Erweiterung der BRICS-Staaten: Gipfel unterdrückter Völker oder imperialistisches Projekt?!

von Yorick F., September 2023, zuerst veröffentlicht in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Die BRICS Staaten wollen sich mit dem Jahresbeginn 2024 fast verdoppeln. Das wurde auf ihrem Gipfel in Johannesburg (Südafrika) vom 22. bis 24.8.2023 beschlossen. Zu den 5 bisherigen Namen gebenden Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sollen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, Argentinien, Äthiopien, Ägypten und dem Iran sechs weitere dazukommen. Einig davon sind schon seit Jahren erklärte Gegner des westlichen imperialistischen Blocks, andere waren jahrzehntelang jedoch dessen strategische Verbündete, die sich aber seit Jahren zwischen den USA und China neu positionieren.

Diese Erweiterung, die unter dem Namen BRICS Plus firmiert, will sich als Gegengewicht zu den 2006 gegründeten geführten G7 positionieren und könnte – wenn auch nicht in unmittelbarer Zukunft – eine ernste Bedrohung für das US-geführten Staatenbündnis werden.

Aktuell leben in den BRICS-Staaten bereits 42 Prozent der Weltbevölkerung, nach der Erweiterung wären es sogar 46. Bedeutsamer ist aber die ökonomische Zunahme: Die aktuellen 31 Prozent Anteil an der Weltwirtschaftsleistung nach Kaufkraft bereinigtem BIP würden sich auf 37 erhöhen. Tatsächlich überholten die BRICS damit bereits die G7. Was als Wendepunkt in der kapitalistischen Weltordnung erscheint, muss jedoch relativiert werden.

Ungleichheit unter den BRICS

Zunächst herrscht innerhalb der BRICS – noch mehr noch als in den G7 – eine extreme Ungleichverteilung der Anteile an diesem BIP vor. China zeichnet verantwortlich für 17,6 Prozent, gefolgt mit großem Abstand von Indien mit 7 Prozent und schließlich Russland (3,1), Brasilien (2,4) und Südafrika (0,6). Nach dem ökonomisch bedeutsameren Nominalwert in US-Dollar, also dem nicht bereinigten BIP, liegen die BRICS immer noch weit hinter den G7. So verfügten sie als gesamter Block 2022 über ein BIP von 26 Billionen US-Dollar, etwa so viel wie die USA alleine.

Nach BIP pro Kopf sind die BRICS noch immer weit abgeschlagen. Selbst wenn man nicht nach der Kaufkraft des US-Dollars rechnet, sondern bereinigte Größen zu Grunde legt, fällt es in den USA mit 80.035 US-Dollar mehr als dreimal so hoch aus wie das chinesische BIP von 23.382.

Auch als BRICS Plus mit allen potenziellen neuen Mitgliedsstaaten bleibt das Wirtschaftsbündnis letztlich eine weitaus schwächere und kleinere Wirtschaftsmacht als der imperialistische Block der G7. Darüber hinaus sind die BRICS in noch höherem Maße divers in ihrer Bevölkerung, dem BIP pro Kopf, ihrer Geografie und der Zusammensetzung ihrer Handelsströme.

Nicht zuletzt herrscht größere Uneinigkeit auch politisch zwischen den Mitgliedsstaaten, während  der G7–Block über lange etablierte Institutionen des globalen Finanzkapitals, gemeinsame militärische Institutionen verfügt und die Hegemonie der USA über ihre imperialistischen Verbündeten größer ist als jene Chinas über die BRICS-Staaten.

Im Gegensatz zu den G7, die unter Führung der USA trotz innerer Konkurrenz relativ einheitliche wirtschaftliche Ziele gegenüber den anderen Ländern verfolgen, haben die BRICS auch in Bezug auf ihre Wirtschaftsstrategie diese nicht. Sie eint – was für die aktuelle Lage schon bedeutend genug ist – vor allem, dass sie ein Gegengewicht gegenüber den USA und den anderen langjährigen imperialistischen Mächten bilden wollen. Sie haben aber keine gemeinsame Zielsetzung bezüglich eine anderen Weltwirtschaftsordnung.

Es eint sie vielmehr der Versuch, sich von der wirtschaftlichen Dominanz der USA und insbesondere des US-Dollars zu lösen. Und selbst das dürfte schwierig werden. Der Dollar bleibt trotz sinkender Dominanz der USA die weltweit bedeutsamste Währung für Handel, Investition und Devisenreserven. Der Anteil des Renminbi an globalen Währungsreserven hingegen beträgt heute nur etwa 3 %. Selbst China hält noch 58 % seiner Währungsreserven in Dollar. So wurde auch die Diskussion über die Ablösung des Dollars insbesondere aufgrund der Einwände vor allem Indiens auf den nächsten Gipfel im russischen Kasan (Republik Tatarstan) vertagt.

Auch im Hinblick auf die dominanten internationalen Institutionen der kapitalistischen Weltordnung gibt es wenig Aussicht auf eine Ablösung der westlichen Hegemonie. Die New Development Bank (NBD) konnte bisher kein spürbares Gegengewicht als Kreditinstitution gegenüber IWF und Weltbank aufbauen.

Dennoch wird sich die internationale Rivalität in diesem Jahrzehnt politisch, wirtschaftlich und militärisch verschärfen und die Erweiterung der BRICS wird insbesondere für China wohl von größerer Bedeutung sein. Das Bündnis erweitert sich um drei wichtige Lieferanten von fossilen Rohstoffen: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und den Iran. Unter Miteinbeziehung Russlands werden derzeit 60 Prozent der weltweit geförderten Öl- und Gasvorkommen in BRICS-Ländern gewonnen. Demnächst könnte BRICS Plus 80 Prozent der weltweiten Ölförderung kontrollieren.

Innere Spannungen

Vor allem Indien befürchtet eine wachsende Dominanz Chinas innerhalb des BRICS-Bündnisses, insbesondere auch aufgrund des territorialen Streites an der indisch-chinesischen Grenze. Die führende Rolle innerhalb des Bündnisses hat China zwar sowieso inne, aber mit einer Währung, die sich konjunkturell am Renminbi (Yuan; RMB) orientieren würde, könnte es seine dominierende Rolle für die BRICS Staaten ausbauen. Als zweitgrößte imperialistische Macht der Welt betrachtet China die BRICS letztlich natürlich als Mittel, den kriegsgeschüttelten russischen Imperialismus, aber auch aufstrebende und geostrategisch wichtige Halbkolonien enger an sich zu binden und seine ökonomische, militärische und politische Dominanz auszubauen.

Doch das ist bei weitem nicht die einzige Konfliktlinie innerhalb des BRICS-Bündnisses. Damit zusammenhängend bildet die Frage, was das Bündnis eigentlich vor allem in Bezug auf die G7 sein soll, einen immer wiederkehrenden Streitpunkt. Während China und Russland das Bündnis für sich als Unterstützung im Kampf um die Neuaufteilung der Welt mit dem Westen sehen wollen, sind die meisten anderen alten wie neuen Mitgliedsstaaten gegen eine dezidiert antiwestliche Ausrichtung und erhoffen sich, sowohl mit den G7 als auch den BRICS gute Beziehungen zu unterhalten. So verhalten sich die meisten z. B. in der Frage des Ukrainekrieges nach außen hin neutral.

Staaten wie Brasilien und Indien, aber auch neue Mitglieder wie Ägypten oder die VAE haben zwar ein direktes Interesse daran, China als Partner auf ihrer Seite zu haben, wollen aber auch nicht ihre wirtschaftlich guten Beziehungen mit dem Westen aufgeben. Andere (neue) Mitglieder wie der Iran oder Südafrika stehen hingegen ziemlich eindeutig auf russischer Seite, auch wenn Südafrika sich dem UN-Beschluss des internationalen Haftbefehls gegen Putin beugt und dieser deshalb nur per Videoschalte an der Konferenz teilnehmen konnte. Gerade aufgrund dessen waren vor allem Indien und Brasilien eher abgeneigt gegenüber einer Erweiterung des Bündnisses und forderten einheitliche Kriterien für zukünftige BRICS-Plus-Mitgliedsstaaten, da sie befürchten, innerhalb des Bündnisses an Einfluss zu verlieren und den Kurs vollständig in die Hände v. a. Chinas zu legen.

Diese Konflikte könnten in Zukunft auch durchaus noch größer werden, wenn es um die Aufnahme von 16 weiteren Staaten geht, die bereits einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt haben. 40 weitere haben ihr Interesse bekundet.

Unter den Bewerber_Innen sind nämlich so unterschiedliche Staaten wie Kuba oder Venezuela mit einer recht eindeutigen antiwestlichen Ausrichtung, aber z. B. auch Nigeria, welches relativ gute Beziehungen zum Westen pflegt und vor einem potentiellen Krieg in der Sahelzone mit Niger, Burkina Faso und Mali auf Seiten des Westens steht.

Diese Spannungen zeigen zu einem gewissen Grad den Charakter des Bündnisses auf. Es ist offensichtlich nicht das Ziel Chinas und Russlands, eines zu schaffen, welches die Interessen der unterdrückten Nationen des globalen Südens vertritt, sondern ihre eigenen ökonomischen und geostrategischen Ziele zu verfolgen. Aber zugleich müssen sie Kompromisse mit wichtigen halbkolonialen Ländern eingehen, um diese näher an sich zu ziehen oder aus einer engen Westbindung zu lösen. Die Formel, ein umschließendes Bündnis für mehr friedliches Miteinander in einer neuen multipolaren Weltordnung zu schaffen, dient dabei als ideologische Klammer, die realen imperialistischen Ambitionen Russlands und Chinas zu verschleiern – ganz ähnlich wie das Spielen der Demokratiekarte auf westlicher Seite.

Vor welchem Kontext findet das statt?

Noch deutlicher wird das, wenn wir uns angucken, in welchem Kontext, in welcher aktuelle Periode wir uns befinden. Die aktuellen wie auch die nächsten Jahre sind von einer tiefen Überakkumulationskrise, stagnierenden oder fallenden Profitragen geprägt. Natürlich versuchen alle kapitalistischen Staaten, die Kosten von Krieg, Krise, Stagnation auf die Arbeiter_Innenklasse abzuwälzen (beispielsweise auch durch die Inflation). Aber das wird nicht reichen, um die Weltwirtschaft wieder flottzumachen, zumal innerimperialistische Konkurrenz und der Krieg um die Ukraine gemeinsame Lösungsstrategien mehr und mehr verunöglichen.

Die Tage der unbestrittenen Vorherrschaft des imperialistischen Blocks unter Führung der USA sind vorbei – und damit die Zeiten der ungehinderten Expansion der Handels- und Finanzströme der 1990er Jahre und der ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Da die Rentabilität des Kapitals in den großen Volkswirtschaften in den letzten beiden Dekaden zurückging, hat sich der Kampf der großen kapitalistischen Volkswirtschaften um die Generierung von Profit verschärft.

Und dies führt zu einer Zersplitterung der wirtschaftlichen Macht. Der imperialistische Block unter Führung der USA ist zwar immer noch dominant, aber seine Vorherrschaft wird wie nie seit 1945 in Frage gestellt. Das führt dazu, dass sich die innerimperialistischen Konflikte weiter verschärfen. Nicht nur die Konkurrenz zwischen den großen Rivalen USA/EU und China, sondern auch zwischen verbündeten Imperialist_Innen tritt immer mehr zum Vorschein (z. B. die Versuche des US-Imperialismus mithilfe Anheizens des Ukrainekrieges Deutschland und Frankreich über die EU weiter an sich zu binden). Als Resultat davon wollen viele Staaten ihren Spielraum zwischen den sich formierenden Blöcken vergrößern, um sich im Zweifelsfall auf die günstigste Seite zu schlagen. Zugleich stehen etablierte Liefer- und Wertschöpfungsketten immer mehr zur Disposition, so dass immer mehr Tendenzen einer „Deglobalisierung“ hervortreten. Der Weltmarkt wird zunehmend fragmentiert, wirtschaftliche, militärische und politische Blöcke formieren sich im Rahmen des imperialistischen Weltsystems.

Nein zu allen imperialistischen Blöcken!

Für uns ist also klar, dass dieser Gipfel nicht, wie von z. B. dem brasilianischen Präsidenten Lula behauptet, einer der unterdrückten Völker des globalen Südens war. Die BRICS sind vielmehr ein Bündnis aus imperialistischen Mächten (China und Russland) sowie halbkolonialen Staaten, die ihrerseits um einen größeren Anteil am Reichtum der Welt kämpfen, inklusive bedeutender Regionalmächte, die selbst gern in den Kreis imperialistischer Mächte aufsteigen möchten (was sicher bei Indien am deutlichsten hervortritt).

Wir sehen in einem Erstarken der chinesischen und russischen Einflusssphäre keinen antiimperialistischen Fortschritt, sondern im Gegenteil ein Mittel des russischen und vor allem des chinesischen Imperialismus, in der sich im Zuge der Deglobalisierung vollziehenden Blockbildung möglichst viele Staaten als u. a. Einflusssphären, Ressourcenquellen und Absatzmärkte um sich zu scharen, um vor allem wirtschaftlich den USA die Stirn zu bieten.

Bei der Neuaufteilung der Welt zwischen „alten“ Großmächten (USA und die übrigen G7) einerseits und den neuen, aufstrebenden handelt es sich im einen reaktionären, innerimperialistischen Gegensatz, der auf dem Rücken der Arbeiter_Innenklasse und der unterdrückten Nationen ausgetragen wird.

Als Revolutionär_Innen müssen wir zum einen die Propaganda unserer „eigenen“ imperialistischen Bourgeoisie – des deutschen Kapitals – und seiner Regierung vom „Gipfel der Tyrannen“ als Heuchelei entlarven und den Klassenkampf gegen diese entschlossen führen. Gleichzeitig müssen wir uns mit der Arbeiter_Innenklasse und den Unterdrückten auch in den BRICS-Staaten im Kampf gegen „ihre“ herrschende Klasse solidarisieren. Dazu aber müssen wir selbst eine internationale Kampforganisation unserer Klasse, eine neue revolutionäre Internationale aufbauen.

Nein zu BRICS, G7 oder NATO – Zerschlagung aller imperialistischen Bündnisse! Für den gemeinsamen Kampf der Arbeiter_Innen und Unterdrückten!



JIN JIYAN AZADΖ die Flamme der Revolution im Iran brennt weiter!

Von Pauline P., September 2023

Der Mord an der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini durch die „Sittenpolizei“ jährt sich heute zum ersten Mal. Er war der Funke, der das Feuer einer neuen Massenbewegung im Iran entfachte. Seither versucht das diktatorische, islamistische Regime, die Proteste im Blut zu ertränken. Mit über 500 Ermordungen, über 20.000 Festnahmen und öffentlichen Hinrichtungen versuchen die bewaffneten Kräfte der Staatsmacht, die Massen einzuschüchtern – die Bewegung im Keim zu ersticken und die Anhänger_Innen des Regimes zu stärken. Aus Angst vor einer Masse, die mehr und mehr revolutionären Charakter annimmt, gehen die Repressionen immer weiter und erkämpfte Fortschritte werden wieder rückgängig gemacht. So marschiert und fährt die Sittenpolizei wieder durch die Straßen Irans und die Strafen bei Verstößen gegen die Kleidervorschriften werden sogar erhöht. Auch heute – am Todestag Aminis – fürchtet sich das Regime vor einem erneuten Aufflammen der Proteste. Das Polizeiaufgebot in den Städten ist verdoppelt und im Vorhinein wurden 6 Personen festgenommen, die Proteste geplant haben sollen. Auch wenn es auf den Straßen wieder ruhiger geworden ist, das Feuer brodelt weiterhin unter der Oberfläche. Das Regime kann zwar die Proteste niederschlagen – das erwachende Bewusstsein der Menschen und die Ursachen für die revolutionäre Erhebung von Millionen können sie aber nicht aus der Welt schaffen. Denn es ist das reaktionäre, ausbeuterische, frauen- und menschenfeindliche Regime selbst – die spezifische Mischung aus Kapitalismus, Nepotismus und islamistischer Diktatur, die immer wieder den Widerstand hervorbringen wird, den sie mit aller Gewalt – und letztlich nur noch mit Gewalt – blutig unterdrückt.

Von bürgerlichen Protesten zum bewussten Klassenkampf

 Seit 2017 hat sich eine Sache grundlegend geändert: Während vorher, auch bei der sogenannten grünen Revolution im Jahre 2009, vor allem die städtischen Mittelschichten die Basis der Massendemonstrationen bildeten, so ist heute vor allem die Arbeiter_Innenklasse Trägerin des Kampfes. Seit einem Jahr allen voran Frauen, Studierende, die Jugend sowie die unterdrückten Nationalitäten. Die Hoffnungen und Illusionen in den „reformorientierten“ Teil des Regimes sind bei den Massen verflogen. Soziale Fragen rücken in den Vordergrund. Und dies ist ein Fortschritt, der sehr zu begrüßen ist.  Ein Fortschritt mit dem Potential, das Blatt ein für alle mal zu wenden. Denn langsam wird immer mehr klar, dass iranischer Kapitalismus und islamistisches Regime von Anfang an eng miteinander verbunden waren und nur gemeinsam bekämpft werden können.

Das islamistische Mullahregime

Die Unterdrückung der Frauen gehörte von Beginn an zur politischen DNA des islamistischen Regimes. Der Sieg von Khomeini und den Mullahs bei der iranischen Revolution in den 1970ern bedeutete für alle Frauen im Iran eine Katastrophe. Die Elemente formaler Gleichheit, die unter dem Schah errungen und in den ersten Monaten der Revolution faktisch sogar ausgeweitet worden waren, wurden rigoros abgeschafft. Natürlich hatten Khomeini und die Mullahs die Frauenunterdrückung und das Patriarchat nicht erfunden, sie institutionalisierten sie jedoch im extremen Ausmaß. Die Scharia, als islamisches Gesetz, wurde zu deren rechtlich-ideologischer Grundlage, welche Frauen auf verschiedensten Ebenen unterdrückt, entrechtet und schikaniert. Die extreme Form der Entrechtung seit Beginn der Mullahherrschaft ging mit einer widersprüchlichen Entwicklung der Lage der Frauen im Bildungswesen und in der Arbeitswelt einher. Heute gibt es im Iran rund 4,5 Millionen Studierende, eine für ein halbkoloniales Land beachtliche Zahl und Quote. Fast jede/_r zweite Studierende ist eine Frau. Dies spiegelt den Versuch des Mullahregimes wider, nach der Machtergreifung eine staatskapitalistische Industrialisierung voranzutreiben, was sich auch im Zwang, vermehrt Frauen als Lohnarbeiterinnen zu beschäftigen oder professionell zu qualifizieren, ausdrückt. Somit entstand im Iran einerseits eine sehr qualifizierte Schicht von Frauen, die zugleich weiter politisch und kulturell entrechtet blieb. Über Jahre versprach das Regime den Frauen und der Jugend im Gegenzug für soziale Unterdrückung Jobs, Einkommen und sogar einen gewissen Aufstieg. All das entpuppte sich nach anfänglichen ökonomischen Erfolgen in den 1990er Jahren mehr und mehr als Fiktion. Die neoliberalen Reformen und Privatisierungen des letzten Jahrzehnts, vor allem seit dem Einbruch 2012/13, verschlechterten die Lage weiter. Für die Frauen und die Jugend sieht die Zukunft düster aus. Die Arbeiter_Innen bilden mittlerweile die zahlreichste Klasse der iranischen Gesellschaft. Zugleich lebt ein großer Teil dieser Klasse heute in Armut. Für die Lohnabhängigen repräsentierte die Diktatur der Mullahs immer eine brutale Herrschaft der Ausbeuter_Innen. Proletarische, aber auch junge, akademisch gebildete Frauen trifft dies besonders. Die Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt sind beachtlich. Das verdeutlicht auch die Arbeitslosenquote von Frauen mit offiziell 18,96% im Jahr 2021, die fast doppelt so hoch ist wie jene der Männer (9,89%). Noch höher liegt sie bei Jugendlichen – und das heißt insbesondere auch bei jungen Frauen – mit 27,21%. Mit fast 89% extrem stark von Arbeitslosigkeit – und damit von Armut – betroffen ist die ohnedies stigmatisierte Gruppe von alleinerziehenden Frauen. Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Einerseits natürlich die Inflation und die ökonomische Stagnation selbst, die die gesamte Klasse der Lohnabhängigen betrifft. Zweitens ziehen viele, natürlich männliche Unternehmer, vor, junge Männer statt Frauen zu beschäftigen, selbst wenn diese z. B. einen weit besseren Hochschulabschluss vorweisen. Darüber hinaus nutzen Unternehmen bewusst die reaktionäre Gesetzgebung, um gewerkschaftlich aktive oder einfach Widerstand leistende Arbeiterinnen unter dem Vorwand „unislamischen“ Verhaltens oder „unsittlicher“ Bekleidung zu entlassen.

Unterdrückungsformen können nur mit dem Kapitalismus zusammen untergehen!

All dies verdeutlicht, wie eng der Kampf gegen Frauenunterdrückung mit dem gegen Ausbeutung verbunden ist und einen essentiellen Teil des Klassenkampfes bildet, da Frauen im Kapitalismus durch die ins Private gedrängte Reproduktionsarbeit doppelt ausgebeutet werden und die Existenz des Kapitalismus dieser Reproduktion bedarf. Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzutasten. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher). Eine politische Kraft, die konsequent die Interessen der lohnabhängigen Frauen, der Student_Innen und Arbeiter_Innenklasse insgesamt zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken. Entscheidende gesellschaftliche Fragen müssen mit der Enteignung des Kapitals und der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden werden. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Ausgebeuteten bleiben. Entscheidend ist außerdem internationale Solidarität mit den Kämpfen im Iran und der gemeinsame Aufbau von Massenbewegungen, um den Kapitalismus und mit ihm auch die Frauenunterdrückung weltweit zu schlagen!




Wahlen in der Türkei: Mücadeleye devam – Wir kämpfen weiter

Von Dilara Lorin, aus Neue Internationale 274 (Gruppe Arbeiter:Innenmacht), Juni 2023

In den letzten Monaten, vor allem, aber in den letzten Wochen war das Land politisiert und die Spannungen innerhalb der Bevölkerung wurden immer größer. Dies hat verschiedene Ursachen. Das verheerende Erbeben vom 6. Februar, welches mehr als 50 000 Menschen das Leben kostete, aber auch die Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung aufzeigte; die Inflationsrate, die Oktober 2022 ganze 80 % erreichtet; die immer prekärer werdende Lage der Arbeiter:innenklasse, auch eine zumeist tief rassistisch geführte Debatte über die Lage und Rolle von Millionen Flüchtlingen und der Kurd:innen.

Dennoch konnte Erdogan die Präsidentschaftswahlen im zweiten Wahlgang für sich entscheiden. Zweifellos kam ihm dabei das Monopol über die staatlichen Medien wie das Fernsehen, die Kontrolle des Staatsapparates, Repression und Entschücherung der Opposition, vor allem der kurdischen HDP, die vom Verbot bedroht sind und von der hunderte Mitglieder in den Gefängnissen sitzen zugute. Aber sein Gegenkandidat, der kemalistische türkische Nationalist Kılıçdaroğlu versprach selbst eine reaktionäre, kapitalistische und rassistische Politik, die keine Alternative zu Erdogan dargestellt hätte.

Zwei Lager, aber zwei reaktionäre Lager

Zweifellos hat die Wahl die Menschen in zwei Lager gespalten, die einen, die Erdogan weiterhin unterstützen, die anderen, die sich für Kılıçdaroğlu aussprachen, weil sie diesen als Alternative zum bonapartistischen Regime Erdoğan ansahen. Dass dies jedoch eine Wahl zwischen Pest und Cholera war und Kılıçdaroğlu keine Alternative für die Arbeiter:innen, Kurd:innen, Geflüchteten und weitere Unterdrückte darstellen kann, wurde in den letzen zwei Wochen immer deutlicher.

Im ersten Wahlgang war neben den beiden Kandidaten trat noch ein dritter angetreten: Sinan Oğan, ein Rechter, der wegen nationalistischen und rassistischen, wegen sexistischen und frauenfeindlichen Äußerungen bekannt wurde, erhielt 5 %. In der Stichwahl versuchte er sich als „Königsmacher“ zu inszenieren. Jedenfalls buhlten beide Kandidaten um seine Stimmen. Auch deshalb waren die vergangen zwei Wochen geprägt von rassistischen Äußerungen und vor allem Kılıçdaroğlu fokussierte seine Wahlpropaganda darauf, innerhalb von 2 Jahren bis zu 2 Millionen Geflüchtete zu deportieren. Zugleich verlor er kaum ein Wort zur Inflation und die kapitalistische Wirtschaftspolitik Erdogans. Vielmehr würden die Geflüchteten Arbeitsplätze „klauen“ und nur deshalb ginge es der Arbeiter:innenklasse so schlecht.

Die rassistischen Äußerungen Kemal Kılıçdaroğlu erinnern an NPD und AfD. Dass dabei Erdogan keine bessere Position vertritt, ist klar. Er benutzt die Geflüchteten als Spielball gegenüber der EU. Große Teile des Geldes, welches im Zuge des reaktionären Flüchtlingsdeals in die Türkei gelangt, erreichen gar nicht erst die Lager und die Betroffenen und letztlich verfolgt auch Erdogan das Ziel, viele wieder zurückzuschicken. Jedoch behauptet er, dies erst zu tun, wenn die dafür notwendigen Bedingungen geschaffen sein würden würden. Dass bedeutet, dass Assad als Diktator wieder anerkannt wird und auch die Beziehungen nach Syrien wieder normalisiert werden – und das auf den Rücken nicht nur der Geflüchteten, sondern vor allem der Kurd:innen in Rojava. 

Parlamentswahlen

Gewonnen hat in den Parlamentswahlen letztlich wieder die AKP, welche  bei den Wahlen zur 600 Abgeordnete umfassenden großen Nationalversammlung 35,61% für sich gewinnen konnte. Dabei hat die AKP aber im Vergleich zu den Wahlen 2018 6,95% der Stimmen eingebüßt. Diese Zahlen verdeutlichen auch, dass die AKP nicht mehr jene Zustimmung in der Bevölkerung erhält wie es früher einmal der Fall war. Auch ihre Basis bröckelt, viele Anhänger:innen stehen nicht mehr hinter der Partei. Nichtsdestotrotz kann sie mit dem Wahlbündnis „Volksallianz“, mit welchen sie auch zur Wahl angetreten ist, insgesamt 49,47 % erhalten. Die AKP tritt dabei im Bündnis mit der faschistischen MHP an. Von den 318 Sitzen der Volksallianz hält die MHP immerhin 50 Sitzen.

Die CHP, welche von vielen als die Alternative zur AKP angesehen wird, kam in den Parlamentswahlen auf 25,33 % und trat ebenfalls in einem Wahlbündnis mit 5 weiteren Parteien auf, dem „Bündnis der Nation“. Dabei koaliert unter anderem mit der IYI Partei, welche islamisch, konservativ und rechts einzuordnen ist. Das „Bündnis der Nation“, das in den Medien auch „Sechsertisch“ genannt wird, kommt auf insgesamt 213 Sitze.

Dass dieses Wahlbündnis kein Interesse daran hat, wirklich demokratische Zustände in der Türkei wieder durchzusetzen, eine Verbesserung für die Arbeiter:innenklasse herbeizuführen oder für die Rechte von den unterdrückten Minderheiten einzutreten, zeigt schon der bürgerliche Charakter der CHP, deren historische Verrat an der Arbeiter:innenklasse, aber auch die Position zu den Kurd:innen  und Geflüchteten ist extrem reaktionär. 

Ergebnis von HDP und YSP

Die links-kleinbürgerliche HDP, welche für die Rechte von Frauen, LGBTI, Kurd:innen und Geflüchteten kämpft, fuhr das schlechteste Ergebnis bei den Parlamentswahlen seit ihrer Gründung ein. Sie trat aufgrund aufgrund der möglichen Illegalisierung unter dem Namen der Yeşil Sol Partei (YSP) an. Die YSP kam lediglich auf 8,82 %. Somit büßt die HPD 2,68% der Stimmen im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2018 ein. Mit dem Wahlbündnis „Arbeit und Freiheit“ traten im Rahmen der YSP 5 weiteren kleinere linke Parteien zu den Wahlen an, da runter die bekannteste, neu gegründete TİP (Arbeiterpartei der Türkei), welche 1,73 % mit ihren eigenen Listen erlangte, denn im Wahlbündnis selbst konnten alle Parteien auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten.

Dass die YSP in diesem Wahlgang an Stimmen verloren hat, zeugt auch von ihren taktischen Fehlern, welche sie schon vor der Wahl entschieden: kein gemeinsames Auftreten einer/s eigenen Präsidentschaftskandidat:in und damit die offene oder indirekte Unterstützung des CHP Kandidaten Kılıçdaroğlu und der fälschliche Glaube, man müsse sich nur auf einige Sitze im Parlament, sowie Bürgermeister und andere Posten fokussieren. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass der Wahlkampf des Bündnis für Arbeit und Freiheit unter massiver Repression stattfand, darunter der Inhaftierung sowie Einschüchterung von vielen Aktivist:innen und Wahlhelfer:innen.

Und die Kurd:innen?

Diese haben in dieser Wahl komplett verloren. Dadurch dass es keinen Präsidentschaftskandidaten von der YSP gab, konnten sie ihren Forderungen kaum öffentliches Gewicht und kein Gehör verschaffen. Dabei ist für die CHP ohnedies klar: Kurd:innen sollen allenfalls als Stimmvieh fungieren, ansonsten setzt man auf Nationalismus und Chauvinismus. So positionierte sich die CHP 2015 gegen Friedensverhandlungen und kritisierte Erdogan und die AKP von rechts. Sie unterstützte viele Angriffe der Türkei auf Rojava.

Dadurch dass die YSP und etliche revolutionäre und kommunistische Gruppen dazu aufriefen, den Präsidentschaftskandidaten der CHP zu unterstützen, verschwand die Masse der kurdischen Stimmen in denen der reaktionären, nationalistischen und bürgerlichen Masse der CHP. Die Politik des kleineren Übels ist jedoch nicht aufgegangen: Erdoğan gewinnt die Wahl am 28.5. und beginnt seine dritte Amtszeit als Präsident. Die stärkte das nationalistische Bewusstsein der AKP-Unterstützer:innen, welches sich jetzt nochmal bestätigt fühlen. Und schon in seiner ersten Ansprache als neuer Präsident hetzt Erdogan gegen den inhaftierten HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und spricht vom Großtürkischen Reich, welches er in dieser Amtsperiode weiter forcieren möchte.

In seine ersten Ansprach nach den Wahlen gibt sich Kılıçdaroğlu als „wahrer Demokrat“, hinter den vor allem Frauen und Jugendlichen zu stehen scheinen, um gleich in den nächsten Sätzen seine rassistische Haltung gegenüber den Geflüchteten noch einmal zu bekräftigen. So äußert er sich gleich am Anfang seiner Rede rassistisch und verkündet: „Als Millionen Geflüchtete kamen und ihr zum Volk zweiter Klasse wurdet, konnte ich nicht dazu schweigen“. Von den Kurd:innen war keine Rede mehr, es schien so, als seine sie vergessen, unwichtig oder nicht der Rede wert. Dabei waren es Städte vor allem die Städte aus der kurdischen Region, in denen oftmals mit einer überwältigenden Mehrheit Kılıçdaroğlu gewählt wurde. 

Kaybettik (Wir haben verloren)  oder Mücadeleye devam (Wir kämpfen weiter)?

Während viele am 28. Mai mit Türkei-Fahnen, den Wolfs- oder Rabiagrüßen den Sieg Erdoğans feierten, war ein anderer Teil der Bevölkerung niedergeschlagen. Es wurde seitens liberaler und bürgerlicher Kräfte, aber auch großer Teil der Linken für einen möglichen Sieg der „Demokratie“ unter Kılıçdaroğlu geworben. Für eine gewisse Zeit hinterließ diese bei vielen den Eindruck, dass „bessere Zeiten“ bevorstände: Erdoğan und die AKP hätten ausgesorgt, sie würden gehen. An ihre Stellt würden besser Zeiten mit mehr demokratischer Mitbestimmung, mehr Rechten für das Parlament, einer stärkeren Wirtschaft folgen.

Auch wenn es vollkommen nachvollziehbar ist, dass man sich nach besseren Zeiten sehnt, man das autoritäre Regime satt hat, so war die CHP nie eine Alternative. Denn eine bürgerlich, nationalistische Partei, welche weiterhin im Sinne der Kapitalist:innenklasse agiert, hat nicht das Interesse daran, wirkliche Verbesserungen durchzusetzen. Und alleine die weltweite wirtschaftliche Lage und tiefe ökonomische Krise in der Türkei (Inflation, Verfall der Währung) hätten gar nicht erst die Möglichkeit unter Kılıçdaroğlu geben, Reformen durchzuführen. Vielmehr hätte auch seine Regierung die Arbeiter:innenklasse massiv angegriffen, um die Profitwirtschaft wieder flott zu machen.

Wir dürfen daher auch jetzt nicht dem Modus des Verlorenen – kaybettik – verfallen, sondern unser Motto muss lauten: „Mücadelemis devam etmeli“ – Unser Kampf muss weiter gehen! Denn was notwendig gewesen wäre, und was weiterhin notwendig ist, ist die stark politisierte Lage in der Türkei zu nutzen, um die Arbeiter:innen und Unterdrückten jetzt für ihre Interessen zu mobilisieren, für den Abbau einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen den Rassismus, gegen das Regime. Die Wahlbeteiligung lag zwar bei über 80%, aber kaum eine Organisation hat einen dritten Weg der Organisierung und Mobilisierung aufgezeigt, obwohl es die Situation dies erfordert.

Es ist notwendig, dass die türkische Linke jetzt in einer Einheitsfront tritt, in welcher sie alle kämpferischen und fortschrittlichen Teile der Gesellschaft vereint, und versucht, die Gewerkschaften, die linken Parteien, die Kurd:innen, die Umwelt- und Frauenbewegung gemeinsam zu mobilisieren. Wir brauchen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und einer gleitenden Skala Löhne, nach Enteignung der Großunternehmen und Banken unter Arbeiter:innenkontrolle. Nur so kann die Inflation und die damit einhergehende Wirtschaftskrise bekämpft werden.

Dafür müssen die Gewerkschaften in der Türkei anfangen ihre Mitgliedschaft und ihren Organisationsgrad auszuweiten, Aktionskomitees in Betrieben und Stadtteilen aufzubauen, um so zu Massenorganen der Arbeiter:innen zu werden. Revolutionär:innen müssen für ein  Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse eintreten, das die Rechte und Forderungen aller unterdrücken Minderheiten, allen voran der Kurd:innen und Araber:innen und aller Geflüchteten vertritt! Eine solche Einheitsfront muss sich auf Massenversammlungen und Aktionskomitees in den Betrieben und Stadtteilen stützen sowie auf Selbstverteidigungseinheit gegen die Repression.

Es ist eine große Aufgabe, aber das Regime kann nicht durch einen weiteren nationalistischen und bürgerlichen Kandidaten gestürzt werden, sondern nur von der Arbeiter:innenklasse und den Unterdrückten selbst – und dazu ist der Aufbau einer neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei nötig, die unabhängig von allen Flügeln der herrschenden Klasse agiert.




Gegen die Angriffe auf die Versammlungsfreiheit – Solidarität mit der palästinensischen Befreiungsbewegung

Von Clay Ikarus, Mai 2023

Bereits im letzten Jahr wurden sämtliche Aktionen rund um den Mord an Shireen Abu Akleh und dem Nakba-Tag von der RGR-Regierung in Berlin verboten. Dies stellte einen massiven Angriff auf die Versammlungsfreiheit dar. Getroffen wird die palästinensische Community, die so auch hierzulande in ihrem Kampf gegen ihre Unterdrückung kriminalisiert, verfolgt und zum Schweigen gebracht wird. Dagegen müssen wir geschlossen vorgehen, nicht nur weil der Befreiungskampf der Palästinenser_Innen die internationale Solidarität der Ausgebeuteten und Unterdrückten bedarf, sondern auch, weil diese Eingriffe in unsere Versammlungsfreiheit alle treffen können. Wir hatten bereits im letzten Jahr über die Verbote berichtet und gemeinsam mit anderen Organisationen versucht dagegen vorzugehen. Auch in diesem Jahr gehen die Angriffe des Berliner Senates aus SPD und CDU weiter. Einige Veranstaltungen wurden bereits verboten, sowie alle Ersatzveranstaltungen zwischen dem 13. und 15. Mai. Zudem sind weitere bereits angemeldete Pro-Palästinensische Veranstaltungen in der Versammlungsbehörde nicht aufgelistet, weshalb wir Sorge haben, dass auch diese verboten werden.

Wieso ist der Nakba-Tag so wichtig?

Nakba bedeutet Katastrophe auf Arabisch. Der Tag ist ein internationaler Gedenk- und Kampftag und beschreibt die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem historischen Gebiet Palästina mit der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948. So wurde die zionistische Idee von Theodor Herzl, einen mehrheitlich jüdischen Nationalstaat zu errichten, mit Gewalt umgesetzt. Palästina befand sich vorab unter kolonialistischer Verwaltung Großbritanniens (1929-1948), welches den Zionismus unterstützte. Die Lage hat sich im historischen Gebiet Palästina seitdem natürlich verändert. Die verbreitete Idee der Zweistaatenlösung, also dass ein palästinensischer und ein israelischer Staat koexistieren sollen, scheitert zunehmend. Heute gibt es isolierte und mehr oder weniger „autonome“ palästinensische Gebiete, also der Gazastreifen, das Westjordanland und Ostjerusalem. Doch auch die werden immer weiter verdrängt durch die Siedlungspolitik und militärischen Angriffe Israels. Gegen die Vertreibung von bis jetzt ca. 5 Millionen Palästinenser_Innen und die Kolonialpolitik Israels gab es zwei große Volksaufstände (Intifadas).

Aktuelle Lage

Allein im letzten Jahr sind 167 Palästinenser_Innen ermordet worden und in den ersten 4 Monaten dieses Jahres sind es bereits 83 Tote. Amnesty International attestiert Israel die Klassifizierung als Apartheidsstaat nach UN-Recht, weil es de facto zwei Klassen an Staatsbürger_Innen gibt und die palästinensische Bevölkerung rassistisch weitgehend entrechtet ist. Ihr Leben wird oft mit einem Leben in einem Freiluftgefängnis verglichen, sie sind ständiger Gefahr von Schikane, Vertreibung, Gefangenschaft und Ermordung ausgesetzt. Während in Palästina der Widerstand gegen die israelische Apartheid hochkocht und sich auch von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) nicht mehr kontrollieren lässt, demonstrieren gleichzeitig über 100.000 Menschen allein in Tel Aviv gegen die demokratiefeindlichen Reformen der Regierung Netanjahus. Eine Verbindung der Kämpfe bleibt jedoch aus – nicht zuletzt, weil die Bewegung gegen die reaktionäre Regierung selbst den Kampf für die demokratischen Rechte der Palästinenser_Innen letztlich ablehnt. Doch genau dies wäre nötig, um das zionistische Regime zu überwinden und zu einer friedlichen Lösung im Nahen Osten zu kommen: Ein gemeinsamer Kampf gegen den rassistischen und kapitalistischen Apartheidsstaat, für einen säkularen sozialistischen Staat unter Kontrolle der Menschen, die heute im Gebiet des historischen Palästinas leben!

Wieso das Verbot? Wieso dagegen kämpfen?

Hier im ach so demokratischen Deutschland wäre so ein gemeinsamer Kampf zwischen palästinensischen und israelischen Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen den zionistischen Staat leicht umzusetzen und findet in Ansätzen bereits statt. So wurden in der Vergangenheit Pro-Palästinensische Veranstaltungen auch von jüdischen Aktivist_Innen und Organisationen unterstützt. Immer wieder stellen Veranstalter_Innen klar, dass sie nicht gegen die Jüd_Innen kämpfen, sondern gegen den Zionismus und sprechen sich deutlich gegen jeden Antisemitismus aus. Doch es gibt auch Gegenwind seitens zionistischer Pro-Israelischer Kräfte sowie der Bundesregierung Deutschlands, die jede Kritik an Israel gerne mit Antisemitismus gleichsetzen, während sie die eigentliche Gefahr durch Verschwörungstheoretiker_Innen und rechte bis faschistische Netzwerke bis in Polizei und Bundeswehr ignorieren. Auch selbsternannte Linke, die den israelischen Staat trotz der reaktionären Politik verteidigen, stellen sich gegen palästinensische Organisationen, hetzen mit pauschalen Antisemitismusvorwürfen gegen sie und versuchen, sie aus den wenigen linken Räumen zu verdrängen. Tragischerweise bewegen sich innerhalb des palästinensischen Widerstands teilweise auch antisemitische Kräfte, die den Kampf gegen Israel zu einem Kampf gegen Jüd_Innen erklären wollen. Diese müssen zum einen isoliert werden, zum anderen dürfen sie keinen Vorwand für eine Pauschalisierung von Palästinasolidarität darstellen! Der größte Teil der palästinensischen Befreiungsbewegung bekämpft Israel aus der puren Not und nicht aus Antisemitismus. Für uns ist klar: Antisemitismus können wir nur für immer beenden, wenn wir das kapitalistische krisenhafte System überwinden und bis dahin müssen wir immer und überall sowohl gegen Antisemitismus als auch Zionismus kämpfen.

So gibt es in der Bewegung nicht erwünschte Personengruppen, die antisemitische Äußerungen von sich geben, so auch in Berlin, wo auf einer Pro-Palästinensischen Aktion eine Person „Tod Israel! Tod den Juden!“ gerufen hat. Während von Lautsprecherwagen und Ordner_Innen klar gegen diese Personen vorgegangen wird und die Menschen aus den Aktionen dauerhaft ausgeschlossen werden, nutzt die Berliner Regierung dies, um die komplette palästinensische Bewegung zu kriminalisieren und in ihrer Versammlungsfreiheit einzuschränken. Das Argument ist, dass es zu möglichen volksverhetzenden Straftaten kommen kann. Wir erinnern uns, dass 40.000 Coronaleugner_Innen mit gelben Sternen, Reichskriegsflaggen und Hitlergrüßen, sich mit den schrecklichen Schicksalen von Jüd_Innen in Konzentrationslagern vergleichend von der Polizei begleitet durch die Straßen geleitet wurden und das ohne eine genehmigte Anmeldung der Demonstration. Dies zeigt erneut auf, auf wessen Seite der deutsche Imperialismus steht. Es geht um die außenpolitischen Interessen und nicht um die Bekämpfung von Antisemitismus.

Es ist nun das 2. Jahr in Folge, dass die Verbote durchgesetzt werden. Ohne einen entschlossenen Kampf in den Schulen, Unis und Betrieben sowie auf der Straße gegen die Einschränkungen unserer Versammlungsfreiheit werden weitere dieser Angriffe stattfinden. Daher lasst uns gemeinsam dagegen organisieren und uns nicht nur verteidigen, sondern auch in die Offensive übergehen!

Wir fordern:

  • Sofortige Rücknahme der Versammlungsverbote für Palästinenser_Innen jetzt und auch in Zukunft!
  • Solidarität mit der palästinensischen Befreiungsbewegung, hier und international! Für ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina!
  • Freiheit für alle politischen Gefangenen! Schluss mit der Kriminalisierung palästinensischer und kurdischer Organisationen!
  • Offene Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für Alle!



Antiregierungsproteste in Israel: Gegenmacht oder Ohnmacht?

Von Jona Everdeen

Seit Wochen finden in Israel Massenproteste gegen die Politik der neuen rechten Regierung statt. Hunderttausende Menschen sind wöchentlich auf der Straße. Ihren Aufhänger fanden die Proteste in einer angestrebten Justizreform, die Befürchtungen hervorruft, sie könnte Israel in eine Diktatur verwandeln. Doch was beinhaltet die Justizreform und wer ist diese Regierung überhaupt, die allgemeinhin als rechteste in der Geschichte des Landes gilt? Welche reaktionäre Politik betreibt sie? Was sind die Folgen für die Menschen in Israel? Und wie wirkt sich die Regierungspolitik auf die eh schon massiv unterdrückten Palästinenser_Innen aus? Welchen Charakter haben die Proteste und was ist nötig, um Netanjahu, Ben-Gvir und Co. zu stürzen?

Rechtsradikale mit Ministerposten

Das Regierungsbündnis aus Netanjahus nationalreligiösem Likud, rechten Siedlerparteien und religiös-fundamentalistischen Kleinstparteien eröffnete einigen stramm rechten Hardliner_Innen den Weg zu wichtigen Regierungsposten. Viele von ihnen machten in der Vergangenheit mit extremem Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, religiösem Fundamentalismus und der Unterstützung zionistischer Terrorist_Innen von sich reden.

So zum Beispiel Itamar Ben-Gvir, der keinen Hehl aus seiner Verehrung für den Terroristen Baruch Goldstein macht, der bei einem Terroranschlag 29 Palästinenser_Innen ermordete. Außerdem wolle er „illoyale“ Palästinenser_Innen ausweisen und habe auch schon persönlich angesichts palästinensischer Proteste die Pistole gezückt. Er ist jetzt israelischer Polizeiminister.

Mit Bezalel Smotrich hat ein weiterer rechter Hardliner als Finanzminister einen zentralen Posten in der neuen Regierung. Das ideale Israel sieht er in Form einer fundamentalistischen Theokratie, in der das oberste Gesetz die Thora ist. Auch schockierte er erst kürzlich mit der Aussage, dass seiner Ansicht nach Jüdinnen und Araberinnen auf getrennten Geburtsstationen Kinder zur Welt bringen sollten. Ben-Gvir und Smotrich sind dabei nur die Spitze des Eisbergs einer Regierung voller extremer Rechter. Doch für den langjährigen rechtskonservativen Ministerpräsidenten Netanjahu schien das kein allzu großes Problem zu sein, immerhin brachten ihm diese Kräfte die nötige Mehrheit, um wieder an die Regierung zu gelangen.

Die Justizreform – Weg in die Diktatur?

Während die Übergabe wichtiger Ministerien an Rechtspopulist_Innen bereits teilweise für Unmut sorgte, brachte die von Netanjahu und seinen Verbündeten geplante Justizreform das Fass zum Überlaufen. Nachdem große Teile der israelischen Gesellschaft seit mehreren Jahren eine Anklage Netanjahus wegen eines Korruptionsskandals fordern, könnte der neue-alte Ministerpräsident durch seine Justizreform einer Anklage entgehen. Diese Dreistigkeit und Verhöhnung des bürgerlichen Rechtsstaates bildete die Grundlage für die folgenden Massenproteste.

Die geplante Reform sieht vor, dass Entscheidungen des obersten Gerichts in Zukunft mit einfacher Mehrheit des Parlaments revidiert werden können, ergo die Rechtsprechung quasi entmachtet wird. Zusätzlich dazu sieht die „Reform“ auch vor, dass die Regierung im Alleingang Richter_Innen ernennen kann, die dann (ähnlich wie die von Trump ernannten Richter_Innen des Supreme Courts) die reaktionäre Ideologie der aktuellen Regierung in ihre „Rechtsprechung“ fließen lassen. Die Justizreform ist also ein klarer Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz, die für eine bürgerliche Demokratie zentral ist.

Die besondere Stellung des Obersten Gerichtshof war schon häufiger Ziel von Angriffen rechter Regierungen. Er gilt unter linksliberalen und sozialdemokratischen Israelis als Hort der Menschenrechte und der Demokratie. Dementsprechend groß ist die Empörung über die geplante Reform nun in diesen Kreisen. Diese Empörung ist berechtigt und als Revolutionär_Innen verteidigen auch wir Angriffe gegen bürgerlich-demokratische Rechte, auch wenn sie Institutionen von kapitalistischen Nationalstaaten sind. Dennoch haben wir keine Illusionen in diesen Gerichtshof. Auch bevor die rechte Regierung ihre Reform angekündigt hat, hat der Gerichtshof die israelische Gesellschaft nicht davor bewahrt, den Charakter eines Besatzungsregimes und eines Apartheidstaates anzunehmen. Die aktuellen Angriffe verdeutlichen nur einmal mehr, wie schnell die Bourgeoisie bereit ist, ihre zuvor hoch gelobte Demokratie zu entmachten, sobald sie ihren Interessen im Wege steht. Ähnliche Beispiele haben wir zuletzt in Brasilien unter Bolsonaro, in Ungarn unter Orban, in Polen unter der PiS oder in den USA unter Trump gesehen.

Reaktionäre Innenpolitik

Während sich die religiösen Splitterparteien und die rechtsextremen Siedler_Innen vor allem an ihrem Rassismus gegenüber Palästinenser_Innen abarbeiten, vertritt der Likud zudem eine zutiefst neoliberale Wirtschaftspolitik. Der bis auf eine kleine Unterbrechung seit 14 Jahren regierende Netanjahu hat große Leistungen für das israelische Kapital vollbracht, indem er es schaffte, Arbeitsrechte und Sozialstaat und auf ein Minimum herunterzufahren. Ein Resultat dieser Politik ist, dass in vielen israelischen Städten die Immobilienpreise so hoch sind, dass dagegen München und Frankfurt am Main geradezu günstig wirken. Auch andere Lebenshaltungskosten stiegen im Laufe seiner Amtszeiten massiv an. Viele Israelis benötigen 2 bis 3 Jobs, um überhaupt über die Runden zu kommen. Öffentliche Schulen und Krankenhäuser sind in einem desaströsen Zustand, während es sich reiche Israelis leisten können, auf Privatschulen und private medizinische Einrichtungen auszuweichen. Jede_r Shekel, der in Checkpoints, Mauern, Drohnen und Panzer fließt, fehlt in den israelischen Schulen, Sozialkassen und Krankenhäusern. Ein Ende dieser Entwicklung ist sicher nicht in Sicht mit der neuen Koalition, eher ist davon auszugehen, dass auch weiterhin die Folgen der allgemeinen Krise, die auch Israel betrifft, auf dem Rücken der Arbeiter_Innen ausgetragen werden.

Noch dramatischer steht es um die Rechte von LGBTIQ-Personen und ethnischen oder religiösen Minderheiten. So ist die religiös-zionistische Partei offen queerfeindlich und macht daraus auch keinen Hehl. Ihr zufolge sollen medizinische Einrichtungen mit religiösem Träger sich weigern dürfen, queere Menschen zu behandeln.

Generell wird voraussichtlich der Rassismus gegen nicht-jüdische Israelis aber auch gegen nicht-weiße Juden:Jüdinnen, die zum Beispiel aus Äthiopien oder dem Jemen nach Israel geflohen und häufig massiven rassistischen Anfeindungen bis hin zu brutalen Angriffen ausgesetzt sind, noch weiter zunehmen.

Mit der sich verschärfenden Wirtschaftskrise geht auch eine verstärkte Verelendung der Arbeiter_Innenklasse in Israel und ihrer besonders marginalisierten, sexistisch oder rassistisch unterdrückten Teile einher. Die israelische Regierung versucht jetzt durch nationalistische Propaganda und der Erweiterung des israelischen Staatsgebiets dieser Krise durch kurzfristige Scheinlösungen zu begegnen und die israelische Arbeiter_Innenklasse mittels Nationalismus an die herrschende Klasse zu binden und damit ihre Schlagkraft zu verringern. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch das Wiederaufkommen einer entschiedenen Kriegsrhetorik gegenüber dem Iran.

Was bedeutet das für Palästinenser_Innen?

Dementsprechend hat sich die Lage der Palästinenser_Innen massiv verschlechtert und zu einer neuen Welle von Gewalt und Gegengewalt geführt. Bei Operationen des israelischen Militärs in Städten wie Jenin oder Nablus sind seit Anfang des Jahres mehrere Dutzend Palästinenser_Innen ermordet worden, im Schnitt mehr als ein Mensch pro Tag!

Dazu kam es im palästinensischen Dorf Hawara zu einem Pogrom durch rechtsradikale Siedler_Innen, die mehrere Dutzend Häuser und Geschäfte anzündeten, mindestens einen Menschen töteten und zahlreiche weitere Verletzten. Die israelische Armee hat ihnen dabei zugesehen und Rückendeckung gegeben.

Polizeiminister Ben-Gvir sorgte mit einem Besuch auf dem Tempelberg – Standort der Al-Aqsa Moschee- ebenfalls für eine krasse Provokation. Als Ariel Sharon im Jahre 2000 den Tempelberg betrat, war das der Auslöser für die 2. Intifada. Ben-Gvir kündigte darüber hinaus noch an, dass er es Muslima_en nicht den gesamten Ramadan über erlauben wolle, in der Al-Aqsa Moschee zu beten.

Zu allem Übel will die neue Regierung auch noch die Todesstrafe wiedereinführen. Diese soll gegen Palästinenser_Innen, die Israelis ermordet haben, angewendet werden können, nicht aber gegen Israelis, die Palästinenser_Innen ermordet haben. Zwar müssen Palästinenser_Innen ohnehin damit rechnen, vom israelischen Militär getötet zu werden, wenn sie sich der Besatzungspolitik widersetzen. Allerdings unterstreicht die Wiedereinführung der Todesstrafe – allein für Palästinenser_Innen – noch einmal bildlich die Geringschätzung palästinensischen Lebens.

Weniger offensichtlich aber doch extrem relevant ist auch die Übertragung der Kontrolle über die Westbank von einer militärischen zu einer zivilen Behörde. Während die Militäradministration den jahrzehntelangen Besatzungsstatus des Gebietes aufrecht erhielt, ist dies nun als endgültiges Zeichen zu verstehen, dass für die aktuelle israelische Regierung ein Verlassen dieser, und somit eine zwei Staaten Lösung, keine Option mehr ist und sie die gesamte Westbank als Teil israelischen Staatsgebiets betrachtet.

Welche Perspektive hat der Protest?

Der Protest, der sich in erstes Linie als Widerstand gegen die Justizreform aufstellt und an dem bis zu 250.000 Menschen im ganzen Land teilnahmen, wird getragen von einer sehr breiten israelischen „Zivilgesellschaft“ und ist geprägt von liberal-zionistischen Kräften. Am Meer aus israelischen Flaggen, das auf den Großdemonstrationen in Tel Aviv/Jaffa zu sehen war, wird deutlich, wie nationalistisch dieser eigentlich ist. Dennoch scheint die neue Regierung vor den Protesten zu zittern, wenn sie mit allen Mitteln versucht, die eigentlich sehr zahmen Proteste als „Gesetzesbrecher“ zu verunglimpfen und ihnen vorwerfen, sie würden „Anarchie“ verbreiten.

Der von der neuen Rechtsregierung abgelöste ehemalige Ministerpräsident Lapid versucht, sich dabei als liberaler Gegenspieler von Netanjahu und Hüter der israelischen Demokratie zu inszenieren. Dabei war er es, der zuvor auch keinerlei Probleme damit hatte, mit Naftali Bennets kaum weniger rechtsextremen Siedlerpartei gemeinsam zu regieren. Die Massenproteste werden weiterhin ohnmächtig gegenüber den rechten Angriffen auf demokratische Rechte sein, solange sie sich von liberal-zionistischen Kräften anführen lassen. Ihre Alternative gegenüber Netanjahu sieht vielleicht so aus, dass der Oberste Gerichtshof unangetastet bleibt und die Siedlungen weniger stark ausgebaut werden. An der Realität des Besatzungsregimes, des Abbaus des israelischen Sozialstaates, der massiven Inflation, der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der Krise des Wohnungs-, Bildungs- und Gesundheitssektors werden sie nichts verändern.

Dennoch können die Massenproteste einen Ausgangspunkt für den Aufbau von Gegenmacht bieten. Zentral dabei ist es, ob fortschrittliche Organisationen es verstehen, in diese Proteste eine unabhängige Position der israelischen und der palästinischen Arbeiter_Innenklasse zu tragen und die Führung zu übernehmen. Es muss dabei darum gehen, die soziale Frage mit der Beendigung der Besatzung zu verknüpfen. Sozialdemokratisch-stalinistische Gruppen wie „Hadash“ und autonome Antifa-Gruppen haben auf den Großdemonstrationen mit ihrem „radical bloc“ ein starkes Zeichen gesetzt. Darin fanden sich viele palästinensische Fahnen, „Palestinen Lives Matter“-Schilder als auch Banner mit der Aufschrift „There’s no democracy with apartheid,” oder “A nation that occupies another nation will never be free“. Dabei ist das Zeigen der palästinensischen Flagge seit Neustem eine durchaus heikle Angelegenheit. So hatte Ben-Gvir zuvor das Zeigen von Palästina-Flaggen auf öffentlichen Plätzen verboten, weil diese angeblich für „Terrorismus“ stünden.

Dieser Block wurde damals von anderen Demonstrant_Innen aktiv angegangen und versucht von der Demo zu drängen, jedoch konnte sich der pro-palästinensiche Block mit der Zeit etablieren und deutlich anwachsen.

Die Proteste setzen Netanjahus Regierung real unter Druck, gerade deshalb weil die Protestierenden sich überdurchschnittlich stark aus Beschäftigten zentraler Bereiche, zum Beispiel IT-Spezialist_Innen, zusammensetzen. Auch zahlreiche Kulturschaffende sowie Klein- und Mittelunternehmer_Innen unterstützen die Proteste und lehnen die Justizreform ab. Auch der israelische Gewerkschaftsbund Histadrut, der aufgrund seiner historisch stark ausgeprägten Staatstreue bisher nicht zu den Demonstrationen aufrief, droht nun damit, sich anzuschließen und seine 800.000 Mitglieder zum Protest, und eventuell zum Streik, aufzufordern.

Was braucht es um Netanjahu, Ben-Gvir und Co. Zu schlagen?

Für uns als Sozialist_Innen ist klar, dass eine Demokratie unter den Bedingungen kapitalistischer Profitmaximierung sowie ethnischer Segregation und rassistischer Ungleichbehandlung nur Heuchelei ist. Israel kann nur dann wirklich demokratisch sein, wenn es auch Palästinenser_Innen dieselben Rechte zugesteht wie jüdischen Israelis und die Produktionsmittel gemeinsam demokratisch kontrolliert werden.

Revolutionär_Innen müssen sich den Massenprotesten gegen Netanjahu anschließen und gemeinsam mit den antizionistischen Kräften vor Ort für eine unabhängige Position der Arbeiter_Innenklasse kämpfen. Ein zentraler Punkt dabei ist die Anerkennung des Rechts der Palästinenser_Innen auf nationale Unabhängigkeit. Ebenso steht ihnen auch das Recht zu, sich gegen Angriffe zu verteidigen und gegen die fortwährende Besatzung zu wehren. Wir verteidigen dieses Recht, auch wenn wir Angriffe auf Zivilpersonen, insbesondere den brutalen Anschlag auf die betenden Menschen in der Synagoge in Ost-Jerusalem, entschieden ablehnen. Die sinnlosen Angriffe von Palästinenser_Innen auf Zivilpersonen sind ein Ausdruck der Führungskrise im palästinensischen Widerstand, der den verschärften Angriffen kaum eine glaubhafte Perspektive entgegenzusetzen hat. Dies liegt an der Schwäche der palästinensischen Linken und dem historischen Verrat der Stalinist_Innen in ihren Reihen, aber auch an der verräterischen Politik der palästinensischen Autonomiebehörde, der Abwesenheit von legalen Protestmöglichkeiten und dem Siegeszug des politischen Islams in der gesamten Region. So konnten sich Hamas und Islamischer Jihad als die „entschlossenere Alternative“ präsentieren, obwohl sie beide reaktionäre Organisationen sind, die nicht im Interesse der palästinensischen Arbeiter_Innenklasse handeln.

Netanjahu, Ben-Gvir und ihre reaktionäre Bande können nur geschlagen werden, wenn sich die israelischen Arbeiter_Innen, Jugendlichen und Unterdrückten mit den palästinensischen Massen zusammenschließen. Wenn sie gemeinsam kämpfen gegen Justizreform, Besatzung und Neoliberalismus aber auch gegen die reaktionäre Politik palästinensischer Kräfte wie Hamas und Fatah. Dies würde bedeuten anzuerkennen, dass israelische und palästinensische Arbeiter_innen objektiv dieselben Interessen und Ziele haben und dass sie nur die subjektiven Ketten des Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus davon trennen. Die Geschichte hat schon oft gezeigt, dass nationale Gegensätze im gemeinsamen Kampf für gleiche Ziele verschwinden können. Unsere Perspektive ist die eines säkularen multi-ethnischen Arbeiter_Innenstaates zu kämpfen, in dem jeder Mensch unabhängig von seiner Religion und Hautfarbe in Frieden leben kann.




Frauen und die Revolution im Iran

Martin Suchanek, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Der Mord an der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini war der Funke, der das Feuer einer neuen Massenbewegung im Iran entfachte. Seither versucht das diktatorische, islamistische Regime, die Proteste im Blut zu ertränken.

Über 500 Menschen wurden von den bewaffneten Kräften der Staatsmacht, von Polizei, Geheimdiensten oder den sog. Revolutionswächtern, ermordet. Tausende wurden verletzt, über 20.000 festgenommen. Seit Monaten werden Aktivist:innen der Bewegung und bekannte Oppositionelle nach Schauprozessen öffentlichkeitswirksam hingerichtet, um die Massen einzuschüchtern und die Anhänger:innen des Regimes zu stärken.

Nach Monaten des heroischen Kampfes droht die Bewegung, durch die Konterrevolution der Mullahs zerschlagen zu werden. Doch selbst wenn dies der Fall sein sollte, wird dieser „Sieg“ nicht von Dauer sein. Sie können zwar möglicherweise den Protest niederschlagen – die Ursachen für die revolutionäre Erhebung von Millionen können sie aber nicht aus der Welt schaffen. Denn es ist das reaktionäre, ausbeuterische, frauen- und menschenfeindliche Regime, die spezifische Mischung aus Kapitalismus, Nepotismus und islamistischer Diktatur, die immer wieder den Widerstand hervorbringen wird, den sie mit aller Gewalt – und letztlich nur noch mit Gewalt – blutig unterdrückt.

Eine Revolution der Frauen

In den letzten Jahrzehnten erschütterten immer wieder Massenproteste den Iran. 2009, bei der sog. grünen Revolution, bildeten vor allem die städtischen Mittelschichten – Intellektuelle, das Kleinbürger:innentum sowie reformorientierte Unternehmerschichten, die ihre Hoffnungen in den damaligen Präsidentschaftskandidaten Chātami setzten – die soziale Basis der Bewegung.

2017 und vor allem 2019 änderte sich die Lage. Die „Unterschichten“, d. h. vor allem die Arbeiter:innenklasse, schwangen sich zur sozialen Trägerin des Kampfes auf. Die Hoffnungen und Illusionen in den „reformorientierten“ Teil des Regimes waren bei den Massen verflogen. Umso drängender rückten die sozialen Fragen in den Vordergrund.

2022 standen von Beginn an Frauen, Studierende und die Jugend sowie die unterdrückten Nationalitäten im Zentrum.

Natürlich wurde dies auch durch den Mord an einer jungen Kurdin, Jina Mahsa Amini, durch die „Sittenpolizei“ befördert. Dass die Protestbewegung vor allem von jungen Frauen und Studentinnen getragen und vorangetrieben, sie mit gewissem Recht als feministische Revolution bezeichnet wurde, verweist auf tiefere gesellschaftliche Ursachen.

Frauen, Arbeit und Bildung

Die extreme Form der Entrechtung seit Beginn der Mullahherrschaft und Unterdrückung ging mit einer widersprüchlichen, teilweise geradezu paradoxen Entwicklung der Lage der Frauen im Bildungswesen, teilweise auch in der Arbeitswelt einher.

Heute gibt es im Iran rund 4,5 Millionen Studierende, also rund 50 % mehr als in Deutschland (3 Millionen), eine für ein halbkoloniales Land beachtliche Zahl und Quote. Fast jede/r zweite Studierende ist eine Frau. Dies spiegelt den Versuch des Mullahregimes wider, nach der Machtergreifung eine staatskapitalistische Industrialisierung voranzutreiben, was sich auch in der Erhöhung der Alphabetisierungsquote (80 % gegenüber 20 % unter dem „modernen“ Schahregime) wie auch im Zwang, vermehrt Frauen als Lohnarbeiterinnen zu beschäftigen oder professionell zu qualifizieren, ausdrückt.

Somit entstand im Iran einerseits eine sehr qualifizierte Schicht von Frauen, die zugleich weiter politisch und kulturell entrechtet blieb. Das Scheitern der Illusionen in den Reformflügel des Islamismus führte außerdem dazu, dass sich die Hoffnung auf eine allmähliche Öffnung und Liberalisierung des Regimes erschöpfte.

Heute stellen die Universitäten einen Fokus der Bewegung dar – und wir können angesichts der sozialen Lage der Studierenden und insbesondere Studentinnen erkennen, warum junge Frauen und Jugendliche eine so wichtige Rolle in der Mobilisierung einnehmen, an vorderster Front kämpfen. Über Jahre versprach das Regime den Frauen und der Jugend im Gegenzug für soziale Unterdrückung und kulturelle Tristesse Jobs, Einkommen und sogar einen gewissen Aufstieg. All das entpuppte sich nach anfänglichen ökonomischen Erfolgen in den 1990er Jahren mehr und mehr als Fiktion. Die neoliberalen Reformen und Privatisierungen des letzten Jahrzehnts, vor allem seit dem Einbruch 2012/13, verschlechterten die Lage weiter. Für die Frauen und die Jugend sieht die Zukunft düster aus.

Die Arbeiter:innen bilden mittlerweile die zahlreichste Klasse der iranischen Gesellschaft, zumal wenn wir die sub- und halbproletarischen Schichten und jene Teile der Intelligenz, die einem Proletarisierungsprozess unterzogen sind, einbeziehen.

Zugleich lebt ein großer Teil dieser Klasse heute in Armut. Nach unterschiedlichen Schätzungen leben 35 – 50 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend angesichts von massiver Inflation und ökonomischer Stagnation.

Für die Lohnabhängigen repräsentierte die Diktatur der Mullahs immer eine brutale Herrschaft der Ausbeuter:innen – zu offensichtlich und eng sind iranischer Kapitalismus und islamistisches Regime miteinander verbunden.

Proletarische, aber auch junge, akademisch gebildete Frauen trifft dies besonders. Die Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt sind beachtlich. So liegt der Anteil von Frauen an den Beschäftigten noch immer bei nur 17,26 % (er überstieg in der Islamischen Republik nie 20 %). Auch wenn dies den realen Anteil der Erwerbsarbeit von Frauen nicht reflektiert, weil ein großer Teil der in der Landwirtschaft Beschäftigten (Schätzungen gehen davon aus, dass rund 60 % der Arbeit auf dem Dorf von Frauen erledigt wird) wie auch nicht offiziell registrierte Beschäftigung rausfallen, werden Frauen auf dem Arbeitsmarkt schon nach amtlichen Zahlen massiv diskriminiert.

Das verdeutlicht auch die Arbeitslosenquote von Frauen (https://de.theglobaleconomy.com/Iran/) mit offiziell 18,96 % im Jahr 2021, die fast doppelt so hoch ist wie jene der Männer (9,89 %). Noch höher liegt sie bei Jugendlichen – und das heißt insbesondere auch bei jungen Frauen – mit 27,21 %. Mit fast 89 % extrem stark von Arbeitslosigkeit – und damit von Armut – betroffen ist die ohnedies stigmatisierte Gruppe von alleinerziehenden Frauen.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Einerseits natürlich die ökonomische Stagnation selbst, die die gesamte Klasse der Lohnabhängigen betrifft. Zweitens ziehen viele, natürlich männliche Unternehmer vor, junge Männer statt Frauen zu beschäftigen, selbst wenn diese z. B. einen weit besseren Hochschulabschluss vorweisen.

Die Anzahl studierender Frauen ist seit Jahren vielen Mullahs an Dorn im Auge. Unter dem erzkonservativen Einpeitscher Ahmadineschād wurde nicht nur auf propagandistischer und ideologischer Ebene gegen diesen „Auswuchs“ angegangen, sondern wurden auch Männerquoten in verschiedenen, vor allem technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen eingeführt. Der „Erfolg“ war mäßig, da selbst regimetreue, sozial-konservative Väter (einschließlich hoher Kleriker) aller reaktionären Gesinnung zum Trotz ihre Töchter an die Unis schicken und gut ausgebildet haben wollten.

Die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen nimmt daher viel stärker die Form der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt an.

Für beschäftigte Arbeiterinnen kommt „natürlich“ auch noch Sexismus am Arbeitsplatz hinzu. Darüber hinaus nutzen Unternehmen bewusst die reaktionäre Gesetzgebung, um gewerkschaftlich aktive oder einfach Widerstand leistende Arbeiterinnen unter dem Vorwand „unislamischen“ Verhaltens oder „unsittlicher“ Bekleidung zu entlassen.

All dies verdeutlicht, wie eng der Kampf gegen Frauenunterdrückung mit dem gegen Ausbeutung verbunden ist, so dass dieser einen essentiellen Teil des Klassenkampfes bildet.

Von der halben Revolution zur ganzen Konterrevolution

Die Unterdrückung der Frauen gehörte von Beginn an zur politischen DNA des islamistischen Regimes. Anders als heute gern von den bürgerlichen Medien vereinfacht dargestellt wird, war die iranische Revolution zu Beginn am Ende der 1970er Jahre keineswegs eine „islamische“.

Im Kampf gegen das Schahregime stellten die Linken, die Arbeiter:innenklasse und auch eine starke Frauenbewegung eine zentrale Kraft dar. Politisch kann die iranische Revolution als Kampf dreier Kräfte betrachtet werden. Erstens das prowestliche despotische Schahregime, das sich auf den Imperialismus, den iranischen Staatsapparat und einen Teil der herrschenden Klasse stützte, zweitens die von liberalen, mehr und mehr aber auch von den lslamist:innen vertretene oppositionelle Bourgeoisie und Mittelklasse.

Schließlich die Arbeiter:innenschaft und bäuerliche Schichten. Sie bildeten nicht nur eine zentrale Kraft beim Sturz des Schah, sondern die Arbeiter:innenklasse errichtete auch Formen der Doppelmacht, vor allem in verstaatlichten Betrieben und auf den Ölfeldern (Schoras = Räte).

Aber die stalinistische Doktrin der iranischen Linken erwies sich selbst als Hindernis für die Revolution. Gemäß ihrer Vorstellung war das Land für eine sozialistische Umwälzung noch nicht reif, vielmehr stünde als nächste Etappe eine antiimperialistische, bürgerliche Revolution an, die die „nationale Bourgeoisie“ zuerst an die Macht bringen müsste. Vor diesem Hintergrund wurden Khomeini und seinen Anhänger:innen als Verkörperung der antimonarchischen, nationalen Revolution betrachtet.

Politisch bedeutete dies, die Interessen der Arbeiter:innenklasse wie aller Unterdrückten – und das hieß vor allem jene der Frauen – denen der „nationalen“ Bourgeoisie und damit den Islamist:innen unterzuordnen.

Dies und die eng mit ihnen verbundenen Sektoren der Kapitalist:innenklasse, insbesondere die in Teheran ansässigen Handelskapitale (Bazaris), hatten ihrerseits längst die Linke und die Arbeiter:innenklasse als unversöhnlichen Gegnerinnen ausgemacht. Das lag nicht zuletzt auch an deren Stärke. Die Eroberung des Flughafens Teheran durch bewaffnete Guerillaeinheiten, die die Armee vertrieben, und die Errichtung von Arbeiter:innenräten beunruhigten alle kapitalistischen und reaktionären Kräfte. Zu Recht fürchteten sie (wie auch die westlichen Regierungen), dass die Revolution auch die Eigentumsverhältnisse in Fragen stellen könnte.

Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass eine solche, ihrem Wesen nach sozialistische Revolution gesiegt hätte. Aber die Unterordnung der Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft unter die herrschende Klasse konnte ihrerseits nur zum Sieg der Konterrevolution führen. Khomeini und die islamistischen Kräfte vernichteten alle Kräfte der Arbeiter:innenbewegung und der demokratischen Opposition – einschließlich vieler, die ihn als „Antiimperialisten“ gepriesen hatten. Tausende und Abertausende wurden gefoltert, liquidiert oder „verschwanden“. Die Arbeiter:innenklasse erlitt eine historische Niederlage. Die halbe, im Kampf um die Demokratie stehengebliebene Revolution endete mit einer ganzen Konterrevolution.

Konterrevolution und Entrechtung

Deren Sieg bedeutete für alle Frauen im Iran eine Katastrophe. Die Elemente formaler Gleichheit, die unter dem Schah errungen und in den ersten Monaten der Revolution faktisch sogar ausgeweitet worden waren, wurden rigoros abgeschafft.

Natürlich hatten Khomeini und die Mullahs die Frauenunterdrückung und das Patriarchat nicht erfunden, sie institutionalisierten sie jedoch im extremen Ausmaß. Die Scharia, as islamische Gesetz, wurde zu deren rechtlich-ideologischer Grundlage. Hier einige zentrale Folgen für die Frauen:

– Frauen sind strengen Kleidervorschriften, die u. a. die Zwangsverschleierung umfassen, unterworfen.

– Frauen sind vor Gericht den Männern nicht gleichgestellt. Ihre Aussage zählt nur halb so viel wie die eines Mannes. In manchen Fällen sind sie erst gar nicht als Zeuginnen zugelassen.

– Frauen sind von bestimmten Berufen (Armee, Richterinnen) ausgeschlossen.

– Frauen benötigten für Arbeit, Reisen und Scheidung das Einverständnis ihrer Ehemänner, Väter oder Brüder.

– Sie haben faktisch keinen Anspruch auf Sorgerecht.

– Das Mindestalter für Ehen und die volle Strafmündigkeit wurde bei Mädchen auf neun Jahre heruntergesetzt, Abtreibungen wurden verboten.

– Männer haben das „Recht“, die sexuelle Verfügbarkeit der Ehefrau gewaltsam durchzusetzen. Vergewaltigung in der Ehe ist daher legal.

– Geschlechtertrennung wurde in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens eingeführt, zum Beispiel im Personennahverkehr, beim Sport, in Bildungsinstitutionen und bei der Gesundheitsversorgung.

Die meisten dieser Maßnahmen wurden im Zuge der „kulturellen Revolution“ der Mullahs in den Jahren 1980 – 1983 eingeführt, in einer Art konzertierter Aktion zur Auslöschung aller Errungenschaft der Frauen. Auch wenn einige wenige Gesetze seither etwas gelockert wurden, blieb das System der institutionellen Unterdrückung bis heute intakt und stellt einen Eckpfeiler der klerikalen Diktatur dar.

Diese Form begünstigt Sexismus und Gewalt bis hin zu Femi(ni)ziden in Familien, in der Öffentlichkeit und durch staatliche Repressionsorgane. So sind Folter, Missbrauch und Vergewaltigung von Frauen durch Pasdaran (Iranische Revolutionsgrade), Sittenpolizei und andere Reaktionswächter weit verbreitet. Im Extremfall wurden Vergewaltigungen vor Hinrichtungen sogar durch sog. „Zeitehen“ gegen den Willen der Frauen von Geistlichen legalisiert.

Welche Revolution?

Die Erfahrungen der iranischen Revolution (und eigentlich aller wichtigen Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts) zeigen, dass die demokratischen Forderungen – im Iran insbesondere die nach Gleichheit und Freiheit der Frauen – untrennbar mit der Klassenfrage verbunden sind.

Wirkliche Befreiung ist für die Frauen (sowie armen Bauern und Bäuerinnen sowie unterdrückten Nationalitäten) im Rahmen des Kapitalismus im Iran letztlich unmöglich. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher).

Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzutasten. Umgekehrt kann sich die Arbeiter:innenklasse selbst nur dann zur wirklich führenden Kraft einer Revolution aufschwingen, wenn sie die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen mit der ihrer eigenen Befreiung, der Enteignung des Kapitals und der Errichtung eine demokratischen Planwirtschaft verbindet. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Lohnsklav:innen bleiben.

Die Klärung dieser Frage ist aber unbedingt notwendig, weil in der iranischen Oppositionsbewegung auch bürgerliche und direkt reaktionäre, monarchistische Kräfte wirken (inklusive des demokratischen Imperialismus und nichtmonarchistischer Kräfte). Deren Programm besteht im Grunde darin, dass an die Stelle der aktuellen, islamistischen Sklavenhalter:innen neue, bürgerliche und prowestliche treten (wenn nötig, im Bündnis mit Teilen des aktuellen Regimes).

Eine politische Kraft, die hingegen konsequent die Interessen der lohnabhängigen Frauen, der Student:innen und Arbeiter:innenklasse insgesamt zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken.

Die Frage von Sieg oder Niederlage ist dabei nicht nur eine des Überlebens für die iranischen Massen, sondern auch von zentraler Bedeutung für den Befreiungskampf im gesamten Nahen und Mittleren Osten, vor allem in jenen Ländern, wo das iranische Regime einen unmittelbar konterrevolutionären Einfluss ausübt.

Revolutionäre Partei

Eine solche Perspektive und ein revolutionäres Programm, das demokratische und soziale Forderungen mit sozialistischen verbindet und in der Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung gipfelt, entsteht nicht von alleine. Sie erfordern eine Kraft, die bewusst dafür in der Arbeiter:innenklasse, an den Universitäten und Schulen, unter der Jugend, den Frauen und unterdrückten Nationalitäten kämpft.

Nur so kann der stetige Vormarsch der Konterrevolution hier und jetzt gestoppt werden. Und diejenigen, die am beharrlichsten für solche Forderungen kämpfen und dabei nicht nur die Lehren aus den letzten vier Monaten, sondern vier Jahrzehnten ziehen, sind diejenigen, die mit dem Aufbau dieser Kraft, einer revolutionären Partei, beginnen können.

In einer Situation, in der die Repression immer erdrückender gerät, ist es jedoch schwieriger denn je, eine offene Debatte über Strategien zu führen. Hierbei könnten wohl im Exil Lebende eine wichtige Rolle spielen, doch es bleibt zentral, dass die linken Organisationen vor Ort sich dieser Debatte nicht verschließen. Andernfalls verblasst das Potenzial erneut.

Denn klar ist: Nur eine solche Partei wird in der Lage sein, den Kampf unter allen Bedingungen zu führen, im Untergrund zu operieren, wenn es nötig ist, und in Streiks, Gewerkschaften und vor allem in Massenbewegungen in Zeiten des Aufschwungs der Kämpfe einzugreifen.




Von der Verteidigung der Bewegung zur Revolution

von Martin Suchanek, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Die Demonstrant:innen auf den Straßen, die Studierenden an den Unis, die Arbeiter:innen in vielen Betrieben verbinden seit Monaten Parolen wie „Jin, Jiyan, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) mit dem Ruf nach dem Sturz des Regimes. Ihnen ist längst bewusst, dass es einer Revolution, einer grundlegenden Umwälzung bedarf, um ihr Ziel, die Gleichberechtigung der Frauen, ein Leben frei von islamistischer und patriarchaler Gängelung durchzusetzen. Entweder siegt die Bewegung, die Revolution oder die blutige Konterrevolution des Regimes.

Trotz der Repression im Herbst 2022 verbreiteten sich die Proteste wochenlang. Die Aktionen waren auf lokaler, universitärer und betrieblicher Ebene durchaus koordiniert, werden von illegalen oder halblegalen Gruppierungen geführt oder von Gewerkschaften, die sich in den letzten Jahren im Untergrund gebildet hatten. Aber die Bewegung besaß kein landesweites, alternatives Macht- und Koordinationszentrum, das den Apparat des Regimes paralysieren oder es gar mit diesem aufnehmen könnte.

In den letzten Wochen zeigt sich dieses Problem immer deutlicher. Die Konterrevolution hat die Initiative ergriffen, droht, die Bewegung im Blut zu ersticken.

Um das zu verhindern, braucht sie Kampfformen, die sie vereinheitlichen kann und die das gesamte Land erschüttern können – und das kann nur ein politischer Generalstreik zur Verteidigung der Bewegung und zum Sturz des Regimes sein.

Dieser würde nicht nur die Produktion und Infrastruktur des Landes lahmlegen und ökonomischen Druck ausüben. Die Arbeiter:innen müssten auch entscheiden, welche Produktion sie für die Versorgung der Menschen aufrechterhalten. Vor allem aber müsste ein solcher Generalstreik auch Kampforgane, Aktionskomitees schaffen, die sich auf Massenversammlungen stützen, die an den Räten der iranischen Revolution, den Schoras, anknüpfen würden.

Solche Organe wären natürlich nicht nur betriebliche Strukturen. Sie könnten ebenso gut an Universitäten, in den Stadtteilen und auf dem Land durch Massenversammlungen gewählt werden. Alle Unterdrückten, die Frauen, die Jugend, die nationalen Minderheiten würden darin einen zentralen Platz einnehmen. Die Bewegung würde so auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene zusammengeführt werden, faktisch zu einem Zentralorgan der Bewegung geraten.

Der Generalstreik würde dabei zugleich als Schutzschild gegen das Regime fungieren, indem er Formen der revolutionären Legalität durchsetzt, also Doppelmachtorgane schafft, die eine Alternative zum Staatsapparat darstellen.

Dazu braucht es notwendigerweise die Bildung von Schutzeinheiten für den Generalstreik selbst, von Arbeiter:innen- und Volksmilizen. Diese Politik müsste durch Aufrufe an die Soldat:innen ergänzt werden, dem Regime die Gefolgschaft zu verweigern, Soldat:innenräte zu bilden, die Offizierskaste zu entmachten, reaktionäre Kräfte zu entwaffnen und Arsenale für die Arbeiter:innenmilizen zu öffnen.

Dazu müsste die Arbeiter:innenklasse selbst jedoch nicht nur als soziale aktive Kraft hervortreten. Sie müsste der Bewegung nicht nur die Kraft zum Sieg verleihen, sondern sie bräuchte auch ein eigenes Programm, wie die Revolution vorangetrieben werden kann und welche neue Ordnung im Iran durchgesetzt werden soll.

Übergangsprogramm

Es braucht ein Programm, das die demokratischen Aufgaben und die soziale Frage revolutionär angeht, miteinander verbindet mit dem Ziel der Schaffung einer Arbeiter:innen und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die die Revolution zu einer sozialistischen macht. Kernforderungen eines solchen Programms müssten sein:

  • Gleiche Rechte und volle Selbstbestimmung für alle Frauen! Abschaffung der reaktionären Kleidervorschriften und aller anderen diskriminierenden Gesetze!
  • Volle demokratische Rechte für die Jugend! Abschaffung aller reaktionären Vorschriften, die ihre geistige Betätigung, ihre Bewegungs- und Ausdrucksfreiheit beeinträchtigen!
  • Abschaffung der Zensur und aller Einschränkungen der Meinungs- und Publikationsfreiheit! Für die vollständige Trennung von Staat und Religion!
  • Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen und Nationalitäten wie Kurd:innen, Belutsch:innen! Gleiche Rechte für Geflüchtete wie z. B. die 3 Millionen Afghan:innen!
  • Für eine verfassunggebende Versammlung, einberufen unter Kontrolle der revolutionären Massen und ihrer Organe in den Betrieben und Stadtteilen!
  • Sofortprogramm zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut! Mindestlohn und Mindesteinkommen für Arbeitslose, Jugendliche und Rentner:innen, um davon in Würde leben zu können, festgelegt von Arbeiter:innenausschüssen, ständig angepasst an die Inflation!
  • Massive Besteuerung von Unternehmensgewinnen und privaten Vermögen! Streichung der Auslandsschulden! Beschlagnahme aller Vermögen und Unternehmen der Mullahs, diverser regimetreuer halbstaatlicher Organisationen und Wiederverstaatlichung der an Günstlinge des Regimes privatisierten Unternehmen!
  • Arbeiter:innenkontrolle über die verstaatlichte Industrie und alle anderen Unternehmen!Entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer:innen, des Großhandels und der großen Industrie und Banken sowie der ausländischer Konzerne unter Arbeiter:innenkontrolle! Für ein Notprogramm zur Versorgung der Massen, zur Erneuerung der Infrastruktur und der Produktion gemäß den Bedürfnissen der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, der Frauen und der Jugend und ökologischer Nachhaltigkeit!
  • Schluss mit der Unterstützung des russischen und chinesischen Imperialismus und reaktionärer Despotien wie des Assadregimes! Keine Unterstützung der USA und anderer imperialistischer Staaten in der Region! Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf! Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse, demokratischen und antiimperialistischen Kräften gegen ihre reaktionären Regierungen und imperialistische Intervention!
  • Zerschlagung des islamistischen Regimes und des reaktionären Staatsapparates! Für eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte und Milizen stützt, die herrschende Klasse enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt!
  • Für die Ausweitung der Revolution! Für eine Föderation Sozialistischer Staaten im Nahen und Mittleren Osten!



Erdbeben in Türkei und Syrien: Eine humanitäre Katastrophe – vor allem für die Minderheiten

Dilara Lorin, Zuerst erschienen bei der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Februar 2023

4.440 Tote forderte das Erdbeben in der Türkei und Syrien bis zum Morgen des 7. Februar. Und die Zahlen steigen stetig weiter. Hinzu kommen weit über zehntausend, teilweise schwer, verletzte Menschen.

Die humanitäre Katastrophe trifft die Masse der Bevölkerung in beiden Ländern, die ohnedies unter Krieg, brutaler Repression durch die Regime von Assad und Erdogan, unter der Inflation, Wirtschaftskrise und Korruption leiden. Die humanitäre Krise und die hohe Zahl der Toten sind daher nicht nur das Resultat einer Naturkatastrophe, sondern auch Folge brutaler Ausbeutung und Unterdrückung – eine Tatsache, die in der offiziellen Berichterstattung viel zu wenig oder gar nicht vorkommt.

Unterdrückte Minderheiten

Die Hauptbetroffenen der humanitären Katastrophe sind oft Angehörige unterdrückter Minderheiten  wie Kurd:innen, Alevit:innen, Araber:innen und Geflüchtete.

Seit den Morgenstunden am 6. Februar haben mehr als 100 Erdbeben die mehrheitlich kurdischen Regionen Maras über Antep, Nordost Syrien/Rojava bis nach Mersin erschüttert. Es wurden Erdbeben mit einer Stärke von 7,9 gemessen, welches somit seit 1939 das schlimmste Erdbeben in der Türkei ist. Die Situation ist katastrophal. Die aktuellen Todeszahlen stiegen allein für die Türkei auf 3600 und mehr als 15.000 Menschen sind verletzt, weitere Abertausende sind vermisst. Die Zahl der Vermissten, Verletzten und Toten steigt stündlich an und wird noch in den nächsten Tagen das Ausmaß dieser Katastrophe sichtbar machen.

Vor allem betroffen sind die unterdrückten Minderheiten in der Türkei und Geflüchtete vor Ort. Dass in dieser Region mehrheitlich Kurd:innen und Alevit:innen leben ist einer der Gründe, warum das türkische Regime Jahrzehnte lang diese Region unterentwickelt ließ und kaum bis wenig in Infrastruktur, Bildung oder Gesundheitswesen investierte. Die benachteiligten Teile der Gesellschaft bilden, wie gesagt, mehrheitlich Kurd:innen und andere unterdrückte Minderheiten, es sind die Teile der Gesellschaft, welche aufgrund ihrer Armut oftmals gezwungen sind, in Häuser einzuziehen, die nicht nur mit billigen Materialien errichtet wurden, sondern in deren Konstruktion und Statik kaum investiert wurde, da sie ohnedies für die unteren Teile der Gesellschaft gedacht waren.

Dass also bei diesem Erdbeben so viele Häuser wie Spielkarten zusammenfallen, wäre in vieler Hinsicht vermeidbar gewesen. Aber es lag und liegt im Interesse staatlicher Institutionen, die Investitionskosten gering zu halten, und es lag und liegt im Interesse der Bauunternehmen, die Profite möglichst hoch zu halten.

Bis heute gibt es etliche alevitische und kurdische Dörfer, in welchen kein Leitungswasser fließt, in denen Stromnetze nur spärlich ausgebaut sind oder in denen keine asphaltierte Straße errichtet wird, aber in dem türkischen Nachbardorf konnte es ermöglicht werden. Diese bewusste Nicht-Entwicklung ist ein politisches Machtinstrument, um unerwünschte Minderheiten aus der türkischen Bevölkerung hinauszudrängen, aber sie eben zugleich als billige Arbeitskräfte auszubeuten.

Kurdische Regionen

Auch ist es mehreren Wissenschaftler:innen zufolge Tage vorher bekannt gewesen, dass ein Erdbeben dieser Stärke die Region erschüttern wird, aber Vorkehrungen, wie z.B. Evakuierungen, wurden nicht ansatzweise eingeleitet, die Bevölkerung wurde einfach nicht informiert.

Mehr noch. Der Wissenschafter Prof. Naci Görür wies im Live TV bei Fox darauf hin, dass nicht nur Jahr lang bekannt war, dass es früher oder später in der Region Erdbeben geben wird. Sie hat außerdem als Wissenschaftlerin Bürgermeister und Gouverneure mehrmals angesprochen und sogar eine Art Rettungs- und Aktionsprogramme für den Katastrophenfall vorgelegt. Die Verantwortlichen abwinkten aber nur ab.

In den türkischen Medien ist von all dem kaum die Rede. Schaltet man die Kanäle ein, welche von der AKP koordiniert und kontrolliert werden, will keiner davon etwas wissen. Bilder werden lediglich aus einigen wenigen Gebieten gestreamt. Regionen wie Pazarcık, Elibstan, Gölbaşı oder Hatay, welche durch die Erdbeben erschüttert wurden und die zu 90 % kurdisch geprägt sind, werden nicht gezeigt. Dabei sind es diese Gebiete, in welchen viele Gebäude dem Erdboden gleichgemacht wurden. Dies spiegelt auch die reale und aktuelle Lage der Menschen vor Ort wieder. Unterstützung und Hilfe erreichten kaum jemand in den genannten Regionen. Die Menschen versuchen, mit ihren eigenen Händen die Betonplatten der Häuser zu entfernen, denn sie hören immer wieder noch Hilferufen und Schreie der Überlebenden unter den Trümmern, können aber in den meisten Fällen nichts unternehmen. Die Social-Media-Kanäle sind voller Hilferufe, voll mit Adressen von zusammengefallenen Häusern, in welchen Menschen um ihr Leben ringen. Diese werden eben gepostet, weil es sonst kaum Möglichkeiten gibt, denen eine Stimme zu verleihen, und aus verzweifelten Hoffnung, dass vielleicht doch eines der wenigen Rettungsteams, die schon vor Ort sind, dies liest.

Eine schnelle Besserung der Situation ist nicht in Sicht. Die meisten Menschen, befinden sich außerhalb der Häuser, um sich richtigerweise vor weiteren Erdbeben zu schützen. Aber bei den Temperaturen, welche  zwischen 3 und -7 Grad in der Nacht liegen, drohen viele Menschen im Freien zu erfrieren. Trotz dieser Bedrohungen sind die Rettungskräfte der türkischen Regierung – nach Zeugenberichten aus den Gebieten – kaum anzutreffen bzw. nicht sichtbar, und wenn, dann sind es viel zu wenige an den Katastrophenorten.

In den Grenzregionen verschärft sich die Lage außerdem für die vielen Geflüchteten, die auch bislang nur in heruntergekommenen Gebäuden Unterschlupf finden konnten. Es ist außerdem der Rassismus gegenüber Geflüchteten, der vielen Menschen Angst macht, denn dieser wird in den kommenden Tagen nicht nachlassen. Das altbekannte Spiel, dass man lieber nach unten tritt als nach oben, droht hier ein Ausmaß anzunehmen, das uns nur grausen lässt.

Syrien

Auch wenn wir uns im Artikel vor allem mit der Türkei beschäftigt haben, so darf die Katastrophe in Syrien nicht übersehen werden. In dem Land sind bisher rund 1500 Menschen dem Erdbeben zum Opfer gefallen. Die nordöstlichen Regionen und Teile von Rojava sind vom Erdbeben massiv betroffen. Es sind dies Gebiete, die durch den jahrelangen Bürgerkrieg gebeutelt und ausgeblutet sind und nicht zur Ruhe kommen. Sie verfügen über wenig bis gar keine Infrastruktur, um Bergungsarbeiten durchzuführen. Assads Stellungnahme dagegen sind blanker Zynismus. Kaum staatliche Unterstützung wurde in diese Region entsendet, denn es sind zum Teil Gebiete, die nicht mehr unter Assads Kontrolle stehen. Die Türkei wiederum setzte die Angriffe auf Rojava auch während des Erdbebens fort!

Wer hilft?

In der aktuellen Situation sind Sach- und Geldspenden dringend erforderlich, welche die Menschen vor Ort direkt erreichen. Für alle, die Geld überweisen wollen, verweisen wir auf die Webseite und das Konto von Heyva Sor (Kurdischer Roter Halbmond; https://www.heyvasor.com/de/alikari/) Dabei ist recht sicher, dass die Spenden auch dort ankommen, wo sie gebraucht werden.

Denn nicht jeder Spendenaufruf ist einer, der die Teile der Bevölkerung erreicht, die am härtesten von der Katastrophe betroffen sind. Spenden, die an den türkischen oder an den syrischen Staat gehen, sind oftmals welche, die in den Taschen des Regimes oder deren Mittelsmänner landen und nicht die Menschen vor Ort erreichen. In vielen Städten Deutschlands werden aktuell auch Sachspenden gesammelt, womit dann Menschen oftmals mit dem Auto in die Gebiete fahren und die Sachspenden dann an den Stellen weitergeben, in welchen sich gerade (notgedrungen) die meisten Menschen aufhalten. Dabei fehlt es fast an allem, denn die meisten Menschen mussten ihre Wohnungen innerhalb von Sekunden verlassen.

Es ist aber klar, dass die humanitäre Hilfe, egal welcher Art, nur die Auswirkungen der Katastrophe lindern kann. Was sind aber politische Forderungen, die Revolutionär:innen in diesen Momenten aufwerfen müssten?

Es muss die Frage gestellt werden, wie es sein kann, dass gerade die Regionen, in welchen die kurdischen, arabischen, alevitischen Minderheiten leben, dies sind, die am schlechtesten auf Naturkatastrophen vorbereitet sind, obwohl es bekannt ist, dass in dieser Region die anatolische Platte auf die arabische trifft. Rassismus und Unterdrückung führen direkt zur Armut, zu einer Lage, die von Immobilienhaien und kapitalistischen Unternehmen bewusst ausgenutzt wird. Die Frage, die hier also hauptsächlich gestellt werden muss, ist auch die Frage der Verbindung des Befreiungskampfes der Kurd:innen und aller unterdrückten Minderheiten in der Türkei und in Syrien mit dem der Arbeiter:innenklasse. Wir fordern:

  • Massive Hilfsgüter und Personal für alle betroffenen Regionen! Private Spenden sind gut, aber eigentlich müssen die Reichen, die Profiteure, der Staat und die imperialistischen Länder gezwungen werden, für die Katastrophenbekämpfung aufzukommen!
  • Damit die Hilfsgelder nicht im Korruptionssumpf versinken, muss ihre Verteilung und Verwendung von Ausschüssen der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten und von Beschäftigten bei den Hilfsorganisationen kontrolliert werden. Auch Beschäftigte bei den Banken und Finanzinstitutionen können hier eine wichtige Kontrollfunktion übernehmen.
  • Um den Zugang für Hilfsgüter, Helfer:innen, Katastrophenschutz zu allen Regionen, frei von Repression und Angst vor Unterdrückung, zu ermöglichen, ist der Rückzug der Armee und der Polizei notwendig. Schluss mit der Verfolgung und Unterdrückung kurdischer und anderer oppositioneller Organisationen! Rückzug von Assads Schlächter-Truppen! Bleiberechte für alle Geflüchteten!
  • Rettungs- und Wiederaufbauprogramm, finanziert aus der Besteuerung der Profite und großen Privatvermögen unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuer:innen in den betroffenen Regionen!



Erneute Eskalation im Nahost-Konflikt? 6 Fragen – 6 Antworten!

Von Lia Malinovski, Februar 2023

Warum ist dieses Framing problematisch?

In den letzten Tagen hat sich die Gewaltspirale zwischen der israelischen Regierung und palästinensischen Gruppen wieder erneut heftig in Gang gesetzt. In den bürgerlichen Medien ist dabei von einer „Eskalation im Nahost-Konflikt“ die Rede. Dabei wird einerseits in guter alter kolonial-eurozentristischer Manier vom „Nahen Osten“ gesprochen (, denn ob das Ganze nah ist und im Osten liegt, hängt natürlich vom Standpunkt der Betrachterin ab). Auch die Rede von einer Eskalation trifft den Punkt nicht ganz, denn die jahrzehntelange Besatzung, Entrechtung und Unterdrückung der Palästinenser_innen stellen für sich genommen schon ein ziemlich eskalatives Level in einem Konflikt zwischen Bevölkerungsgruppen dar. Erst dann von Eskalation zu sprechen, wenn es zu Gewaltausbrüchen kommt, suggeriert als wäre vorher eigentlich alles tutti bzw. nicht ganz so schlimm gewesen. Doch die Palästinenser_innen spüren die Gewalt des Besatzungsregimes Tag für Tag.

Was genau ist in den letzten Tagen passiert?

Ausgangspunkt der Gewaltspirale war ein Angriff des israelischen Militärs auf ein palästinensisches Geflüchtetencamp in Jenin (Westbank). Die Soldat_innen richteten dabei ein Blutbad an, bei dem 9 Menschen getötet wurden. Weitere 20 Palästinenser_innen wurden bereits in diesem noch sehr jungen Jahr durch das israelische Militär getötet. Die im Gazastreifen regierende Hamas beantwortete das Massaker mit Raketenangriffen auf den Süden Israels, die jedoch keinen nennenswerten Schaden anrichteten. Das israelische Militär flog daraufhin Luftangriffe auf Stellungen der Hamas. Im Zuge dessen kam es auch zu Angriffen auf zivile Opfer in israelischen Siedlungen im palästinensischen Teil Jerusalems. Dabei wurden bei einem Anschlag auf eine Synagoge 7 Israelis brutal ermordet.

Was ist der Grund für die Angriffe?

Der Grund für das verschärfte Vorgehen des israelischen Militärs ist wohl die neue extrem-rechte Koalitionsregierung, die die rechteste ist, die es jemals in Israel gab. An ihrer Spitze steht der altbekannte Benjamin Netanjahu. Minister für Nationale „Sicherheit“ ist der rechtsradikale Siedler Itamar Ben-Gvir. Dieser sticht unter den vielen rassistischen Äußerungen von Mitgliedern der neuen Regierung zusätzlich dadurch negativ hervor, dass er die Massaker israelischer Siedlerterroristen wie Baruch Goldstein legitimiert, „illoyale“ Palästinenser_innen ausweisen will und auch schon persönlich angesichts palästinensischer Proteste die Pistole gezückt hat. Mit Blick auf das relativ knappe Wahlergebnis versucht sich die neue rechtsextreme Regierung nun durch ein besonders hartes Vorgehen und weitere Einschnitte in die Rechte der Palästinenser_innen zu profilieren. Dabei steht sie stark unter Druck. Mit der sich verschärfenden Wirtschaftskrise geht auch eine verstärkte Verelendung der Arbeiter_Innenklasse in Israel einher, die sich besonders in Reallohnverlusten, massiver Inflation, Entlassungen und schlechteren Arbeitsbedingungen äußert. Die israelische Regierung versucht jetzt durch nationalistische Propaganda und der Erweiterung des israelischen Staatsgebiets dieser Krise durch kurzfristige Scheinlösungen zu begegnen und die israelische Arbeiter_Innenklasse mittels Nationalismus an die herrschende Klasse zu binden und damit ihre Schlagkraft zu verringern.

Gibt es auch auf israelischer Seite Widerstand dagegen?

Dass die Palästinenser_innen das brutale Vorgehen der neuen Regierung nicht widerstandslos über sich ergehen lassen, ist nur allzu verständlich. Doch auch in Israel gibt es viele kritische Stimmen. So haben wir zahlreiche Massendemonstrationen in Israel gesehen, die gegen die neue Regierung auf die Straße gegangen sind. Zwar bieten diese Demonstrationen insgesamt keine sozialistische Perspektive und formulieren in ihrer Gesamtheit keine grundsätzliche Kritik am israelischen Staat oder dem Zionismus, sind jedoch Ausdruck der Unzufriedenheit mit dieser extrem rechten Regierung. Sie können einen Ausgangspunkt für Widerstand in der israelischen Bevölkerung bieten, wenn fortschrittliche Organisationen es verstehen, in diese Proteste die Position der israelischen und der palästinischen Arbeiter_innenklasse zu tragen und die Führung zu übernehmen. Es muss dabei darum gehen, die soziale Frage mit der Beendigung der Besatzung zu verknüpfen. Kommunistische Gruppen wie „Hadash“ und Antifa-Gruppen haben auf der über 100 000 Teilnehmende zählenden Großdemonstration in Tel Aviv in der vergangenen Woche mit ihrem „radical bloc“ ein starkes Zeichen gesetzt. Darin fanden sich viele palästinensische Fahnen, „Palestinen Lives Matter“-Schilder als auch Banner mit der Aufschrift „There’s no democracy with apartheid,” oder “A nation that occupies another nation will never be free“.

Wie ist die Reaktion der Palästinenser_innen zu bewerten?

Den Palästinenser_innen steht das Recht auf nationale Selbstbestimmung zu und auch, sich gegen Angriffe zu verteidigen und gegen die fortwährende Besatzung zu wehren. Wir verteidigen dieses Recht, auch wenn wir Angriffe auf Zivilpersonen, insbesondere den brutalen Anschlag auf die betenden Menschen in der Synagoge in Ost-Jerusalem, entschieden ablehnen. Dass es angesichts der israelischen Besatzungspolitik zu solchen Anschlägen kommt und eine auf die Arbeiter_innenklasse gestützte Taktik im palästinensischen Widerstand fehlt, ist auf die Schwäche der palästinensischen Linken, den Verrat der Stalinist_innen in ihren Reihen, die verräterische Politik der palästinensischen Autonomiebehörde, die Abwesenheit von legalen Protestmöglichkeiten und den Siegeszug des politischen Islams in der gesamten Region zurückzuführen. So konnten sich Hamas und Islamischer Jihad als die „entschlossenere Alternative“ präsentieren. Dabei sind beide reaktionäre Organisationen, die nicht im Interesse der palästinensischen Arbeiter_Innenklasse handeln. Sie sind reaktionär, da sie in ihren Taktiken gezielt Jüd_innen angreifen, anstatt die israelische Staatsmaschinerie zum Ziel zu erklären und für Verbesserungen zu kämpfen. In ihrer Ideologie stellen sie sich gegen Jüd_innen, aber auch gegen andere Ethnien (auch innerhalb der palästinensischen Bevölkerung) und vor allem gegen queere Menschen und Frauen, deren Unterdrückung sie aktiv befürworten. Ihre Taktik dient dazu, sich als Führungskraft des Befreiungskampfes zu inszenieren, indem sie hin und wieder mal Raketen nach Israel schicken. Sie tun dies, da sie davon profitieren, wenn sie sich als Führung ausgeben können, wenn sie Israel symbolisch angreifen und die Reaktion propagandistisch ausschlachten können. Damit machen sie es der israelischen Führung auch leicht, die Palästinenser_innen zum kollektiven Feind zu erklären. Mit ihren Aktionen verfolgen Hamas und Islamischer Jihad keine Strategie zur Befreiung Palästinas, sondern eine Strategie zur Erhaltung ihrer Macht, hinter der eine Klasse aus Klerikalen und Bürokraten steht.

Die palästinensische Bourgeoisie wird dagegen vor allem von der konservativen Fatah vertreten, welche die Regierungsgeschäfte der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in der Westbank lenkt. Diese ist eine Institution, die aufgrund der sehr schwachen palästinensischen Wirtschaft nur durch ausländische Entwicklungshilfe aus der EU und den USA am Leben erhalten werden kann. Da das Hauptinteresse der EU und der USA die Sicherheit ihres Verbündeten Israel ist, binden sie ihre Zahlungen daran, dass die PA für „Ruhe und Ordnung“ in den palästinensischen Gebieten sorgt. Ein großer Teil der Zahlungen fließt deshalb ausschließlich in den palästinensischen Militär- und Polizeiapparat. Die PA unter Führung der konservativen Partei Fatah wird also dafür bezahlt, die palästinensische Bevölkerung ruhig zu halten und Aufstände gewaltsam zu unterdrücken. Diese Funktion führt sie im Rahmen einer „Sicherheitskooperation“ mit dem israelischen Militär aus. Die PA übernimmt somit die Rolle einer Verwalterin der Besatzung und entwickelte sich in der Vergangenheit zu einem autoritären Polizeistaat, der die Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit unterdrückt und die israelische Besatzung zementiert. Diese „Sicherheitskooperation“ wurde nun als Reaktion auf das Blutbad in Jenin einseitig durch die PA aufgekündigt. Dies ist jedoch nicht als eine Linksentwicklung der Fatah zu verstehen, sondern vielmehr als den verzweifelten Versuch, noch irgendeine Form von Ansehen und Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung zu behalten.

Was setzen wir dem entgegen?

Was es braucht, ist eine unabhängige Position der palästinensischen Arbeiter_innenklasse, die keine Illusionen in die bürgerlichen Kräfte Hamas, Islamischen Jihad oder die Fatah hat. Diese würde bedeuten zu erkennen, dass israelische und palästinensische Arbeiter_innen dieselben Interessen und Ziele haben und dass sie nur die Ketten des Kapitalismus und Nationalismus davon trennen. Die Geschichte hat schon oft gezeigt, dass nationale Gegensätze im gemeinsamen Kampf für gleiche Ziele verschwinden können. Unsere Perspektive ist die eines säkularen multi-ethnischen Arbeiter_innenstaates zu kämpfen, in dem jeder Mensch unabhängig von seiner Religion und Hautfarbe in Frieden leben kann. Um jedoch die Palästinenser_innen für diese Position zu gewinnen, dürfen wir nicht als kommunistische Besserwisser_innen am Rande des Kampfes stehen und zuschauen. Wir müssen uns als Teil ihres Kampfes für nationale Selbstbestimmung verstehen, auch wenn uns die Führung dieses Kampfes aus reaktionären Kräften nicht passt, sein Ziel ist trotzdem legitim. Nur indem wir das legitime Recht dieses Befreiungskampfes bedingungslos verteidigen und die israelische antizionistische Opposition unterstützen, werden die Massen offen für unsere Positionen sein und den Kampf um die nationale Selbstbestimmung mit der Klassenfrage zu verbinden. Hier vor Ort muss das bedeuten, aktiv gegen Waffenlieferungen und militärische Unterstützung für Israel durch die BRD zu sein. Sich gegen Betätigungs- und Demonstrationsverbote für palästinensische Organisationen auszusprechen und den palästinensischen Befreiungskampf gegen verleumderische Antisemitismusvorwürfe zu verteidigen.

Als REVOLUTION bieten wir dem Kampf deshalb die folgende Perspektive:

  • Verbindung der Kämpfe der israelischen Arbeiter_Innenklasse mit dem Kampf um nationale Selbstbestimmung in Palästina! Für Massenstreiks und gemeinsame Aktionens von Palästinenser_innen und der israelischen Arbeiter_innenklasse gegen Inflation, Reallohnverluste, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und für die Kontrolle der Klasse über die Schlüsselindustrien!
  • Es gibt kein Existenzrecht für kapitalistische Nationalstaaten! Für den Aufbau eines freien, rätedemokratischen, sozialistischen Palästinas, das den bürgerlichen Staat Israel durch demokratische Strukturen und friedliches Zusammenleben im Rahmen einer Föderation sozialistischer Staaten ersetzt!
  • Für volle Staatsbürger_innenrechte für alle, da wo sie gerade Wohnen, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion!
  • Für volle Religionsfreiheit und gegen religiöse Staaten! Jede_r muss das Recht haben, die eigene Religion auszuüben, solange die Unversehrtheit anderer gewährleistet ist!
  • Für demokratische Milizen zur Verteidigung vor rassistischen, antisemitischen oder sonstigen reaktionären Angriffen, gewählt durch die Arbeiter_innenklasse Palästinas und Israels!



Palästinasolidarität bei FridaysForFuture?

Debattenbeitrag von Lia Malinovski

Aktuell läuft bei der klimaaktivistischen Jugendorganisation Fridays For Future in Deutschland eine Debatte um Palästinasolidarität. Die internationale Organisation hat sich durch mehrere Tweets und Posts auf anderen Social-Media-Kanälen solidarisch mit dem palästinensischen Befreiungskampf gezeigt, die deutsche Organisation distanzierte sich davon. Durch unsere Intervention bei Ende Gelände, nicht zuletzt aber durch die Rede der palästinensischen Organisation „Palästina Spricht“ auf dem globalen Klimastreik am 23.September in Bremen, ist die Debatte aktueller denn je bei Fridays For Future.

Palästinasolidarität – Notwendig oder Antisemitisch?

In unserem Artikel „Unsere Solidarität mit Palästina war niemals antisemitisch, ist nicht antisemitisch und wird auch nie antisemitisch werden!“ gehen wir tiefer in die Thematik ein, ob Palästinasolidarität antisemitisch sei. Kurz gesagt, linke Solidarität mit Palästina und dem Kampf gegen den Zionismus, ist kein Antisemitismus, sondern sollte eine revolutionäre Notwendigkeit sein!

Die Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus ist zutiefst antisemitisch und rassistisch; antisemitisch unter anderem daher, dass es eine Gleichsetzung des Zionismus und des Staates Israel mit dem Judentum bedeutet, rassistisch unter anderem daher, dass diese Ideologie Hass auf Palästinenser_innen und vor allem ihre Vertreibung legitimiert.

Das zeigt sich beispielsweise an den etlichen Morden, die die IDF (Israel Defence Forces) regelmäßig an Palästinenser_innen verübt, deutlich über 100 Menschen wurden alleine in diesem Jahr durch die Besatzungsmacht getötet, aus Gründen die selbst aus bürgerlicher Sicht unverhältnismäßig und völlig illegitim sind. Auch zionistische häufig extrem rechte Siedler_Innen morden in den palästinensischen Gebieten nicht selten und üben sehr oft, quasi immer ungestraft und häufig durch die IDF gedeckt, Gewalt gegen Palästinenser_Innen und solidarische Israelis aus.

Die Frage des Existenzrechtes Israels

In der Debatte bei Fridays for Future ist eine Frage besonders zentral: Die Frage nach dem Existenzrecht Israels. Dabei lenkt diese Frage vom eigentlichen Thema ab. Es ist das Ziel, mit Debatten über das Existenzrecht eines rassistischen Staates, die Unterstützung des antikolonialen Kampfes als antisemitisch und damit rechts und falsch abzustempeln. Anstatt über das Existenzrecht Israels zu sprechen, sollte Fridays For Future über die Unterdrückung der Palästinensischen Bevölkerung sprechen und wie sie den Kampf dagegen unterstützen können. Klimaschutz ist nur im Rahmen eines antikolonialen, und damit antirassistischen, Kampfes möglich! Letzten Endes muss sich Fridays For Future positionieren – entweder sie unterstützen einen antirassistischen Kampf, oder einen rassistischen Kolonialstaat.

Da diese Frage weiter aufkommen wird, wollen wir uns trotzdem kurz damit beschäftigen:

Wer die Frage stellt, ob man dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht, versucht zu sagen, dass man einen jüdischen Schutzraum zu unterstützen hat. Gerade mit Blick auf den zunehmenden Antisemitismus weltweit, ist die Forderung nach einem jüdischen Schutzraum, solange die Gefahr des Antisemitismus nicht gebannt ist, durchaus nachvollziehbar und in vielen Teilen auch sinnvoll.

Doch in Bezug auf Israel, geht jegliche Logik verloren: Ein jüdischer Schutzraum müsste für alle Jüd_innen, die in diesem Raum leben wollen, zugänglich und sicher sein. Israel hingegen ist für schwarze Jüd_innen kein sicherer Ort, wie die rechte Regierung Netanyahus und die israelische Rechte immer wieder mit öffentlichen Aussagen und Angriffen bishin zu kleineren Pogromen deutlich machen. Auch kann ein kapitalistischer Staat kein Schutzraum sein, denn es wird immer Spaltung und Unterdrückung innerhalb der Klassengesellschaft geben. Ein wahrer Schutzraum für Jüd_innen kann nur ein sozialistischer Staat sein, in dem alle Ethnien friedlich miteinander leben können, ein Staat unter der Kontrolle des Proletariats!

Fridays for Future muss sich positionieren, Schluss mit dem Teilen von rassistischen Ideen und der Legitimation von Unterdrückung! Klimaschutz heißt notwendigerweise Solidarität mit antikolonialen Befreiungskämpfen weltweit!

  • Freiheit für die durch das israelische Militär besetzten Gebiete! Schluss mit der zionistischen Unterdrückung und für den Aufbau eines vereinigten, säkularen und sozialistischen Palästinas, in dem Angehörige verschiedener Religionen und Atheist_innen, sowie Menschen sämtlicher Ethnien und Kulturen, gleichberechtigt miteinander leben können. Für eine vereinigte sozialistische Föderation im gesamten Nahen Osten!
  • Für globale Klimagerechtigkeit! Die imperialistischen Staaten sollen für die von ihnen verursachten Schäden bezahlen! Streichung der Schulden für die Halbkoloniale Welt!