15 Monate Genozid sind vergangen. Endlich hat Israel einem Waffenstillstand zugestimmt. Sowohl in den zerstörten Straßen Gazas feiern die Menschen, als auch im Westjordanland und in der Diaspora, mit all den Solidarischen. Und wir feiern auch, denn ohne Frage ist es ein Grund zu feiern, wenn sich das Morden für ein paar Wochen oder Monate abschwächt. Doch wir dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen: Nicht nur ist die Waffenruhe mehr als brüchig und kann von Seiten Israel jederzeit wieder zurückgenommen werden, sondern es ist auch lange nicht die Befreiung. Gaza liegt in Trümmern und bleibt belagert, das Westjordanland bleibt besetzt und gefährdet, die muslimische Minderheit in Israel bleibt entrechtet und entmündigt, die Diaspora bleibt die Diaspora ohne Rückkehrrecht. Wir müssen nun die Stärke der internationalen Solidaritätsbewegung nutzen, um nicht einfach nur zum Status Quo der Unterdrückung zurückzukehren.
Was beinhaltet das Abkommen?
Der Deal besteht aus drei Phasen, die jeweils 42 Tage andauern. Die erste Phase, die am Sonntag startete, konzentriert sich auf sofortige humanitäre Hilfe, den ersten Teil vom Geiselaustausch, und den Beginn vom Rückzug der israelischer Besatzungstruppen, der schrittweise erfolgt.
Die zweite und dritte Phase werden gerade noch verhandelt und stehen am 16. Tag der ersten Phase fest. Israel hat auch noch nicht bestätigt, dass nach der ersten Phase die Waffenruhe bestehen bleibt, die vermittelnden Länder des Abkommens, Ägypten, USA, Katar, drängen auf den Abschluss des Deals. Bekannt über die zweite und dritte Phase ist allerdings, dass eine dauerhafte und vollständige Waffenruhe beginnen würde, israelische Besatzungsgruppen sich komplett aus Gaza zurückziehen würden, die Grenzen, gesetzt wie vor dem 07. Oktober, geöffnet werden würden für Waren und Personenverkehr. Außerdem würden alle restlichen Geiseln ausgetauscht werden (inkl. Leichen) und der voraussichtlich 3-5 Jahre andauernde Wiederaufbau grundlegender Infrastruktur würde unter internationaler Aufsicht in die Gänge gesetzt werden.
Was danach passiert, ist weiterhin unklar. Israel, USA und verschiedene arabische Regime haben eigene Vorstellung, wie Verwaltung und Kontrolle von Gaza abläuft, von ihnen hängt letzten Endes der Waffenstillstand ab. Der ehemalige US-Außenminister Blinken schlägt eine Übergangsregierung unter einer „komplett reformierten palästinensischen Autonomiebehörde (PA)“ vor, mit finanziellen und technischen Hilfsmitteln von Westen. Seit Jahrzehnten fungieren die Palästinensische Autonomiebehörde und die Fatah faktisch als verlängerter Arm der Besatzung. Er drängt auch auf Einbindung von arabischen Staaten, mit Hoffnung auf politische Normalisierung zwischen Israel und Saudi Arabien, um Israel weiter zu legitimieren. Die PA selbst ist bereit, die volle Verantwortung für Gaza zu übernehmen.
Wie kam es zu dem Abkommen?
Wie immer hat auch die USA die Finger im Spiel. Sowohl Trump als auch Biden schreiben es jeweils auf ihre Kappe. Das Verhalten der USA in Bezug auf den Waffenstillstand zwischen Israel und Gaza muss sich jedoch als Ausdruck ihrer eigenen Interessen verstehen. Sie handeln dabei nicht aus Mitgefühl oder wegen eines Wunsches nach Frieden, sondern um die Macht und den Einfluss der USA in einer wichtigen Region der Welt zu sichern. Persönlich war es Trump wichtig, sich vor seinem Amtsantritt als „Deal-Maker“ präsentieren zu können, also als jemand, der schwierige Konflikte lösen kann. Außerdem wollte er das Thema Gaza vom Schreibtisch haben, um sich als Präsident auf andere Dinge konzentrieren zu können, zum Beispiel Transrechte in den USA abzuschaffen, Migrant:innen zu kriminalisieren oder die Reche der Arbeiter:innen abzubauen. Insgesamt präsentieren sich die USA durch die Vermittlung des Abkommens als zentrale Kraft im Nahen Osten und sichern sich eine starke Position für zukünftige Verhandlungen.
Die enge Zusammenarbeit mit Israel ist dabei von wichtiger Bedeutung. Für die USA ist Israel ein verlässlicher Partner, der unterstützt, ihre Interessen in der Region durchzusetzen. Gleichzeitig versuchen die USA, gute Beziehungen zu arabischen Staaten beizubehalten, um ein Gleichgewicht der Kräfte zu bewahren und mögliche Risiken für ihre eigenen Ziele zu verringern.
Auch wenn die USA geringer abhängig von den Rohstoffen der Region ist, bleiben diese Ressourcen entscheidend für die Weltwirtschaft. Wenn die Region stabil bleibt, profitieren die USA direkt, weil dies Investitionen und Handel erleichtert, von denen ihre Unternehmen profitieren. Schließlich versuchen die USA durch ihr Engagement zu verhindern, dass andere große Länder wie Russland oder China ihren Einfluss in der Region ausbauen. Die USA nutzt ihre Macht, um sicherzustellen, dass sie weiterhin eine führende Rolle spielt und ihre wirtschaftlichen und politischen Vorhaben in die Tat umsetzen können. Trumps Handeln zeigt, dass diese Politik nicht einfach um den Frieden willen geschieht, sondern weil sie langfristig den Interessen der USA dient.
Das Abkommen sorgt für eine Krise innerhalb der israelischen Regierung. Der Finanzminister Smotrich strebt die Annexion Westjordanland an und drohte am Sonntag, die Regierung zu stürzen, falls der Gazastreifen nicht dauerhaft besetzt wird. Er bezeichnete die Waffenstillstandsvereinbarung mit der Hamas als einen „sehr schweren Fehler“.
Zuvor hatte der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, den Austritt seiner Partei aus der Regierungskoalition nach dem Waffenstillstand mit der Hamas angekündigt. Trotz des Austritts von Ben-Gvirs Partei verfügt die Regierungskoalition weiterhin über 62 Sitze im 120-köpfigen Parlament.
Netanyahu selbst ist auch nicht begeistert von dem Deal, allerdings stand das Abkommen ohnehin an.
Kampf um Befreiung
Er sagte aber auch, dass er den Krieg gegen Gaza jederzeit wieder aufnehmen werde „falls nötig“. Das Risiko bleibt also bestehen, dass Israel sich nicht dran hält trotz der „Zusicherungen“ von Seiten der USA. Wie gerade auch im Libanon bricht Israel immer wieder Waffenruhen und diese beenden bloß die direkte Gewalt, anstatt der strukturellen Gewalt von Belagerung, Besatzung und Apartheid ein Ende zu setzten.
Die Unterdrückung ist mit einer Waffenruhe also nicht vorbei. Selbst wenn die “Zweistaatenlösung” realisierbar wäre, würde sie nur die bestehende Unterdrückung in eine neue institutionelle Form gießen. Daher treten wir innerhalb der Solidaritätsbewegung für die Perspektive einer sozialistischen Einstaatenlösung ein. Das ist nur realistisch, wenn der Kampf verbunden wird mit den sozialen und demokratischen Kämpfen im ganzen Nahen Osten, wie in Ägypten, im Libanon und im Irak. Ein sozialistischer Staat Palästina würde allen Geflüchteten die Rückkehr erlauben und würde allen Einwohner:nnen, egal welcher Religion, die gleichen Rechte garantieren. Dieses Ziel kann nicht in Verhandlungen mit imperialistischen Regierungen erreicht werden, sondern nur mit Methoden des Klassenkampfes.
Um eine fortschrittliche Rolle zu spielen, müssen die israelische Arbeiter:innenklasse und Jugend mit dem Zionismus brechen, seinen Krieg ablehnen und den palästinensischen Befreiungskampf unterstützen. Frieden wird nur möglich sein, wenn der unterdrückerische israelische Staat durch ein einheitliches, säkulares, demokratisches und sozialistisches Palästina im Rahmen einer regionalen sozialistischen Revolution ersetzt wird.
Hierfür öffnet sich gerade ein günstiges Fenster: Die Verhältnisse werden durch den Imperialismus gerade neu geordnet und es existiert bereits eine weltweite und fortschrittliche Bewegung, die sich für die Freiheit Palästinas einsetzt. Die Kampagnen für „Ceasefire now“ haben diese zusammengehalten, gewissermaßen als Abwehr der unmittelbarsten Angriffe. Nun geht es darum, in der Bewegung dafür zu kämpfen, dass wir uns nun offen für eine echte Befreiung einsetzen und uns nicht mit einer brüchigen Waffenruhe zufriedengeben, ohne die eigentliche Ursache des andauernden Genozids zu aufzulösen.
Wir fordern daher:
Keine Waffen für den Genozid! Stopp der diplomatischen, wirtschaftlichen, akademischen und militärischen Beziehungen zu Israel!
Freiheit für alle palästinensischen Gefangenen in Israel! Recht auf Rückkehr für palästinensische Flüchtlinge! Volle Gleichberechtigung!
Für einen säkularen, demokratischen und sozialistischen Staat in ganz Palästina, in dem alle Nationen in Frieden leben!
Nieder mit den arabischen Monarchien und kapitalistischen Regierungen! Für eine Föderation der Sozialistischen Republiken im Nahen Osten!
Gegen jede Abschiebung! Über Österreichs und Deutschlands rassistische Politik gegen syrische Geflüchtete
gemeinsames Statement der internationalen kommunistischen Jugendorganisation REVOLUTION, Januar 2025
Der Fall des Assad-Regimes war eine der wenigen guten Neuigkeiten des letzten Jahres. Aber selbst das lässt der Rechtsruck in Europa nicht einfach so stehen. Binnen weniger Tage verkündetete Österreich laufende Asylverfahren zu stoppen und Familienzusammenführung fürs Erste zu pausieren. In vielen anderen Ländern wurde es gleichgetan. Auch in Deutschland wurden Asylverfahren pausiert.
Mit populistischen Drohgebärden werden „Rückführungen“ vorbereitet und Personen mit Abschiebung gedroht. In Österreich haben syrische Menschen, die weniger als 5 Jahre hier sind Briefe bekommen, die ihr Asylanerkennungsverfahren einleiten. Das ist sogar laut UNHCR verfrüht. Asyl wird nur bei bewiesener individueller Verfolgung vergeben. Diese stand momentan bei den meisten vermutlich mit dem Assad Regime in Verbindung – und nach 5 oder mehr Jahren in einem anderen Land ist weitere Verfolgung und Gefährdung des Lebens quasi unmöglich zu beweisen.
Und was ist mit Menschen, die unter Gewalt, Bürgerinnenkrieg, Hunger und Armut leiden müssen? Haben diese kein Anrecht auf Asyl? Die Situation in Syrien ist mehr als unübersichtlich. Trotz der historischen Chance etwas neues aufzubauen und der Freilassung vieler politischer Gefangener, gibt es genug Fragezeichen und gefährliche Situationen. Wir haben kein Vertrauen in die HTS, die ihre eigene Agenda durchsetzen möchte und zeitgleich sehen wir Agressionen von Seiten der Türkei durch die SNA in den kurdischen Gebieten oder auch Israel. Trotzdem reden unsere Politikerinnen nur mehr von Abschiebungen.
Das zeigt einige Sachen auf: Erstens wie rassistisch diese Staaten sind, die in einer komplett unübersichtlichen Situation sofort auf Abschiebungen drängen. Zweitens wie unsauber ein Asylsystem ist, dass es Menschen nicht bedingungslos erlaubt vor Tod, Hunger, Krieg und Armut zu fliehen. Jeder Grund zu fliehen ist ein Grund genug um woanders Schutz zu finden!
Menschen sollten überall selbst entscheiden dürfen wie lange sie bleiben und auch ob sie zurückkehren!
Offene Grenzen und Staatsbürger*innenrechte für alle geflohenen Menschen, egal woher sie sind, oder was ihr Asylstatus ist. Menschen von demokratischer Entscheidung und Arbeit auszuschließen ist falsch – stattdessen kämpfen wir hier gemeinsam für demokratische Rechte und gegen unsere Regierungen, die überhaupt kein Interesse am Schicksal der syrischen Bevölkerung haben.
Statement zum Centro Rauswurf: Das Elend der deutschen Linken
von REVOLUTION Hamburg, November 2024
Diesen Mittwoch wurden wir aus unseren Räumen im Centro Sociale geworfen, weil wir das Recht von Palästinenser:innen auf Widerstand anerkennen.
Was ist passiert? Die Entscheidung des Hauses fiel auf einem Plenum, bei dem der Großteil der im Centro arbeitenden Gruppen vertreten war. Auslöser dafür war eine Diskussionsveranstaltung mit dem Titel: „Ein Jahr Ausbruch aus Gaza. Wie erkämpfen wir die Befreiung in Palästina?“ Diese hatten wir letzten Monat im Rahmen unseres Plenums abgehalten.
Im Ankündigungstext und auf der Veranstaltung haben wir uns solidarisch mit dem palästinensischen Widerstand gezeigt. Wir haben deutlich gemacht, dass Angriffe auf Zivilist:innen abzulehnen sind, dass es aber legitim ist, den Grenzzaun einzureißen, der für zwei Millionen Menschen in Gaza eine Gefängnismauer darstellt. Es ist gerechtfertigt, eine Armee anzugreifen, die seit ihrer Entstehung gezielt Palästinenser:innen vertreibt und tötet. Ziel der Veranstaltung war es, auf dieser Grundlage über die Strategie des palästinensischen Befreiungskampfes zu diskutieren. Dabei haben wir uns für den Aufbau einer unabhängigen revolutionären Arbeiter:innenpartei starkgemacht.
Dafür wurden wir nun rausgeworfen.
Die Mehrheit der Gruppen im Centro Sociale macht uns zwei Vorwürfe:
1. Wir hätten das Vertrauen anderer Gruppen gebrochen, weil wir eine Veranstaltung zum Thema Palästina durchgeführt haben.
Auf unseren Ortsgruppentreffen bieten wir jede Woche Vorträge und Diskussionen an – und das schon seit über zwei Jahren. Wie wir uns zum palästinensischen Befreiungskampf positionieren, haben wir in unserem offen einsehbaren Programm und seit fast 2 Jahrzehnten in etlichen Artikeln niedergeschrieben (z.B. hier ein Artikel aus 2006). Positionen zum 7. Oktober sind seit letztem Herbst auf unserer Website und auf Instagram nachzulesen. In einem linken Zentrum müssen wir in der Lage sein, unsere Politik machen zu können, wir verlangen von anderen Gruppen auch nicht, bei ihrer Arbeit auf unsere Inhalte Rücksicht zu nehmen. Die Anschuldigung des Vertrauensbruchs dient lediglich als Vorwand für den eigentlichen Vorwurf:
2.Unsere Position sei antisemitisch.
Der wahre Grund für den Rauswurf liegt an unseren Inhalten: Kein anderes Diskussionsthema mussten wir uns jemals vom Centro erlauben lassen. Dem Widerstand ein antisemitisches Motiv anzudichten, ist eine Frechheit. Die Palästinenser:innen wehren sich nicht, weil ihre Unterdrücker:innen jüdisch sind, sie wehren sich, weil es ihre Unterdrücker:innen sind. Die Gleichsetzung des Staates Israel mit allen Jüd:innen ist selbst antisemitisch, denn damit werden Siedlungskolonialismus und Genozid zu jüdischen Eigenschaften erklärt. Wir werden uns nicht zensieren lassen oder unsere Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand brechen, weil irgendwelche Deutschen damit ein Problem haben.
Warum vertreten wir diese Position?
Alle Unterdrückten haben das Recht, sich gegen ihre Unterdrückung zu wehren. Die Frage danach, wer wen unterdrückt, ist eindeutig geklärt: Israel ist kein ums Überleben kämpfender „Safe Space für Jüd:innen“, der auf die Unterstützung von deutschen „Linken“ angewiesen wäre. Das zionistische Projekt ist ein hochgerüsteter Kolonialstaat, bei dem ethnische Säuberungen von Anfang an zum Repertoire gehörten. Deswegen sehen wir die Angriffe auf den Grenzzaun und andere militärische Einrichtungen am 7. Oktober als legitim an.
Für den Widerstand gegen Kolonialismus, Krieg und Genozid haben wir nicht nur Verständnis, wir unterstützen ihn bedingungslos. In Gaza haben vor dem Beginn des Genozids 2 Millionen Menschen zusammengepfercht auf engstem Gebiet gelebt. Die Bevölkerung war sehr jung und als Folge der Nakba oft seit mehreren Generationen Geflüchtete. Gaza stand unter israelischer Blockade: so gut wie jedes wirtschaftliche Leben wurde unterbunden, es herrschten hohe Arbeitslosigkeit und entsprechendes Elend in der Bevölkerung. 80% der Bevölkerung waren auf humanitäre Hilfe angewiesen. Diese Menschen hatten jedes Recht, ihre Gefängnismauern einzureißen!
Und was ist mit der Hamas?
Einige werden uns jetzt vorwerfen, dass wir die Taten der Hamas nicht gutheißen können. Ja, die Hamas ist reaktionär, und sie wird kein befreites Palästina erkämpfen. Aber zurzeit ist sie die größte Kraft im palästinensischen Widerstand. Da wir kein Vertrauen in imperialistische „Kompromisslösungen“ und „Friedensabkommen“ haben, stellt der aktuelle Widerstand eine entscheidende Kraft im Kampf für ein freies Palästina dar. Deswegen setzen wir uns für linke Positionen und eine revolutionäre proletarische Führung dieser Befreiungsbewegung ein.
Dabei ist es wichtig, als linke bzw. proletarische Kräfte unabhängig von der Hamas und anderen bürgerlichen Kräften zu bleiben und deren Ideologie und Strategie zu kritisieren. Die Unterstützung des Widerstandes und die Kritik an ihrer Führung sind für uns kein Widerspruch, sondern gehören zusammen. Dass der Widerstand derzeit von Islamist:innen angeführt wird, bedeutet nicht, dass damit das Recht der Palästinenser:innen verfällt, sich zu wehren.
Das Elend der deutschen Linken
Die Mehrheitsposition im Centro steht exemplarisch für große Teile der deutschen Linken: Selbst nach über einem Jahr Genozid sind sie davon überzeugt, dass die Situation „zu kompliziert“ sei, um sich eine eindeutige Meinung zu bilden. Den rassistischen Hetzkampagnen der bürgerlichen Medien wird unhinterfragt Glauben geschenkt. Aus hohlen Phrasen wie „Solidarität mit der Zivilbevölkerung“ oder „Gegen Netanjahu und Hamas“ folgt keine politische Forderung oder Aktivität und dient angesichts von Hunderttausenden Toten in Gaza nur dazu sich nicht den politischen und moralischen Bankrott einzugestehen.
An unserem Rauswurf zeigt sich, dass solche Kräfte sich lediglich im Wortlaut solidarisch erklären. Sobald die vielbeschworene Zivilbevölkerung anfängt, sich zu wehren, wird die Solidarität untersagt. Die falsche Gleichsetzung von Unterdrücker:innen und Unterdrückten ist zahnlos und bringt den leidenden und kämpfenden Palästinenser:innen nichts. Stattdessen hält sie dem deutschen Staat mit seiner Staatsräson und Komplizenschaft den Rücken frei. Indem linken, palästinasolidarischen Gruppen die Räume entzogen werden, reiht das Centro sich in die Repressionen des Staates ein. Während Hunderttausende sterben, bleiben diese Gruppen untätig und klopfen sich dafür noch auf die Schulter. Damit stellen sie sich dem Aufbau einer Bewegung in den Weg, welche Waffenlieferungen und die politische Unterstützung der Massaker durch die BRD stoppen könnte und so den Menschen vor Ort wirklich hilft. Die Mehrheit des Centros erledigt hier in der Manier eines Hilfssheriffs die Arbeit des deutschen Staates.
Jugendunterdrückung und Bevormundung
In der Diskussion kam es außerdem zu paternalistischem Verhalten von einzelnen Mitgliedern des Centros. Wir seien mit Abstand die jüngste Gruppe dort, deshalb müsse man uns einfach beibringen, auf welchem Irrweg wir Jugendlichen seien. Diese Leute sprachen sich gegen den Rauswurf aus, weil er die „falsche pädagogische Maßnahme“ sei. Das zeugt von Arroganz und Jugendunterdrückung. Diese Leute vertreten selbst eine uninformierte, kleinkarierte und den bürgerlichen Staat unterstützende Position und sind in keiner Lage, uns belehren zu können! Als Jugendliche vertreten wir stolz unsere Positionen und diskutieren gerne mit anderen, aber nur auf Augenhöhe! Dafür wäre unsere Diskussionsveranstaltung der passende Ort gewesen.
Wer die Welt zum Positiven verändern will, muss das Recht aller Unterdrückten auf Widerstand anerkennen. Es wird Zeit, dass die Mehrheit der deutschen Linken das versteht.
Von Hamburg bis nach Gaza – Yallah Intifada!
Ein Jahr Krieg in Gaza: Wie erkämpfen wir Frieden im Nahen Osten?
von Dilara Lorin, November 2024
Die Situation im Nahen Osten spitzt sich weiter zu. Laut palästinensischen Gesundheitsbehörden liegt die Zahl der Todesopfer inzwischen bei mehr als 43.000, darunter über 16.700 Kinder. Über 200.000 Menschen starben infolge des Krieges. Die Lage ist verheerend: Mehr als 70 % des Gazastreifens wurden dem Erdboden gleichgemacht und sind aktuell nicht mehr bewohnbar. Dabei hat Israel klargemacht, dass es nicht an den Grenzen Gazas oder der Westbank haltmacht – die letzten Wochen waren geprägt durch Bombenangriffe auf den Libanon, den Iran, den Jemen und Syrien. Der befürchtete Flächenbrand ist damit bittere Realität geworden.
Die Attacke der israelischen Armee im Libanon sorgte international für Schlagzeilen und gilt als völkerrechtswidrig und inakzeptabel. Diese Attacke stellte den Anfang von mehreren Angriffen auf den Libanon dar, bei denen aktuell bis zu 4.000 Menschen starben und Hunderttausende auf der Flucht sind. Die aktuelle Offensive, bei der die Errichtung einer „begrenzten“ Besatzung umgesetzt werden soll, lässt Grausames erahnen. Eine derartige Offensive für Syrien scheint aktuell in Planung zu sein.
Derzeit ist keine Aussicht auf Frieden oder ein Waffenstillstandsabkommen erkennbar, insbesondere seit der Ermordung des Hamas-Führers Haniyya in Teheran. Die gezielte Tötung von Hamas-Führern kann als bewusste Provokation eines möglichen Krieges mit dem Iran interpretiert werden.
Innerhalb und auch außerhalb Israels rechtfertigen Medien und Politik diese Barbarei mit dem Andenken an die Opfer des 7. Oktober. Deutschlands bedingungslose Solidarität mit Israel wird nicht nur zur Staatsräson erklärt, sondern zeigt, wie eng Krieg und Vertreibung mit den Interessen des westlichen Imperialismus verbunden sind.
Was steckt hinter der mörderischen Ausweitung?
In Israel selbst ist seit fast zwei Jahren eine rechtsgerichtete Regierung an der Macht, wobei vor allem der rechtsextreme, teilweise faschistische Flügel die Genozidfantasie verwirklichen und Krieg führen will, bis eine vollständige Säuberung Palästinas stattgefunden hat. Es bestehen enge Verbindungen zu rechtsextremen Siedler:innen, die den illegalen Siedlungsbau immer weiter vorantreiben und ein freies Palästina faktisch unmöglich gemacht haben. Während innerhalb Israels verschiedene Demonstrationen gegen die immer autoritärere und rechter werdende Regierung stattfinden, ohne das Leid der Palästinenser:innen zu thematisieren, entgeht die Regierung dem durch Aggression und Eskalation gegen den Iran, den Libanon und den Jemen. Diese dienen dazu, die Mehrheit der israelischen Bevölkerung wieder auf Linie zu bringen und den Fokus auf die Verteidigung Israels zu lenken. Dabei zeigt sich seit Jahren: Solange die jüdische Arbeiter:innenklasse Israels nicht mit dem rassistischen Zionismus bricht, ist sie unfähig, der Rechten Parole zu bieten, bleibt politisch ohnmächtig und toleriert oder unterstützt gar die genozidale Politik.
Ein weiterer Aspekt hinter der Ausweitung des Krieges sind die westlichen Verbündeten Israels, die hinter Israel stehen. Auch wenn sie von Zeit zu Zeit zu einem gemäßigteren Vorgehen auffordern, ein wirklicher Entzug der Unterstützung folgt nicht, weil er letztlich nicht in ihrem Interesse liegt. Denn Israel dient dazu, die Interessen der imperialistischen Staaten im Nahen und Mittleren Osten zu verteidigen und wird gleichzeitig als Stützpunkt präsentiert. So ist die Bundesrepublik ein starker Verbündeter Israels und aktuell zweitgrößter Waffenlieferant und hält damit die Kriegsmaschinerie am Laufen. Allein 2023 genehmigte die Ampelkoalition Rüstungsgüter im Wert von 326,5 Millionen Euro an Israel. Im ersten Halbjahr 2024 sanken die Exporte zwar auf 45,74 Millionen, doch allein seit August wurden weitere Rüstungsgüter im Wert von 94,05 Millionen bewilligt.
Betrachtet man einige Staaten des Nahen Ostens – Saudi-Arabien, Ägypten, Katar oder die Türkei –, wird deutlich, dass ihre Reaktionen auf den Genozid sich lediglich auf Protestresolutionen gegen die zionistische Aggression beschränken. Es wird deutlich, dass auch diese Staaten kein Interesse am Leid der Palästinenser:innen haben, denn diese Staaten bauten noch vor dem 7. Oktober die wirtschaftlichen sowie politischen Verbindungen zu Israel aus. Auch der Iran und die Hisbollah machen deutlich, dass sie kein Interesse an einem militärischen Gegenschlag und daran haben, dadurch selbst tiefer in die Krise hineingezogen zu werden.
Trotz dieser ungünstigen internationalen Verhältnisse leisten die Massen in Gaza und der Westbank bis heute heroischen Widerstand gegen Besatzung und Vertreibung. Aber sie stehen angesichts der Offensive scheinbar übermächtiger Gegner:innen mit dem Rücken zur Wand.
Was können wir dagegen tun?
Die weltweite Solidaritätsbewegung hat im vergangenen Jahr demonstriert, welche organisatorischen Fähigkeiten sie besitzt, gleichzeitig aber auch ihre Grenzen aufgezeigt. Wir stellen fest, dass die Bewegung gegenwärtig in einer Defensive ist, obgleich an zahlreichen Schauplätzen positive Aktionen stattfinden, die einer weiteren Verbreitung bedürfen. Tausende Studierende haben ihre Universitäten besetzt und sich gegen eine Forschung für den Genozid sowie gegen Verbindungen der Universitäten mit Israel ausgesprochen. Hafenarbeiter:innen in Italien und in Griechenland haben das gesamte Jahr über in verschiedenen Häfen Schiffe bestreikt, die Munition und anderes nach Israel verschiffen sollten. Weltweit kam es zu Massendemonstrationen, trotz repressiver Polizei und des repressiven Staatsapparats in den jeweiligen Ländern. Selbstverständlich könnten an dieser Stelle noch zahlreiche weitere Aktionen Erwähnung finden. Dabei ist für uns klar, dass wir im Hier und Jetzt für eine sofortige Waffenruhe, den Rückzug der israelischen Armee und die Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen ohne jegliche Kontrolle und Bedingungen durch die Besatzungsmacht kämpfen müssen. Wir wissen, dass es nicht ausreicht, nur über eine (dauerhafte) Waffenruhe zu reden, da diese zwar Milderung schafft, aber nicht die Unterdrückung und Gewalt beenden wird, der die palästinensische Bevölkerung ausgesetzt ist. Um aber ein freies Palästina erkämpfen zu können, müssen die Proteste sich ausbreiten und aktiver in den Konflikt eingreifen.
Dabei kommt der arabischen Arbeiter:innenklasse vor allem in den umliegenden Ländern eine wesentliche Rolle zu. Denn diese sind mit der Herausforderung konfrontiert, gegen ihre eigenen herrschenden Regime zu kämpfen, die zwar Solidarität vorheucheln, jedoch den palästinensischen Befreiungskampf verraten, sobald die eigene Position im imperialistischen Weltgefüge gefährdet ist. So hätte Ägypten die Möglichkeit ergreifen können, den Suezkanal zu blockieren, der als einer der weltweit wichtigsten Knotenpunkte für den Warentransport gilt. Dadurch hätte das Land den Druck erhöhen können, um eine Waffenruhe und die Öffnung der Grenzen zu erreichen. Dies würde jedoch zu offenen Konflikten mit der EU und den USA führen. Letzten Endes hat keines der Länder oder Kräfte, bis auf die Huthis im Jemen, wirkliche Angriffe auf die militärische Präsenz unternommen. Denn schlussendlich würde ein freies, sozialistisches Palästina auch das Ende der eigenen Regime bedeuten. Um die Kampfkraft zu verstärken, sind die mehr als 6 Millionen palästinensischen Geflüchteten eine Schlüsselkraft, um den Kampf gegen die arabischen Regime mit dem für ein freies Palästina verbinden zu können. Anfangsforderungen können dabei gleiche Löhne und demokratische Rechte für alle sein. Eine revolutionäre Bewegung in Palästina und in den umliegenden arabischen Staaten ist zugleich auch entscheidend, um die klassenübergreifende Einheit im zionistischen Staat aufzubrechen. Je stärker der Kampf gegen die imperialistische Ordnung und Besetzung, umso eher werden Teile der jüdischen Arbeiter:innenklasse in Israel ihr Vertrauen in den rassistischen Staat verlieren und für den Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden. Dann hat die Stunde der Revolution geschlagen.
Der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren kommt dabei die Rolle zu, eine Bewegung aufzubauen, die sich gegen die konkrete Kriegsunterstützung ihrer Regierungen richtet. Denn ihre Staaten sind es, die die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Dabei sind Forderungen nach einem Stopp aller Waffenlieferungen zentral, um Gewerkschaften und große Teile der Arbeiter:innen dafür zu gewinnen. Eine solche Bewegung würde nicht nur revolutionäre, internationalistische Kräfte, sondern auch gewerkschaftliche, reformistische oder kleinbürgerliche umfassen. Wir müssen in diesen Staaten gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie kämpfen. Des Weiteren ist es notwendig, dem antipalästinensischen Rassismus sowie der antimuslimischen Hetze, die massiv zugenommen hat, den Kampf anzusagen. Denn diese dient neben der Spaltung der Arbeiter:innenklasse und der Überwachung im eigenen Land unter anderem dazu, die Militärinterventionen gegen Palästina, Libanon, Syrien, Jemen und den Iran zu rechtfertigen. Wir sagen klar: Hände weg von diesen Ländern! Stoppt die Ausbreitung des Kriegs!
Für uns ist der palästinensische Befreiungskampf kein Selbstzweck. Das stetige Morden und die anhaltende brutale Unterdrückung mögen zeitweilig die Hoffnung rauben, aber die Geschichte ist nicht zu Ende geschrieben. Der Kampf für ein befreites, sozialistisches Palästina ist notwendig für alle Palästinenser:innen, die dort leben, für alle Palästinenser:innen, die zurückkehren wollen – und für all jene, die durch die Fesseln des Imperialismus erdrückt werden.
Israels Aggression in der Schule entgegenstellen!
Von Flo Weitling, 1. Oktober 2024
Seit dem brutalen Terror der Pager-Anschläge auf den Libanon vor zwei Wochen, eskaliert Israel den Krieg gegen die libanesischen Bevölkerung immer weiter. In den letzten Tagen wurden durch die Bomben der IDF mehr als tausend Menschen ermordet, mehr als eine Million sind auf der Flucht. Heute Nacht erst begann Israel mit einer Bodeninvasion die noch weiteres Elend mit sich bringen wird!
Die brutalen Bilder, die man in den sozialen Medien sieht, die Zunahme von Toten und Vertriebenen reißen uns alle mit und wir verspüren eine unendliche Trauer und Wut und viele fühlen sich unfähig dazu, irgendetwas dagegen zu unternehmen. Doch das muss nicht so sein! Wir können mehr schaffen, als wir vielleicht erst denken!
Was tun?
Dein erster Impuls, wenn du dir überlegst, was du als nächstes tun kannst, ist vielleicht auf Instagram oder TikTok etwas zu posten, um zu zeigen, dass du dich mit den Menschen im Libanon, Gaza, der Westbank und auch in Jordanien und im Yemen solidarisierst. So weit so gut, doch auch wenn Aufmerksamkeit auf dass Thema wichtig ist, um z.B. die Grundlage für Diskussionen zu legen und Klarheit gegenüber der Propaganda der Herrschenden zu schaffen, wird dass alleine nicht reichen.
Am nächsten Tag in der Schule tauschst du dich dazu mit deinen Mitschüler:innen aus und deine Lehrer:innen machen Kommentare im Unterricht, auf dem Pausenhof gibt es vielleicht sogar Diskussionen über die derzeitige Situation. Die meisten sind wahrscheinlich bestürzt von dem Terror und der Gewalt, haben vielleicht sogar Angst um ihre eigene Familie oder fühlen sich stark verunsichert in einer Welt, in der immer mehr Kriege stattfinden. Auch wenn sich nicht alle gegen den Krieg stellen werden, gibt es dir genau da einen Anhaltspunkt, um etwas zu verändern.
Denn selbst wenn die Gespräche mit deinen Mitschüler:innen dir vielleicht nicht als wichtig erscheinen oder als könnten sie irgendwas bewirken, tausende Jugendliche werden genau die selben Gespräche mit ihren Mitschüler:innen führen, werden sich genauso hilflos fühlen, werden sich auch fragen, wie man vielleicht doch etwas machen kann.
Wir alle müssen jeden Tag dorthin gehen, wo das kapitalistische System unseren aktuellen Platz sieht, sei es die Schule, die Universität, die Ausbildungs- oder Arbeitsstelle. Nicht nur wir selber, auch die Menschen um uns herum sind dazu gezwungen, sich dort aufzuhalten. Das klingt vielleicht unnötig überhaupt anzumerken, doch in dieser Realität liegt enormes Potenzial. Denn indem wir uns dort eh aufhalten müssen, bieten unsere Alltagsorte die Möglichkeit uns direkt zu vernetzten, in Kontakt zu kommen mit Menschen über die Probleme in der Welt, wie z.B. dem Genozid in Gaza und die Aggression im Libanon. Und auch darüber zu sprechen, wie wir doch etwas verändern können! Dabei kannst du deine Mitmenschen von deiner Position überzeugen und von dort aus lokale Probleme aufgreifen. Vielleicht unterstützen deine Lehrer:innen den Terror der israelischen Armee oder die Schulleitung verbietet, dass du dich mit den Opfern des Genozids solidarisierst oder sogar einfach das Tragen einer Kufiya. All das sind Sachen, gegen die man sich vor Ort zusammen tun kann, gegen die man ankämpfen kann!
Das geht natürlich nicht immer leicht und reibungslos. Meist fühlt man sich auch erst einmal alleine mit seiner Meinung und denkt die ganze Welt arbeitet gegen einen. Aber durch das Verteilen von Flyern, das Aufhängen einer Wandzeitung oder eines Banners, kannst du herausfinden, wer alles deine Ansichten teilt. Lädst du gleich noch zu einem Treffen ein, und sei es einfach nur in der ersten großen Pause am Basketballkorb, kannst du direkt mit den Menschen darüber reden, wie ihr gegen die Probleme an der eigenen Schule vorgehen könnt.
Doch worin liegt da jetzt Potenzial?
Die Frage ist natürlich berechtigt, weil niemand wird die isrealische Armee durch den Kampf gegen das Kuffiya-Verbot oder einen rassistischen Lehrer an deiner Schule direkt stoppen. Doch was man durch diese lokalen Kämpfe schafft, ist es, sich zusammenzufinden. In einer Welt in der uns beigebracht wird, wir wären alleine.
Wenn ihr euch nämlich gemeinsam an eurer Schule in einer Gruppe oder Komitee organisiert, könnt ihr euch nicht nur gegen die Strafen der Lehrerkräfte und Schulleitungen wehren und was an eurer eigenen Schule reißen, sondern schafft damit eine Kraft, die einen Teil dazu beitragen kann, grundlegend etwas zu verändern, indem ihr voneinander lernt und unpolitisierte Menschen gewinnt. Denn wenn ihr diese Gruppen habt, könnt ihr gleich gemeinsam zu der nächsten Solidaritätskundgebung oder Demonstration gehen, oder wenn es bei euch in der Stadt keine gibt, diese selber organisieren!
Wenn ihr dann noch eure Freund:innen an anderen Schulen überzeugt dasselbe zu tun, schafft ihr eine Verankerung, eine Struktur, um noch mehr zu erreichen. Darüber hinaus kann man sich vernetzten und bei der nächsten Aktion gegen Ungerechtigkeit an der eigenen Schule, die anderen gleich mit einladen. So baut man, langsam aber sicher, immer mehr Druck auf.
Doch auch wenn dass schon ein guter Schritt ist, wird die Vernetzung von ein paar Schulen leider auch nichts Gravierendes bewirken. Viel mehr müssen wir dafür eintreten, dass die Jugend im ganzen Land sich zusammentut und an ihren Schule gegen die Probleme vor Ort eintritt und so eine bundesweite Struktur schafft, die sich gegen die Ungerechtigkeit insgesamt wehren kann.
Wenn wir dann aber weiter gehen wollen, brauch es in der Tat noch mehr als nur die Vernetzung. Es braucht einen Plan. Eine Strategie, wie man mit den Komitees an den Schulen sich verbünden kann mit den Student:innen und Arbeiter:innen, welche in der Zwischenzeit hoffentlich dasselbe getan haben. Wenn nicht, ist es an uns auch diese anzustoßen sich zusammenzutun! Wir müssen dabei schauen, über welche Hebel wir etwas erreichen können, denn die Welt ist international vernetzt und auch wenn der Krieg weit weg scheint, hängt dieser mehr mit der deutschen Wirtschaft und ihrem Staat zusammen, als man denkt.
Deutsche Waffen Deutsches Geld
Die BRD ist einer der größten Waffenlieferanten für die israelische Armee und unterstützt die zionistische Besatzung auch darüber hinaus durch Vertuschung und Rückendeckung für Israels Taten, indem sie versucht, Protest hier niederzuhalten und Protestierende zu diffamieren, einzusperren und zu terrorisieren. Das zeigten uns erst jüngst die Hausdurchsuchungen, Angriffe auf Demonstrationen und Grenzkontrollen von Aktivist:innen.
Wenn wir uns gegen diese Unterstützung der BRD für Israel, gegen ihre Angriffe auf unsere Bewegung, stellen und durch Streiks den Druck auf die Regierung erhöhen, können wir es schaffen diese Unterstützung zu brechen. Können wir die Regierung, wenn sie auf unsere Forderungen nicht eingeht, durch Blockaden und Besetzungen zum Bruch zu zwingen! Somit schaffen wir es dann, der Kriegsmaschinerie Israels einen herben Schlag zu verpassen und potentiell die libanesischen und palästinensischen Menschen vor Ort vor dem Tod durch die Bomben der IOF zu schützen! So können wir den Widerstand gegen Angriffskrieg und Besatzung stärken, und einen strategischen Sieg gegen einen der engsten Verbündeten Israels erringen!
Es mag so wirken als wäre das in unendlich weiter ferne und wir wollen euch nicht belügen, der Weg ist nicht leicht und er wird steinig sein. Gleichzeitig sind wir aber davon überzeugt, wenn wir ihn mutig und entschlossen beschreiten, diese notwendigen Schritte hier gehen, dann können wir ihn erfolgreich beschreiten, dann können wir siegen!
International oder gar nicht!
Natürlich hast du Recht, wenn du jetzt sagst, dass selbst dieser Sieg, das Wegfallen der Unterstützung Deutschlands, Israel nicht stoppen wird. Es ist, und das muss uns klar sein, von Anfang an notwendig, uns mit unseren Geschwistern auf der ganzen Welt über Grenzen hinweg zusammenzutun und den Kampf gemeinsam zu führen! Doch wenn wir dass tun, ist es nicht nur möglich unser Ziel zu erreichen Israel zu stoppen und den Genozid zu beenden. Wir kommen auch einen entscheidenden Schritt näher daran, die Herrschenden aller Länder zu stürzen und den Weg zu ebnen für eine Welt, in der es nie wieder Kriege, nie wieder Genozide gibt! In der wir nicht mehr geknechtet werden, in der niemand mehr geknechtet wird! In der die Ausgebeuteten und Unterdrückten das Sagen haben und die Gesellschaft nach den Wünschen aller und nicht den Profiten weniger gestaltet wird!
Das alles klingt sehr viel, das ist uns wohl bewusst, doch soll es dir auch erst mal nur die Richtung zeigen. Das wichtigste ist es, dass wir jetzt anfangen und darauf hinarbeiten, diese Möglichkeiten zur Realität werden zu lassen! Wir verstehen voll und ganz, dass die ersten Schritte das anzugehen schwierig sind. Deswegen wollen wir dich unterstützen genau dass zu tun! Schreib uns dafür einfach eine Nachricht und lass uns darüber reden, wie du dich an deiner Schule und wir uns gemeinsam für eine bessere Welt organisieren können!
Terrorstaat Israel: Hände weg vom Libanon!
von Flo Weitling, September 2024
Israel greift den Libanon an: am 20. September durch Bomben auf Beirut, davor durch welche, die in Pagern und Walkie-Talkies versteckt waren. Ein offener Akt des Terrors, der die Eskalation von Israels Krieg gegen Gaza hin zu einem regionalen Flächenbrand billigend in Kauf nimmt und hunderten Menschen schon jetzt das Leben gekostet hat.
Die Manipulation der Pager zu Sprengsätzen forderte 37 Tote und über 3.000 Verletzte, die am 17. und 18. September durch die Explosionen getroffen wurden, darunter auch zwei Kinder. Pager, also Kommunikationsgeräte, werden zwar von den meisten Menschen nicht genutzt, sind jedoch im militärischen und medizinischen Bereich Alltag. Diese wurden höchstwahrscheinlich durch den israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad vor dem Kauf tödlich präpariert. In jedem Fall passt diese Attacke klar zum jüngst verkündeten strategischen Ziel der israelischen Regierung, nun den Kampf auf den Libanon zu konzentrieren, um „den Norden wieder bewohnbar zu machen“. Dazu führt die zionistische Militärmaschinerie faktisch einen Präventivkrieg gegen die Hisbollah und den Libanon, dem primär Zivilist:innen zum Opfer fallen.
Statt sich mit dieser Realität zu konfrontieren, schwafeln jedoch zionistische Hetzer:innen davon, dass es gezielte Angriffe auf Militante der Hisbollah gewesen wären. Wenn sie der Wahrheit dann doch ins Auge schauen, kommen sie jedoch zu dem Entschluss, dass es die Menschen durch ihren Kontakt zur Hisbollah ohnedies verdient hätten zu sterben. So schaffen sie es, erneut immenses Leid als Kollektivbestrafung zu legitimieren.
Auch die bürgerliche „Qualitätspresse“, die ansonsten gern mit Humanismus und Demokratie hausieren geht, bekundet dem Terror ihre Anerkennung. So schreibt Der Spiegel am 17. 9. von einer „raffinierten Attacke“. So schnell kann der Ton wechseln bei Berichten über Terror, trifft ja anscheinend diesmal die Richtigen. Mit ihrer Reaktion hat sich die Mehrheit der Journalist:innen der westlichen Welt ein weiteres Mal entlarvt. Ihnen geht es, ganz wie „ihren“ Regierungen und Staatsapparaten, nicht um Sicherheit, das Leben von Zivilist:innen oder Terrorbekämpfung. Sie zeigen wie schon zu oft davor, dass ihre Motive die Verteidigung von Apartheid, Mord, Folter und Genozid auf dem Rücken der palästinensischen sowie libanesischen Bevölkerung sind!
Um 5 Uhr morgens am 20. September legte die israelische Luftwaffe noch eine Schippe drauf. In den schwersten Angriffswellen seit dem Beginn der Auseinandersetzung im Oktober attackierte sie Raketenabschussrampen der Hisbollah. Am Nachmittag erfolgten dann noch weitere Attacken auf Beirut, bei denen ein hochrangiger Kommandeur der Miliz und zwölf weitere Menschen gestorben sind. Bis zum 21. September starben 31 Menschen aufgrund des Bombardements.
Zuspitzung der Lage
Schon seit Oktober 2023 gibt es zwischen Hisbollah und Israel gegenseitige Beschüsse, wenn jedoch in begrenztem Ausmaß. Im Sommer spitzte sich die Situation bereits einmal zu und barg das Potenzial, sich zu einem Flächenbrand zu entwickeln. Schon damals kalkulierte Israel, dass die Hisbollah einen vollen Krieg noch mehr fürchtet als der zionistische Staat, so dass die begrenzte Eskalation zu keiner qualitativen Veränderung der Lage führte. Doch wir sollten und können uns hier nicht in Sicherheit wiegen.
Denn auch wenn das Essentielle der Strategie der zionistischen Regierung deren Machtdemonstration ist, kann sich diese auch schnell in einem offenen Krieg ausdrücken. Der nun seit fast einem Jahr andauernde Genozid an den Palästinenser:innen in Gaza beweist uns das mehr als deutlich. Mit über 40.000 Toten, fast 2 Millionen Vertriebenen sowie der Zerstörung von 70 % des Streifens beweist Israel praktisch die Fähigkeit und den Willen zu expandieren, zu vertreiben und die Kontrolle über seine Besatzung zu behalten. Dass es vertreiben kann, hat es auch schon dem Libanon gezeigt, als es 2006 fast eine Millionen Libanes:innen zur Flucht zwang.
Israel geht es nicht um den Schutz von jüdischem Leben, Selbstverteidigung oder sonstige ideologische Verkleidungen, durch welche es seine reaktionäre Propaganda verbreitet. Ihm geht es darum, die eigene Position im Nahen Osten weiter zu festigen und die palästinensische Bevölkerung aus Gaza und auch der Westbank zu vertreiben. Daher wird der Krieg ständig weiter verschärft. Auch wenn die USA und die EU eine Befriedung der Lage in Gaza und im Nahen Osten zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorziehen würden, so stehen sie fest an der Seite Israels, weil das Land einen zentralen Vorposten der imperialistischen Ordnung, einen Brückenkopf des westlichen Imperialismus in Nahost darstellt.
Was braucht es jetzt?
In den bürgerlichen Medien, von Regierung, bürgerlicher und rechter Opposition im Bundestag wird der bewaffnete Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah geradezu auf den Kopf gestellt und zum Krieg zwischen „Demokratie“ und „Islamismus“ verklärt. Selbst Teile der Linken machen sich diese imperialistische Lüge zu eigen. Andere wiederum betrachten die Konfrontation als eine zwischen zwei, gleichermaßen reaktionären Kräften.
Doch auch das verkennt den Kern der Sache. Es handelt sich um einen bewaffneten Konflikt und möglichen Krieg zwischen einem Unterdrückerstaat, der auf der Vertreibung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes beruht und gleichzeitig die Rolle eines politischen Gendarmen für den westlichen Imperialismus erfüllt, gegen eine Kraft – in diesem Fall den Libanon und die Hisbollah, die als Gegner:innen dieser Ordnung betrachtet werden. Es geht nicht um Selbstverteidigung, sondern um Expansion und (präventive) Unterwerfung all jener, die sich Imperialismus und Zionismus in den Weg stellen. Jeder Sieg Israels stärkt letztlich diese reaktionäre Ordnung.
Es bedeutet aber auch, dass wir das Recht der Hisbollah und aller Widerstandskräfte im Libanon verteidigen, sich einem zionistischen Angriff zu widersetzen. Das hat nichts mit politischer Unterstützung für die Hisbollah zu tun. Vielmehr lehnen wir ihr Programm und ihre Ziele (und auch die aller anderen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräfte im Libanon) entschieden ab. Wir bekämpfen ihre islamistische, kleinbürgerliche und konterrevolutionäre Ideologie und Politik, wie sie sich besonders in Syrien gezeigt hat.
Doch der Angriff Israels stellt nichts als eine kollektive Bestrafung für das Aufbegehren gegen den Genozid in Gaza und die Unterdrückung der Palästinenser:innen dar. Sich dagegen aufzulehnen, ist nicht nur richtig, sondern notwendig.
Um sich einer Eskalation durch die zionistische Kriegsmaschinerie in den Weg zu stellen, muss die Solidaritätsbewegung weltweit den Propagandalügen der Herrschenden entgegentreten. So kann sie politische Grundlagen legen, über symbolischen Protest hinauswachsen und die praktischen Waffen schmieden, um deren Aggression gegen den Libanon etwas entgegenzustellen und den Genozid zu beenden. Dafür braucht es in den imperialistischen Zentren Kampagnen an Schulen, Unis, in Gewerkschaften und Betrieben, welche neben Druck auf die Unis und Co. zum Bruch mit den Institutionen der Besatzung Waffenlieferungen nach Israel blockieren und durch Streiks und Protest die Komplizenschaft bei Genozid und Unterstützung des Apartheidstaats in die Knie zwingen. So können und müssen wir auch hier Israel schwächen!
In den arabischen Staaten müssen sich die Massen gegen die Heuchelei ihrer Herrscher:innen auflehnen und die Flamme des Arabischen Frühlings wieder aufflammen lassen. Sie müssen für eine sofortige und effektive Einstellung jeder politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kooperation mit dem zionistischen Staat und für die bedingungslose Solidarität mit dem palästinensischenVolk kämpfen.
Als Lehre aus den Niederlagen der Kämpfe des letzten Jahrzehnts wird es entscheidend, dass die Arbeiter:innenklasse die Führung der Bewegung übernimmt, was selbst den Aufbau revolutionärer Parteien voraussetzt. Nur die proletarische Revolution wird eine Eskalation eines Krieges verhindern können und zuletzt durch den Aufbau einer Föderation von sozialistischen Staaten im Nahen und Mittleren Osten Israel ein für alle mal den Gar aus machen!
Hände weg vom Libanon!
Die Stimme der Frauen ist eine Revolution, keine Schande – صوت المرأة ثورة وليس عارًا
Dilara Lorin, Fight 12! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2024
Tunesien, 17. Dezember 2010: Mohamed Bouazizi, ein Gemüsehändler, zündet das Feuer über seinen abgemagerten und ausgebeuteten Körper an, gegen die Perspektivlosigkeit und Polizeigewalt, die er und andere erfuhren. Die Flammen verbrennen ihn, er stirbt. Doch dieses Feuer war der Funken, der in der arabischen Welt die Flammen der Revolutionen entfachte.
Der Arabische Frühling
Der Arabische Frühling, die Revolutionen von Tunesien über Ägypten bis nach Syrien und in den Jemen haben Generationen von Arbeiter:innen, Jugendlichen und Frauen geprägt. Für eine gewisse Zeit schien das revolutionäre Aufbegehren unaufhaltbar zu sein. Massendemonstrationen, die sich gegen autoritäre Regime richteten und ein würdevolles Leben, Menschenrechte und demokratische Mitbestimmung forderten, sowie Streiks einer sich erhebenden Arbeiter:innenklasse ließen die Ben Alis, Assads, al-Gaddafis und Mubaraks erzittern.
In Tunesien führten örtliche Gewerkschaften, Angestellte und insbesondere die oppositionellen Kräfte im Dachverband UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail) die Proteste an, die auch stark von Jugendlichen und Arbeitslosen getragen wurden. Am 10. Januar 2011 riefen Branchengewerkschaften der UGTT, darunter die Lehrer:innen, zu einem zweitägigen Generalstreik und Massendemonstrationen im ganzen Land auf, wobei die Führung der Gewerkschaften massiv von ihrer Basis und den Protesten unter Druck gesetzt wurde.
Am 14. Januar floh Präsident Ben Ali aus dem Land. Sein Sturz befeuerte in der gesamten Region einen revolutionärer Prozess. Dabei verliefen die Proteste anfangs ähnlich. Ägypten sollte als nächstes dran sein. Dabei spielten Facebook und Social-Media-Kanäle zur Mobilisierung und Dokumentierung eine essenzielle Rolle. Obwohl die Protestierenden am 25. Januar und an den Tagen danach massiv und brutal angegriffen und zahlreiche Menschen von Regierungseinheiten ermordet wurden, konnten die Barrikaden und Einsatzkräfte von Polizei oder Armee die Massen nicht stoppen.
Atemberaubend muss der Moment gewesen sein, als von Hunderttausenden der Slogan der Revolution aus Tunesien in den Straßen Ägyptens wiederhallte: „Das Volk will den Sturz des Regimes“. Vor allem der Tahrir-Platz in Kairo wird zum großen Symbolbild der Revolution in diesem Land und Monate lang besetzt gehalten und von Aktivist:innen selbstverwaltet. Auch Streiks erschüttern die Herrschenden dieses Landes. Soziale Forderungen wurden nach der Ansprache Mubaraks am 10. Februar, als er die schrittweise Übergabe seiner Amtsgeschäfte ankündigte, mit der anwachsenden Streikwelle immer stärker: Lohnerhöhung, Arbeitsplatzsicherheit und Gewerkschaftsrechte. Der halbe Rücktritt kommt zu spät, die Revolution weitet sich noch mehr aus und Mubarak muss am 11. Januar endgültig gehen.
In Syrien beginnt die Welle der Revolution ebenfalls blutig: Jugendliche aus Dar’a schreiben im März an ihre Schulwand, inspiriert vom Sturz der Regime in Tunesien und Ägypten: „It’s your turn doctor“. (Baschar al-Assad ist Augenarzt). Sie werden inhaftiert und gefoltert, einer stirbt. Aber Massen gehen auf die Straßen. Die Massenproteste mit mehreren 100.000 Teilnehmer:innen in ihrer Höchstphase fanden schnell Unterstützung von Soldat:innen, welche dem Regime und dessen bewaffnetem Arm den Rücken kehrten und zurück in ihre Stadtteile gingen. Dort beschützten diese anfänglich die Demonstrationen gegen Angriffe des Staates. Im gleichen Zeitraum entstehen Stadtkomitees und eine Organisierung von Arbeiter:innen mit basisdemokratischen Strukturen. Die noch zum Teil unkoordinierte Organisierung der bewaffneten Teile verteidigt bald schon ganze Stadtteile und drängt Armee und regimetreue Milizen zurück. Dies sind nur einige kurze Ausführungen über die Massenproteste und ihre allgemeinen Auswirkungen.
Außerdem sind dies Teile der „1. Welle“ des Arabischen Frühlings, als sich die Regime in der Defensive befanden, Diktatoren wie Ben Ali und Mubarak gestürzt wurden. In dieser Phase spielten Frauen eine wichtige Rolle, da auch sie an vorderster Front gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit kämpften. Sie übernahmen wichtige und notwendige Rollen während der Proteste, welche von Sanitätsaufgaben, über journalistische Arbeit bis hin zur Mobilisierung und Organisierung reichten. Dabei muss angemerkt werden, dass vor allem in dieser Phase geschlechtsspezifische Forderungen keine essenzielle Rolle spielten. Denn egal ob männlich oder weiblich, alt oder jung, der Schrei gegen Unterdrückung, nach sozialen Forderungen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnten, und für den Sturz der Regime und Demokratie betraf alle.
Doch die weitere Entwicklung des Arabischen Frühlings – sowohl seine Ausweitung in andere Länder wie auch die Reaktionen der Staatsapparate, die weiter bestanden, und der herrschenden Klassen, die sich auf sie stützen – veränderte auch die Forderungen. Darin wurden auch mehr geschlechtsspezifische Fragen laut. In einigen Ländern übernahmen auch weibliche Personen wichtigere Rollen. Dabei konnten z. B. im Libanon Frauenorganisationen an Masse gewinnen und im Sudan wurden Videos von protestierenden jungen Frauen in weißen Hidschabs immer verbreiteter. Doch die Konterrevolution – egal in welcher Welle des Arabischen Frühlings und in welcher Form, ob durch offene brutale Repression und Bürger:innenkrieg oder durch eine Mischung aus Repression und Inkorporation – rief überall nach der Einschränkung von Frauenrechten und der Rolle der Frauen, die in den Revolutionen sichtbar wurde. Wir wollen diese exemplarisch in einigen Ländern genauer betrachten.
Wir kämpfen – wir sind nicht Opfer
Sehen wir in den westlichen Medien etwas über den Arabischen Frühling, scheinen fast ausschließlich nur männliche Personen vor die Linse der Kamera zu treten. Beim Lesen von vor allem liberalen Berichten und Analysen zum Arabischen Frühling werden weibliche Personen oft als Opfer von Gewalt und Vergewaltigungen dargestellt. Und auch wenn dies leider tragische Wahrheit ist, so ist dies nicht das Einzige, welches die Rolle der Frauen in den Revolutionen widerspiegelt.
So spielten Frauen als Aktivist:innen und Medienschaffende eine große Rolle: Asmaa Mahfuz in Ägypten, Arwa Othman im Jemen, Lina Ben Mhenni in Tunesien, um nur einige Namen zu nennen. Durch die gewerkschaftliche Organisierung von Frauen in Tunesien konnte hier eine starke Präsenz von weiblichen Personen verzeichnet werden. Dabei waren sie nicht nur Journalistinnen, sie waren Teil von Volkskomitees, welche tunesische Wohnviertel schützten, vor allem in Phasen, als der Staat kollabierte.
Nach dem Sturz von Bin Ali wählte Tunesien 2011 die verfassunggebende Versammlung, in welcher mehr als 20 % der Abgeordneten aus Frauen bestanden. Dies zeigt die allgemeine Tendenz, welche von den Aufständen verursacht und errungen wurde, dass sich Frauen vermehrt an öffentlichen Debatten und Entscheidungen beteiligten. Es entstehen viele neue NGOs, Organisationen, und viele Frauen lassen sich in unterschiedlichen Ländern zur Wahl aufstellen.
Es wurden zum Teil Räume und Möglichkeiten geschaffen, in welchen das Bild der Frau, ihre Rolle und die Frage der Sexualität immer mehr Gegenstand der Debatten wurden.
Dabei mussten Frauen für diese kleinen Errungenschaften viel leisten: In praktisch allen Ländern wandten die Kräfte des alten, erschütterten, aber letztlich nicht gestürzten Regimes systematisch sexuelle Gewalt gegen protestierende Frauen an. Dadurch sollte ihre Moral gebrochen werden, um ihre Präsenz und die Bewegung insgesamt zu schwächen. So gibt es Berichte darüber, dass in den Truppen in Libyen, welche loyal zum Diktator al-Gaddafi standen, Viagra verteilt wurde.
In Ägypten versammeln sich am 8. März 2011 Frauen auf dem Tahrir-Platz, um den Frauenkampftag zu feiern. Sie werden von Gegendemonstrant:innen eingekreist und brutal angegriffen. Am darauffolgenden Tag erfolgt die systematische Schikane seitens der Armee. Diese stürmt zusammen mit Polizei und bezahlten Schlägertrupps den Platz. Von den Protestierenden werden 18 Frauen inhaftiert und bei 7 von ihnen wurden im Gefängnis „Jungfräulichkeitstest“ durchgeführt. Die Gewalt gegenüber Frauen nahm am 17.12.2011 eine neues Höchstmaß an, beim „Vorfall mit dem blauen BH“, bei welchem das ägyptische Militär eine protestierende Frau verprügelte. Videos wurden veröffentlicht, in welchem man die ohnmächtige Frau erkennt, wie sie an ihren Armen durch die Straße gezerrt wird, ihre Abaya (Überkleid) zerrissen und ihr nackter Körper mit einem blauen BH wird deutlich. Daraufhin versammelten sich am 20.12.2011 Tausende Frauen und Männer auf dem Tahrir-Platz. Dies wird als einer der größten Frauenproteste der vergangenen Jahre in die Geschichte eingehen.
Die systematische sexualisierte Gewalt durch staatliche und reaktionäre Kräfte führte dazu, dass Frauen einheitlicher auftraten, Frauenorganisationen gegründet wurden und diese eine Koalition aufbauten. Frauen waren notwendige Akteur:innen der Proteste, welches ihnen Legitimität und Aufmerksamkeit verlieh. Dies versuchten Diktatoren wie Salih im Jemen zu unterbinden. In einer Ansprache am 15.04.2011 versuchte er durch den Satz „Der Islam verbietet die Vermischung von Männern und Frauen in der Öffentlichkeit“, die großen Sit-ins und Platzbesetzungen zu diskreditieren.
Oftmals kämpften Aktivistinnen auch gegen ihre eigenen Familien und Verwandtschaftskreise, da diese sich gegen ihren Aktivismus stellten. Ein Beispiel hierfür ist die bekannte syrische Schauspielerin Fadwa Soliman. Trotz Gefahr von Tod oder Gefängnis wollte sie an den Protesten teilnehme, um die ihrer Meinung nach in der Öffentlichkeit vorherrschende Meinung zu widerlegen, dass alle Mitglieder der alawitischen Gemeinschaft, die etwa 10 % der syrischen Bevölkerung ausmachen, die Regierung ihres alawitischen Landsmanns Baschar al-Assad unterstützen. Sie wollte auch die Darstellung der Regierung widerlegen, dass diejenigen, die an den Protesten teilnahmen, entweder Islamist:innen oder bewaffnete Terrorist:innen seien. Dabei wurde sie jedoch von ihrer Familie ausgeschlossen und exkommuniziert.
Es ist nicht unüblich, dass in solchen spontan auftretenden Protesten Forderungen nach Würde, Regimewechsel, Freiheit vordersten Rang einnehmen. Dabei kämpften überall Frauen und Männer Seite an Seite für den Sturz „ihrer“ Regime. Auch wenn sich die patriarchale Unterordnung von Frauen in der Region allein durch den Arabischen Frühling nicht auflösen konnte, ermöglichte er ein Aufsprengen und Hinterfragen vieler traditionelle patriarchaler Gedanken, Ideologien und Geschlechterrollen. Dabei sitzen diese tief und lassen sich nicht durch einen Regimewechsel und einige demokratische Gesetze überwinden.
Mit dem Eintreten der Welt in die imperialistische Epoche kämpften die Massen in den Kolonien gegen ihre Unterordnung, Ausbeutung und Fremdherrschaft. Antikoloniale Kämpfe führten jedoch nicht zu einer kompletten Unabhängigkeit dieser Länder. Es entstanden Halbkolonien, Staaten, die zwar formal politisch unabhängig sind, aber wirtschaftlich und letztlich auch politisch abhängig von imperialistischen Staaten und ihrer Weltordnung. Diese Abhängigkeit führte dazu, dass halbkoloniale Länder systematisch unterentwickelt gehalten wurden, sich Ungleichheit im Rahmen der globalen Arbeitsteilung verfestigte, wenn nicht sogar verstärkte. Vorkapitalistische Herrschaftsformen und patriarchale Strukturen wurden nicht zerschlagen, sondern vielmehr in den halbkolonialen Kapitalismus und den Weltmarkt integriert. Wir erinnern daran, dass die USA unter anderem an Stammesführer in Afghanistan, Irak oder Syrien Waffen lieferten und diese als Partner eher akzeptierte als andere, wodurch sie auch den Fortbestand dieser Strukturen unterstützten. Während des Arabischen Frühlings konnte beobachtet werden, dass für viele Frauen der Aktivismus von ihren Familien und Freund:innen ungern gesehen war und ihnen viele Steine in den Weg gelegt wurden.
Forderungen, die vermehrt genderspezifisch aufgeworfen wurden, wurden vor allem in den Nachwehen des Arabischen Frühlings populär. So spielten Aktivistinnen 2019 in den Oktoberprotesten im Irak eine wesentliche Rolle. Aktivistin Amira Al-Jaber erzählt in einem Interview mit Al Jazeera (Al Dschasira), dass die Präsenz von Frauen in den Protesten dazu beigetragen hat, die von der Gesellschaft auferlegten Beschränkungen, unsere Stimme nicht zu zeigen, zu brechen. Wir haben den Slogan: „Die Stimme der Frauen ist eine Revolution, keine Schande“erhoben.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die objektive Lage von Frauen sich nicht verbessert hat, sondern konterrevolutionäre Parteien und Regime, Bürgerkrieg und, im Extremfall, der Aufmarsch von Daesch (Islamischer Staat) immer mehr ihre Rechte einschränkten. Aber der Arabische Frühling verlieh zugleich vor allem Frauen Erfahrungen, Kampfgeist und Sichtbarkeit in öffentlichen Räumen.
Wie kämpfen wir für einen neuen Arabischen Frühling? Wie tragen wir den Kampf gegen Frauenunterdrückung in die Massen?
Der Arabische Frühling, egal ob in Tunesien, Bahrain, Irak oder Sudan war eine fortschrittliche Erhebung der Massen, welche sich gegen Verarmung und repressive Regime richtete. Dabei darf die Rolle von imperialistischen Mächten, die die Region systematisch in Abhängigkeit halten, um die wirtschaftliche Ausbeutung von Menschen und Natur zu garantieren, und die deshalb blutige Regime unterstützen, nicht vergessen werden. In vielen Raps, die in Phasen der Massenproteste aus dem Untergrund als Ausdruck der Wut der Jugend bekannter wurden, tritt eine Imperialismuskritik immer mehr in den Vordergrund.
Die Forderung nach grundlegenden demokratischen Rechten ist eine wichtige, kann jedoch nur durch Revolutionen umgesetzt werden, welche die Diktatoren und ihre Milizen und Armeen zerschlagen. Auch wenn die Revolutionen in vielen dieser Länder als „demokratische“ beginnen, so können sie ihre Ziele nur erreichen, wenn sie auch die Grundstrukturen der Gesellschaft, Kapitalismus und Imperialismus, infrage stellen, mit einer sozialistischen Umwälzung verbunden werden. Die Revolution muss permanent werden – oder sie wird nicht fähig sein, die alten Regime und ihre Grundstrukturen vollständig zu beseitigen.
Der Arbeiter:innenklasse kommt dabei eine Schlüsselrolle hinzu. Die aufkommenden Streiks bis hin zu Generalstreiks waren wichtige und notwendige Mittel, um die aufgeworfenen Forderungen umsetzen zu können. Jedoch können uns demokratische Systeme keine Sicherheit geben, und ein Rückfall in autoritäre Regime mit ihren Diktator:innen kann immer wieder erfolgen und hat immer wieder mit Unterstützung der Imperialistischen Mächte stattgefunden. Wir müssen die Revolution in eine soziale umwandeln, welche die Machtverhältnisse umstürzt und die Klassenverhältnisse, welche zur Ausbeutung und Anhäufung des Reichtums einiger weniger beitragen, zerschlägt. Dabei war es einer der großen Fehler im Arabischen Frühling, dass die Massen und Streikenden keine Organe der Doppelmacht errichteten.
Damit die Revolution siegreich sein kann, muss sie in den Streiks, Massenaufständen und Erhebungen eigene demokratische Kampfstrukturen – Streik- und Aktionskomitees – aufbauen, die sich zur Räten entwickeln können und landesweit zentralisiert werden. Nur so können sie dem zentralisierten Staats- und Machtapparat die gebündelte Kraft der Revolution entgegenstellen und damit auch Organe einer neuen, revolutionären Ordnung schaffen, die den alten Staatsapparat zerschlägt und an seine Stelle tritt.
Um diese Streiks, Demonstrationen, Versammlungen, Räte, Gewerkschaften und Parteien der Unterdrückten zu verteidigen, braucht es auch eine eigene, von Komitees der Arbeiter:innen und Unterdrückten kontrollierte Miliz. Um die einfachen Soldat:innen, die sich nicht in den Dienst der Reaktion stellen wollen, zu gewinnen, braucht es den Aufbau von Soldat:innenräten, die sich mit jenen der Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern verbinden.
Damit eine solche Perspektive Fuß fassen und erfolgreich umgesetzt werden kann, braucht die Revolution eine politische Kraft, die sie anführen kann, eine revolutionäre Partei. Diese muss die kämpfenden und fortschrittlichsten Teile der Unterdrückten und Arbeiter:innen sowie Frauen und Jugendlichen organisieren. Es braucht dabei das Recht von geschlechtlich Unterdrückten, Caucusse zu bilden, welches ihnen ermöglicht, sich in den eigenen Reihen unabhängig vom anderen Geschlecht zu treffen. Dabei soll einerseits ein Ort geschaffen werden, an welchem über den Sexismus in den eigenen Reihen geredet werden kann und Forderungen und Analysen in die Partei zurückgetragen werden können. Die revolutionäre Partei muss dabei Taktiken für den Kampf diskutieren und entwickeln, ein Programm erarbeiten, welches den Kampf für eine Revolution bündelt. Essentiell ist für das Überleben dieser revolutionären Partei die Verbindung mit Revolutionär:innen in den anderen halbkolonialen Ländern sowie den imperialistischen Staaten.
Die Unterdrückung der Frau kann zwar letztlich nur aufgehoben werden, wenn der Kapitalismus zerschlagen ist. Dies bedeutet aber nicht, dass in Revolutionen und Aufständen weibliche Aktivist:innen keine wesentliche Rolle spielen. Sie sind Speerspitzen kommender Proteste, welches die Frauenrevolution in Iran aufgezeigt hat. Der Kampf um demokratische Rechte und für soziale Forderungen muss immer zusammen mit dem gegen die Unterdrückung von Frauen gedacht werden. Die aktuelle Situation in den beschriebenen Ländern schreit nach einem 2. Aufflammen des Arabischen Frühlings. Die Zeit ist reif. Lasst uns dabei nicht nur lose Bewegungen aufbauen, sondern organisiere dich schon jetzt für den Aufbau revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale!
Eurovision Song Contest 2024 – United by Genocide?
Gestern Abend fand in Malmö das Finale des 68. Eurovision Song Contest unter dem Motto „United by Music“ statt. Überschattet war es, völlig zu Recht, von verschiedenen Protesten gegen die Teilnahme Israels und Boykottaufrufen. In den letzten Jahren hat sich das Schauen des ESCs besonders bei einem jüngeren und queeren Publikum zu einem festen kulturellen Bestandteil gemausert. Jährlich schalten für das Finale um die 162 Mio. Menschen weltweit ein. In diesem Artikel wollen wir die verschiedenen Aktionen, Vorfälle und Proteste näher beleuchten und auch auf die kulturelle Bedeutung des ESC eingehen.
Der ESC ist nicht unpolitisch!
Die erste Frage, die sich stellt, ist für viele sicher erst einmal, warum Israel überhaupt beim ESC teilnehmen darf. Immerhin liegt es nicht in Europa und begeht gerade einen Genozid in Gaza. Das lässt sich damit erklären, dass es Teil der Europäische Rundfunkunion (EBU) ist. Tatsächlich sind nicht nur europäische Staaten und ihre Sender vertreten, jedoch ist Israel historisch gesehen das erste Land, was außerhalb der EU liegt und beim ESC antrat. Allerdings könnte man ja meinen, dass die EBU Kriegsverbrechen sanktioniert, immerhin wurde Russland nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine auch ausgeschlossen. Doch diese Doppelmoral erklärt die EBU mit dem Verhältnis des russischen und israelischen Senders zu ihrer jeweiligen Regierung. Beim israelischen Sender KAN bestünden keine Verletzungen der Werte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Seltsam in Anbetracht der Tatsache, dass auf X (vormals Twitter) Videos kursieren, auf denen zu sehen ist, wie der Sender KAN seinen Namen auf Panzergranaten schreiben lässt, die dann nach Gaza geschickt werden. So scheint es sich ja doch um eine kriegstreiberische Rundfunkanstalt zu handeln.
Vor allem aber möchte sich die EBU darauf ausruhen, dass der ESC unpolitisch sei. Das gelte selbstverständlich auch für die israelische Kandidatin Eden Golan, die ihren ESC-Song „October Rain“ in „Hurricane“ abändern musste. Doch beugen wollte sich Israel anfangs nicht direkt, ursprünglich wollte es die Teilnahme absagen, wenn das Lied abgeändert werden müsste. Letztendlich trat Golan doch an, zu symbolisch sei der Auftritt beim ESC. Doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen: Es handelt sich immer noch um dasselbe Lied, welches inspiriert ist von den Folgen des Angriffs der Hamas für die Israelis im Oktober 2023 und in diesem Kontext auch als Propaganda für den Krieg in Gaza gegen die Palästinenser:innen verstanden werden muss. Interessanterweise gibt es im Allgemeinen gerade in Israel eine Welle an Propagandasongs von jungen Künstler:innen, vornehmlich aus dem Bereich Hip-Hop, die den Krieg in Gaza und auch den Genozid glorifizieren und so IDF-Soldat:innen und die gesamte Bevölkerung bei der Fahnenstange halten sollen. Ein Beispiel ist der Song „Harbu Darbu“ von Ness und Stilla, die Zeilen wie „Wait for it to rain on you, whores. Every bad person comes for his punishment in the end“ (Deutsch: „Wartet, bis es auf euch regnet, Huren. Jeder schlechte Mensch kommt am Ende für seine Strafe auf“) beinhalten. Das Lied von Eden Golan ist zwar sicher nicht derart vulgär und gewaltverherrlichend, doch es muss dennoch als Inszenierung der Opferrolle des israelischen Staats verstanden werden. Schließlich ist es ein sehr emotionales Lied, was den Anschein erweckt, dass nicht gerade 35 Tausend Palästinenser:innen in Gaza durch die Hand des israelischen Militärs ermordet worden wären, zumal Eden Golan bereits angekündigt hat, nach ihrem ESC-Auftritt der IDF beizutreten.
Der diesjährige ESC wurde im Übrigen auch von einer israelischen Firma massiv gesponsert: Moroccanoil. Die Haarpflegeprodukte, die sie produziert, werden auch teilweise in besetzten palästinensischen Gebieten hergestellt. Sie profitiert also direkt von der Apartheid, und indem sie Teil des ESCs ist, erhält sie mehr Reichweite, Kredibilität und kann so noch mehr Produkte verkaufen.
Es ist auch nicht das erste Mal, dass Israel die Teilnahme beim ESC nutzt, um sich und seine Apartheid gegenüber Palästina in ein besseres Licht zu rücken. 2019 konnte es sich bereits als unfassbar queerfreundliches Land inszenieren, was, wie wir in diesem Artikel näher ausgeführt haben, nicht der Realität entspricht. Auch der US-amerikanische Sender CNN bestätigt die Softpower, die durch die Teilnahme am ESC aufgebaut werden kann, besonders für Länder, die Menschenrechtsverletzungen begehen. Der israelische Staatspräsident Jitzchak Herzog unterstreicht ebenso die Beweggründe, die hinter der Teilnahme stecken, wie die Times of Israel berichtete: Eine Teilnahme Israels an dem Wettbewerb sei wichtig für das Land und auch ein Statement. Es gebe Juden-/Jüdinnenhasser:innen, die versuchten, Israel von jeder Bühne zu vertreiben. Selbstverständlich geht es hier nicht wirklich um Antisemitismus, aber mit dieser Behauptung kann sich Israel eben wieder besser als Staat inszenieren, der ein Recht darauf hat, sich gegen Angriffe zur Wehr zu setzen, um seine proimperialistischen Absichten zu verschleiern. Den Beweis für diese These lieferte Israel gleich selbst: Während Eden Golan schmerzerfüllt in Malmö ihre Ballade trällerte, bombardierte die IDF den Gazastreifen, schoss auf einen Krankenwagen, der gerade verletzte Palästinenser:innen transportierte.
Der ESC ist also alles andere als unpolitisch. Auch wenn man sich das Abstimmungsverhalten der Vergangenheit anschaut, offenbart sich, dass „politische Spannungen“ keinen unwichtigen Einfluss haben und selten Punkte an Länder gehen, mit denen das jeweilige Land aus politischen oder kulturellen Gründen im Zwist bzw. in Konkurrenz steht. Beispielsweise erhielt Großbritannien 2021 0 Punkte sowohl von der Jury als auch Zuschauer:innen als Reaktion auf den Brexit. Auch hinsichtlich des europäischen Imperialismus stellt es keinen unwichtigen Aspekt dar. Immerhin wurde der ESC 1956 gegründet, um die Einheit der teilnehmenden Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg zu fördern. Dahinter steht auch die Idee eines vereinten Europas als Wertegemeinschaft, welches dieselben (imperialistischen) Interessen vertritt. Genau genommen sind das natürlich die der imperialistischen Kernzentren Deutschland und Frankreich, auch wenn ihre Macht innerhalb der EU und des imperialistischen Weltsystems am Bröckeln ist. In dem Fall des diesjährigen ESC sollte daher ganz klar unterstrichen werden, dass der europäische Imperialismus hinter Israel steht. Selbstverständlich fördert der ESC auch nationalistische Gefühle durch die Konkurrenz der verschiedenen Länder und Identifikation mit der „eigenen“ künstlerischen Vertretung. In den letzten Jahren wurde das von einem queeren Publikum vermehrt aufgebrochen: Dadurch, dass offen queere Personen antreten und die Show seit jeher extravagant ist, empfinden viele auch abseits von nationalistischen Gefühlen Spaß an der Show.
Kein Sieg für Israel
Gewonnen hat Nemo, Vertretung der Schweiz, mit einem Lied über their Nichtbinarität. Dabei waren die Jurypunkte entscheidend. Zusätzlich tritt Nemo auch offen für einen Waffenstillstand in Gaza ein. Bei der Übergabe der Auszeichnung sprach sich they unkonkret für Frieden aus.
Israel hat trotz des Versuchs, viele Leute zu motivieren, für Golan zu stimmen, nicht gewonnen. Immerhin. Der 5. Platz jedoch wurde ihr sicher. Interessanterweise waren die Jurypunkte dabei nicht entscheidend, auch wenn sich Deutschland und Israel gegenseitig damit beschenkten. Stattdessen waren es die Televotes der Zuschauenden, die alle zusammengerechnet werden. Israel erhielt hier 328 Stimmen, 12 Punkte kamen unter anderem aus Deutschland. Wären also nur diese ausschlaggebend, hätte Israel tatsächlich gewonnen. Im Kontext der Boykottaufrufe ist es zwar nicht allzu verwunderlich, immerhin haben so Zionist:innen mehr Macht gehabt, wenn Fans, die für Palästina sind, gar nicht erst abstimmen. An diesem Ergebnis zeigt sich aber auch, wie gut die Propagandamasche und die Opferrolle ankommen. Aber es hätte eigentlich gar nicht so weit kommen dürfen, dass der Apartheidstaat Israel solch einen Auftritt hinlegen darf, um die Sympathien des TV-Publikums zu erheischen.
Gegenstimmen von Künstler:innen
Vor dem diesjährigen ESC hatten sich 2.000 Künstler:innen aus Schweden, Finnland und Island gegen eine Teilnahme Israels ausgesprochen. Auch hat die schwedische Gewinnerin des ESC 2023 Loreen verkündet, dass sie nicht Eden Golan den Preis überreichen würde, hätte diese gewonnen. Statt die vermeintliche politische Neutralität des ESC hinzunehmen, haben außerdem einige Künstler:innen, die am ESC teilnehmen (sollten), sich gegen die unkommentierte Teilnahme Israels ausgesprochen. Während einer Pressekonferenz zeigten sich Bambi Thug, Irlands Kandidat:in, Joost Klein, niederländischer Kandidat und Marina Satti, Griechenlands Vertreterin wenig begeistert von Eden Golans Statements gegenüber der Presse. Des Weiteren unterzeichneten einige von ihnen einen offenen Brief, der für Frieden, einen Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln plädiert und Israel als Apartheidstaat bezeichnet. Nemo, Sieger:in des ESC für die Schweiz, unterschrieb diesen ebenfalls. Auch der vormalige schwedisch-palästinensische ESC-Gewinner von 2011, Eric Saade, setzte ein Statement, indem er bei der Eröffnung des Halbfinales eine Kufiya um sein Handgelenk geschlungen trug. Auf Instagram teilte er mit, dass die EBU seinen Auftritt nicht geteilt hatte, er aber keinesfalls schweigen wolle, wenn Kinder abgeschlachtet werden, unabhängig davon, wer die Täter:innen seien. Politische Statements und Palästinafahnen wurden von Seiten der EBU untersagt, das Tragen der Kufiya kann dabei allerdings als Grauzone interpretiert werden. Auch Bambi Thug trug sie während eines Presseinterviews, they durfte aber nicht mit Körperbemalung in mittelalterlicher-keltischer Schrift auftreten, die Freiheit für Palästina und Waffenruhe fordert. Die portugiesische Vertreterin Iolanda zeigte ihre Palästinanägel in Kufiyamuster beim Finale, bisher ohne weitere Konsequenzen, außer, dass ihre Performance nicht auf Youtube hochgeladen wurde wie alle anderen Songs, sondern stattdessen ihr Auftritt vom Halbfinale. Auch die italienische Vertreterin Angelina Mango setzte laut X ein Zeichen, indem sie bei der Flaggenparade absichtlich die italienische Flagge so mit ihrem Kleid kombinierte, dass es wie eine Palästinafahne aussah.
Konsequenzen scheint es aktuell für Joost Klein zu geben. Dieser wurde ausgeschlossen, wenig ist jedoch bisher bekannt. Nachdem er von der israelischen Delegation massiv bedrängt wurde, die seine toten Eltern, wegen welchen er überhaupt erst am ESC teilnehmen wollte, verhöhnte, wurde nun spekuliert, dass er deswegen verbal ausfällig geworden sei. Es wurden polizeiliche Ermittlungen eingeleitet und der niederländische Broadcaster des Eurovision Song Contest, AVROTROS, schildert den Vorfall wie folgt: Nach seinem Auftritt habe Joost mehrfach zu verstehen gegeben, dass er nicht gefilmt werden möchte. Dem wurde von nicht nachgegangen, trotz Wiederholung von Joosts Bitte. Daraufhin habe er sich in bedrohlicher Gestik auf die Kamera einer schwedischen Kamerafrau zubewegt, mehr sei jedoch nicht passiert. AVROTROS weigerte sich danach, die niederländischen Punkte zu übermitteln, und bezeichnet den Ausschluss von Joost Klein als völlig überzogen.
Es drängt sich jedenfalls das Gefühl auf, dass hier mit allen Mitteln versucht wird, die Künstler:innen, die sich kritisch zur Teilnahme Israels äußern, unter Druck zu setzen und ihnen notfalls die Plattform zu entziehen. Und das, während es der israelischen Delegation erlaubt bleibt, in sozialen Medien zu teilen, dass in ihrer Nähe kein/e Antisemit:in atmen dürfen solle, und Bambi Thugs Nichtbinarität durch den Kommentator des israelischen Übertragungssenders im Halbfinale durch den Dreck zu ziehen (seltsam, Israel ist wohl doch nicht so queerfreundlich?). Letzteres wird übrigens von der EBU mittlerweile als Regelverstoß gewertet. Er ist scheinbar jedoch nicht gravierend genug für eine Disqualifikation. Es häufen sich außerdem auch Berichte von kritischen Journalist:innen und anderen Teilnehmenden, die aussagen, dass sie von der israelischen Delegation ungefragt gefilmt, beleidigt und bedroht wurden.
Manipulation beim ESC?
Einen weiteren wichtigen Punkt stellen die Vorwürfe gegen verschiedene Aspekte des Wettbewerbs dar. Auf X (vormals Twitter) wurde geteilt, die EBU habe die Buhrufe des Publikums bei Eden Golans Auftritt im Halbfinale mit Applaus ersetzt. Obwohl im Stadion in Malmö die ablehnende Haltung klar zu hören war und auch durch Handyaufnahmen nachzuprüfen ist, schien es im Stream ganz anders: Hier erntete sie stattdessen tosenden Applaus. Auch der deutsche Vertreter für den ESC aus dem Jahr 2021, Jendrik, kritisierte diese Praxis auf X. Beim Finale selbst waren die Buhrufe zumindest deutlich zu hören und wurden auch vom deutschen Kommentator der Übertragung, Thorsten Schorn, aufgegriffen. Aber auch hier zeigen die Aufnahmen aus dem Stadion eine ganz andere Geräuschkulisse als die, die vor dem Fernseher ankam. Eine solche Manipulation der Reaktion von Zuschauer:innen ist nicht hinnehmbar und wird zu einem politischen Akt, auch wenn es im Namen des vermeintlich Unpolitischen durchgesetzt wird.
Die Abstimmungen für die Teilnahme am Finale haben ebenso Spekulationen nach sich gezogen. So veröffentlichte der italienische Broadcaster aufgrund von technischen Fehlern die Abstimmungsergebnisse, was eigentlich nicht erlaubt ist. Zuschauenden fiel auf, dass diese für Israel ungewöhnlich hoch seien. Auch das Televoting im Finale verwirrte einige – so hätten die Zuschauenden aus Irland 10 Punkte für Israel verteilt. Gerade in Anbetracht der irischen Kolonialgeschichte und des offenen Supports vieler Ir:innen für Palästina wirkt das doch ein bisschen seltsam. Natürlich gibt es nicht nur in Israel Zionist:innen, die für dieses Land abstimmen würden, daher muss nicht gleich von einer Manipulation ausgegangen werden. Jedoch gab es auch in der Vergangenheit Untersuchungen, das letzte Mal nach dem ESC 2022, aufgrund von „Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe“. Aufzuklären ist das durch Spekulationen jedenfalls nicht, stattdessen sollten die Abstimmungsergebnisse offengelegt und von Arbeiter:innenorganen überwacht und ausgewertet werden, um eine bessere Transparenz gewährleisten zu können.
Proteste
Doch auch außerhalb der Arena in Malmö kam es zu massiven Protesten. Auch die Sektion Arbetarmakt der LFI war vor Ort. Laut schwedischer Polizei strömten dabei in den vergangenen Tagen bis zu zwanzigtausend Menschen durch die Straßen bei Demonstrationen in der schwedischen Stadt, darunter auch Klimaaktivistin Greta Thunberg. Sie bezeichneten den ESC als Genocide Song Contest, forderten ein freies Palästina und einen sofortigen Waffenstillstand. Des Weiteren forderten sie den Boycott des ESC, als Teil der BDS-Kampagne im Bereich des kulturellen Boykotts. Durch den Aufschwung der Palästinasolidaritätsbewegung im Rahmen der weltweiten Unibesetzungen wurde auch dem Gegenprotest gegen den ESC eine besondere Aufmerksamkeit zuteil und viele Leute gingen auf die Straße.
Daneben gab es in anderen Ländern Aktionen. So schalteten belgische Gewerkschaften beim Halbfinale am Ende und Anfang der Übertragung eine Texttafel, die #Ceasefirenow und #StopGenocide beinhalteten. Das war nicht abgesprochen mit dem Sender, der in Belgien den ESC übertrug, jedoch ist das auch scheinbar nicht nötig.
Perspektive
Die belgische Gewerkschaft kann man sich jedenfalls definitiv in dieser Hinsicht zum Vorbild nehmen. Genau solche Aktionen wären unter anderem notwendig, um eine noch größere Öffentlichkeit zu schaffen für den Genozid in Gaza, die Vorkommnisse und Zensur beim ESC sowie Doppelmoral bezüglich der israelischen Teilnahme. Dafür müssten sich die Gewerkschaften in der Unterhaltungsbranche der teilnehmenden Länder und die Arbeiter:innen dieser zusammentun, könnten auch zusammen mit den Künstler:innen die Plattform des ESC nutzen, um ein Zeichen zu setzen und die israelische Teilnahme zu blockieren, wenn die EBU hier schon mit zweierlei Maß messen will. Im Zusammenhang mit gewerkschaftlicher Aktion kann auch die Boykottkampagne sinnvoll sein. Ebenso wäre natürlich auch eine komplette Bestreikung des ESCs oder die Besetzung der Arena in Malmö eine Möglichkeit gewesen.
Grundsätzlich müssen die Strukturen des ESCs transformiert werden. Die höheren Tiere der EBU haben bewiesen, dass sie durch ungerechtfertigte Entscheidungen, Ausschlüsse und Zensur alles versuchen, den Protest verstummen zu lassen. Ein solcher Song Contest, der fair und für Künstler:innen ein sicherer Ort ist, während imperialistische Staaten keine Plattform für die Legitimierung ihrer Kriegsverbrechen erhalten, kann nur durch Rätestrukturen von Arbeiter:innen, Zuschauenden und Künstler:innen gewährleistet werden! Zusätzlich kann man sich überlegen, ob die Zentrierung um die Herkunft der antretenden Künstler:innen abgeschafft werden kann. Aber erstmal ist klar: Der ESC darf nicht zum Propagandamittel für den Genozid werden! Take back the ESC! Oder um es mit den Worten von Bambie Thug zu sagen: „Fuck the EBU, we are what the Eurovision is!“ (Deutsch: „Scheißt auf die EBU! Wir sind die Eurovision!“)
Queers in Palästina: Ein freies Palästina bedeutet Befreiung von jeglicher Unterdrückung
von Leonie Schmidt, Gruppe Arbeiter:innenmacht und Revolution, Fight! Fight! März 2024
Achtung: In diesem Artikel werden teilweise rassistische und queerfeindliche Argumente wiedergegeben, um sie widerlegen zu können. Auch wird sexualisierte und koloniale Gewalt erwähnt. (Die Red.)
Queere Menschen gibt es überall auf der Welt – auch in Palästina. Und wie überall werden sie auch gesellschaftlich unterdrückt, denn die Unterdrückung von queeren Personen spielt im Kapitalismus mitsamt seiner patriarchalen Strukturen eine wichtige Rolle. Doch im Rahmen von Diskussionen über Israels Krieg gegen Gaza fällt von israelsolidarischer Seite immer wieder das Argument, dass man als queere Person oder Mensch, der sich für queere Rechte engagiert, nicht pro Palästina sein dürfe. Schließlich stünde das im absoluten Widerspruch zur Situation von queeren Palästinenser:innen, deren Leben „von barbarischer Queerfeindlichkeit seitens der eigenen, angeblich grundsätzlich reaktionären Community geprägt sei“. Klar ist jedoch, dass das eine völlig falsche Behauptung ist, bei der Pinkwashing und Homonationalismus dazu dienen, rassistische Ressentiments zu schüren sowie Besatzung und Krieg zu legitimieren. Denn ein Blick in die Nachrichten genügt, um herauszufinden, dass Hassverbrechen, Rücknahme von Rechten sowie neue reaktionäre Gesetzgebung auch in den vermeintlich fortschrittlichen westlichen Staaten auf der Tagesordnung stehen.Was stattdessen der Situation von queeren Personen in Palästina zu Grunde liegt und wie die Unterdrückung überwunden werden kann, soll in diesem Artikel aufgezeigt werden. Dabei konzentrieren wir uns auf die Situation vor dem Krieg, auch um die Limitiertheit prozionistischer Argumentation aufzuzeigen. Dafür hat unsere Autorin Leonie Schmidt mit dem Anthropologen Victor Harry Bonnesen Christoffersen und mit Azina Ababneh, einer queeren Person aus dem Westjordanland, gesprochen. Beide wurden als Expert:innen befragt und teilen nicht zwangsläufig unsere marxistischen Schlussfolgerungen.
Wie sieht die Rechtslage aus?
Die Gesetzgebung innerhalb Palästinas selbst ist widersprüchlich, da sie sich in der Westbank und im Gazastreifen unterscheidet. Während in der Westbank homosexuelle Aktivitäten zwischen Männern 1951 während der jordanischen Verwaltung entkriminalisiert wurden, sind sie hingegen im Gazastreifen seit 1936 unter dem britischen Mandat verboten und können mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden. Hier sehen wir schon die ersten Spuren der Besatzung, die die Lage queerer Personen in Palästina beeinflussen. Allerdings ist umstritten, inwiefern das Strafrecht des britischen Mandats noch derartig umgesetzt wird. Andererseits gibt es auch keine Gesetze, die gegen Queerfeindlichkeit vorgehen sollen, Queers schützen, und Behörden werden diesbezüglich auch nicht tätig. Doch bevor wir klären, woher ausbleibender offener Umgang mit Sexualität und Geschlecht kommt, wollen wir einen Blick auf den Alltag queerer Menschen werfen.
Eindrücke von queerem Leben in Palästina
Azina erklärt uns, wie they sich gefühlt hat, nachdem they sich their queeren Identität bewusst wurde: „Ich erinnere mich, dass ich Angst hatte, als ich zum ersten Mal entdeckte, dass ich bisexuell bin. Meine Bisexualität würde die gesellschaftlichen Herausforderungen und Schwierigkeiten für mich verdoppeln.“ Als their Mutter ein T-Shirt mit einem Regenbogen in Azinas Kleiderschrank gefunden hatte und daraufhin wegwerfen wollte, musste Azina behaupten es würde jemand anders gehören. Aber engstirnige Eltern dieser Art existieren nicht nur lokal beschränkt in Palästina und queere Palästinenser:innen müssen nicht überall komplett versteckt leben. Denn Azina hat im Westjordanland auch schon gute Erfahrungen machen können. Auch wenn man sehr vorsichtig sein muss, wem man etwas anvertraut, und Azina sich manchen Familienmitgliedern diesbezüglich nicht öffnet, hatte they gegenüber their Schwester und Freund:innen their Coming-out, ohne negative Folgen. Außerdem berichtet they von einem Ex-Freund, welcher aus einer besonders religiösen Familie stammte. Auch für ihn stellte their Sexualität kein Problem dar und er habe sogar selbst homosexuelle Erfahrungen gemacht. Azina sagt auch, was die Lage von queeren Personen in anderen Ländern unterscheidet, ist die Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel, nicht die palästinensische Kultur selbst.
Queere Identitäten werden durch die israelischen Besatzungsmacht instrumentalisiert. So müssen Queers in Palästina mit dieser Angst leben, da die Möglichkeit besteht, dass die israelischen Sicherheitsbehörden sich diese Informationen zunutze machen, um sie zu erpressen, dazu zu bringen, mit ihnen zu kooperieren und schlimmstenfalls zu Spitzeln zu werden. Victor Harry Bonnesen Christoffersen erklärt, dass er während seiner Forschung zu Queerness in Palästina Berichte über israelische Militärangehörige gehört hat, welche queere Palästinenser:innen unter Drogen setzen, diese dann ohne Einwilligung beim Sex filmen und diese Materialen dann zur Erpressung nutzen. Auch würden sie sich in einigen Bars in Ramallah als internationale Tourist:innen ausgeben. Das führt dazu, dass diese Partymeilen nicht mehr als „Safe(r) Spaces“ von den Betroffenen wahrgenommen werden können. Ebenso kommt es, so schildert uns Azina diesbezüglich, dass queere Personen, wenn sie auf Dating Apps auch ihre palästinensische Identität angeben, dafür von israelischen Soldat:innen rassistisch beleidigt und bedroht werden. Gerade die Verbindung mit der palästinensischen Identität ist das Problem, was sich queeren Palästinenser:innen besonders stellt. Denn im Prinzip ist es den israelischen Sicherheitsbehörden völlig egal, ob die, die sie gerade schikanieren, queer sind. Sie nutzen es als Mittel zum Zweck, um etwas gegen sie „in der Hand zu haben“ und entlarven sich dabei trotzdem selber als homophob, auch wenn das Pinkwashing Israels uns etwas ganz anderes weismachen will.
Safe(r) Spaces oder Circles?
Victor Harry Bonnesen Christoffersen hat seine wissenschaftlichen Studien zum Thema Safe Spaces für queere Personen in Palästina durchgeführt. Seine Erkenntnis: Das Konzept von Safe(r) Spaces wird hier eher nicht praktiziert, da wenig Möglichkeit besteht, diese Orte öffentlich kundgeben können, dass sie queerfreundliche Verbündete sind. Das liegt daran, dass sie sonst sich und die queere Community in Gefahr bringen würden. Jedoch gibt es einige queerfreundliche Bars zum Beispiel in Ramallah.
Grundsätzlich müssen wir natürlich davon ausgehen, dass es im Kapitalismus keine Räume gibt, die wirklich komplett frei von Unterdrückung sind, denn das sind gesellschaftliche Strukturen, die dahinter stecken und nicht einfach nur Einzelpersonen. Auch vermeintliche Safe(r) Spaces in Europa oder den USA sind alles andere als sicher, wie Angriffe auf CSDs und Queer Bars in den letzten Jahren deutlich aufzeigen. Dennoch ist es wichtig, dass queere Personen untereinander frei kommunizieren können. Laut Bonnesen Christoffersen existieren daher auch Safe(r) Circles, wobei sich das Konzept aber nicht auf das Räumliche, sondern auf die Verbindung zwischen den betroffenen Personen bezieht. Teil werden kann nur, wem vertraut wird. Neue Leute können also nur über bestehende Personen Teil dieses Circles werden, welcher dann dafür sorgt, dass die Betroffenen sich sicherer damit fühlen, ihre Identität preiszugeben und innerhalb des Circles offen auszuleben.
Ebenso gibt es auch innerhalb der palästinensischen Community Organisationen, die sich für die Rechte queerer Palästinenser:innen einsetzen, wie uns Bonnesen Christoffersen erläutert. So gibt es Al Qaws, eine NGO für sexuelle und geschlechtliche Diversität in der palästinensischen Gesellschaft, die die aktivste Organisation in dieser Hinsicht darstellt. Außerdem gibt es noch Aswat, die ihren Schwerpunkt auf queere Frauen legt. Beide Organisationen haben ihren Sitz in Haifa in den Territorien von 1948. Azina erwähnt diesbezüglich auch die Tal’at-Bewegung, eine revolutionäre feministische Bewegung, die sich gegen sexistische und koloniale Unterdrückung von palästinensischen Frauen einsetzt.
Kapitalismus, Kolonialisierung und Zionismus – unterdrückerische Gründe für Queerfeindlichkeit
Wenn wir über queeres Leben in Palästina sprechen, ist es wichtig, sich das Verhältnis von Kapitalismus sowie israelischer Besatzung näher anzuschauen, statt rassistische Stereotype zu reproduzieren – oder queere Unterdrückung zu verharmlosen. Dabei wird klar, dass Diskriminierung von LGBTIA+-Personen ein internationales Phänomen ist, da sie, verkürzt gesagt, von den vorgegebenen Geschlechterrollen abweichen, in diese oftmals nur schwer einsortiert werden können. Sie werden somit als Bedrohung für die herrschende kapitalistische Ordnung und folglich das Ideal der bürgerlichen Familie angesehen. Je etablierter die geschlechtliche Arbeitsteilung, desto höher auch die Ablehnung von Queers könnte man sagen.
Dass Queerness innerhalb Palästinas ein gesellschaftliches Tabuthema darstellt, hat also nichts damit zu tun, dass Palästinenser:innen per se konservativ, rückschrittlich sind oder der Islam „böser“ ist als andere Religionen. Neben der Tatsache, dass viele Vertreter:innen des palästinensischen Nationalismus säkular sind, entwickeln auch andere Religionen stark reaktionäre Momente – siehe den Hinduchauvinismus in Indien oder evangelikale Fundamentalist:innen in den USA. Dies ist meist eine Frage der gesellschaftlichen Basis und politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und gar größere Massen erfassen können.
Die Gründe für das Tabu sind an die materiellen Gegebenheiten gebunden – und diese werden zum Großteil von der israelischen Besatzung und Apartheid bestimmt. Das wird besonders ersichtlich, wenn wir uns die ökonomische Situation von Frauen anschauen. Diese haben in den palästinensischen Gebieten im Schnitt höhere Bildungsabschlüsse, sind aber um ein Vielfaches mehr von Arbeitslosigkeit betroffen. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Während wir in anderen Ländern in Krisenzeiten sehen, wie Frauen systematisch aus dem Produktionsprozess gedrängt werden, ist dieser „Krisenzustand“ jedoch in gewissem Maß Normalzustand, da es generell eine Knappheit an Arbeitsplätzen in den palästinensischen Gebieten gibt. Die Arbeitslosigkeitrate lag laut dem Internationalen Währngsfond 2022 insgesamt bei 26 %. Dabei gibt es erhebliche Unterschiede zwischen der Westbank (13 %) und Gaza (45 %), aber bei Geschlechtern (Frauen 40 %, Männern 20 %).
Bedingt sind diese Zahlen vor allem durch die Restriktionen seitens des israelischen Staates. So können Bewohner:innen Gazas nicht einfach ausreisen und woanders arbeiten. Auch in der Westbank sind die Jobs, die Palästinenser:innen „zur Verfügung gestellt werden“ zum Großteil auf den Bausektor beschränkt. Der systematische Ausschluss von Frauen aus dem Produktionsprozess befeuert die bestehende patriarchale Arbeitsteilung in den palästinensischen Gebieten, da sie somit in die Familie gedrängt werden, Sorge- und Carearbeit übernehmen müssen und derart klassische Geschlechterrollen weiter reproduziert werden. So kommt es auch zu Erwartungen, von denen Bonnesen Christoffersen erzählt, wie beispielsweise, dass Menschen in einem heiratsfähigen Alter auch schnellstmöglich heiraten, was wiederum auf Queers Druck ausübt.
Auch Azina ist bezüglich der Lage in der Westbank der Meinung, dass vor allem der Einfluss der israelischen Behörden auf die Institutionen der Westbank dafür sorgt, dass Maskulinität und patriarchale Strukturen verstärkt werden. Der Einfluss der israelischen Besatzungsmacht auf alle gesellschaftlichen Bereiche der Palästinenser:innen raubt jedem Lebensbereich die Autonomie, sei es an Checkpoints oder in der eigenen Community. Dadurch wird ihnen letztendlich nicht einmal die Möglichkeit gegeben, die gesellschaftlichen Strukturen offener und inklusiver umzugestalten. Dies bestätigt auch Bonnesen Christoffersen: „Palästina hatte (und hat) eine lebendige und florierende Kultur, die leider seit 1948 sehr stark von der zionistischen Kolonisierung beeinträchtigt wird. Mein Eindruck von Palästinenser:innen ist, dass sie einen Mut und Courage besitzen, die über das hinausgehen, was ich anderswo erlebt habe, und dass es den Wunsch gibt, das Leben trotz der Umstände, in denen sie leben, zu feiern. […] Historisch gesehen war die Levante (Palästina, Libanon, Jordanien, Syrien) nie queerfeindlich. Tatsächlich gab es eine große Toleranz gegenüber anderen Sexualitäten und Geschlechtsausdrücken. Queerfeindlichkeit breitete sich erstmals während des europäischen Mittelalters aus. Und die europäischen Kolonialmächte waren es auch, die Jahrhunderte später, als sie die Welt kolonisierten, ihre queerfeindlichen Absichten und Ansichten gegenüber den Menschen durchsetzen, die kolonisiert wurden.“
Gleichzeitig ist es wichtig, klare Kritik an den Machthaber:innen innerhalb der palästinensischen Gebiete zu üben. Denn ob palästinensische Autonomiebehörde (PA) oder Hamas, beide scheren sich sonderlich wenig um Frauen- wie LGBTIA-Rechte. Ob durch explizite Kooperation mit der israelischen Besatzungsmacht wie seitens der PA oder durch die Umsetzung ihrer reaktionären religiösen Ideologie wie bei Hamas. Besonders Letztere hat auch schon eigene Mitglieder hingerichtet, nachdem sie homosexueller Aktivitäten beschuldigt wurden, und Betroffene berichten, von Hamas-Mitgliedern aufgrund ihrer Queerness bedroht, gefoltert und verhört worden zu sein. Der Vorwurf der Homosexualität wird also genutzt, um politische Gegener:innen, wie Mitglieder der Fatah, auszuschalten, indem sie sie aufgrund dessen verhaften und teilweise auch exekutieren. Doch auch hier ist es wichtig zu verstehen, dass insbesondere die Hamas nur aufgrund der Apartheid existiert und an gesellschaftlichem Zuwachs gewinnen konnte. So wurde sie nach ihrer Gründung zunächst von Israel toleriert, wohingegen andere Gruppen des palästinensischen Widerstands mit linker Ausrichtung hartnäckig verfolgt wurden. Des Weiteren wurde die Hamas überhaupt erst als Reaktion auf die israelische Besatzung gegründet, um den Widerstand zu bündeln. Sie und ihre reaktionäre Ideologie müssen natürlich von Marxist:innen im ideologischen Kampf um die Führung der palästinensischen Befreiungsbewegung herausgefordert und bekämpft werden. Dabei muss an dieser Stelle auch klare Kritik an Vertreter:innen der palästinensischen Linken geübt werden: Klar ist, dass für ein Ende der Existenz der Hamas zuerst die Apartheid fallen muss, da sie hierfür die materielle Grundlage darstellt. Doch der Kampf für die Verbesserung von Frauen- und LGBTIA+-Rechten kann nicht hintangestellt werden, bis ein befreites Palästina erkämpft wurde, sondern muss aktiv Hand in Hand gehen – auch um eine klare, fortschrittliche Kraft im Befreiungskampf zu etablieren.
Pinkwashing
In diesem Kontext ist die Inszenierung Israels als „einzige Demokratie im Nahen Osten“ und als „besonders fortschrittlich“ in Bezug auf LGBTIA+-Rechte mehr als unglaubwürdig. Denn während die israelische Regierung selbst aktiv demokratische Umstrukturierung durch die Unterdrückung der Palästinenser:innen verhindert sowie die Lage nutzt, um queere palästinensische Personen zu verhöhnen, wenn sie davon sprechen, dass Queer for Palestine dasselbe sei wie „Chickens for KFC“, hat es in den letzten Jahren auch einen Rollback in Israel selber gegeben. Im Jahr 2023 wurden dort 5-mal mehr queerfeindliche Vorfälle in der Öffentlichkeit registriert als zuvor und eine Reihe von Regierungsvertreter:innen hat offen reaktionäre Aussagen getätigt. So behaupten die eigenen Minister:innen der ultrarechten Regierung, Homosexualität würde die größte Gefahr für das Land darstellen, wie zum Beispiel Yitzhak Pindrus (United Torah Judaism). Pindrus behauptet sogar, Homosexualität wäre gefärhlicher als die Hamas. Auch der israelische Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir (Otzma Yehudit), der sich bereits gegen Pridedemos aussprach und auf der Pride 2008 in Tel Aviv sogar Gewalt gegen eine jüdische trans Frau ausgeübt haben soll (zumindest existieren Fotos, die diese Vermutung nahelegen) ist ein Beispiel dafür. Ben-Gvir ist übrigens mittlerweile auch für die Sicherheit der Jerusalem Pride zuständig. Wie man sich da als queere Person sicher fühlen soll, kann man schon mal in Frage stellen.
Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich (HaTzionut HaDatit) bezeichnet sich sogar selbst als einen faschistischen Homophoben, während der ehemalige sephardische Oberrabbiner Shlomo Amar Pride-Demonstrierende mit wilden Tieren vergleicht und der Meinung ist, Homosexuelle nach jüdischem Gesetz mit dem Tode bestrafen zu können. Der Bürgermeister Jerusalems Aryeh King ließ 2020 ein Regenbogenbanner vom Gebäude der US-Botschaft entfernen, da keine Erlaubnis eingeholt worden war und es ein Zeichen für Unreinheit darstellen würde. Aber nur beim Reden Schwingen soll es für die Queerfeind:innen Israels nicht bleiben, denn Teile der ultrarechten nationalistisch-konservativen Regierung Israels haben auch vor, ihre Queerfeindlichkeit in die Tat umzusetzen, indem sie erkämpfte Rechte für LGBTIA+-Personen wieder zurücknehmen. Viele fürchten, dass das vor allem die Adoptionsrechte für homosexuelle Paare, aber auch medizinische Unterstützung für trans Personen betrifft. Aber auch außerhalb der Regierung gibt es queerfeindliche Angriffe: 2015 attackierte ein Mann Personen auf der Jerusalem Pride mit einem Messer, kurz nachdem er aus dem Gefängnis für genau dieses Verbrechen im Jahr 2005 entlassen wurde.
Trotz alledem hält sich das Bild Israels als fortschrittlich in Bezug auf LGBTIA+-Rechte, Aber all diese Aussagen und Taten zeigen auf, dass der Zionismus und auch der bürgerliche Staat an sich nicht in der Lage sind, die Unterdrückung queerer Personen zu beenden. Letztendlich nutzt der israelische Staat sein Pinkwashing aber nicht nur dazu, um die Unterdrückung der palästinensischen Community zu verschleiern und sich vermeintlich positiv abzuheben, auch wenn die progressivere Gesetzgebung sowieso hauptsächlich dem weißen cis männlichen Schwulen zugutekommt, sondern sie seine vermeintliche Vormachtstellung und Doppelmoral auch, um Kriegsverbrechen gegen Gaza zu rechtfertigen.
Homonationalismus
So gab es auch in den letzten Monaten Fotos von IDF Soldat:innen, welche die Regenbogenflagge in Gaza im Kriegsgebiet hochhielten und „In the Name of Love“ dazu schrieben. Die israelische Armee behauptet also, sie würde sich für queere Palästinenser:innen einsetzen, indem sie demokratische Rechte in die palästinensischen Gebiete brächte. Und das, während sie die (queeren) Palästinenser:innen und ihre Familien, Freund:innen und Bekannte umbringt und ihnen jegliche Möglichkeit zur Selbstermächtigung nimmt.
Diese Strategie kann auch als Homonationalismus bezeichnet werden. Geprägt von Jasbir Puar, beschreibt der Begriff die Instrumentalisierung von queeren Rechten, um die eigenen nationalistischen Ziele umsetzen zu können, zum Beispiel in Form von Kriegen oder restriktiven Einwanderungsgesetzen. Dabei kann der israelische Staat den eigenen Zerstörungswahn gegen das palästinensische Volk gegenüber anderen Staaten und deren Bevölkerungen legitimieren und gleichzeitig die Spaltung zwischen Palästinenser:innen und israelischer Arbeiter:innenklasse vorantreiben. Eine Spaltung, die für die herrschende Klasse gar nicht tief genug sein kann, denn die vereinten Unterdrückten und Ausgebeuteten können ihnen und ihrer Klasse sehr gefährlich werden. Um diese Spaltung zu überwinden, muss sich die israelische Arbeiter:innenklasse aber offensichtlich vom Joch des Zionismus befreien.
Besonders ergreifend kann man diesen Zusammenhang auch in den kurzen Statements queerer Palästinenser:innen beim Projekt „Queering the Map“ nachlesen. Ein Beispiel, was den Schmerz darüber noch einmal besonders unterstreicht, wie (queere:r) Palästinenser:innen unter der Besatzung und Krieg leiden müssen:
„Ich habe mir immer vorgestellt, dass du und ich in der Sonne sitzen, Hand in Hand, endlich frei. Wir sprachen über all die Orte, an die wir gehen würden, wenn wir könnten. Doch du bist jetzt weg. Wenn ich gewusst hätte, dass die Bomben, die auf uns niederregnen, dich mir wegnehmen würden, hätte ich der Welt bereitwillig erzählt, wie sehr ich dich geliebt habe. Es tut mir leid, dass ich ein Feigling war. Kiryat (eigene Übersetzung)“.
Diese anonyme Zeilen sollen an dieser Stelle erst einmal für sich sprechen.
Die Schlussfolgerung aus dieser Analyse muss für Kommunist:innen zwangsläufig darin liegen, dass erst die Befreiung von Kolonialismus und Imperialismus auch die für Palästinenser:innen, ob queer oder nicht, bedeutet.
In diesem Sinne richtet Azina die folgenden Worte an uns und auch an euch: „Wir brauchen grundlegende Gerechtigkeit und ein Ende der Besatzung. Bitte engagiert euch, meine feministischen Genoss:innen in Europa, denn: Ich habe weder den Wunsch, für die Heimat noch für den Erdboden hier zu sterben, aber wenn ich für die Menschheit, für Frieden und bedingungslose Liebe sterbe, macht es mir nichts aus.“
Erst in einem freien Palästina kann die Gesellschaft so umgestaltet werden, dass sich niemand mehr verstecken muss aus Sorge, als Nächste/r von der israelischen Besatzungsmacht massiv unterdrückt, entrechtet, gedemütigt, missbraucht, erpresst oder getötet zu werden. Daher müssen wir uns für ein freies, säkulares, binationales, sozialistisches Palästina einsetzen.
Frauen – und Queerbefreiung Hand in Hand
Bonnesen Christoffersen argumentiert, dass Frauen- und Queerkämpfe gemeinsam geführt werden sollten, um erfolgreich zu sein: „Nachdem ich auch mit einigen feministischen Bewegungen in Palästina interagiert habe, habe ich mitbekommen, dass die generelle Meinung existiert, dass die Rechte von Frauen über den Rechten von queeren Personen stehen. Nicht, dass diese Bewegungen queere Menschen nicht unterstützen, sondern eher in dem Sinne, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei, um über ihre Rechte zu sprechen. Ich denke daher, dass wenn palästinensische Bewegungen, die mit den gleichen Kämpfen konfrontiert sind (z. B. Patriarchat), sich zusammenschließen, um ihre Stimmen zu stärken, sie auch in der Lage sein könnten, mehr Bewusstsein für die Situation queerer Palästinenser:innen zu schaffen.“
Als Marxist:innen erkennen wir an, dass Frauen- und Queerunterdrückung auf dieselben Strukturen der Klassengesellschaft zurückgehen, egal ob in Palästina oder Deutschland: die geschlechtsbedingten Arbeitsteilung, welche maßgeblich mit aufrechterhalten wird durch das Ideal der bürgerlichen Familie und die Geschlechterrollen. Auch wenn die Lage von Frauen und queeren Personen unterschiedlich ist, so ist dennoch ein gemeinsamer Kampf vonnöten. Frauen kämpfen schon seit 1920 in der palästinensischen Befreiungsbewegung, in der sie schon seit jeher sexualisierte Gewalt durch die Besatzungsmächte erfahren mussten und weiterhin erfahren. Wenngleich sie eine wichtige Rolle einnehmen und einnahmen, sind sie immer noch selten an politischer Entscheidungsfindung beteiligt. Der Sieg der Hamas in Gaza war ein Rückschritt für die Rechte der Frauen, da sie darauf drängt, das palästinensische Recht durch die Scharia (wörtlich: gebahnter Weg; religiöses Gesetz) zu ersetzen. Dennoch setzen sich palästinensische Frauenaktivist:innen für Gesetze zum Schutz von Frauen vor Ehrenmorden und männlicher häuslicher Gewalt ein.
Wir müssen uns neben dem Ende der israelischen Apartheid, der Besatzung und für ein freies, säkulares, multiethnisches, sozialistisches Palästina auch konkret für die Vergesellschaftung der Hausarbeit einsetzen, um die materielle Grundlage von Frauen- und Queerunterdrückung auflösen zu können. Das bedeutet den Ausbau von Pflege, Kinderbetreuung, kollektive und kollektivierte Formen der Hausarbeit (Kantinen, Wäschereien etc.), die Stärkung der ökonomischen Unabhängigkeit von geschlechtlich und sexuell Unterdrückten und alternative Formen des Zusammenlebens. All das kann natürlich nicht von heute auf morgen passieren, und im Angesicht des aktuellen brutalen Krieges scheint dies auch unfassbar fern. Jedoch ist es die Aufgabe von Revolutionär:innen und allen, die solidarisch mit dem palästinensischen Befreiungskampf sind, nicht nur für eine sofortige Waffenruhe und das Ende der Apartheid einzutreten, sondern auch zu diskutieren, wie der Kampf für nationale Befreiung mit dem Recht auf sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung verbunden werden kann. Die Kämpfe darum sind keineswegs irrelevant oder nachgeordnet, aber ohne Umgestaltung der ökonomischen Struktur unserer Gesellschaft bleiben ihre Erfolge begrenzt. Zusätzlich sollten Frauen und queere Personen in Palästina auch für eine Reihe an Forderungen gemeinsam kämpfen, zum Beispiel:
Gleiche Rechte und Zugang zu Bildung für Alle, gleiche Eigentumsrechte, gleicher Lohn für gleiche Arbeit sowie volle Integration in den Produktionsprozess. Konkret: z. B. durch Quotierung in zentralen/wichtigen Beschäftigungsverhältnissen, um aktuell den Ausschluss von Palästinser:innen von der Lohnarbeit entgegenzuwirken. Davon würden vor allem palästinensische Frauen in der aktuellen Situation profitieren, welche vor allem in Gaza relativ hohe Bildungsabschlüsse haben, aber geringe Beschäftigungsraten.
Keine Straffreiheit für diejenigen, die Frauen oder queere Personen ermorden, vergewaltigen und schlagen, seien es Verwandte oder Fremde.
Für das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper, die eigene Sexualität und die eigenen reproduktiven Entscheidungen.
Ebenso muss auch innerhalb der palästinensischen Befreiungsbewegung gegen Vorurteile und Gewalt gegenüber Frauen und LGBTIA-Personen angekämpft werden, auch wenn wir das nicht zur Bedingung eines gemeinsamen Kampfes machen.
Für das Recht auf Caucustreffen für Frauen und LGBTIA-Personen innerhalb der palästinensischen Befreiungsbewegung.
Damit der Kampf gegen Besatzung, Imperialismus, Krieg, Frauenunterdrückung und Queerfeindlichkeit international geführt werden kann, ist klar, dass Solidaritätsbekundungen nicht ausreichen können, auch wenn wir bedingungslos hinter dem palästinensischen Befreiungskampf stehen. Stattdessen müssen wir uns international zusammenschließen und gemeinsam kämpfen. Denn unsere Feind:innen, die imperialistischen Staaten und ihre regionalen Handlanger:innen, sind für jede/n Unterdrückte/n und jede/n Ausgebeutete/n letztendlich die gleichen, auch wenn sich unsere Situationen in besetzten Gebieten, Halbkolonien und imperialistischen Kernzentren natürlich unterscheiden. Dafür braucht es eine internationale Frauen- und LGBTIA-Bewegung genauso wie eine internationale Arbeiter:innenbewegung, denn wir dürfen unsere Kämpfe nicht anhand von nationalen Grenzen spalten lassen, sondern müssen uns im Klaren darüber sein, dass sie durch Klassenlinien geprägt sind und auch dementsprechend klassenkämpferisch geführt werden müssen. Um diese Bewegungen anzuführen und die Kämpfe zuzuspitzen, bedarf es auch einer neuen kommunistischen Partei und einer neuen Internationale.
Wie kommen wir zu einem freien, säkularen, binationalen, sozialistischen Palästina?
Wir setzen uns für eine Ein-Staaten-Lösung ein, da wir der Meinung sind, dass das die einzige Möglichkeit darstellt, um die Befreiung des palästinensischen Volkes zu garantieren, ohne Zugeständnisse an den Zionismus machen zu müssen. Das bedeutet nicht, die israelisch-jüdische Bevölkerung zu vertreiben oder gar auszulöschen, jedoch sehr wohl, den Zionismus und damit den israelischen Staat zu zerschlagen. Da wir glauben, dass Religionen als Vorwand für imperialistische Unterdrückung und zur Umsetzung geopolitischer Interessen genutzt werden, setzen wir uns für einen säkularen, multiethnischen Staat ein, indem es kulturellen Austausch statt einseitiger Assimilation geben soll. Das Rückkehrrecht sowie der Zugang zu Wohnraum, Wasser, Lebensmitteln, Arbeit und Bildung für alle, egal ob Israelis oder Palästinenser:innen kann nur unter einer demokratischen Kontrolle der Arbeiter:innenklasse gewährleistet werden. Diese sozialistische Ein-Staaten-Lösung müsste in eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens eingebettet werden, um die vom Imperialismus bewusst geschaffene Spaltung überwinden zu können und so ein massives Kampfmittel darstellen zu können. Demnach darf der Kampf der Palästinenser:innen nicht als isoliert verstanden werden, und die Arbeiter:innenklassen der umliegenden Länder müssen sich dem Kampf anschließen und einen neuen Arabischen Frühlung erzwingen. Das gilt auch in letzter Konsequenz für die israelische Arbeiter:innenklasse.
Als Ansatzpunkt in Halbkolonien kann der Kampf für die Vollendung der verbliebenen bürgerlich-demokratischen Aufgaben im Sinne von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution angesehen werden, das heißt also: Fokus auf nationale Einheit und Unabhängigkeit, eine Agrarrevolution sowie politische Demokratie. Doch kann das im Imperialismus für Halbkolonien nicht wirklich vollständig erfüllt werden. Daher darf der Kampf hier keineswegs aufhören und muss in einen für Sozialismus umschlagen, um wirklich erfolgreich sein zu können. Doch das kann nicht durch Guerillatruppen erreicht werden, sondern nur durch Demonstrationen und Streiks, letztendlich massenhafte Aufstände. Also mit Hilfe einer Intifada mitsamt einem Generalstreik, zu dem auch international alle Gewerkschaften zur Beteiligung aufgerufen werden. Und die Massenaktionen in der 1. Intifada haben auch bereits gezeigt, dass das palästinensische Proletariat und die Jugend kämpfen können. Dafür braucht es den Aufbau von kämpferischen Gewerkschaften, Arbeiter:innen-, Bäuerinnen-/Bauernräte, Frauenkomitees und auch Volksmilizen. Auch müssen die Kräfte der Arbeiter:innnenklasse und das regionale (Klein-)Bürger:innentum in einer antiimperialistschen Einheitsfront zeitweise gemeinsam gegen die Imperialist:innen kämpfen. Sie bleiben jedoch unerbittliche Klassenfeind:innen. Das bedeutet auch, dass es sich um getrennte Organisierung handeln muss, wobei sich die betroffenen Gruppierungen und Organisationen jederzeit offen kritisieren dürfen sollen. Das ist besonders für uns als Marxist:innen wichtig, da wir so die (klein-)bürgerliche Führung auf einer ideologischen Ebene angreifen und somit ihren Einfluss auf die Unterdrückten schmälern können.
Denn auch die Führungskrise der Arbeiter:innnenklasse ist etwas, was nicht nur in Deutschland, sondern auch in Halbkolonien vorhanden ist und auch zu dem immer wiederkehrenden Verrat an den Interessen der Unterdrückten und Ausgebeuteten durch (klein-)bürgerliche Bewegungen führt, etwas durch die Hamas oder auch während des Arabischen Frühlings. Daher braucht es eine revolutionäre Partei, um die Interessen der Arbeiteren:innnenklasse durchzusetzen, indem sie die Kämpfe zuspitzt und anführt. Die Avantgarde stellt hier die palästinensische Arbeiter:innenklasse mit dem Ziel dar, die israelische Arbeiter:innen klasse auch in die antizionistische Vorhut hineinzuziehen. Die Partei muss demokratisch-zentralistisch organisiert sein und zum Ziel haben, sowohl die israelische Regierung als auch die Palästinensische Autonomiebehörde zu entmachten und eine konstituierende Versammlung einzusetzen, die die Verfassung eines binationalen, säkularen, demokratischen und sozialistischen Staates ausarbeitet. Der Höhepunkt des revolutionären Kampfes stellt die Machtübernahme durch Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern in Form von Deligiertenräten sowie die Bewaffnung der arbeitenden Bevölkerung und Zerschlagung des bürgerlichen Staates in seiner gegenwärtigen unterdrückerischen Form dar. Aber der alleinige Kampf im Nahen und Mittleren Osten reicht nicht aus, um den Imperialismus weltweit zu besiegen. Hierfür muss die revolutionäre Partei auch in eine Internationale integriert werden, und für die Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Kernzentren sollte die Devise lauten: Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Das kann zum Beispiel konkret bedeuten, sich an Blockaden von Waffenlieferungen zu beteiligen.
Berliner Polizei löst Palästinakongress auf – Meinungsfreiheit wird zur Farce
von Martin Suchanek, zuerst erschienen in der Infomail 1251 der Gruppe Arbeiter:innenmacht, April 2024
Einschränkungen demokratischer Rechte gehören mittlerweile zum Normalzustand der „Demokratie“. Die von Merkel und Scholz zur Staatsräson erklärte „bedingungslose Solidarität“ mit Israel verträgt sich offenkundig schlecht mit der Meinungsfreiheit.
Diese kam am 12. April unter die Räder wie selten zuvor in Berlin, einer Stadt, die durchaus auf eine lange Geschichte polizeilicher Gewalt und Willkür zurückblicken kann.
Doch während sich Repression „normalerweise“ auf Demonstrationen, Besetzungen, Blockaden, Akte zivilen Ungehorsams oder das Aufbegehren prekär Beschäftigter konzentriert, galt der Anschlag auf die Meinungsfreiheit diesmal einer Saalveranstaltung, einer demokratisch organisierten Konferenz, dem Palästinakongress.
Staatsräson
Dieser richtet sich nämlich direkt gegen die zur Staatsräson er- und verklärte Solidarität mit Israel, auch wenn dieser Staat gerade rund 40.000 Menschen durch Bombardements und Bodentruppen getötet hat, weit über eine Million Menschen in Gaza vertrieben wurden und akut Hunderttausende vom Hunger bedroht sind. Mit tödlichem Ernst halten die deutsche Regierung wie die bürgerliche Opposition und die faktisch gleichgeschalteten Medien an der Fiktion fest, dass Israel keinen genozidalen Angriffskrieg führe, sondern sein „Recht auf Selbstverteidigung“ ausübe. Und damit nicht genug, Deutschland unterstützt den Krieg nicht nur politisch, diplomatisch, sondern auch militärisch. Allein im Jahr 2023 haben sich die Rüstungsexporte verzehnfacht.
Dieser Krieg wird folgerichtig auch im Inneren weitergeführt. Damit soll einerseits die Schuld des deutschen Imperialismus am Holocaust ideologisch entsorgt werden, andererseits verfolgt der deutsche Staat damit handfeste ökonomische und vor allem geostrategische Interessen.
So gerät schon die Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit zur quasi kriminellen Betätigung. Seit Wochen wird in den Medien, von reaktionären wie „demokratischen“ Stimmungsmacher:innen, nach dem Verbot der Veranstaltung gerufen. Nachdem das rechtlich nicht ging, wurde tagelang gefordert und gedroht, was am 12. April von der Polizei durchgezogen wurde. Berlins rechtskonservativer Bürgermeister Wegner hatte schon lange ein „rigoroses Einschreiten“ beim „kleinsten Verdacht“ gesetzwidriger Aussagen angekündet. Im Klartext heißt das nichts anderes als die angedrohte Kriminalisierung jeder offenen Kritik am Staat Israel und seiner rassistischen Grundlagen, jeder Solidarisierung mit Palästina, jedes Antizionismus und jedes Eintretens für die demokratischen Rechte des palästinensischen Volkes, insbesondere dessen auf nationale Selbstbestimmung.
Provokation
Daher begann der Tag schon mit abstrusen und absurden Schikanen. Die Brandschutzverordnung und das Bauamt wurden bemüht, um einen Vorwand zu finden, nur 250 Personen in die für 600 Menschen ausgelegten Räumlichkeiten zu lassen. Hunderte Menschen konnten daher an der Veranstaltung erst gar nicht teilnehmen. Zudem zog die Polizei den gesamten Prozess des Einlassens der Teilnehmer:innen über Stunden hin. Während hunderten Menschen mit Eintrittskarten der Zutritt von der Obrigkeit verwehrt wurde, schleuste die Polizei – unter frecher Missachtung des Hausrechtes der Veranstalter:innen – prozionistische, hetzerische Journalist:innen von Welt und Co. ein. Darüber hinaus machten die Cops die massive Präsenz uniformierter und aller möglichen Polizist:innen in Zivil zur Bedingung, dass die Veranstaltung überhaupt beginnen konnte.
Trotz all dieser Schikanen, Provokationen und polizeistaatlicher Mittel, von denen Putin und Erdogan, Netanjahu und Biden, aber auch Meloni und Macron noch einiges lernen könnten, begann der Kongress.
Rede von Habh Jamal
In einer ergreifenden Rede entlarvte Hebh Jamal die Lügen, aber auch die Kooperation der Unterdrücker:innen weltweit, eine Kooperation, die keine Verschwörung ist, sondern die das gemeinsame Interesse der herrschenden Klassen an einer imperialistischen Ordnung deutlich macht, die auf Ausbeutung und Unterdrückung basiert. Vor allem machte sie deutlich, dass eine Konferenz, die die Verbrechen der Nakba, die Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser:innen verdeutlicht und die Komplizenschaft des deutschen Imperialismus hervorhebt, auch einen Akt des Widerstandes darstellt.
Denn in der Anklage gegen diese Politik, die die Konferenz schon im Vorfeld erhob, liegt notwendig und untrennbar ein Durchbrechen des Schweigens, ein Moment der Solidarisierung, die zur Aktion, zum Handeln drängt, zur Vertiefung und besseren Koordinierung unserer Bewegung.
Das wollen die deutsche Regierung sowie das gesamte politische Establishment, ob nun Ampelkoalition oder Unionsparteien, ja selbst die AfD und Teile der Linkspartei verhindern. Die Berliner Polizei rückte mit gut 900 Einsatzkräften an, um diesen politischen Auftrag umzusetzen. Und sie tat es.
That’s what imperialist „democracy“ looks like
Die Videobotschaft von Salman Abu Sitta, über den der deutsche Staat wegen seines Engagements ein Einreiseverbot verhängt hatte, wurde schon nach wenigen Minuten und ohne ersichtlichen Grund von der Polizei gestoppt. Dafür wurden schließlich gegenüber der Anwältin der Veranstalter:innen mehrere, einander widersprechende, selbst nach bürgerlichem Recht überaus fragwürdige Gründe geliefert. So erklärte die Polizei einmal, dass die Rede Passagen enthalten könnte, die volksverhetzerisch sein könnten. Dies würde geprüft werden. Frei nach dem Motto „Viel hilft viel“ hieß es später, dass Salman Abu Sitta ein politisches Betätigungsverbot in Deutschland habe. Seit wann und woher, wussten die Polizeikräfte ebenso wenig zu erklären wie die Frage, ob das Abspielen einer Videobotschaft überhaupt darunter falle. Doch wer braucht schon Gründe, wenn er das Gewaltmonopol auf seiner Seite hat? Und um gleich alle Unklarheiten aus der Welt zu schaffen, dass hier das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit mit Füßen getreten wird, wurde der Kongress auch gleich für Samstag und Sonntag samt sämtlicher Nachfolgeveranstaltungen verboten.
Die Polizei konnte den Kongress sprengen und auflösen. Doch sie wird uns weder zum Schweigen bringen noch wird sie ihr Ziel erreichen, unsere Bewegung, die wächst und stärker wird, zu zerstören.
Im Gegenteil. Die willkürliche Auflösung des Kongresses und der Anschlag auf die Meinungsfreiheit offenbaren nicht nur den repressiven Charakter der Polizei. Sie verdeutlichen auch den antidemokratischen Charakter der deutschen Regierungspolitik. Und sie zeigen die enge Verbindung von imperialistische Politik und der monopolisierten öffentlichen Meinung. Denn neben der Repression stehen wir auch einer orchestrierten Hetze und Verleumdung samt einer massiven Welle antipalästinensischen, antimuslimischen und antiarabischen Rassismus’ entgegen.
Dass die deutschen Medien auch gegen Genoss:innen der Gruppe Arbeiter:innenmacht und von REVOLUTION hetzen, zeigt unserer Meinung nach nur, dass wir etwas richtig gemacht haben. Wir wollen aber nicht vergessen, dass das deutsche Establishment in den letzten Wochen auch seine antisemitische Seite zeigt, wenn sie antizionistische Juden und Jüdinnen, vor allem die Genoss:innen der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“, öffentlich diffamiert und die Berliner Sparkasse ihr Vereinkonto sperrt. Vor allem aber dürfen wir nicht vergessen, dass es vor allem unsere palästinensischen Genoss:innen sind, die auf das Brutalste angegriffen, deren Vereine und Organisationen bedroht und kriminalisiert werden und über denen das Damoklesschwert der Abschiebung hängt, während zugleich ihre Freund:innen und Angehörigen sterben oder vertrieben werden.
Heute, am 12. April 2024, haben die Wegners und Giffeys, die Scholz’ und Baerbocks unseren Kongress auflösen können. Sie verfügen über die Machtmittel, dies zu tun. Doch sie mögen sich ihres „Erfolges“, ihres „Sieges“ über unsere demokratischen Rechte nicht zu sicher sein – und gewiss werden sie sich nicht zu lange darüber erfreuen. Auch wenn sie vermochten, unseren Kongress aufzulösen, so wurde er – und dies ist ein Stück Ironie der Geschichte – weltweit bekannter. Vor allem hat die Repression weit mehr Menschen den reaktionären, antidemokratischen Charakter des deutschen Kapitalismus vor Augen geführt, als es unsere Reden, Beiträge, Diskussionen, Beschlüsse allein vermocht hätten. Gerade der deutsche Imperialismus hat sich über Jahrzehnte das Image aufgebaut, vergleichsweise „demokratisch“ und „wertebasiert“ zu sein. Diese selbstgefällige Lüge entlarvt er gerade selbst.
Wir werden dafür sorgen, dass sie ihm im Halse steckenbleibt. Sie können einen Kongress verbieten, unseren Widerstand, Kampfeswillen, unsere Entschlossenheit werden sie nicht brechen. Denn wir kämpfen im Gegensatz zu ihnen für eine gerechte Sache, für Freiheit und Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes, für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung.