osteuropa sowie in Ländern wie Deutschland ausgesetzt. Zum Teil wurden sie an der Ausreise gehindert und es gab sogar Bilder von massakrierten sowie zur Schau gestellten Personen. Schafften sie es doch bis nach Deutschland, so war es für sie schwierig, staatliche Hilfe zu erlangen. Einerseits weil es ein generelles rassistisch motiviertes Misstrauen gegenüber Sinti/Sintizze und Roma/Romnja gibt, andererseits besitzen viele keine Pässe und konnten daher ihre Ansprüche nicht beweisen.

Eine weitere Gruppe, die zeigt, dass die Ukraine nicht so weiß ist, wie auch in den deutschen Medien gerne suggeriert, ist die Gruppe der Migrant:innen aus aller Herren Länder, die zum Arbeiten oder Studieren ins Land gekommen waren. Auch die Ukraine ist und war eine heterogene Gesellschaft. Dies wirkt sich auch auf die Lage der Frau sehr unterschiedlich aus – ein starkes Stadt-Land- wie auch Ost-Westgefälle sind hier zu sehen. Zu oft vergessen wird allerdings, dass auch die Gesellschaft ethnisch und sprachlich vielfältiger ist, als es häufig dargestellt wird, weswegen neben sexistischer Diskriminierung und auf Geschlecht basierender Vulnerabilität noch rassistische Diskriminierung hinzukommt. Egal ob noch im Land selbst oder auf der Flucht, befinden sich diese Personen noch mal in einer besonders prekären Situation.

Der Einmarsch des russischen Imperialismus hat die Lage der Frauen und der Minderheiten noch einmal dramatisch verschlechtert. In der Ukraine überzieht der russische Imperialismus das Land mit einem reaktionären Eroberungskrieg. Zugleich findet der Kampf zwischen dem russischen Imperialismus und den westlichen Mächten statt, nimmt der Krieg wichtige Aspekte eines Stellervertreter:innenkrieges an.

Nichtsdestotrotz haben die Ukrainer:innen natürlich das Recht, sich gegen die Invasion zur Wehr zu setzen, sich selbst zu verteidigen. Die historische Entwicklung und der Krieg zeigen jedoch auch, wie untrennbar der Kampf um Selbstbestimmung, gegen die Unterdrückung der Frauen und Minderheiten mit dem gegen westliches Großkapital, russische Oligarchie und die „eigene“ herrschende Klasse verbunden ist.




Antikriegsbewegung in Russland

von Jaqueline Katherina Singh, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Ein Jahr seit Beginn des Angriffskrieges – und das Regime Putins scheint nicht zu bröckeln, ja nicht mal kleine Risse zu bekommen. Doch die Fassade täuscht, denn der Druck, den Krieg gewinnen zu müssen, wächst stetig für die russische Regierung. Zwar wurde am Jahresanfang seitens Putins, aber auch der internationalen Gemeinschaft festgestellt, dass die Sanktionen die Nation nicht so stark treffen, wie es sich manch eine/r erhofft hat.

Dennoch ist das Loch im russischen Haushalt nicht besonders klein. Russland verkauft bereits Devisen im Wert von 8,9 Milliarden Rubel (gut 112 Millionen Euro) pro Tag, um das Defizit zu decken. Auch Goldreserven werden veräußert. Die Zentralbank hat zuletzt davor gewarnt, dass ein hohes Defizit die Inflation anheizen könnte. Sie wäre dadurch zu Zinserhöhungen gezwungen, die wiederum die Konjunktur belasten würden. Es kann also nicht ewig so bleiben. Doch wie kann der Krieg beendet werden? Und welchen Widerstand gibt es überhaupt?

Ein grober Überblick

Die Kritiker:innen des Krieges kommen aus allen politischen Spektren in Russland, denn nur die wenigsten profitieren von der sogenannten „Spezialoperation“. So gab es unmittelbar nach dem Einmarsch Petitionen und Positionierungen von bekannten Personen der russischen Öffentlichkeit gegen den Krieg. Aber auch aus der breiteren Bevölkerung kamen offene Briefe wie beispielsweise einer aus der IT-Branche, der von rund 30.000 Beschäftigten unterzeichnet wurde.

Es folgten Aktionen von Künstler:innen wie des Kollektivs Nevoina aus Samara oder die anonyme Bewegung „Krankschreibung gegen den Krieg“. Die größten koordinierten Aktivitäten stellten die Aktionstage am 6. und 13. März 2022 sowie im September dar. Trotz dieser Unternehmungen ist es jedoch bisher nicht gelungen, eine breite Antikriegsbewegung aufzubauen. Die Gründe dafür sind zahlreich.

Die Aktivist:innen selber erleiden seit dem ersten Tag des Krieges eine massive Repression seitens des russischen Staates. Das Versammlungsrecht war bereits vor dem Krieg drastisch eingeschränkt worden. Neben massiver Polizeigewalt gab es bis zum 13. März 14.000 Festnahmen. Diese Ordnungsverwahrungen endeten zwar häufig nach 10 – 15 Tagen, jedoch wurde auch vereinzelt von Fällen berichtet, bei denen Festgenommene gefoltert wurden. Das Ziel seitens des russischen Staatsapparates war von Beginn an, die Proteste im Keim zu ersticken.

So gab es für das gesamte Jahr 2022 laut OVD-Info mehr als 21.000 Festnahmen sowie mindestens 370 Angeklagte in Strafverfahren wegen Antikriegsäußerungen und -reden. Mehr als 200.000 Internetressourcen wurden gesperrt und 11 Urteile wegen Staatsverrats verhängt. Darüber hinaus haben Behörden bestätigt, dass bisher 141 Personen wegen Teilnahme an Antikriegsprotesten mittels Gesichtserkennungssystemen (z. B. in der Moskauer U-Bahn) ermittelt wurden.

Chronik der Repression

Mit der massiven Repression hatte das Putinregime bisher Erfolg. Die Proteste wurden klein gehalten, große Teile der Bevölkerung eingeschüchtert und wichtige Aktivist:innen für den Widerstand haben mit Repression zu kämpfen oder mussten fliehen. Die Oppositionsgruppen haben in dieser Situation Aufrufe zu öffentlichen Kundgebungen eingestellt, weil sie beim aktuellen Kräfteverhältnis nur zum Verheizen der Aktivist:innen führen würden.

Weitere Gründe für diese Schwäche

Doch nicht nur die Repression alleine erschwert den Aufbau einer Antikriegsbewegung. Hinzu kommen zwei weitere Gründe, die wir nur kurz anreißen können:

a) Fehlende Programmatik und Klarheit

Die eher autonom geprägte Gruppe „Alt-Left“ ging in ihrer Auswertung des Aktionstags am 13. März 2022 davon aus, dass die Führung der Bewegung eine liberale Prägung habe und es in der Bevölkerung eine mehrheitliche Unterstützung für die „Spezialoperation“ und eine starke Zunahme des Nationalismus gebe. Das ist natürlich ein Ergebnis von Putins Propagandahoheit, aber auch der Tiefe der historischen Niederlage, die mit der Restauration des Kapitalismus einherging, und einer Linken, die an sich selbst den Zusammenbruch des Stalinismus erfuhr und sich und die Arbeiter:innenklasse bisher nicht so reorganisieren konnte, dass sie einen alternativen gesellschaftlichen Pol gegen Putin darstellen. Teile der „linken“ Kräfte – insbesondere die Spitzen der KPR und der offiziellen Gewerkschaften – unterstützen Putins Krieg. Andere nehmen keine klare Position ein, erkennen das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine grundsätzlich nicht an oder betrachten Russland nicht als imperialistische Kraft. All das hat verhindert, dass sich ein klarer antikapitalistischer und antiimperialistischer Pol in der Bewegung bildete.

b) Mangelnde Verankerung

Weiterhin fehlt eine Verankerung der radikalen, gegen das Regime gerichteten Linken innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Letztere ist massenhaft vor allem in der staatstragenden Gewerkschaftsföderation organisiert und durch diese kontrolliert. Die aktuellen Proteste können sich somit richtigerweise gegen den Krieg Russlands richten, aber darüber hinaus können sie in ihrem aktuellen Ausmaß nur die Keimform einer breiten Antikriegsbewegung darstellen. Davon, den Krieg stoppen zu können, sind sie weit entfernt. Die Linke ist marginalisiert, die Arbeiter:innenklasse tritt nicht als eigenständige Kraft auf.

Rolle von Frauen

Doch nicht alles ist aussichtslos. Von Anfang an bildeten Frauen eine treibende Kraft der Antikriegsbewegung. OVD-Info verzeichnete, dass zwischen dem 24. Februar und 12. Dezember mindestens 8.500 Administrativverhaftungen von Frauen wegen Äußerungen von Antikriegspositionen in verschiedenen Formen stattfanden, was etwa 45 % aller bekannten Inhaftierten entspricht.

In den letzten Jahren ist der Anteil der bei Kundgebungen festgenommenen Frauen deutlich gestiegen: 2021 betrug er bei solchen zur Unterstützung von Alexei Nawalny 25 – 31 % und 2022 dort nach Ankündigung der Mobilisierung am 21. und 24. September 51 % bzw. 71 %. Der Autor und Herausgeber Ewgeniy Kasakow kommt im Buch „Spezialoperation und Frieden – Die russische Linke gegen den Krieg“ zur Schlussfolgerung, dass das feministische Spektrum das bestorganisierte in der aktuellen Situation sei. Das liegt seiner Einschätzung nach daran, dass es im Gegensatz zur restlichen Linken am wenigsten gespalten in der Frage der Ukraine gewesen sei. Zum anderen schaffte es am schnellsten, „horizontale Strukturen“ auszubilden, und war somit in der Lage, zu unterschiedlichen Fragen Agitationsmaterialien zu erstellen und Solidaritätskampagnen zu organisieren. Die größte nachvollziehbare Kraft stellt dabei das Netzwerk Feministischer Antikriegswiderstand dar, das aktuell auch die stärkste im Kampf gegen Krieg auszumachen scheint.

Das Feministische Antikriegswiderstand (FAS)

So gab es am 8. März 2022 in über 90 Städten stille Proteste, bei denen Blumen vor Denkmäler gelegt wurden wie beispielsweise einem Wandgemälde in der Kiewer U-Bahnstation in Moskau, das für die russisch-ukrainische Freundschaft steht. Was sich nach einer Kleinigkeit anhört, führte jedoch allein in Moskau zur Verhaftung von 90 Personen und zeigt, wie gering der Spielraum für Proteste ist.

Um so positiver ist es, die Aktivitäten der FAS über die letzten Monate zu verfolgen: Neben der Sammlung von Spenden für ukrainische Geflüchtete, der Unterstützung von nach Russland Abgeschobenen hat sie mehr als 10 Ausgaben der Printzeitung Zhenskaya Pravda (Frauenwahrheit) herausgegeben, mit der sie vom Staat unabhängige Informationen über den Krieg gewährleistet.

Ebenso finden sich Artikel wieder, die thematisieren, wie Söhne vor der Armee geschützt werden können oder sich der Krieg auf das Familienbudget und die Wirtschaft Russlands auswirkt. Auf Teletype veröffentlicht sie regelmäßig Zwischenberichte ihrer Arbeit sowie Reden von einzelnen Koordinator:innen des Netzwerks. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag in der Agitation gegen den Krieg und beweist flexibles Nutzen von Onlineaktivismus und illegaler Arbeit, die nicht nur auf Onlinemedien basieren kann.

Positionen

Klar sollte sein, dass das Netzwerk keine total homogene Struktur verkörpert, die auf Basis eines tiefer gehendenen einheitlichen Programms agiert. Es dient als Sammelbecken für linke wie auch liberale Aktivist:innen in Russland und international, die auch unterschiedliche Einschätzungen bezüglich des Charakters Russlands im Weltgefüge vertreten. Dennoch hat es am 25. Februar ein Manifest veröffentlicht, das mittlerweile in über 20 Sprachen verfügbar ist. Dort bezieht es klar Stellung zum Krieg und schreibt: „Russland hat seinem Nachbarn den Krieg erklärt. Es hat der Ukraine weder das Recht auf Selbstbestimmung noch irgendeine Hoffnung auf ein friedliches Leben zugestanden. Wir erklären – und das nicht zum ersten Mal –, dass der Krieg in den letzten acht Jahren auf Initiative der russischen Regierung geführt wurde. Der Krieg im Donbas ist eine Folge der illegalen Annexion der Krim. Wir glauben, dass Russland und sein Präsident sich nicht um das Schicksal der Menschen in Luhansk und Donezk kümmern und gekümmert haben und dass die Anerkennung der Republiken nach acht Jahren nur ein Vorwand für den Einmarsch in die Ukraine unter dem Deckmantel der Befreiung war.“

Angesichts des russischen Angriffskrieges ist die klare Positionierung der FAS essentiell und unterstützenswert. Im Späteren wurde ergänzt, wem die FAS hilft, wie Unterstützung aussehen kann. Ferner wurden 9 konkretere Forderungen zum Krieg verabschiedet. Auch hier halten wir den Großteil für sinnvoll wie die Ablehnung des bloßen Pazifismus, die Amtsenthebung Putins und aller beteiligten Beamt:innen. Doch sehen wir auch Sachen anders wie beispielsweise in der ersten Forderung: „Für den vollständigen Abzug der russischen Truppen aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine und die Rückgabe aller besetzten Gebiete an die Ukraine (Wiederherstellung innerhalb der Grenzen bis 2014)“.

Wir unterstützen den sofortigen Abzug russischer Truppen, treten jedoch dafür ein, dass die Bevölkerung der Krim sowie der Volksrepubliken unabhängig vom russischen wie vom ukrainischen Staat selbst Referenden organisiert, welchem Gebiet sie sich anschließen will – mit dem Recht, egal wie die Entscheidung ausfällt, Sprache etc. der jeweiligen Minderheit zu schützen.

Veränderung ist möglich

In einem Blogbeitrag beschreibt die FAS die unterschiedlichen Stadien von Antikriegskampagnen und wirft dabei die Frage auf: „In welcher Phase befinden wir uns Ihrer Meinung nach? Wie kann man den Beginn der dritten, vierten und fünften Stufe beschleunigen?“ Besagte Stadien stellen dabei 3. die „Wachstumsphase der Unterstützung“, bei der die Unterstützung über den Kern der aktiven Gruppen hinaus zunimmt und sich das 4. „Stadium der Meinungsbildung“ entwickelt, bei dem die Antikriegsposition in breiten Teilen der Bevölkerung diskutiert wird, hin zum 5. „Stadium der politischen Stärke“, wo beispielsweise der Beginn oder die aktive Wiederaufnahme von Verhandlungen anstehen sowie kleine Zugeständnisse an die Antikriegsbewegung erfolgen.

Manche Lesende werden jetzt vielleicht stutzig werden, da sie sich unter „politischer Stärke“ wahrscheinlich etwas anderes vorgestellt haben. Dem liegt folgende Aussage zugrunde: „Fast alle Forscher sind sich einig, dass die Antikriegskampagne selbst den Krieg nicht beendet: Kriege enden aus anderen Gründen, zu denen neben wirtschaftlicher Erschöpfung auch die Unbeliebtheit und Nichtunterstützung des Krieges in der Gesellschaft gehören. Es sind Kampagnen, die den Grad dieser Unterstützung verändern können, indem sie die Basis von Kriegsgegnern ständig erweitern und neue Menschen in die Bewegung einbeziehen.“

Richtig mag sein, dass Kampagnen nicht Kriege beenden. Dennoch können aus ihnen politische Kräfte entstehen, die sich als Organisationen oder Parteien formen, die eben dies tun. Denn vor allem, wenn das Ziel unter anderem auch die Amtsenthebung Putins sein soll, braucht es eine Kraft, die klar als Alternative auftreten kann.

Doch kommen wir zurück zur eigentlichen Frage: Wie kann die Antikriegskampagne ausgeweitet werden? Diese ist eng verknüpft damit, wen man als Subjekt der Veränderung betrachtet. Dabei glauben wir, dass der Begriff der „Zivilgesellschaft“ nicht hilft, da er das Bild zeichnet, dass zum einen viele Teile der Bevölkerung gleichgestellt sind, zum anderen keine wirkliche Unterscheidung zwischen NGOs, Initiativen und Individuen getroffen wird. Die „Zivilgesellschaft“ in ihrer Gesamtheit besteht aus Schichten, die letztlich entgegengesetzt Klasseninteressen haben können – was es schwierig macht, klare Forderungen zu entwickeln, und den gemeinsamen Kampf notwendigerweise auf eine Reform des bürgerlichen Systems beschränken muss.

Als Marxist:innen gehen wir davon aus, dass die Arbeiter:innenklasse das zentrale Subjekt der Veränderung darstellt. Dabei gehen wir davon aus, dass das Bild der Arbeiter:innenbewegung als Darstellung weißer Männer in Blaumännern der Realität nicht gerecht wird. Schauen wir uns die Arbeiter:innenklasse international an, dann ist sie multiethnisch und divers in ihren Geschlechtsidentitäten. Es geht also nicht um die Frage, Unterdrückung zu verleugnen, sondern die Kämpfe miteinander zu verbinden.

Die Arbeiter:innenklasse als solche ist aufgrund ihrer Rolle im Produktionsprozess relevant. Durch die Fähigkeit zu streiken, also die Produktion lahmzulegen, sitzt sie an einem effektiven Hebel, dem Krieg sowohl den Geldhahn als auch praktisch die Mittel abzudrehen. Ein Blick zurück in die russische Geschichte zeigt, welche Schlüsselrolle die Arbeiter:innenklasse – und insbesondere Frauen – einnehmen können, um Kriege zu beenden. Die Antwort auf die Frage, wie die Antikriegskampagne ausgeweitet werden kann, lautet für uns also: Wie können die Arbeiter:innen für eine Antikriegspolitik gewonnen werden? Und welche politischen Ziele sind damit verknüpft? Soll nämlich der Kampf gegen den Krieg zum Sturz des russischen Imperialismus auswachsen, so muss er für die Errichtung einer revolutionären Arbeiter:innenregierung geführt werden.

Wie kann es weitergehen?

Die FAS vertritt eine solche Perspektive nicht. Unsere Kritik bedeutet natürlich nicht, dass wir sie im Kampf gegen die Kriegspolitik nicht unterstützen würden. Im Gegenteil, wir suchen diese Diskussion mit den Aktivist:innen und Genoss:innen.

Darüber hinaus ist auch hervorzuheben, dass die FAS auch wichtige klassenpolitische Forderungen erhebt. So heißt es:

„Wir kämpfen für menschenwürdige Arbeitsbedingungen für alle und für die Einhaltung der Arbeitsrechte der Bürgerinnen und Bürger. Mit Beginn des Krieges steigt die Zahl der Entlassenen und Arbeitslosen. Die Arbeitgeber nutzen ihre Macht und ihren Druck, um Arbeitnehmer für ihre Antikriegshaltung zu bestrafen. Die ersten Leidtragenden der Kürzungen im Arbeitsrecht sind die Frauen!* und die sogenannten nationalen Minderheiten, Migranten. Wir unterstützen die Arbeit unabhängiger Gewerkschaften und Streiks.“

Wir halten diese Positionierung für sinnvoll, da der Krieg, wie die FAS feststellt, für eine Verschlechterung der Lebensbedingungen vieler sorgt. Um mehr Elemente für eine Antikriegsposition zu gewinnen, müssen aktuelle Probleme wie Lohnkürzungen sowie ausbleibende Lohnzahlungen und steigende Lebensunterhaltungskosten direkt angesprochen und mit Forderungen für konkrete Verbesserungen verbunden werden.

Dabei ist es sinnvoll, selbst die regimetreuen Gewerkschaften aufzufordern, um diese Fragen aktiv zu werden, statt stumme Burgfriedenspolitik zu betreiben. Dies dient vor allem dazu, diejenigen, die zum einen Illusionen frönen, dass ihre Gewerkschaft etwas für sie tut, wegzubrechen, zum anderen jenen, die sie als bloße Kulturinstitution verstehen, aufzuzeigen, dass sie ein Ort des gemeinsamen Kampfes sein muss.

Dies sollte kombiniert werden mit kleineren Aktivitäten in Betrieben, wo über die Aufforderungen diskutiert werden kann. Die aktuelle Repression erschwert es, dies offen und öffentlich mit der Frage des Krieges zu verbinden oder schnell in Mobilisierungen umzuwandeln. Jedoch muss es Ziel sein, die Unzufriedenheit zu schüren, um sie schließlich produktiv zu nutzen.

Perspektivisch könnte das Ziel darin bestehen, einen gemeinsamen, branchenübergreifenden Aktionstag beispielsweise unter dem Motto „Gegen die Krise!“ für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu organisieren, der a) als Überprüfung dienen kann, wie viele bereit sind, auf die Straße zu gehen, und b) genutzt werden kann, Kämpfe miteinander zu verbinden.

Denn man sollte sich bewusst sein: Chauvinismus gegenüber Ukrainer:innen, Sexismus und LGBTIA+-Diskriminierung werden in der breiten Bevölkerung nicht einfach so verschwinden, nur weil die Situation durch den Krieg schlechter wird. Unmittelbar droht sogar eine Zunahme. Der Schlüssel liegt jedoch weder darin, dies zu ignorieren, noch eine vollkommende Solidarität zur Vorbedingung eines gemeinsamen Kampfes zu machen.

Vielmehr muss im Rahmen von Kämpfen für Verbesserungen gezeigt werden, dass man gemeinsame Interessen hat, während gleichzeitig in den Strukturen Schutzräume für gesellschaftlich Unterdrückte wie Caucuses geschaffen werden sollten. Ebenso wird die Arbeit zurzeit dadurch erschwert, dass die Gewerkschaften dem Krieg recht passiv gegenüberstehen. Aber gerade deswegen ist es wichtig, sie herauszufordern, was nicht gegen die bereits existierende Arbeit gestellt werden sollte, die die FAS betreibt, da diese auch die Grundlage schafft, Gehör zu finden.

Internationale Solidarität statt Isolation

Die Aktivist:innen der russischen Antikriegsbewegung spielen eine Schlüsselrolle bei der Beendigung des Krieges. Hierzulande sollten wir uns dafür einsetzen, dass a) die eigene Kriegstreiberei nicht das Bild einer russischen Bevölkerung zeichnet, die komplett Putin unterstützt. Wer das so sieht, leugnet nicht nur die Realität und unterstützt weitere mögliche Kriegstreiberei, sondern verpasst die Chance, den Widerstand zu stärken. Wir sollten b) fortschrittliche Kräfte wie die FAS in ihrer Oppositionsarbeit unterstützen, c) gegen die Sanktionen gegenüber der russischen Bevölkerung auf die Straße gehen, da diese vor allem ihre Lebensbedingungen verschlechtern, während wir gleichzeitig das Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer:innen anerkennen.

Darüber hinaus bedarf es einer Strategiedebatte, die international geführt werden muss. Dies bedeutet zum einen, von Aktivist:innen aus Russland zu lernen, insbesondere wie politische Arbeit in der aktuellen Situation möglich ist. Auf der anderen Seite bedarf es auch inhaltlicher Debatten über die Fragen des Charakters des russischen Regimes im imperialistischen Weltsystem, des Krieges und der Strategie, wie er beendet werden kann.




Der Ukrainekrieg und seine Auswirkungen auf Frauen

von Jaqueline Katherina Singh, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Seit mehr als einem Jahr bestimmt der Ukrainekrieg die Schlagzeilen. Im Folgenden wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Situation anfertigen und uns damit auseinandersetzen, wie sich die aktuelle Situation auf Frauen auswirkt, um schließlich allgemein Kriegsfolgen für Frauen zu betrachten. Bevor wir dazu kommen, wollen wir kurz Stellung zum Konflikt beziehen.

Vom Angriffskrieg zum Stellungskampf

Klar ist, dass der Angriff seitens des russischen Imperialismus auf die Ukraine zu verurteilen und der Wille zur Selbstverteidigung seitens der ukrainischen Bevölkerung gerechtfertigt ist. Gleichzeitig muss das Geschehen auch im internationalen Kontext betrachtet werden. Es spielt sich nicht im luftleeren Raum ab, sondern vor dem Hintergrund einer krisenhaften Entwicklung des imperialistischen Weltsystems und eines Kampfs um die Neuaufteilung der Welt unter den Großmächten.

Somit ist es auch nicht irgendeine Auseinandersetzung, die zufällig mehr Aufmerksamkeit bekommt als der Bürger:innenkrieg im Jemen, weil der bewaffnete Konflikt im Westen stattfindet. Er ist auch Ausdruck einer zugespitzten globalen Weltlage und trägt in sich das Potenzial, mehr Kräfte in kriegerische Auseinandersetzungen zu ziehen. Darüber hinaus findet die Auseinandersetzung zwar augenscheinlich nur zwischen der Ukraine und Russland statt. Doch das fragile Gleichgewicht von prowestlichen und prorussischen wirtschaftlichen und politischen Eliten in der Ukraine und der Ausgleich zwischen ihren Nationalitäten wurde mit dem Maidan 2014 über den Haufen geworfen. Damals wurde der lavierende, Russland zuneigende Präsident Janukowytsch durch eine klar prowestliche Regierung abgelöst. Diese verwandte zwecks Machtsicherung viele der extrem rechten und nationalistischen Maidankräfte in ihrer Administration und ihren Sicherheitskräften und machte ihnen auch politisch Konzessionen. Damit war letztlich auch der bewaffnete Zusammenstoß mit den sich in ihren Minderheitenrechten bedroht fühlenden Bevölkerungsgruppen insbesondere in der Ostukraine vorprogrammiert und Russland nahm den inneren Bürger:innenkrieg zum Vorwand für die Inkorporation der Krim, wo jedoch schon länger eine prorussische Mehrheit lebte.

Weder Putin noch NATO!

Somit geriet das Gebiet der Ukraine zum Zankapfel zwischen russischem Imperialismus und der NATO. Wirkliche Verbesserung für alle Teile der Bevölkerung kann es nicht geben, wenn man sich einer dieser Kräfte politisch unterordnet. Dabei sind die von Putin angegebenen Gründe für seine „Militäroperation“ mehr als scheinheilig. Ihm geht es nicht um eine Denazifizierung, sondern darum, den seit 2014 stärker gewordenen Einfluss des westlichen Imperialismus zurückzudrängen. Dieses Interesse ist vor allem durch die Zunahme der internationalen Konkurrenz seit der Wirtschaftskrise um die Pandemie stärker geworden und auch durch die wirtschaftliche Schwäche Russlands bedingt.

Auf der anderen Seite muss gesagt werden, dass sowohl die massive finanzielle Unterstützung sowie die Waffenlieferungen seitens der NATO-Verbündeten nicht aus reiner Selbstlosigkeit erfolgen, weil man die ukrainische Bevölkerung nicht leiden sehen kann, sondern das Ziel anpeilen, die Ukraine als geostrategische Einflusssphäre zu festigen sowie den russischen Imperialismus zu schwächen und seine Fähigkeit, als Weltmacht zu agieren, massiv zu reduzieren, wenn nicht zu verunmöglichen. Natürlich agiert der Westen dabei nicht als geschlossener, einheitlicher Block. Vielmehr erweisen sich die USA als eindeutige Führungsmacht auch über ihre europäischen Verbündeten, für die jede stärkere ökonomische Durchdringung Russlands in weite Ferne gerückt ist.

Auswirkungen weltweit

Bevor wir zur Situationen in der Ukraine kommen, wollen wir uns den internationalen Folgen des Krieges widmen. Neben einer verstärkten Militarisierung haben der Krieg und vor allem die massiven Sanktionen nicht nur den Wirtschaftskonflikt mit Russland zugespitzt, sondern auch die Inflation befeuert und Energiepreise in die Höhe schnellen lassen. Die steigenden Kosten für Öl und Gas haben erhebliche Auswirkungen auf die Energiearmut von Frauen und Mädchen und den ohnehin schon ungleichen Zugang dazu. Dieser wurde vor allem durch die Pandemie drastisch verschlechtert, da so jene, die erst vor kurzem Zugang zu Energie erhalten hatten, diesen aufgrund von Zahlungsunfähigkeit verloren, darunter 15 Millionen Afrikaner:innen südlich der Sahara. Der Krieg verschärft dies nun, da der sprunghafte Anstieg der Energiepreise in den letzten zwei Jahren der stärkste ist seit der Ölkrise von 1973. Darüber hinaus verursacht der Krieg eine Lebensmittelkrise. Der Anstieg der Lebensmittelpreise war der höchste seit 2008, was daran liegt, dass sowohl Russland als auch die Ukraine zentrale Getreideproduzent:innen sind. So importieren Länder wie Armenien, Aserbaidschan, Eritrea oder Somalia über 90 % des Getreides aus diesen beiden Ländern. Darüber hinaus stellt die Ukraine eine wichtige Weizenlieferantin des Welternährungsprogramms (WFP) dar, das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern unterstützt.

Situation vor dem Krieg

Auch wenn es nicht möglich ist, hier ein komplettes Bild der Situation von Frauen zu zeichnen, wollen wir einen kurzen, allgemeinen Überblick geben. Vor dem Krieg machten Frauen 54 % der Gesamtbevölkerung aus und etwa 48 % aller Erwerbstätigen. Eine genaue Aufschlüsselung, wie hoch die Arbeitsbeteiligung von Frauen in unterschiedlichen Industrien ausfällt, ist nicht verfügbar. Jedoch lieferte die ILO 2008 einen groben Überblick, aus dem hervorgeht, dass Frauen vorwiegend im Caresektor sowie in der industriellen Produktion tätig waren (https://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/Country_Report_No8-Ukraine_EN.pdf, S. 31).

Rechtliche Gleichstellung existierte zwar formal auch in Bezug auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Dennoch gab es ein recht hohes Gender Pay Gap von 27 – 33 % im Zeitraum 2003 – 2012. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Frauen oftmals in den schlechter bezahlten Berufen arbeiten. Doch auch innerhalb von Berufsgruppen gab es Unterschiede. So wurden die größten geschlechtsspezifischen bei den Gehältern im Finanzsektor festgestellt, während die geringsten in der Landwirtschaft bestehen, wo die Löhne jedoch im Allgemeinen viel niedriger ausfallen als in allen anderen Bereichen der ukrainischen Wirtschaft.

Flucht

Im Krieg sind Frauen besonders Gewalt ausgesetzt, neben Bomben, ausländischen Armeen direkt vor der Haustür, Angst und Engpässen bei der Strom- oder Nahrungsmittelversorgung. Kein Wunder also, dass mehrere Millionen Menschen, darunter vor allem Frauen und Kinder, seit Beginn des Krieges geflohen sind. Laut Angaben der UN sind davon 5,3 Millionen Binnenvertriebene, also innerhalb des Landes geflohen. Dies verschärft die Situation, da bereits seit 2014 aufgrund des Konflikts in der Ostukraine mehr als 1,5 Millionen Menschen gezwungen wurden umzusiedeln. Zwei Drittel von ihnen waren Frauen und Kinder, die seitdem unter dem erschwerten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Wohnraum sowie Beschäftigung leiden.

Darüber hinaus sind im Februar 2022 rund 8 Millionen Menschen über die ukrainischen Landesgrenzen geflohen. Davon sind über 80 % Frauen und Kinder, was unter anderem daran liegt, dass die Ausreise von Männern zwischen 18 und 60 Jahren seitens der ukrainischen Regierung verboten wurde. Frauen sind dabei auf der Flucht besonders sexueller Gewalt ausgesetzt. So stiegen die Suchanfragen nach Schlüsselwörtern wie „Escort“, „Porno“ oder „Vergewaltigung“ in Verbindung mit dem Wort „ukrainisch“ um 600 %, während sich „Ukraine refugee porn“ laut OSZE-Büro der Sonderbeauftragten und Koordinatorin für die Bekämpfung des Menschenhandels in Wien als Trendsuche herauskristallisierte. (https://www.euronews.com/2023/01/17/ukraine-refugee-porn-raises-risks-for-women-fleeing-the-war).

Zwar ist noch unklar, inwiefern ukrainische Frauen stärker von sexualisierter Gewalt betroffen sind als andere Gruppen weiblicher Geflüchteter. Klar ist jedoch, dass rassistische Stereotype, die innerhalb der EU existieren und osteuropäische Frauen sexualisieren, dies mitverursachen. Die Gefahr, sexuellen Missbrauch zu erleben oder Opfer von Menschenhandel zu werden, wird durch unsichere Fluchtrouten oder die Praxis z. B. in Großbritannien, wo 350 Pfund für die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten gezahlt werden, begünstigt.

Um die Situation für Geflüchtete zu verbessern, müssen wir für Folgendes eintreten:

  • Offene Grenzen, sichere Fluchtwege und Staatsbürger:innenrechte für alle!
  • Statt Behausung in Lagern: Dezentrale Unterbringung durch die Enteignung von leerstehendem Wohnraum, Hotels sowie Spekulationsobjekten!
  • Nein zur Spaltung: Anerkennung der Bildungsabschlüsse sowie das Recht, die Muttersprache bei Ämtern zu benutzen, für alle Geflüchteten!

Auch wenn die letzte Forderung für ukrainische Geflüchtete, die in Deutschland ankommen, größtenteils Realität ist, muss sie aufgestellt werden, um eine weitere Spaltung zwischen ukrainischen und anderen Geflüchteten zu verhindern. Dass die Ausstellung von Arbeitserlaubnissen etc. für Ukrainer:innen so rasch passierte, zeigt nur, was eigentlich möglich ist, wenn die eigene Regierung ein unmittelbares Interesse dabei verfolgt. Deswegen sollte dies genutzt werden, um die Rechte anderer Geflüchteter anzugleichen.

Situation der Daheimgebliebenen

Jedoch konnten nicht alle fliehen. Alter, persönliche Fitness, Kontakte in anliegenden oder anderen europäischen Ländern sind weitere Faktoren, die es realistischer erscheinen lassen, sich mittel- oder langfristig ein „neues Leben“ aufzubauen. Wer hingegen pflegebedürftig ist oder selber jemanden pflegt, gehört zu den Gruppen, die es besonders schwer haben, das Land zu verlassen. Zwar gibt es Erfolgsgeschichten von Gruppen wie bspw. von etwa 180 Gehörlosen, die es nach Berlin geschafft haben. Doch wer ans Bett gefesselt oder auf fremde Hilfe angewiesen ist, hat schlechte Chancen.

Hier tragen auch vor allem Frauen die Hauptlast. Bereits vor der Eskalation der Feindseligkeiten im Februar 2022 führte die unbezahlte Hausarbeit in der Ukraine zu einer massiven Mehrbelastung. Frauen brachten im Schnitt 24,6 Stunden pro Woche für reproduktive Tätigkeiten auf, während es bei Männern 14,5 waren. Laut UN-Bericht „Rapid Gender Analyses in Ukraine“ geben die Befragten durchweg an, dass seit dem Beginn des Krieges der Umfang der unbezahlten Arbeit sowohl für Männer als auch für Frauen zugenommen hat. Dies liegt vor allem daran, dass Sozialdienste, medizinische und Bildungseinrichtungen sowie Kinderbetreuung durch den Krieg eingestellt oder reduziert wurden.

Das Wegbrechen dieser Infrastrukturen führt dementsprechend auch zu Verschlechterungen in allen diesen Bereichen. So sind beispielsweise Schwangere durch den Wegfall medizinischer Versorgung einer Lage ausgesetzt, die auch den Kindstod begünstigt. Um die Situation vor Ort einigermaßen erträglich zu machen, treten wir ein für:

  • Kontrolle und Verteilung der gelieferten Hilfsgüter durch demokratisch gewählte Komitees der Bevölkerung! Die Vertreter:innen müssen rechenschaftspflichtig und jederzeit wähl- und abwählbar sein!

So kann flächendeckend verhindert werden, dass Lebensmittel unterschlagen werden, wie beispielsweise durch zwei führende Ministeriumsbeamte, die Ende Januar dafür entlassen wurden. Das ist keine Kleinigkeit, denn über ein 1/3 der ukrainischen Bevölkerung ist von starken Nahrungsmittelengpässen betroffen. Viele Teile der Bevölkerung sind bereits in Hilfsstrukturen integriert – und sie sollten diese auch selber kontrollieren.

Denn zum einen kann durch die Verteilungskomitees überprüft werden, in welchen Regionen nicht nur mehr Hilfsgüter benötigt werden, sondern auch, wo es noch anderer Strukturen wie beispielsweise Kantinen oder anderer Hilfe bedarf. Diese sollten zum anderen als Momente kollektiver Reproduktionsarbeit nach dem Krieg erhalten bleiben und flächendeckend ausgeweitet werden. Denn nur durch die Vergesellschaftung der Hausarbeit – also der Aufteilung der Sorge- und Carearbeit auf alle Hände – kann die Doppelbelastung von Frauen sowie die geschlechtliche Arbeitsteilung beendet werden. Es gilt, hier eine Grundlage zu legen, um künftigen Verschlechterungen entgegenzuwirken.

Arbeitsrechte

Diese Situation wird dadurch verstärkt, dass unter der Regierung von Selenskyj seit Beginn des Krieges massive Angriffe auf die Arbeitsrechte vorgenommen wurden. Am 24. März 2022 trat das Gesetz Nr.-2136-IX Über die Organisation der Arbeitsbeziehungen im Kriegsrecht in Kraft, was unter anderem die Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche auf 60 hochsetzt, Arbeit an Wochenenden, Feiertagen und arbeitsfreien Tagen nicht mehr verbietet und Betrieben ermöglicht, die Auszahlung des Gehalts zu verzögern, wenn nachgewiesen werden kann, dass Krieg oder „höhere Gewalt“ eine solche Verzögerung verursacht haben. Das Ganze wird begleitet vom Verbot von Oppositionsparteien, die Verbindungen nach Russland haben, sowie einer Degradierung von Gewerkschaften zu Organen der „Bürgerkontrolle“, die die Einhaltung des Gesetzes überwachen.

Diese Verschärfungen sind dabei nur eine zugespitzte Fortführung Selenskyjs neoliberaler Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse. Bereits 2020 gab es den Versuch eines reformierten Arbeitsgesetzes, welches eine massive Aufweichung der Arbeits- und Tarifrechte enthielt. Durch Proteste seitens der Gewerkschaften konnte damals verhindert werden, was nun Praxis ist.

Was das für praktische Auswirkungen hat, skizziert Bettina Musiolek (Clean Clothes Campaign; Kampagne für Saubere Kleidung) in einem Interview mit der GEW. Zwar ist der Anteil der Textilindustrie innerhalb der Ukraine am BIP gering. Laut Angaben von Ukraine Invest existieren jedoch rund 2.500 Textilbetriebe mit mehr als 200.000 Mitarbeiter:innen innerhalb des Landes, von denen zwischen 80 und 90 % der gesamten Erzeugnisse für den Export bestimmt sind. Die überwiegende Mehrheit ihrer Beschäftigten ist weiblich. Produziert wird unter anderem für Marken wie Adidas, Benetton, Boss, S.Oliver, Tommy Hilfiger, Zara oder Handelskonzerne wie Picard oder Aldi. Diese nutzen die Not brutal aus, wie Musiolek erklärt:

 „Die meisten Näherinnen werden das alles akzeptieren, weil sie den Job brauchen. Gegen das neue Gesetz zu demonstrieren oder zu streiken, ist für sie keine Option – ihnen droht unter dem Kriegsrecht, verhaftet zu werden. [ … ] Da werden im Schatten des Krieges rote Linien überschritten. Zwar soll die Arbeitsrechtsreform nur während des Kriegsrechts gelten. Aber unsere ukrainischen Gewerkschaftspartner bezweifeln, dass die Punkte nach dem Krieg wieder rückgängig gemacht würden.“ (https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/hungerloehne-unter-dem-deckmantel-des-kriegsrechts)

Das bedeutet praktisch, dass wir uns gegen diese Angriffe wehren müssen, was leichter geschrieben als getan ist. Es verdeutlicht, dass die herrschende Klasse der Ukraine nicht nur eine enge Verbündete der NATO ist, sondern – wie jede andere – auch im Krieg ihre Klasseninteressen vertritt.

Das Kriegsrecht richtet sich hier ganz konkret gegen die Lohnabhängigen und muss bekämpft werden. Die Aufgabe von Revolutionär:innen und fortschrittlichen Kräften muss darin bestehen aufzuzeigen, dass der Krieg alleine nicht den Klassencharakter aufhebt, nicht alle Ukrainer:innen vor ihm gleich werden und dieselben Interessen verfolgen dürfen. Deswegen muss gesagt werden:

  • Nein zu den Angriffen des Arbeitsrecht! Für die sofortige Rücknahme der Verschärfungen wie des einseitigen Kündigungsrechts oder der Ausweitung der Arbeitszeit!
  • Statt Arbeitslosigkeit und mehr Stunden braucht es Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich!
  • Für ein Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation!
  • Entschädigungslose Enteignung aller Kriegsgewinnler:innen, ukrainischer wie imperialistischer Unternehmen, die sich auf Kosten der Massen bereichern, unter Arbeiter:innenkontrolle!

Gewalt

Dass Gewalt gegen Frauen in Zeiten von Krisen zunimmt, ist spätestens seit der Coronapandemie kein Geheimnis mehr. Aktuelle offizielle Zahlen sind nicht verfügbar, jedoch gaben laut einer vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) im Jahr 2019 veröffentlichten Studie etwa 75 Prozent der ukrainischen Frauen an, seit ihrem 15. Lebensjahr irgendeine Form von Gewalt erlebt zu haben. Eine von drei Frauen berichtete, dass sie körperliche Formen von sexueller Gewalt erleiden musste.

Durch die verschlechterte ökonomische Situation kann sich dies verschlimmern, und da darüber hinaus in Konflikten sexuelle Gewalt und Vergewaltigung häufig als Kriegswaffe eingesetzt werden, um Macht über den Feind zu demonstrieren, sind die ukrainischen Frauen – inmitten der militärischen Invasion Russlands in ihrem Land – einem erhöhten Risiko sexueller und körperlicher Gewalt, Missbrauch, Vergewaltigung und Folter ausgesetzt. Um sich gegen die zunehmende Gewalt zu wehren, treten wir ein:

  • Für demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees der Bevölkerung, die auch Zugang zu Waffen haben!
  • Für Entschädigungszahlungen an Betroffene von Gewalt sowie kostenlosen Zugang zu therapeutischen Angeboten auch nach dem Krieg!

Militär

Doch es wäre falsch, die Rolle von ukrainischen Frauen derzeit auf Care- und Hilfsarbeit zu reduzieren. In der ukrainischen Armee dienen schätzungsweise zwischen 15 – 22 % Frauen. Manche kehren sogar aus den sicheren Ländern, in die sie geflohen waren, zurück, um an der Front zu kämpfen. Dies ist jedoch eine neuere Entwicklung. Seit 2014 sind Frauen Teil der ukrainischen Armee. Seit 2016 ist auch erlaubt, dass sie nicht nur klassische Hilfskraftjobs wie medizinische Versorgung oder Kochen ausüben. Dass sie nun auch an der Front kämpfen dürfen, heißt jedoch nicht, dass das Militär sich in einen Ort der Gleichberechtigung verwandelt. So hat die Zahl der Soldatinnen zwar zugenommen, aber ihre Mobilisierung erfolgte eher unregelmäßig. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass die klassische Arbeitsteilung in Armeen (Fokus der Frauen auf Hilfsjobs) trotz ihrer höheren Beteiligung erhalten bleibt, was begleitet wird durch Berichte über sexistische Kommentare oder die Tatsache, dass Frauen Uniformen wesentlich schlechter angepasst werden. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Männer mittels Kriegsrecht hat darüber hinaus verfestigt, dass es Frauen sind, die außerhalb der Armee die Last der Betreuung von Kindern und älteren Menschen tragen müssen. Um die tatsächliche Gleichstellung in der Armee zu gewährleisten, treten wir ein:

  • Für die Wähl- und Abwählbarkeit von Offizier:innen durch Soldat:innenräte sowie deren Kontrolle über Ausbildung und Waffen!
  • Für eine Kampagne innerhalb der Armee für Gleichstellung, aber auch gegen Nationalismus und Chauvinismus! Recht der Frauen auf gesonderte Treffen!

Zentral ist es darüber hinaus, dass Soldat:innen auch dafür argumentieren, den Krieg nur solange zu führen, wie er zur Selbstverteidigung dient, und beispielsweise gegen die Rückeroberung der Krim oder der Volksrepubliken auftreten. Vielmehr sollte die dort lebende Bevölkerung entscheiden, wo sie zukünftig leben und welchem Staat sie angehören möchte. Alles, was darüber hinausgeht, führt zu einer weiteren Verlängerung des Krieges, ohne seine tatsächliche Ursache zu bekämpfen.

Perspektiven

Die reaktionäre Invasion des russischen Imperialismus stellt bekanntlich nicht den einzigen Faktor im Krieg dar. Es wäre vielmehr verkürzt, den Charakter eines Kriegs unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen. Die Entwicklung, die zur Invasion führte, und vor allem jene seit dem reaktionären Überfall Russlands bestätigt in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht bloß um einen nationalen Verteidigungskrieg handelt, sondern die politische, wirtschaftliche und militärische Einflussnahme der NATO auf internationaler Ebene selbst einen entscheidenden Faktor darstellt.

Das bedeutet, dass die Arbeiter:innenklassen in Russland wie auch in den NATO-Staaten vor allem für den Kampf gegen die Kriegsziele ihrer eigenen Bourgeoisien gewonnen und mobilisiert werden müssen. Dort steht der Hauptfeind eindeutig im eigenen Land.

In der Ukraine ist die Lage differenzierter zu betrachten. Hier sind die Massen Opfer der russischen imperialistischen Invasion. Einerseits spielt der innerimperialistische Konflikt eine prägende Rolle, andererseits existiert auch ein wichtiges Element der realen nationalen Unterdrückung. Dies bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der Ukraine, sich gegen die russische Okkupation zur Wehr zu setzen, verteidigen müssen, jedoch ohne der Regierung Selenskyj irgendeine Form der Unterstützung angedeihen zu lassen.

In der Ukraine bildet daher das Recht auf Selbstverteidigung gegen die russische Invasion ein Element revolutionärer Politik, doch für den Fall des Rückzugs von russischen Truppen sollte klar sein, dass der Kampf danach weitergeht. Jedoch nicht mit dem Ziel, Vergeltung gegen Russland als Aggressor auszuüben, sondern in dem Wissen, dass NATO & Co. ihre Unterstützung nicht zugesagt haben, damit sie dann ebenfalls die Ukraine in Ruhe lassen, sondern sie als ausgebeutete Halbkolonie in ihren Machtbereich integrieren werden.

Neben stärkerer militärischer Präsenz ist es wahrscheinlich, dass westliche Firmen sich freuen, die ukrainische Infrastruktur wieder aufzubauen – auf dem Rücken der Bevölkerung vor Ort, die als billige Arbeitskräfte überausgebeutet werden kann. Die rechtlichen Grundlagen wurden ja bereits geschaffen. So ein Kampf kann nur erfolgreich sein, wenn bereits im Hier und Jetzt Strukturen aufgebaut werden, die sich der prowestlichen und neoliberalen Politik Selenkyjs nicht unterordnen wollen, aber auch kein Interesse hegen, sich an Putins Regime zu verkaufen. In Regionen wie der Krim, Donezk oder Luhansk sollten Referenden durch die Bevölkerung organisiert werden – nicht durch irgendeine Großmacht.

Im Westen, in der EU und den USA muss die Arbeiter:innenbewegung vor allem aber gegen die imperialistischen Ziele des „eigenen“ Imperialismus mobilmachen. Das bedeutet ein Nein zur jeder Aufrüstung, zu Waffenlieferungen und vor allem zu Sanktionen und Wirtschaftskrieg gegen Russland. Die US-amerikanische, deutsche und andere westliche Regierungen verfolgen damit keine demokratischen und humanitären Interessen. Das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und erst recht deren Demokratie sind ihnen völlig egal, wie das jahrelange Paktieren mit Ultrarechten beweist. Für sie ist die Ukraine vor allem eine Frontlinie auf dem geostrategischen Schlachtfeld und außerdem ein Reservoir für billige Arbeitskräfte und Rohstoffe. Hier gilt es, Solidarität und Widerstand aufzubauen, die die objektiven Interessen der ukrainischen und russischen Arbeiter:innenklasse unterstützen, und nicht mit den Machtinteressen der jeweils eigenen Regierung zu paktieren.




Massaker an Geflüchteten in Melilla: Ein weiterer blutiger Höhepunkt der Festung Europa

Auch wenn diese im Zuge der zahlreichen Krisen unterzugehen scheinen, häufen sich die Meldungen von Toten an den EU-Außengrenzen wieder einmal.

Zahlreiche Menschen sterben bei der Flucht übers Mittelmeer, im Jahr 2022 alleine 1982, zudem harren immer noch Tausende an der Belarussischen, Griechisch-Türkischen sowie anderen Grenzen aus, an denen sie vom örtlichen Grenzschutz massive Gewalt erfahren.

Doch gerade ein bisher eher unbekannterer Teil der „Festung Europa“ erlangte dieses Jahr traurige Bekanntheit: Melilla

Tödliche Grenzgewalt in Melilla

Hier starben mindestens 37 Flüchtende (70 weitere gelten bis heute als vermisst) an der Grenze zwischen dem marokkanischem Staatsgebiet und der spanischen Exklave in Nordafrika, welche als ein Relikt aus der kolonialen Besatzung Nord-Marokkos durch Spanien fortbesteht und, wie auch Ceute, als EU Territorium zählt.

Im Juni letzten Jahres versuchten etwa 2000 Menschen bei Melilla über den metallenen Grenzzaun zu kommen, um in ihrer Flucht nach Europa vor Krieg und Hunger nicht den tödlichen Weg über das Mittelmeer auf sich nehmen zu müssen. Ausgelöst wurde dieser Sturm wohl durch marokkanische Grenzbeamte selber, welche ein provisorisches Geflüchteten-Camp in einem nahegelegenen Wald auflösten und eine Massenpanik auslösten.

Diese wurde noch weiter befeuert, als am Grenzzaun sowohl spanische als auch marokkanische Beamte, welche immer wieder bei der Verteidigung der Grenzen der Festung Europa zusammenarbeiten, ähnlich wie z.B. in Libyen oder der Türkei, gewaltsam gegen die Migrant_Innen vorgingen. Sie schossen mit Tränengas und Gummigeschossen in die Menge. Aufgrund des Drucks der Menschenmasse, brach schließlich der Zaun zusammen, wobei bereits mehrere Menschen schwer verletzt wurden. Diverse Videos dokumentieren, wie daraufhin marokkanische Beamte wahllos auf am Boden Liegende einschlugen und offenkundig bewusstlose Menschen mehrere Meter über den Boden schleiften.

Reaktion

Bereits kurz nach dem Vorfall wurden Stimmen laut, sowohl von Seiten diverser Presseportale als auch von Augenzeug_Innen, welche betonten, dass die tödliche Gewalt nicht ausschließlich auf der marokkanischen Seite des Grenzzauns stattfand, sondern auch auf spanischem Staatsgebiet von spanischen Grenzbeamten durchgeführt wurde.

Unter dem Hashtag #melillamassacre wurde das Massaker an Flüchtenden auf Social Media breit verurteilt und zog eine Welle an Protesten in Spanien und Marokko nach sich.

Der Druck von Migrant_Innen und Menschenrechtsorganisationen führte dazu, dass die spanische Generalstaatsanwältin ankündigte, Ermittlungen bezüglich des Vorgehens der Grenzbeamten einzuleiten. Ein halbes Jahr später wurde das Verfahren jedoch öffentlich eingestellt.

Videos, mit den entscheidenden Minuten, welche beweisen sollen, dass es auch auf spanischem Gebiet Tote gab, bleiben weiterhin unter Verschluss. Spaniens Innenminister Fernando Grande-Marlaska beharrt weiterhin darauf, dass es keine Todesfälle auf spanischer Seite gegeben hätte und dass er die Reaktion und das Vorgehen der Polizist_Innen für angemessen empfindet, eine Aussage die wieder einmal die Menschenverachtung des Europäischen Grenzregimes unterstreicht.

Die Rolle der „Festung Europa“

Melilla ist dabei nur eine mörderische Mauer der Festung Europa unter vielen. So führt die Grenzschutzorganisation der EU, Frontex, illegale Pushbacks durch, was konkret bedeutet, dass sie hilfesuchende Menschen, zum Beispiel an den Küsten Griechenlands, zurück ins Meer prügelt und damit ihren Tod billigend in Kauf nimmt.

All das geschieht nicht ohne Grund, es ist kein Zufall, dass die ach so menschenrechtsfreundliche und demokratische EU in ihrer Politik Migrant_Innen gegenüber so brutal und repressiv vorgeht.

Der Grund hierfür heißt Imperialismus.

Denn der verhältnismäßig hohe Lebensstandard in der EU basiert auf der Überausbeutung von Halbkolonien, größtenteils im globalen Süden.

Überausbeutung heißt hier, dass die Arbeiter_Innen nicht nur von ihrer eigenen nationalen Bourgeoisie ausgebeutet werden, sondern zusätzlich noch von der eines oder mehrerer imperialistischer Länder. Diese erlangen durch große ökonomische Macht politischen Einfluss und halten die Ökonomie der Halbkolonie soweit künstlich klein, um weiter von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen, sowie dem Nutzen als Absatzmarkt und Niedriglohnstandort, zu profitieren.

Diese Überausbeutung ermöglicht es der herrschenden Klasse in den imperialistischen Zentren (z.B. EU, USA und China) auch, durch Zugeständnisse einen privilegierten Teil der Lohnabhängigen (Arbeiter_Innen-Aristokratie) ruhig zu halten und an sich zu binden.

Zu diesem Teil gehört auch die Gewerkschaftsbürokratie sowie meist die Führung sozialdemokratischer Parteien.

Die imperialistischen Staaten wie eben Deutschland und Frankreich haben also ein starkes Interesse daran, die Grenzen zu schließen und zu verteidigen, da ansonsten Menschen aus den Halbkolonien einfach in den reicheren globalen Norden kommen und sich der Überausbeutung entziehen könnten.

Rassismus als Legitimation

Legitimiert wird dieses Vorgehen durch den Rassismus als Werkzeug, der ein zentraler Teil des aktuell auch wieder erstarkenden Rechtspopulismus ist, dabei von allen bürgerlichen Parteien mehr oder weniger ausgeprägt mitgetragen wird und ursprünglich als Legitimation von Kolonialismus und Imperialismus entstanden ist.

Der Rassismus erfüllt aber noch eine weitere Funktion, nämlich die Schwächung der Arbeiter_Innenklasse, durch ihre Spaltung in Nationen und Kulturen.

Je kleinteiliger die Lohnabhängigen untereinander verfeindet sind, desto schwächer sind sie in der Erkämpfung ihrer Rechte gegen die Bourgeoisie.

Auch verschleiert Rassismus die eigentlichen Ausbeutungsverhältnisse. Statt des Klassenkonflikts zwischen „oben und unten“, also Proletariat und Bourgeoisie, wird ein Konflikt zwischen „innen und außen“, zwischen „Heimischen und Fremden“ in den Mittelpunkt gerückt, obwohl eigentlich überhaupt kein Interessengegensatz herrscht zwischen europäischen, arabischen und afrikanischen Arbeiter_Innen.

Mit einem sehr ähnlichen ideologischen Konstrukt, dem Nationalismus, sollen außerdem die Arbeiter_Innen an den eigenen imperialistischen Staat  gebunden werden.

Wie das funktioniert lässt sich gut am Beispiel des russischen Angriffskriegs in der Ukraine beobachten, wo bedingungslose Solidarität mit dem Westen gefordert wird und auch selbst proklamierte „antirassistische“ Grünen-Politiker_Innen antirussischen Rassismus verbreiten und Entschlossenheit im Kampf gegen den „nationalen Feind“ fordern, statt die internationale Arbeiter_Innenklasse zum Widerstand gegen den Krieg aufzurufen.

Um gegen das Europäische Grenzregime anzukämpfen, stellen wir folgende Forderungen auf:

  • Die Grenzen auf, Stacheldraht zu Altmetall – Nieder mit der Festung Europa!
  • Weg mit Frontex und anderen Grenzschutzbehörden! Schluss mit „Flüchtlingsdeals“ wie mit Marokko oder der Türkei!
  • Staatsbürger_Innen-Rechte für alle, überall!
  • Fluchtursachen statt Flüchtende bekämpfen – Streichung aller Schulden von Halbkolonien!
  • Schluss mit ethnischer und nationaler Spaltung! Für die Vereinigung von Arbeiter_Innen und Jugend aller Länder zu einer internationalen Bewegung gegen den Imperialismus und die Herrschaft der Bourgeoisie!



Frankreich: 2 Millionen auf den Straßen – was ist der nächste Schritt?

Von Marc Lassalle, einem französischen Genossen der LFI. Der Text ist zuerst in der Neuen Internationalen der Gruppe Arbeiter:innenmacht erschienen und ist noch auf dem Stand vor dem letzten Aktionstag am Dienstag, an dem wieder Millionen auf der Straße waren. Aber die Perspektive ist noch aktuell.

Die Zahlen sprechen für sich. Mehr als zwei Millionen Arbeiter:innen demonstrierten am 19. Januar gegen den jüngsten Versuch von Präsident Emmanuel Macron, das Rentensystem zu reformieren. Ein Zeichen für den weit verbreiteten Widerstand unter den Lohnabhängigen war eine seltene Einheitsfront, bei der alle großen Gewerkschaftsverbände streikten und so den Verkehr, die Energieversorgung und die Schulen zum Stillstand brachten.

Heftiger Angriff

Die Reform ist ein schwerer Angriff auf die Arbeiter:innenklasse. Die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre wird sich unverhältnismäßig stark auf Industriearbeiter:innen und weniger qualifizierte Arbeitskräfte auswirken, die bereits eine kürzere Lebenserwartung und weniger Rentenjahre haben.

Nachdem er einen früheren Versuch im Jahr 2019 wegen der Covid-Pandemie aufgegeben hatte, hat Macron beim aktuellen Projekt nicht um den heißen Brei herumgeredet: Die Beschäftigten müssen mehr arbeiten, um die verschiedenen Maßnahmen der Regierung zur Stützung der Wirtschaft zu bezahlen, sowohl während der Pandemie als auch in letzter Zeit wegen der steigenden Energiekosten.

Die Regierung argumentiert, dass die Reform notwendig ist, um ein prognostiziertes Defizit von 14 Milliarden Euro bis zum Ende des Jahrzehnts zu schließen. Aber während der Pandemie hat der „Präsident der Reichen“ nicht zehn, sondern hunderte von Milliarden Euro in die Stützung der kapitalistischen Wirtschaft gesteckt, und niemand hat das vergessen.

Während Macron mit einer Schwächung der Kampfbereitschaft der Arbeiter:innenklasse rechnete, hat der Aktionstag vom 19. Januar ihn und seine bürgerlichen Expert:innen eines Besseren belehrt. Selbst die gemäßigte Gewerkschaft CFDT, die die Reformen der ersten Regierung Macron zum Arbeitsschutz (Code du Travail) unterstützt hatte, verurteilte sie als „eine der brutalsten Rentenreformen seit 30 Jahren“. Philippe Martinez, Vorsitzender der linkeren Gewerkschaft CGT, sagte, der Plan bündele „die Unzufriedenheit aller“ mit der Regierung. Umfragen zufolge sind etwa 9 von 10 Arbeiter:innen gegen die Vorschläge.

Macron begründete seine beiden Präsidentschaftswahlen mit dem Versprechen, das zu tun, was früheren Regierungen in den letzten 30 Jahren nicht gelungen ist: den Widerstand der Gewerkschaften gegen die Rentenreform zu brechen. Der Präsident, dessen Partei der bürgerlichen Mitte La République en Marche (Die Republik im Vorwärtsgang) bei den letztjährigen Parlamentswahlen ihre Mehrheit im französischen Parlament verloren hat, ist auf die Stimmen der rechten Republikanischen Partei  angewiesen. Die Überreste des Gaullismus werden sich jedoch nicht so leicht dazu überreden lassen, die politischen Kosten für Macrons Reformvorhaben zu übernehmen.

Gelingt es ihm nicht, eine parlamentarische Mehrheit zusammenzuschustern, könnte der Präsident auf Notstandsgesetze zurückgreifen, die es ihm erlauben, das Parlament zu überstimmen, auch auf die Gefahr hin, Neuwahlen zu erzwingen. Macron hat die Zukunft seiner Regierung von der Verabschiedung dieser Reform abhängig gemacht. Der letzte Versuch im Jahr 2019 löste die längste Streikperiode seit dem Generalstreik von 1968 aus. Alle Seiten spielen um die höchsten Einsätze.

Entscheidender Kampf

Millionen von Arbeiter:innen bereiten sich jetzt auf einen entscheidenden Kampf mit der Regierung vor. Trotz des großen Erfolgs des ersten Tages muss die Arbeiter:innenklasse ernsthafte Schwächen in ihrem eigenen Lager überwinden. Während die Parole eines Generalstreiks auf den Demonstrationen weithin aufgegriffen wurde, steht sie nicht auf der Tagesordnung der Gewerkschaftsführungen – im Gegenteil. Sie drohen lediglich mit einer langen Kampagne und haben für den 31. Januar einen weiteren Aktionstag mit Streiks und Demonstrationen angekündigt.

Die Gewerkschaftsspitzen verfolgen ihre übliche, gefährliche und in der Regel tödliche Taktik gelegentlicher „Aktionstage“ mit Pausen dazwischen, die der Regierung nur zum Vorteil gereichen, die sie nutzen wird, um einen Deal mit der CFDT zu schließen, das Bündnis der Gewerkschaftsverbände zu schwächen und schließlich zu brechen.

Die beiden großen linken Parteien sind gegen die Reform, aber für die Arbeiter:innenschaft unzuverlässige Verbündete. Die Überbleibsel der Sozialistischen Partei haben die letzte Rentenreform 2014 eingeführt. Jean-Luc Mélenchon, Parteivorsitzender von France Insoumise (Unbeugsames Frankreich), fordert eine Senkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre, ist aber mehr auf die parlamentarische Bühne konzentrierte, als einen ernsthaften sozialen Widerstand in den Betrieben und auf den Straßen aufzubauen. Die Schwäche der „Revolutionär:innen“ lässt sich an der prekären Lage der NPA (Neue Antikapitalistische Partei) ablesen. Nach einer Spaltung im vergangenen Dezember gibt es derzeit zwei NPAs mit demselben Namen, wenn auch sehr unterschiedlichen politischen Einschätzungen und Ausrichtungen. Keine von ihnen ruft zu einem Generalstreik auf.

Welche Strategie, welche Kampfmethoden?

Die Frage, die sich allen Lohnabhängigen und Jugendlichen stellt, ist, welche Organisation und Strategie erforderlich ist, um diesen Angriff abzuwehren. Diese Aufgaben müssen in den betrieblichen Vollversammlungen und in Arbeiter:innenausschüssen behandelt werden. Macrons Regierung steht und fällt mit der Frage, ob er diese Reform verabschiedet – aber unsere Bewegung muss die Lohnabhängigen für eine umfassende Antwort auf die Krise mobilisieren: nicht nur die Abschaffung der Rentenreform, sondern den Kampf für Lohn- und Rentenerhöhungen, einen massiven Plan für Investitionen in den öffentlichen Sektor, insbesondere in Schulen und Krankenhäuser, mehr hochwertigen bezahlbaren Wohnraum, einen speziellen Plan für junge Menschen und die Aufhebung der rassistischen Anti-Migrationsgesetze.

Die Beschäftigten der Ölraffinerien planen bereits, ihre Streiks Ende des Monats auszuweiten. Diesem Beispiel sollten wir folgen, aber angesichts der Tatsache, dass sich die Gewerkschaftsführer:innen der Verantwortung entziehen, indem sie die Entscheidung den verschiedenen Sektoren überlassen, müssen wir eine alternative Strategie und Führung im Hier und Jetzt vorbereiten.

Der 31. Januar muss zum Ausgangspunkt für eine Reihe eskalierender Streiks werden für die Bildung von Aktionsräten der Arbeiter:innenklasse zur Koordinierung und Kontrolle der sozialen Bewegung, die in einem Generalstreik gipfeln, um Macron und den Arbeit„geber“:innen eine umfassende Niederlage zuzufügen und den Weg für eine Arbeiter:innenregierung zu ebnen, die mit dem kapitalistischen System in seiner Gesamtheit abrechnen kann.

Eine schwere Niederlage Macrons würde den Weg weisen, den viele andere europäische Länder einschlagen sollten.




Inflation und politische Krise in der Türkei

Von Jonathan Frühling

Die Türkei ist ein Land mit 85 Millionen Einwohner_Innen und einem BIP von 850 Mrd. (ca. ein Drittel von Deutschland). Durch seine Lage zwischen dem Nahen Osten und Europa hat es neben seinem wirtschaftlichen Gewicht auch geopolitische Bedeutung. Außerdem ist das Land Teil der NATO und hat sogar die zweitgrößte Nato-Armee. Zuletzt hat die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte jedoch mit einer offiziellen Inflation von 80 % ein vorläufiges Ende gefunden. Wie kam es zur Krise in der Türkei und wie kann sie gestoppt werden?

Politische Entwicklung

Mit der AKP und Recip Tayyip Erdogan kam 2003 eine rechte, muslimische Partei an die Macht. Die nächsten Jahre waren von einer liberalen wirtschaftlichen Entwicklung geprägt, die sogar das Entstehen einer großen Mittelschicht ermöglichte. Allerdings erfolgten auch Privatisierungen und insgesamt eine Verschlechterung der Lage der Lohnabhängigen. 2013 hat das zu den großen Gezi-Protesten geführt, die sich gegen Verdrängung und die Regierung insgesamt richteten. Diese wurden jedoch blutig niedergeschlagen.

Die Türkei ist zwar nicht faschistisch, hat sich innenpolitisch jedoch immer mehr zu einer neoliberalen Diktatur entwickelt. Seit 2016 wurde ein brutaler Krieg gegen das kurdische Volk im Südosten des Landes geführt, um deren Autonomiebestrebungen zu zerstören. Schon seit der Gründung der kapitalistischen Türkei wurden die Kurd_Innen, die größte Minderheit im Land, massiv unterdrückt. Diese Politik, die sie zu Bürger_Innen zweiter Klasse machte, führte erst zum Kampf gegen den türkischen Staat und schließlich um Autonomiegebiete. Erdogan unterdrückte diesen Kampf mit besonderer Härte. Die Pressefreiheit ist mittlerweile eine der niedrigsten der Welt. Trotzdem hatte Erdogan in der Mehrheitsgesellschaft immer ein recht gutes Ansehen, was er aber nun zu verlieren scheint: In den Umfragewerten steht die AKP bei 30 %, was einen Verlust von über 13 % darstellt. Sie hat also bereits einen Teil ihrer früheren Basis verloren und schafft es immer weniger die Interessen der verschiedenen Kapitalfraktionen zu vereinen. Ihr Koalitionspartner, die faschistische MHP, liegt bei 7 Prozent und würde damit sogar den Einzug ins Parlament verpassen. Am 18. Juni 2023 werden die nächsten Parlamentswahlen in der Türkei abgehalten. Die aussichtsreichste Oppositionspartei ist allerdings die bürgerliche CHP, die die Kriege im Aus- und Inland, sowie jegliche neoliberale Reform im Inneren unterstützt hat.

Die Wirtschaft der Türkei

Die Türkei war lange Zeit eines der Länder mit einem großen Wirtschaftswachstum. Zum Teil nutzlose Infrastrukturprojekte haben zwar kurzfristig die Wirtschaft angekurbelt, jedoch auch Staatkassen belastet, sodass die Verschuldung von 2005 bis 2021 von 175 Mrd. auf 435 Mrd. (41,6 % des BIP) gestiegen ist. Die wichtigsten Industriesektoren sind die Textilindustrie, die Automobilindustrie, sowie die chemische Industrie, der Maschinenbau und die Elektronikbranche. Im Dienstleistungssektor, der ca. 50% der Wirtschaft ausmacht, ist vor allem die Tourismusbranche zu nennen. Weitreichende Privatisierungen im öffentlichen Sektor (z.B. im Gesundheitsbereich) haben in den letzten Jahren zu einer Verschlechterung der Leistungen und der Arbeitsbedingungen in diesem Sektor geführt. Das Wachstum des BIP wird für die nächsten Jahre nur noch auf ca. 3 % geschätzt.

Inflation

Im August 2021 begann die Inflation in die Höhe zu schnellen. Da Erdogan eine Rezession befürchtete, hatte er den Leitzins (Zinssatz bei dem sich Banken bei der Zentralbank Geld leihen können) nicht gehoben. Das Kalkül ging allerdings nicht auf und die Inflation stieg in der Folge bis zum August 2022 auf offiziell 80%. Grund dafür ist u.a. auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Der Hauptgrund der Inflation ist allerdings die schwache Landeswährung Lira, die dafür sorgt, dass Importe (z.B. von Nahrungsmitteln und Energie) deutlich teuer werden.

Die Erhöhung des Mindestlohns auf umgerechnet ca. 300 € kann die Verarmung der Bevölkerung nicht aufhalten. Über 20 % leben heute unter der Armutsgrenze und die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 50 %.

Außenpolitik

Die Außenpolitik der Türkei ist davon geprägt, pro-kurdische Kräfte zu bekämpfen. Z.B. bereitet die Türkei gerade einen fünften (!) Krieg gegen die kurdischen Autonomiegebiete Rojava in Nordsyrien vor. Auch im Irak ist die Türkei einmarschiert und bombardiert regelmäßig kurdische Dörfer, um die pro-kurdische Partei PKK zu bekämpfen.

Zwar ist die Türkei in der NATO, hat aber Konflikte mit einzelnen Staaten, wie z.B. den USA, die die Kurd_Innen in Syrien gegen den IS unterstützen. Außerdem besteht eine lange Feindschaft mit Griechenland über die Herrschaft über diverse Inseln, aber auch um das Recht auf Gasbohrungen im Mittelmeerraum. Dies führte bereits in diesem Jahr fast zum Krieg zwischen den beiden NATO-Staaten. Mit Russlands Unterstützung des Assad-Regimes besteht zwar in Syrien ein Interessenkonflikt, allerdings ist es auch ein wichtiger Handelspartner, weshalb die Türkei stets um einen Ausgleich bemüht ist. Insgesamt versucht die Türkei ihre wirtschaftlichen Probleme militärisch mit einer aggressiven Außenpolitik in Syrien, Libyen oder als „Türsteher“ Europas auszugleichen. Gleichzeitig mit dem Hass auf das kurdische Volk, und angeblichem innerem „Terror“ den sie der PKK zu schieben. Das hilft Angst in der Bevölkerung vor den äußeren und inneren „Feinden“ zu schüren, um vor den tatsächlichen Problemen und ihren Ursachen abzulenken.

Widerstand

Gewerkschaftlicher Widerstand gegen die Politik der Regierung fiel abgesehen von den Gezi-Protesten 2013 leider eher schwach aus, da die Gewerkschaften traditionell sehr mitgliederschwach sind. Nur 9,2% der arbeitenden Menschen sind überhaupt organisiert und kaum 3 % arbeiten unter Tarifbedingungen. Anfang 2022 gab es allerdings Streiks in der Metall- und Elektroindustrie von drei Gewerkschaften. Auch Essenslieferant_Innen, Textilarbeiter_Innen und Angestellte im Gesundheitssektor haben 2022 gestreikt (teilweise mehrfach) und somit den Lohnabhängigen den Weg in den Kampf gewiesen. Dieser rasante Anstieg von Streiks 2022 hat auch zu massenhaften Eintritten in die Gewerkschaften geführt.

Die Schwäche der Regierung und die anstehenden Wahlen sind eine gute Möglichkeit, die Belange der Arbeiter_Innenklasse in den Fokus der Politik zu rücken und den Kampf gegen die kapitalistische Grundlage der Regierung populär zu machen. Dafür müssen die Gewerkschaften jedoch koordiniert auftreten. Sie müssen sich zu einem Aktionsbündnis gegen die Preissteigerungen zusammenschließen. Nur so kann die Arbeiter_Innenklasse zu einem politischen Machtfaktor werden, der Unentschlossene anzieht und der Regierung die Stirn bieten kann.  

Sie muss auch Forderungen, wie die Verstaatlichung des Gesundheitssektors aufstellen, um die Gesellschaft in ihrem Sinne zu verändern.

Aus einer solchen Bewegung müsste aber auch eine revolutionäre Partei entstehen. Die HDP kann als eine reformistische Partei eine solche Rolle nicht einnehmen. Mit ihre Forderungen nach einer teilweisen Integration der kurdischen Bewegung in den türkischen Staat und begrenzten sozialen Reformen können die Probleme der Wirtschaft und Gesellschaft nicht behoben werden. Nur eine antikapitalistische Revolution kann den wirtschaftlichen Verfall der Türkei noch aufhalten.

  • Für einen Generalstreik gegen Krieg und Inflation, angeleitet von den Gewerkschaften und Arbeiter_Innenkommitees in den Betrieben!
  • Gegen das Verbot von PKK, HDP und gegen jegliche Diskriminierung des kurdischen Volkes, für ein Recht auf autonome kurdische Gebiete!
  • Für die Enteignung aller Betriebe und hohen Vermögen unter Kontrolle von Arbeiter_Innenkommitees, Stopp sinnloser und verschwenderischer Infrastrukturprojekte!
  • Für eine gleitende Lohnskala angepasst an die Inflation und eine Erhöhung von Mindestlohn und Arbeitslosengeld unter Kontrolle der türkischen und kurdischen Arbeiter_Innen!
  • Für die Streichung aller Schulden der Türkei an das Ausland!
  • Für den Austritt der Türkei aus der NATO, gegen jede Militärunterstützung im Kampf gegen Rojava von Deutschland (insbesondere Waffen- und Panzerlieferungen)!
  • Für eine revolutionären Aufstand der Arbeiter_Innen und Bäuer_Innen der Türkei und Kurdistans und den Sturz des reaktionären Erdogan-Regimes!






Warum der Ukrainekrieg in Afrika eine Hungerkrise auslöst

Von Jona Everdeen

Wir alle haben schon mitbekommen, dass die Preise für Lebensmittel in Folge der aktuellen Krise immer weiter angestiegen sind und dass ein Ende aufgrund der zunehmenden Inflation noch nicht in Sicht ist. Für uns als Arbeiter_Innen und als Jugendliche ist das ein großes Problem, da wir uns vieles, was früher zu unseren Grundnahrungsmitteln gehörte, so zum Beispiel den Döner in der Mittagspause, nicht mehr leisten können und für viele Familien besteht die reale Gefahr, in diesem Winter teilweise hungern zu müssen. Doch auch wenn die Lage hier in Europa ernst ist, sind diese Probleme im Vergleich zu den katastrophalen Folgen der Krise für die Ernährung im globalen Süden noch relativ überschaubar. Ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine und verstärkt durch die Klimakrise, die auch in Afrika für eine Dürreperiode sorgte, droht vielen Menschen eine katastrophale Hungerkrise. Doch wie konnte es soweit kommen?

Was ist eine Hungerkrise?

Von einer Hungerkrise kann man dann sprechen, wenn signifikante Teile der Bevölkerung eines Landes oder einer Region nicht mehr in der Lage sind, ausreichend Nahrung zu sich zu nehmen, weil diese entweder nicht verfügbar oder nicht bezahlbar ist. Menschen sind dann akut von Unterernährung betroffen und vom Hungertod bedroht. Traditionell waren und sind Hungerkrisen meist das Resultat von Kriegen oder schweren Naturkatastrophen vor Ort, doch in der Welt des globalisierten Imperialismus können auch externe Einflüsse für Länder im globalen Süden katastrophale Folgen haben, so wie in diesem Fall die russische Invasion auf die Ukraine und der daraus resultierende Krieg.

Was hat der Ukrainekrieg damit zu tun?

Russland und die Ukraine sind weltweit die beiden größten Exporteure für Getreide. Zusammen stellen sie ein Drittel der Weizen- und Gerstenproduktion, also von Grundnahrungsmitteln, die vor allem für Länder ohne eigene Produktion unverzichtbar sind. Gleichzeitig ist Russland auch noch der weltweit größte Exporteur für in der Landwirtschaft benötigte Düngemittel.

Nun konnten jedoch große Teile der ukrainischen Ernte durch die Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen nicht exportiert werden, während gleichzeitig die Ausfuhr russischer Lebens- und Düngemittel von westlichen Sanktionen erschwert wird. Durch diese verfahrene Situation entsteht eine Verknappung, wodurch die Preise für Lebensmittel massiv in die Höhe geschnellt sind. Und auch wenn sich die Situation der ukrainischen Getreideexporte inzwischen etwas entspannt hat, bleibt die Lage extrem kritisch.

Doch dabei stellt sich vor allem eine Frage: Warum sind Länder im globalen Süden, vor allem in Afrika, von Lebensmittelexporten aus Russland und der Ukraine abhängig, obwohl es dort doch auch jahrhundertelang gut funktionierende Landwirtschaft gab? Die Antwort auf diese Frage ist so einfach wie bitter: Imperialismus.

Was war nochmal Imperialismus?

Imperialismus bedeutet, in sehr verkürzter Darstellung, die wirtschaftliche Unterwerfung eines Landes durch das Kapital eines (oder mehrerer) anderer Länder. Man spricht dann davon, dass das wirtschaftlich abhängige Land eine Halbkolonie des anderen Landes ist.

Viele Länder des globalen Südens sind in irgendeiner Form von eben dieser imperialistischen Ausbeutung durch Länder des globalen Nordens betroffen. Konzerne aus imperialistischen Ländern wie den USA, der EU, China auch Russland kontrollieren de facto die Wirtschaft des jeweiligen Landes und passen sie mittels ökonomischer Zwänge, vor allem Verschuldung und Handelsabkommen, ihren Bedürfnissen an.

Die beiden wohl wichtigsten Arten imperialistischer Ausbeutung sind einmal die Schaffung eines billigen Absatzmarktes für Produkte aus der Produktion des imperialistischen Staates und andererseits die Ausbeutung der Ressourcen des halbkolonialen Staates.

Und genau das sind die Gründe warum viele Staaten des globalen Südens so stark von Lebensmittelimporten abhängig sind: Einerseits wurde in vielen Regionen des globalen Südens bereits zur Kolonialzeit die lokale Landwirtschaft durch Monokulturen von im globalen Norden nicht verfügbaren pflanzlichen Ressourcen ersetzt, so zum Beispiel Zuckerrohr, Kaffee oder Ölpalmen. Andererseits werden die Lebensmittelmärkte der betroffenen Länder von wesentlich günstigeren Produkten aus der Produktion von Konzernen des globalen Nordens überschwemmt. Durch Handelsabkommen mit entsprechenden Knebelverträgen sichern sich imperialistische Länder die optimalen Bedingungen für den Export und Verkauf ihrer Produkte in der halbkolonialen Welt und verhindern deren eigenständige und profitable Produktion.

Konsequenzen:

Das Resultat dieser Praxis ist dann unter anderem, dass in den fruchtbarsten Regionen Kenias zu großen Teilen keine Lebensmittel für die Bevölkerung vor Ort angebaut werden, sondern hier stattdessen Zierpflanzen für den westlichen Blumenmarkt wachsen, da die Klima- und Lohnbedingungen den Blumenkonzernen besonders hohe Profite versprechen.

Und selbst wenn doch Lebensmittel von westlichen Großkonzernen in Afrika produziert werden, werden diese nur selten auf dem lokalen Markt verkauft, sondern meist nach Europa, Nordamerika oder China verschifft und auf den dortigen Märkten profitabel verkauft. Dadurch, dass sie großenteils für internationale und nicht für den eigenen Markt produzieren, sind Länder im globalen Süden und vor allem in Afrika, unglaublich stark abhängig vom Weltmarkt. Ist die ökonomische Lage gerade schlecht, bricht einerseits der Absatzmarkt für viele Produkte, wie eben Blumen, Kaffee und ähnliches, ein, andererseits werden die notwendigen Importe von Grundnahrungsmitteln und anderen essentiellen Gütern teurer.

Manche Länder des globalen Südens versuchen, um der Ausbeutung durch die imperialistischen Westmächte zu umgehen, neue Bündnisse mit China oder Russland zu schmieden, so zum Beispiel Sambia mit China oder die Zentralafrikanische Republik mit Russland, jedoch ist auch dies keine Lösung. Zwar gelingt es den Ländern dadurch die Beherrschung durch die westlichen Imperialisten abzuschütteln oder zumindest zu verringern, dafür werden sie nun zu Halbkolonien der nicht weniger ausbeuterischen östlichen Imperialisten.

Zusätzliche Faktoren für die Krise sind auch noch einerseits die Klimakrise, an deren Entstehung die Länder des globalen Südens kaum beteiligt waren, von der sie jedoch bereits jetzt extrem stark in Form von Dürreperioden betroffen sind. Andererseits aber auch die extreme Abhängigkeit der noch existierenden regionalen Landwirtschaft von Großkonzernen, die ein Monopol auf Saatgut und Düngemittel besitzen (so zum Beispiel Bayer/Monsanto). Besonders schwer trifft diese Abhängigkeit zum Beispiel indische Bäuerinnen und Bauern, die sich von Bayer die Kaufpreise für das benötigte Saatgut diktieren lassen müssen, um weiter Landwirtschaft führen zu können. Dies führte in jüngerer Vergangenheit zum Bankrott zigtausender Höfe und einer massiv überproportionalen Suizidrate unter indischen Bäuerinnen und Bauern.

Für eine eigenständige Lebensmittelproduktion unter Arbeiter_Innenkontrolle!

Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Probleme zu lösen und die aktuelle Hungerkrise nachhaltig zu bekämpfen: Die Arbeiter_Innen in halbkolonialen Ländern müssen die Kontrolle über ihre Produktion zurückerkämpfen und diese planwirtschaftlich gestalten, nach dem Prinzip der Bedürfnisbefriedigung und nicht der Profitmaximierung.

Um dies zu erreichen, muss die Macht der imperialistischen Staaten, ihrer Banken und ihrer kapitalistischen Großkonzerne gebrochen werden. Bayer, Monsanto, Nestle und Co. müssen international vertrieben und enteignet werden. Bäuerinnen und Bauern, Arbeiter_Innen, Jugendliche und alle Ausgebeuteten müssen sich zusammenschließen und die meist autokratischen Kollaborationsregierungen zu Fall bringen und durch sozialistische Räteregierungen ersetzen. Diesen Bewegungen müssen wir uns mit unseren lokalen Antikrisenbewegungen anschließen und unsere Kämpfe zusammenführen!

Im Moment werden genug Nahrungsmittel produziert, um damit 10 Milliarden Menschen zu versorgen. Dass es zu Hunger kommt, dass immer noch Millionen Menschen unterernährt und vom Hungertod bedroht sind, und dass sich diese Zahl bald massiv erhöhen könnte, ist keine Folge von realem Ressourcenmangel, es ist eine Folge der kapitalistischen Eigentumsordnung, eine Folge des Systems, in dem tonnenweise essbare Lebensmittel eher vernichtet werden, als sie unter dem Marktpreis zu verkaufen. Wenn wir wirklich den Welthunger ein für alle mal beseitigen wollen, dann ist es unsere einzige Möglichkeit dieses System, den Kapitalismus, ein für alle mal zu beseitigen!

Wir sind solidarisch mit den möglichen und teilweise bereits stattfindenden Hungerrevolten, sowie mit allen progressiven antiimperialistischen und sozialistischen Kräften des globalen Südens und fordern deshalb:

  • die Einführung eines Mindestlohns gemessen an den Lebenserhaltungskosten und mit Inflationsbindung für alle Arbeiter_Innen weltweit!
  • die Enteignung der Großkonzerne und die Überführung der Produktionsmittel, sowohl in Landwirtschaft als auch in Bergbau, Industrie und Dienstleistung, in Arbeiter_Innen-Kontrolle!
  • Internationale Handelsabkommen zur Ausbeutung halbkolonialer Länder müssen sofort aufgekündigt werden und imperialistische Länder sich aus deren Märkten zurückziehen!
  • Schluss mit Patenten auf Saatgut und Düngemittel!
  • die sofortige Streichung aller Schulden, die Länder des globalen Südens an westliche, russische oder chinesische Banken binden, sowie die Bereitstellung von Soforthilfen finanziert durch Besteuerung und Enteignung der Profiteure imperialistischer Ausbeutung!



Antislawischer Rassismus: Geschichte und Perspektiven

Von Sani Meier

In aktuellen Debatten um Rassismus wird dieser häufig als Phänomen beschreiben, welches People of Color abwertet, unterdrückt und ausbeutet. Dass diese Definition in vielen Fällen zwar zutrifft, aber dennoch, vor allem in Europa, nicht ausreicht, soll dieser Artikel herleiten. Es geht im Folgenden um die Geschichte und die Merkmale des Antislawischen Rassismus in Deutschland, welcher bis heute nicht aufgearbeitet oder anerkannt wird und im Zuge des Krieges um die Ukraine erneuten Aufschwung erfährt.

Um wen geht es eigentlich?

In Europa bilden die sogenannten „slawischen Völker“ die zahlenmäßig größte Gruppe von Ethnien. Dazu zählen die ostslawischen Staaten Russland, die Ukraine und Belarus, die westslawischen Staaten Polen, Tschechien und die Slowakei und die südslawischen Staaten Bulgarien, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien und Montenegro. Zusätzlich leben bis heute große slawische Minderheiten in den ehemals zur Sowjetunion gehörigen Staaten Litauen, Lettland, Estland, Kasachstan und Moldau. In Deutschland machen Menschen aus Osteuropa die Hälfte aller Menschen mit Migrationshintergrund aus. Ihre rassistische Unterdrückung wird als antiosteuropäischer / antislawischer Rassismus oder Antislawismus bezeichnet und äußert sich durch abwertende Zuschreibungen zum geografischen Raum Osteuropas und seinen (ehemaligen) Bewohner_Innen. Damit einhergehend kommen unter anderem eine wirtschaftliche Benachteiligung, verstärkte Ausbeutung, Vertreibung, Ausgrenzung und andere Gewalterfahrungen.

Geschichte des antislawischen Rassismus:

Die Zeugnisse für die Existenz von antislawischem Rassismus in Deutschland reichen zurück bis ins Mittelalter. Da Slawen zu dieser Zeit in den Gebieten des heutigen deutschen Ostens lebten, wurden sie immer wieder Opfer germanischer Raubzüge und Kriege. Die Versklavung, Unterwerfung und Vertreibung der slawischen Stämme stellte eine Haupteinnahmequelle für die Ritter dar und ist auch heute noch in der Ähnlichkeit der Worte (Slawe/Sklave) sichtbar.

Im Deutschen Kaiserreich wird diese Tradition durch die kolonialen Interessen Deutschlands in Osteuropa wiederbelebt und der Erste Weltkrieg soll den uneingeschränkten Zugriff auf slawische Arbeitskräfte sichern. Da solch brutale und menschenverachtende Pläne immer nach einer vermeintlichen Legitimierung fordern, blühen die rassistischen, pseudo-wissenschaftlichen Diskurse im 19. Jahrhundert besonders auf und konstruieren die Slawen als eigene „Rasse“, die gegenüber den Deutschen abgewertet wird. Besonders eindrücklich wird dies durch die Etablierung des Begriffs des „slawischen Untermenschen“. Dass diese Form des Rassismus auch oft Hand in Hand mit anderen Unterdrückungsformen wie dem Antisemitismus und dem Antiziganismus (Diskriminierung von Sinti*ze und Rom*nja) geht, zeigt sich an stigmatisierenden Begriffen wie dem des „Ostjuden“.

Obwohl der Erste Weltkrieg für Deutschland scheitert, lebt der Traum vom „Deutschen Osten“ im Nationalsozialismus weiter und erreicht im Vernichtungskrieg seinen negativen Höhepunkt. Ideologisch wird der slawischen Bevölkerung durch das NS-Regime die Rolle minderwertiger Sklaven zugewiesen und deren Genozid zur Bedingung einer erfolgreichen Expansionspolitik erklärt. Die ohnehin als „Untermenschen“ betrachteten Menschen seien der nationalsozialistischen Ideologie gemäß durch den Bolschewismus zu „zurückgebliebenen Tieren“ mutiert. Der faschistische Vernichtungskrieg wurde in kolonialer Manier zur „Zivilisierungsmission“ verklärt. Die Blockade Leningrads, bei welcher über eine Millionen Menschen erfroren und verhungerten, weil die Deutschen sie für „unnötige Esser“ hielten, stellt nur eine von vielen Gräueltaten gegenüber der slawischen Bevölkerung dar. Auch in der Ukraine vernichteten die deutschen Besatzer ganze Dörfer. Nachdem die Rote Armee die Faschist_innen jedoch erfolgreich zurückschlug und zurück nach Westen drängte, wurde das Stereotyp der „feigen Halbtiere“ durch die „asiatischen wilden Horden“, die über das arme Deutschland herfallen, ausgetauscht.

Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs wird der Rassismus gegenüber Osteuropäer_Innen weder aufgearbeitet und entschädigt, noch bekämpft und bekommt in Zeiten des Kalten Krieges im Antikommunismus ein neues Gewand. Zuwander_Innen aus dem Osten Europas werden massiv abgewertet und das Stereotyp der „wilden und invasiven Horden“ bleibt bestehen: Immer noch begegnen uns die Vorurteile von angeblich „klauenden Polen“, „saufenden Russen“ oder „arbeitsscheuen Bulgaren“. Diese Formen der rassistischen Abwertung legitimierten Gesetze, die die Einreise nach Deutschland massiv erschwerten, sowie berufliche Dequalifizierungen, durch welche Osteuropäer_Innen in der deutschen Arbeitshierarchie weit nach unten gedrängt wurden. Bis heute sind sie am stärksten in Branchen wie der Lagerlogistik, der Fleischindustrie, der Landwirtschaft und als Reinigungs- oder Pflegekräfte tätig, welche am rücksichtslosesten von deutschen Kapitalist_Innen ausgebeutet werden. Hinzu kommen Diskriminierung und Ausgrenzung aufgrund von Sprache, Akzent oder kulturellen Traditionen, welche vor allem russischsprachige Menschen seit Beginn des Ukrainekrieges verstärkt zu spüren bekommen. Obwohl der russische Angriffskrieg klar zu verurteilen ist, werden nun alle Menschen, die man (oft fälschlicherweise) für Russ_Innen hält, für diesen verantwortlich gemacht. Russische Restaurants und Geschäfte werden mit Drohungen überhäuft und mitunter auch angegriffen. Menschen, die Russisch sprechen werden beleidigt. Schüler_Innen berichteten uns davon, in der Schule mit Fragen wie „Und wie sehen deine Eltern das eigentlich?“ konfrontiert zu sein und sind einem konstanten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Damit wird auch implizit die Erwartung ausgedrückt, alle Russ_Innen wären zwangsläufig Unterstützer_Innen Putins, was die Einbeziehung dieser Menschen in den Widerstand gegen den Krieg verhindert und Schüler_Innen in ihrem Alltag unnötig unter Druck setzt und zu sozialer Ausgrenzung führen kann.

Also doch Rassismus gegen Weiße?

Aber Moment mal: Das heißt also, es gibt doch Rassismus gegen weiße Menschen? Die Aussage, dass es diesen nicht geben könne, wird meistens dann getroffen, wenn Phänomene, die eindeutig keine strukturelle rassistische Unterdrückung darstellen, als solche betitelt werden. Zum Beispiel, wenn Linke sich gegen das Zelebrieren von Nationalstolz während der Fußball-WM aussprechen oder wenn in den USA im Zuge der „Black Lives Matter“-Bewegung gefordert wird, dass weiße Menschen sich in dieser zurücknehmen sollen, um Betroffenen Raum für den Ausdruck ihrer Erfahrungen zu geben. In diesen Fällen liegt natürlich eindeutig kein Rassismus gegen Deutsche oder weiße US-Amerikaner_Innen vor- aber dennoch ist die Analyse von Rassismus, als einer Unterdrückungsform, die zwangsläufig und primär aufgrund einer dunkleren Hautfarbe oder anderen äußerlichen Merkmalen ausgeübt wird, ungenügend.

Rassismus ist ein soziales Phänomen, welches von der besitzenden Klasse eingesetzt wird, um bestimmte Arbeiter_Innen möglichst effizient ausbeuten zu können- dies kann über biologische Merkmale legitimiert werden, muss es aber nicht zwangsläufig. In Bezug auf Osteuropäer_Innen wird dies vor allem durch die Zuschreibung eines niedrigeren sozialen Status gemacht und nicht durch die Hautfarbe. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass der Kapitalismus auf dem Streben nach maximalem Profit und internationaler Konkurrenz beruht: Kapitalist_Innen sind also darauf angewiesen, möglichst kostengünstig zu produzieren, um ihre Gewinne zu steigern. Ein sehr effizienter Weg ist dabei die Einsparung von Lohnkosten, welche sich am besten rechtfertigen lässt, indem die Arbeitskraft bestimmter Menschen dequalifiziert wird. Dass diese Ungleichbehandlung als „natürlich“ angesehen werden kann, wird durch die Einteilung der Welt in Nationalstaaten und die Konkurrenz zwischen diesen erleichtert. Hierarchisierung und Ausbeutung erscheint in diesem Zuge als notwendig und legitim und verhindert zusätzlich eine effektive Solidarisierung innerhalb der weltweiten Arbeiter_Innenklasse gegen die Kapitalist_Innen. Letztendlich kann Rassismus prinzipiell jede Gruppe treffen, die im Kapitalismus zu einer anderen Gruppe in ökonomischer Konkurrenz steht. Wie flexibel und wandelbar die Darstellung bestimmter Nationen in den deutschen Medien ist, zeigt sich momentan am Beispiel der Ukraine: Während Ukrainer_Innen über Jahrzehnte hinweg den Stereotyp der billigen Reinigungskraft, Feldarbeiter_In, Bauarbeiter_In oder Sexarbeiter_In verkörpern mussten, sind sie nun innerhalb weniger Wochen zu heroischen Freiheitskämpfer_Innen der Demokratie im Osten Europas geworden. Dass dieser Wandel zeitgleich mit einem gesteigerten Interesse des deutschen Imperialismus an der ukrainischen Wirtschaft und deren geopolitischer Lage von statten geht, ist kein Zufall, sondern Taktik.

Als Revolutionär_Innen ist es unsere Aufgabe, die Rolle des Rassismus innerhalb des Kapitalismus aufzuzeigen und zu benennen: Er ist eines der Werkzeuge, welches die Kapitalist_Innen einsetzen, um möglichst effizient auszubeuten und eine gemeinsame Organisierung der Arbeiter_Innen und der Jugend zu verhindern. Doch davon dürfen wir uns nicht blenden lassen: Die Aufteilung der Welt in Nationalstaaten und die ihnen zugeschriebenen Attribute sind weder natürlich, noch notwendig und unsere Solidarität muss sich in all unseren Kämpfen über sie hinwegsetzen. Sei es im Widerstand gegen die rassistische und mörderische Politik an den europäischen Außengrenzen oder im Kampf gegen den Krieg in der Ukraine und überall sonst auf der Welt. Auch die russische Arbeiter_Innenklasse muss sich dazu gegen ihre nationalistische Führung erheben und in die weltweiten Kämpfe dagegen einbezogen werden!

  • Weder Putin, noch NATO! Für eine internationale Antikriegsbewegung der Arbeiter_Innen und Jugend!
  • Sofortiger Abzug der russischen Armee! Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, Anerkennung ihres Rechts auf Selbstverteidigung gegen die Invasion!
  • Solidarität mit der Antikriegsbewegung und der Arbeiter_innenklasse in Russland; Verbreitung der Aktionen gegen den Krieg; Freilassung aller Festgenommen!
  • Kein Mensch ist illegal! Staatsbürger_Innenrechte & Zugang zu Sozialleistungen für alle!
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Gegen die Überausbeutung migrantisierter Arbeiter_Innen und für die Integrierung dieser in Gewerkschaften und Streiks!
  • Für die lückenlose Aufklärung der Verbrechen des Nationalsozialismus an Osteuropäer_Innen, Sinti*ze und Rom*nja!



Wahl in Italien: Ist Italien wieder faschistisch?

Am Montag war es soweit: Die Prognosen hatten Recht und eine ultrarechte Koalition hat die absolute Mehrheit bei den italienischen Wahlen erlangt. Damit löst sie die neoliberale Technokraten-Regierung unter Mario Draghi ab. Diese Wahlen fanden in einer krassen Krisensituation statt: Nachdem Italien besonders stark von der Pandemie betroffen war (wir erinnern uns an die schrecklichen Bilder), schlägt nun mit voller Breitseite die Inflation zu. Überdies hat auch der Klimawandel große Schäden für Mensch und Natur in Italien angerichtet.

Klimakrise
Seit 13.09.2022 gilt in Norditalien der Dürrenotstand. Der Fluss Po ist fast ausgetrocknet, es kommt zu massiven Ernteausfällen, die Gletscher in den Alpen schmelzen, 27.000 Hektar Wald sind abgebrannt, der Grundwasserstand sinkt erheblich, es kommt zu extremen Überschwemmungen, Menschen, Tiere und Pflanzen sterben. Während der Bevölkerung der Zustand am eigenen Leibe bewusst wird, ignoriert und schweigt die Regierung seit Jahren dazu. Aber wie auch, wenn der Energiesektor auf Erdgasindustrien aufgebaut ist, die eine starke Lobby mit sich bringen. 2019 gab es einen Plan bis 2050 auf Null-Emissionen zu kommen, dafür wurden Prämien auf Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel und plastikfreie Lebensmittelverkäufe ausgestellt und 55 Milliarden für den „Green New Deal“ investiert, doch die scheinen verdampft zu sein.

Wirtschaftliche Krise
In Italien liegt die Inflation derzeit bei 9%. Das hochverschuldete Land schlittert dabei weiter in eine wirtschaftliche Rezession. Dies war schon durch die Corona-Pandemie absehbar und wird durch die weltweite Wirtschaftskrise noch einmal beschleunigt. Schon nach der Finanzkrise 2008 lag die Staatsverschuldung mit 133% (den BIP) weit über dem europäischen Durchschnitt und ist seitdem auch nicht wirklich gesunken. Die EZB (Europäische Zentralbank) hat massive Sparmaßnahmen zur Bedingung für die vergebenen Gelder gestellt, z.B. Privatisierungen, Lohnkürzungen, Reformen der öffentlichen Dienste und Tarifvertragssysteme sowie Einschränkungen der Staatsausgaben. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bereits bei 8,4 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei 24 Prozent. Darüber hinaus sind 3,4 Millionen Arbeitskräfte prekär beschäftigt. Seit der Pandemie stieg die Zahl der Armen auf 5,6 Millionen. Und wer zwang Italien als Chef der EZB diese harten „Reformen“ auf? Draghi himself, der nun abgewählte Ministerpräsident Italiens von Februar 2021 bis zu seinem Rücktritt am 21. Juli 2022. Zuvor arbeitete er bei Goldman Sachs und der Bank Italiens.

Regierungskrise

Die Regierung unter diesem Großkapitalisten setzte sich aus einer Koalition der nationalen Einheit von linken, konservativen bis nationalistischen, rechten Parteien zusammen: Eine populistische Front, die in sich verstritten war. Die Streitpunkte drehten sich darum wie groß Hilfspakete für die italienische Wirtschaft sein sollten oder ob Italien Waffen in die Ukraine liefern sollte. Letztendlich gelang es Draghi nicht die widcrsprüchlichen Interessen zu vereinen, er trat in zwei Anläufen von seinem Amt zurück und es wurden Neuwahlen für den 25. September angesetzt.

Vom Versagen Draghis und seiner Helfer_innen konnte die relativ neue Partei „Brüder Italiens“ unter Giorgia Meloni, als die großen Gewinner der Wahl am stärksten profitieren. Mit 26 Prozent der Stimmen haben sie das beste Ergebnis eingefahren. Zu den großen Verlierer_innen zählt dagegen die sozialdemokratische Partito Demokatico, die weniger als 20 Prozent der Menschen wählten. Im Gegensatz zu den anderen rechten Parteien und auch der populistischen „5-Sterne-Bewegung“ verhalf Melonis Schachzug, nicht in die Regierung unter Dragho einzutreten, ihr dazu, sich als einzige Opposition gegen das verfehlte Krisenmanagement der alten Regierung darstellen zu können. Fast alle Parteien der alten Regierungskoalition wurden 2018 gewählt, weil sie versprachen der Sparpolitik ein Ende zu setzen. Doch letztlich arbeiteten sie alle mit dem Menschen zusammen, der für diese Sparpolitik hauptverantwortlich war und halfen ihm weitere Kürzungen und Sparmaßnahmen durchzusetzen.

Sieg der Rechten

Um die absolute Mehrheit zu erlangen, schmiedete Meloni ein reaktionäres Bündnis mit der Lega (Rechtspopulist_innen) und Forza Italia (rechts-konservative Partei Berlusconis). Zusammen kamen sie auf 44% der Stimmen. Die geringe Wahlbeteiligung zeigt jedoch auch auf, dass viele Menschen generell vom Regierungssystem enttäuscht zu sein scheinen, oder es ihnen mittlerweile egal geworden ist, welche Partei die Sparpolitik weiter durchdrücken wird. Gerade mal 63,8% Wahlberechtige nahmen teil.

Meloni hat ihre politische Sozialisierung im Neofaschismus Italiens durchlaufen. Ihre politische Herkunft ist die Movimento Sociale Italiano hat, welche aus der Verwaltung der durch Hitler besetzten Gebiete in Norditalien hervorgegangen ist. Nach einem Marathon durch die faschistischen Organisationen Italiens versucht sie ihre neue Partei „Brüder Italiens“ nun als gemäßigt darzustellen. Dabei unterhält sie beste Verbindung ins europäische rechtsextreme Milieu, von der spanischen Vox, über die polnische PiS, hin zur ungarischen Fidesz.

Um das von EU-Geldern abhängige italienische Großkapital nicht zu vergraulen, hat sie ihre ursprüngliche Forderung eines Italexits (Austritt Italiens aus der EU) bewusst hinterm Berg gehalten. Vielmehr beschränkt sie sich nun darauf, „Italiens nationale Interessen in der EU in Zukunft stärker durchsetzen“ zu wollen. Gleichzeitig kann die krisengeschüttelte EU auch nicht auf ihre drittgrößte Volkswirtschaft Italien verzichten, was Meloni andererseits auch Möglichkeiten der Druckausübung gegenüber der EU gibt.

Meloni verkörpert ein ultrakonservatives Programm. Sie will die europäischen Außengrenzen noch stärker abschotten und die menschenverachtenden Hürden für die Migration über das Mittelmeer weiter erhöhen, indem gigantische Lager außerhalb Europas errichtet werden sollen. Einen großen Fokus legt sie auf ihre Feindschaft zum Recht auf Abtreibung und Selbstbestimmung von gebährfähigen Menschen über den eigenen Körper. Bereits vor ihrer Regierungszeit hatte ihre Position zu „Gott, Familie, Vaterland“ in den Lokalregierungen, an denen die Brüder Italiens beteiligt sind, praktische Auswirkungen auf die Zugänglichkeit von Abtreibungen. Ebenso hat sie bereits in neoliberaler Manier Steuergeschenke für Unternehmen angekündigt.

Unklar bleibt, wie stabil das rechte Regierungsbündnis tatsächlich sein wird. In einer zentralen politischen Frage unterscheiden sich die regierenden Rechten nämlich sehr stark: Die Haltung zum Ukrainekrieg. Während Meloni klar pro-NATO und pro-Waffenlieferungen an die Ukraine ist, sind Berlusconi und Salvini alte Buddies von Putin. Da Melonis Partei jedoch mehr Stimmen erlangte, als die beiden anderen Regierungsparteien zusammen, sollten diese kaum Möglichkeiten haben, ihre Positionen durchzusetzen. Vielmehr ist zu erwarten, dass Meloni die beiden mit Regierungsposten ruhigstellt, sodass diese kein Interesse daran haben, eine Regierung zu blockieren, die ihnen gute Posten bereitstellt.

Die Regierung Melonis ist klar ultrarechts und stellt eine große Bedrohung für Arbeiter_innen, Jugendliche, Migrant_innen, FLINTA und LGBTIA dar. Obwohl Meloni ihre politischen Wurzeln eindeutig im italienischen Faschismus hat, ist es, aufgrund der Abhängigkeit des hochverschuldeten Großkapitals von ausländischen Geldflüssen, aktuell unwahrscheinlich, dass sie Italien mit Unterstützung der Bourgeoisie in unmittelbarer Zeit in eine faschistische Diktatur verwandeln wird.

Versagen der Linken
Die linken Parteien haben allesamt einen riesen Fehler begangen: Nämlich in Zeiten der Krise in eine vom Kapital geführte Koalition gegangen zu sein. Dort hatten sie nichts zu melden und konnten nicht an die Streiks und Proteste auf der Straße anknüpfen. Sie trugen die Politik, die diese Proteste verursachten mit und haben sogar bei deren Kriminalisierung geholfen! Damit haben sie den Rechten das Feld überlassen und sich das Vertrauen der Bevölkerung verspielt.

So zum Beispiel beim Angriff auf die Gewerkschaften am 19. Juli 2022. Es gab Streiks im Logistiksektor gegen Arbeitsplatzverluste, niedrige Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen, sowie Blockaden von Waffenlieferungen in die Ukraine. Mehrere Gewerkschaftsfunktionär_Innen und führende Kräfte aus SI Cobas und USB wurden daraufhin festgenommen und Wohnungen durchsucht. Kurz zuvor hat die Regierung Draghi durch einen parlamentarischen Coup den großen  Logistikunternehmen völlige Straffreiheit für alle Lohndiebstähle bei ihren Zulieferbetrieben gewährt. Sie hat es legalisiert, den Lohn der Fahrer_Innen zu kürzen oder einzubehalten und den Schutz des Arbeitsplatzes im Falle von Vertragswechseln abgeschafft.

Dabei hatte Italien mal eine der größten und stärksten  Arbeiter_Innenbewegungen Europas! Leider ging diese in die linksliberale demokratische Partei und die Partei der „kommunistischen“ Wiedergründung über, die beide mit kapitalfreundlichen Regierungen gemeinsame Sache machten und so dabei halfen, neoliberale Reformen durchzusetzen.

Perspektive
Die italienische Linke muss aus ihren Fehlern lernen! Es braucht jetzt umso mehr eine unabhängige Position der Arbeiter_innenklasse ohne jegliche Einflüsse kapitalistischer Organisationen oder Parteien. Es braucht eine Einheit aller Organisationen der Arbeiter_innenklasse, welche die Forderungen der Arbeiter_Innen auffängt und den Kampf gegen Rechts organisiert.

Es muss gefordert werden:

– Ende der Sparmaßnahmen!

– Stoppt die Entlassung und passt die Löhne an die Inflation an!

– Vergesellschaftung der Energiekonzerne unter Arbeiter_innenkontrolle!

– Kein Cent, Kein Mensch für die Kriegsindustrie!

– Investitionen in Bildung, Gesundheit, Maßnahmen gegen den Klimawandel und Ausbau der öffentlichen Infrastruktur!

– Bleiberecht für alle! Stoppt die Abschiebung in außereuropäische Lager!

– Für demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees von sexistisch und rassistisch unterdrückten Menschen!

Diese Forderungen können nur gemeinsam erkämpft werden. Dafür braucht es kein ultralinkes Sektierertum, sondern Druck auf die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie. Nur gemeinsam können wir das Potenzial unserer Klasse nutzen und die Rechten vom Thron stoßen. Die kommende Regierung wird noch heftigere Angriffe auf die Arbeiter_Innenklasse durchführen und vor allem auch ihre Organisierung mit harten Mitteln zu verhindern versuchen. Zudem wurden durch die neue Regierung auch faschistische Gruppen ermutigt mit mehr Gewalt linke, rassistisch und sexistische unterdrückte Menschen anzugreifen, weil sie sich in ihrer menschenverachtenden Ideologie gestärkt sehen. Wir stehen in Solidarität mit den Revolutionär_Innen, Arbeiter_Innen und Unterdrückten in Italien! Auf zum internationalen Klassenkampf gegen Krise und Rechtsruck!

Bildquelle: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/parlamentswahl-italien-reaktionen-bw-100.html