„From the river to the sea“ – Ist das schon Antisemitismus?

Von Lia Malinovski und Felix Ruga, Oktober 2023

Während in Gaza die Luft brennt, verschiebt sich in Deutschland die Debatte nach rechts und wird zunehmend repressiver. Wie selbstverständlich ist der deutsche Staat dabei mitgegangen und meint nun zu erkennen: Antizionismus ist tatsächlich Antisemitismus! Dementsprechend haben wochenlange Verbote jeglicher palästinasolidarischen Demonstrationen kaum mehr eine Erklärung bedurft, außer dass sie „antiisraelisch“ und dementsprechend praktisch schon volksverhetzend sind. Aber auch schon einzelne Aussagen und Demosprüche sind betroffen: Mit der absurden Vorstellung, dass der Ausruf „From the river to the sea, palestine will be free!“ (Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein) die Vernichtung aller Jüd_Innen im Nahen Osten fordere, gab es schon zig Festnahmen. Wir wollen im Folgenden kurz beleuchten, warum es nichts mit Antisemitismus zu tun hat, sich eine fortschrittliche Lösung des Nahostkonflikts und ein sicheres Leben für Jüd_Innen fernab von militärischer Gewalt vorstellen zu können.

Niemand ist frei…

Der Slogan fordert ein befreites Palästina auf dem gesamten historischen Gebiet. Was nun “frei” und “Palästina” bedeutet, ist offen. Viele meinen einfach Gerechtigkeit für alle, ob sie nun in Israel oder Palästina leben. Die “offizielle Lesart” ist nun jedoch, dass man mit dem Slogan die Zerschlagung Israels fordere. Aber dass das als eliminatorischen Antisemitismus gebrandmarkt wird, liegt am Aberglauben an die Unausweichlichkeit eines ethno-nationalistischen Apartheidstaat als jüdischen Schutzraum. Dieses Schutzbedürfnis ist mehr als berechtigt, denn spätestens seit der Shoah ist klar, welche Ausmaße der Antisemitismus annehmen kann, der weltweit seit Jahrhunderten sein Unwesen treibt und nie abgenommen hat. Dieser Schutz wird in Israel gesehen.

Letztendlich ist Israel aber nicht dazu in der Lage, Antisemitismus tatsächlich zu bekämpfen. Es ist höchstens dazu in der Lage, unter extrem prekären Verhältnissen zumindest einen Nationalstaat zu schaffen, in denen Jüd_Innen die Mehrheit darstellen und dementsprechend keine antisemitische Bedrohung durch ihren eigenen Staat befürchten müssen. Aber dieser Schutz ist unter anderem so prekär, weil das zum Leidwesen einer anderen Volksgruppe, nämlich der palästinensischen geschieht. Der israelischen Politik fiel als Lösung dieses Konflikts nur ein, mit noch mehr Militär und noch mehr Unterdrückung jeglichen palästinensischen Widerstand kleinzuhalten. Das ist weder menschlich erträglich noch fortschrittlich! Ganz im Gegenteil!

Insgesamt wird dabei verkannt oder ausgeblendet, dass Israel ein Klassenstaat ist. Es ist ein kapitalistischer Staat, es gibt Klassenspaltung und entsprechend auch Klassenkampf. Es gibt innere Widersprüche und Konflikte, mit denen der Staat zu kämpfen hat. Es gibt eine Ausbeuter_Innenklasse (Bourgeoisie) und mehrere Klassen der Ausgebeuteten (Proletariat und in Teilen die Kleinbauernschaft). Anhand dessen müsste allen linken und klassenbewussten Kräften klar sein, dass es nicht „ein Interesse“ der Jüd_Innen im Allgemeinen gibt, was ein Denken in nationalistischen Kategorien entspricht. Vielmehr gibt es je nach Stellung im Produktionsprozess, wie auch je nach gesellschaftlicher Stellung und daraus resultierender Unterdrückung (beispielsweise Rassismus), verschiedene entgegengesetzte Interessen, die ein Staat niemals zugleich befriedigen kann. Wie alle anderen bürgerlich-kapitalistischen Staaten muss auch Israel in erster Linie die Interessen der Bourgeoisie vertreten, zuungunsten der israelischen Arbeiter_Innen.

Neben den tödlichsten Formen des Antisemitismus existiert noch weitaus mehr Formen des Antisemitismus, auf die Israel keine Antwort ist. Gerade die jüdische Arbeiter_Innenklasse ist neben der alltäglichen Diskriminierung zusätzlich von Unterdrückung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, sowie in sämtlichen weiteren gesellschaftlichen Bereichen betroffen. Diese „zusätzliche“ Unterdrückung, die den größten Teil aller Jüd_Innen weltweit betrifft, wird von Israel nur so lange bekämpft, wie es nicht den (ökonomischen) Interessen der israelischen Bourgeoisie widerspricht. Es treffen also verschiedene, sich entgegengesetzte Interessen aufeinander, sodass ein tatsächlicher Schutz und die tatsächliche Bekämpfung von Antisemitismus gar nicht möglich sind. Es kann im Kapitalismus auch kein tatsächlicher Schutzraum bestehen. Kritik und Ablehnung dieses gesamten Systems im Nahen Osten ist mehr als gerechtfertigt. Weltweit stellen sich viele Jüd_Innen gegen die Politik und das Apartheidsystem Israels.

Anhand der Ausführung wird klar, dass die Forderung nach Zerschlagung Israels nicht antisemitisch sein muss, gerade wenn sie von Links kommt. Und das ist kein linksradikales Hirngespinst: So könnte man die „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ nennen, welche einigen Support aus der Wissenschaft bekommen hat. Darin heißt es: „Es ist nicht per se antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner_Innen zwischen dem [Jordan] und dem Meer volle Gleichberechtigung zugestehen, ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer.“

zwischen Fluss und Meer?

Wir sollten uns aber auch im Klaren darüber sein, dass es verschiedenste Ziele und Strategien gibt, ein befreites Palästina zu erreichen und wie dieses aussehen soll. So wollen beispielsweise reaktionäre Kräfte wie die Hamas kein säkulares Palästina, sondern einen neuen religiösen und fundamentalistischen Staat. Auch soll kein multiethnischer Staat errichtet werden, sondern es soll weiterhin ein Staat, beruhend auf (religiös begründetem) Rassismus bestehen bleiben, dann gerichtet gegen die Jüd_Innen in der Region. Das ist selbstverständlich abzulehnen. Andere Kräfte, insbesondere Fatah und damit auch die Palästinensische Autonomiebehörde sowie bedeutende Teile der israelischen Zivilgesellschaft, sehnen sich nach der gescheiterten Zwei-Staaten-Lösung und fahren eine Politik der Versöhnung. Es soll einen Staat Palästina geben, neben einem Staat Israel. An sich klingt das erstmal nach einer guten Idee, in der Praxis ist das jedoch nicht umsetzbar, da Israel auf Siedlerkolonialismus und damit einhergehend der Vertreibung der Palästinenser_Innen aufbaut. Beide Bestrebungen sind Sackgassen für den palästinensischen Widerstand und kein Weg zur Befriedung des Nahen Ostens. Sowohl Frieden mit dem Unterdrücker als auch neue Unterdrückung müssen wir als Kommunist_Innen entschieden ablehnen und bekämpfen.

Ein tatsächlich befreites Palästina kann nur säkular, multiethnisch und vor allem sozialistisch sein. Es muss eingegliedert sein in eine Föderation sozialistischer Staaten im gesamten Nahen- und Mittleren Osten, nach einem Programm der permanenten Revolution. Es müssen Staatsbürger_Innenrechte für alle gelten, die dort leben, es muss das Recht auf Rückkehr für alle Vertriebenen geben, sowie eine gemeinsame demokratische Verwaltung des Gebietes, auf der Grundlage einer gesamtgesellschaftlichen Planung der Wirtschaft. Um das zu erreichen, müssen wir die Spaltung zwischen der israelischen und der palästinensischen Arbeiter_Innenklasse überwinden, denn diese beiden sind es, die das Potenzial haben, ein sozialistisches Palästina zu erkämpfen. Dazu muss die israelische Arbeiter_Innenklasse mit dem Zionismus brechen. Innerhalb der israelischen und palästinensischen Linken ist diese sogenannte Einstaatenlösung recht weit verbreitet.

Das klingt jedoch alles ziemlich utopisch und das ist es wahrscheinlich auch. Die israelische Arbeiter_Innenklasse ist mit der Gewerkschaft Histadrut eng an den Zionismus gebunden. Die reaktionäre Hamas bestimmt offenkundig den militanten Widerstand. Und die Fatah glaubt weiterhin an die Zwei-Staaten-Lösung und ist nicht bereit, damit zu brechen. Kommunist_Innen in Israel und Palästina werden verfolgt, wurden gefoltert und ermordet. Wir müssen also Taktiken entwickeln, die den Einfluss dieser ganzen Akteur_Innen schwinden lässt und die Bevölkerung von ihnen wegbricht.

Hierfür ist ein konsequenter Kampf gegen die israelische Besatzung notwendig, die nicht vor den Unterdrücker_Innen einknickt. Das Ziel muss es sein, eine neue Intifada zu erreichen, also einen allgemeinen und demokratischen Aufstand gegen den Apartheidstaat. Bei den Streiks, Demonstrationen und Aktionen soll konkret auch auf die israelische Linke zugegangen werden und eine Vereinigung der palästinensischen und israelischen Arbeiter_Innenklasse erreicht werden. Die großen Demos im letzten Jahr gegen die Justizreform haben schon die Potentiale gezeigt. Der revolutionäre Kampf kann die Grundlage für die Verständigung darstellen, um diese Vereinigung zu erreichen, alte Wunden zu heilen und jene zionistischen und islamistischen Kräfte zu besiegen, die genau das fürchten!




Kampf dem Solidaritätsverbot in Hamburg!

Von Bjarne Hecker, November 2023

Die Versammlungsbehörde der Stadt Hamburg verlängerte ihre am 15.10 erstmals verhängte Allgemeinverfügung zum Verbot von Versammlungen „die inhaltlich Bezug zur Unterstützung der Hamas, oder deren Angriffe auf das Staatsgebiet Israels aufweisen“ bis zum 05.11. In der Praxis stellt dies ein Verbot aller „sog. pro-palästinensischen“ Versammlungen dar, wie die Versammlungsbehörde in ihrer Begründung des Verbots selbst einräumt. Während der Kolonialstaat Israel also eine genozidale Politik ggü. der Bevölkerung Gazas verfolgt das menschliche Leid ins unermessliche steigt und auch im Westjordanland die Gewalt der Siedler_innen ggü der palästinensischen Bevölkerung stark zugenommen hat, verbietet Hamburg pauschal jegliche Versammlungen zur Solidarität mit Palästina. Aber ist diese neue Qualität der Repression überhaupt rechtens innerhalb der bürgerlichen Demokratie? Und wie schaffen wir es unsere demokratischen Rechte und die unserer palästinensischen Genoss_innen zu verteidigen?

Rechtmäßigkeit des Versammlungsverbots innerhalb der bürgerlichen Demokratie

Wie uns oft und breit erzählt wird gewährt der bürgerlich demokratische Staat den seiner Gewalt Unterworfenen gewisse demokratische Rechte, wobei er diese in Bürger_innen und nicht Bürger_innen spaltet und gewisse Rechte nicht Bürger_innen vorenthält. Hier ist es natürlich wichtig klarzustellen, dass diese Rechte nicht etwa Genschenke der Bourgeoisie an ihre Untertanen darstellen, sondern vielmehr erkämpft wurden und verteidigt werden müssen.

In der bürgerlichen Rechtsdogmatik kommt es für die Rechtfertigung eines Eingriffes in ein Grundrecht vor allem auf die Verhältnismäßigkeit dessen an, d.h konkret das er ein öffentliches Interesse durchsetzen soll, für diese Durchsetzung überhaupt geeignet ist, keine milderen Mittel genauso geeignet wären und das zu Schützende Interesse im Verhältnis mit der schwere des Eingriffs steht.

Ob ein solches Pauschal-Verbot überhaupt geeignet ist die „Öffentliche Sicherheit“ (welche die Versammlungsbehörde als zu schützendes Interesse aufführt) zu fördern, ist sehr stark anzuzweifeln, wie es sich bereits in Berlin gezeigt hat führt ein solches Verbot jeglicher Solidaritätsbekundungen im öffentlichen Raum zum verstärkten Widerstand innerhalb migrantischer Communities gegen den bürgerlichen Staat. Jede Nacht krachte es auf der von der Polizei besetzten Sonnenallee, aber die genehmigten Großdemonstrationen verliefen so gut wie ohne Zwischenfälle. Pauschale Repression, gerade ggü. einer so offensichtlich gerechten Sache wie der der Solidarität mit der unterdrückten und leidenden palästinensischen Bevölkerung und ihrem Befreiungskampf, führt zu Wut und Widerstand und trägt nicht zu irgendeiner „öffentlichen Sicherheit“ bei.

Des Weiteren entzieht sich das pauschale Verbot auch aller Verhältnismäßigkeit in Abwägung des Schutzes der öffentlichen Sicherheit, mit der schwere des Eingriffs in die Versammlungsfreiheit. Während der Eingriff der Eingriff die „öffentliche Sicherheit“ nicht nur nicht fördert, sondern sie umgekehrt untergräbt, verbietet er auf der anderen Seite pauschal alle Solidaritätsversammlungen mit einem Volk dass vor laufenden Kameras genozidaler Angriffe ausgesetzt ist. Palästinenser_innen wird so in Hamburg jegliche Möglichkeit genommen zu ihrer Identität öffentlich zu stehen und das Leid und die Unterdrückung ihrer eigenen Angehörigen anzuklagen.

Das Versammlungsverbot ist also nicht rechtmäßig, was auch schon durch in entsprechende Urteile in anderen Städten bestätigt wurde.

Warum erfährt die palästinensische Befreiungsbewegung so starke Repression

Es stellt sich jetzt vielleicht die Frage warum ausgerechnet die palästinensische Befreiungsbewegung in Deutschland eine Repression erfährt, die sogar über die Schranken, in denen die bürgerliche Demokratie normalerweise agiert hinausgeht. Hierfür lassen sich drei Gründe ausmachen.

Zum ersten ist Israel enger Verbündeter des deutschen Imperialismus und Vorposten des gesamten westlichen imperialistischen Blocks im nahen Osten und sein Kapital eng verwoben mit diesem Block, allen voran mit den USA. Folglich Unterstützt die BRD ihren engen und langjährigen Verbündeten auch bei seinen aktuellen genozidalen Angriff auf den Gazastreifen. Da Genozid aber selbst in Deutschland ein unpopuläres politisches Programm darstellt, mobilisiert die BRD das gesamte bürgerliche Medienkartell um Zustimmung zu schaffen. Zu dieser Anstrengung gehört es auch, öffentliche Meinungsäußerungen, die dem bürgerlichen Narrativ widersprechen bestmöglich zu verhindern, die Versammlungsverbote dienen also hier um Zustimmung für die deutsche Unterstützung Israels zu schaffen und um das bürgerliche Narrativ zu retten.

Des Weiteren besteht ein wichtiger Teil der Legitimität der BRD in ihrer vermeintlichen Abgrenzung zum ihr vorrausgegangenen deutschen Faschismus und dessen genozidalen Antisemitismus. Die Unterstützung Israels und die Unterdrückung von öffentlichem Dissens ermöglicht ihr, jegliche „Verantwortung“ für jüdische Emanzipation einfach für erfüllt zu erklären, ohne gegen Faschismus und Antisemitismus vorgehen zu müssen und sich dennoch ideologisch vom 3.Reich abgrenzen zu können. Die bürgerliche Gesellschaft Deutschlands spricht sich also durch ihre Unterstützung Israels selbst frei.

Das Versammlungsverbot und die daraus resultierenden Ausschreitungen erfüllen aber auch einen tagespolitischen Zweck in einer Zeit in heftige Rollbacks im Asylrecht und für migrantische Menschen allgemein in Deutschland vorgenommen werden, sind die vermeintlich „antisemitischen“ Ausschreitungen allen voran in Berlin Neukölln eine willkommene Möglichkeit rassistischer Hetze, wie wir es auch aktuell in den bürgerlichen Medien und alle Parteien überspannend erleben.

Verteidigung unserer demokratischen Rechte

Wie schon oben kurz erwähnt werden uns unsere demokratischen Rechte nicht einfach geschenkt, wir müssen diese erkämpfen bzw. verteidigen. Wenn unsere Versammlungsfreiheit also so grundlegend eingeschränkt wird, müssen wir also trotzdem und gerade deswegen auf die Straße und Widerstand gegen die Repression zeigen.

Berlin-Neukölln macht es vor:
Nachdem in den letzten Wochen vor allem um die Sonnenallee eine ungeheure Repressionswelle auf die Menschen im Stadtteil losgelassen wurden und vor allem migrantische Menschen für jegliche Solidaritätsbekunden mit Palästina verfolgt wurden, selbst Einzelpersonen, die keine Versammlung darstellten, entlud sich die Wut auf der Straße.
In mehreren aufeinanderfolgenden Nächten fanden auf der Sonnenallee Spontis statt, welche sich zu regelrechten Schlachten mit der Polizei entwickelten. Die Jugend im Stadtteil holte sich die Straße zurück.
Daraufhin wurde die Repression in Berlin wieder etwas gelockert, auch wenn sie natürlich immer noch stark besteht, einige Großdemonstrationen für Palästina wurden genehmigt und am Samstag fand die nächste statt.
Die Bewegung hat es also in Berlin durch ihren militanten Widerstand geschafft sich die Versammlungsfreiheit teilweise zurückzuholen.

Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand von Hamburg bis nach Gaza

Um solidarisch an der Seite von Palästinenser_innen und ihrem Widerstand zu stehen müssen wir also einen doppelten Kampf führen, gegen die Repression die in Deutschland vor alle palästinensische und migrantische Gruppen trifft, wie z.B Samidoun, und gegen die genozidale Politik Israels, welche von der BRD unterstützt wird! Ohne die militärische und wirtschaftliche Unterstützung des westlichen Imperialismus wäre Israel in seiner heutigen Form schon lange Geschichte und nicht in der Lage seine genozidale Politik gegegüber Palästinenser_innen weiterzuführen. Ein Kampf gegen den Genozid bedeutet also ein Kampf gegen den deutschen Imperialismus! Ein Kampf gegen seine Repression nach innen und gegen seine Kriegsunterstützung nach außen. Wir müssen daher eintreten für einen sofortigen Stopp aller Lieferungen von Waffen und anderen Mitteln, die den Genozid unterstützen. Wir müssen die Perspektive eines binationalen, säkularen und freien Palästina, eingebettet in eine Föderation sozialistischer Staaten im Nahen Osten aufwerfen und dafür kämpfen. Dafür müssen wir also auch für eine internationale Organisierung der Arbeiter_Innen und der Jugend kämpfen, denn ohne eine solche muss der Kampf gegen den Imperialismus langfristig scheitern.

Also raus auf die Straße gegen den deutschen Imperialismus und Israels Genozid an den Menschen in Gaza, für die Freiheit von Palästina! Wir lassen uns nicht einschüchtern und holen uns unsere Rechte zurück! Von Hamburg bis nach Gaza yallah Intifada!




Gegen Antisemitismus und die deutsche Doppelmoral! Für ein freies Palästina!

Von Alexander Breitkopf, Oktober 2023

Nachdem es zu einem Angriff in Berlin auf eine Synagoge mit Molotowcocktails in der Nacht vom 17.10. auf den 18.10. kam, welcher mutmaßlich in Verbindung mit dem Krieg in Israel/Palästina steht, nimmt die Angst vor antisemitischen Übergriffen zu. Wir verurteilen diese Anschlagsversuche und stellen uns gegen Antisemitismus. Jüd_Innen weltweit dürfen nicht unter dem Hass und Reaktionen auf die rechtsgerichteten Regierung Israels und ihre Kriegsverbrechen, die sie aktuell in Gaza begehen, leiden. Des Weiteren diskreditieren solche Angriffe den gerechtfertigten Kampf für ein säkulares, binationales, sozialistisches Palästina und haben nichts mit diesem Kampf gemeinsam. Gleichzeitig aber prangern wir die deutsche Doppelmoral an, mit welcher jegliche Palästina-Solidarität als antisemitisch abgeschrieben wird.

Die deutsche Doppelmoral

Am 12.10. drückt Markus Söder auf Twitter seine „uneingeschränkte Solidarität mit Israel“ aus, zusammen mit seinem „persönliche[n] Schutzversprechen für das jüdische Leben in Bayern“ – „Wer Flaggen verbrennt oder zum Hass gegen Juden aufstachelt, […] hat in unserem Land nichts zu suchen.“ Brisante Neuigkeiten für die Koalitionsverhandlungen mit den Freien Wählern, die am selben Tag(!) starteten. Man fragt sich, wie deren Vorsitzender Hubert Aiwanger darauf reagieren wird, dass Söder so öffentlich die Abschiebung seines Bruders (oder gleich beiden) in den Raum stellt. Nicht anzufangen von Teilen ihrer Wähler_Innenschaft: Der Flugblatt-Skandal hat ihnen immerhin knappe 600.000 Stimmen eingebracht.

Wir brauchen uns nicht dumm zu stellen: Es ist klar, welche Erzählung Söder (und nicht nur er) mit seinen Aussagen bedient. Dem westlich-liberalen, weltoffenen, progressivem Deutschland stehen „kulturell rückständige“ Migrant_Innen gegenüber, und durch die Aufnahme von Asylsuchenden laufen wir Gefahr, reaktionäre Weltbilder zu „importierten“, die hierzulande „längst Geschichte sind“ (Man kann gar nicht genug Anführungszeichen setzen). Der Entnazifizierungs-Mythos wird hier auf die Spitze getrieben: Nicht nur wurde die Ideologie des Nationalsozialismus in Deutschland getilgt, nein, der ganze Antisemitismus ist gleich mit ihr verschwunden. Allein anhand der Tatsache, dass schon Ersteres Fiktion ist, wird deutlich, dass es mit letzterem auch nicht weit her sein kann. Die völlige Gleichgültigkeit der Wähler_Innenschaft gegenüber dem Skandal um Aiwanger, die stärksten Umfragewerte der AfD seit Jahren, und, und, und… liefern weitere Belege.

Selbst diese AfD, in deren Reden „globalistische Eliten“ Dauergast sind, weint bitterlich Krokodilstränen, dass der importierte Islamismus und Antisemitismus verstärkte Schutzmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen nötig mache (Zur Einordnung: von den Straftaten mit antisemitischem Hintergrund werden relativ konstant etwa 80% polizeilich dem rechten Spektrum zugeordnet). Zum einen macht diese Tatsache die rassistische Motivation dieser Rhetorik deutlich, zum anderen wirft sie aber auch die Frage auf: Wie wird dieser Spagat möglich? Zentraler Faktor ist die Vermengung von Anti-Zionismus mit Antisemitismus, der es ermöglicht, durch lautstarke Unterstützung Israels seine Hände reinzuwaschen und gleichzeitig verbal gegen politische Gegner_Innen zu schießen.

Ins selbe Horn blasen Nancy Faeser und Lars Klingbeil, die konsequente Abschiebungen von denjenigen fordern, die „die Hamas feier[n]“, unter anderem indem sie „israelfeindliche Hetze“ verbreiten. Dieser Tage wird man schnell als Hamas-Unterstützer_In denunziert, wenn man sich nicht bedingungslos auf die Seite Israels stellt – solange undefinierte Israelfeindlichkeit als Abschiebungsgrund gelten soll, handelt es sich primär um eine politische Einschüchterungstaktik und einen Zeigefinger in Richtung von Migrant_Innen. Abschiebungen sind unter allen Umständen unmenschlich, und sie auf diese Weise als Druckmittel gegen Unterdrückte zu nutzen, besonders perfide.

Ideologische Irrwege

Diese Vermengung wird ermöglicht durch Übernahme der Behauptung Israels, Repräsentant für Jüd_Innen weltweit zu sein. Wer sich also gegen Israel ausspricht, spricht sich gegen Jüd_Innen an sich aus, gleichzeitig profiliert sich Israel als „jüdischer Schutzraum“. Diese Gleichsetzung scheitert jedoch völlig an der Realität. Wie alle Staaten repräsentiert Israel in erster Linie sich selbst, selbst viele Israelis würden es als Vorwurf begreifen, sie seien durch den israelischen Staat und seine Politik repräsentiert. 2015 gaben rund 40% der israelischen Auswander_Innen in Berlin die politische Lage als Ausreisegrund an, dazu kommt die linke Minderheit im Land selbst. Das überrascht nicht: Die andauernde brutale Besatzung palästinensischer Gebiete und eine seit Jahren nach rechts rückende Regierung, die diese noch verschärft, machen es schwer, die israelische Politik reinen Gewissens zu unterstützen.

Genau in dieser Besatzung liegt auch der Kern anti-zionistischer Positionen: Eine Zweistaatenlösung ist unrealistische Augenwischerei (das ist mehr oder weniger in allen politischen Lagern Konsens), dementsprechend bedeutet ein Ende der Unterdrückung der Palästinenser_innen auch ein Ende des zionistischen Projekts. In dieser Schlussfolgerung Antisemitismus sehen zu wollen, ist nicht nur absurd, es impliziert eben auch, dass das Leid der Palästinenser_innen Notwendigkeit für jüdisches Leben sei. Das ist nicht nur Wortklauberei: Es ist die logische Konsequenz davon, dass ein religiös geprägter ethnonationalistischer Staat seinen zutiefst reaktionären Charakter nicht dadurch verliert, dass er sich auf das Judentum bezieht.

Das erklärt eben auch, weshalb so große Teile der europäischen Rechten sich mit Israel solidarisieren: Angesichts der nationalistischen Apartheidspolitik kann man ob der mehrheitlich jüdischen Bevölkerung „mal ein Auge zudrücken“. Gleichzeitig entlarvt diese Besatzung auch die Idee des „jüdischen Schutzraumes“ als bloße Propagandaerzählung. Die Besatzung Palästinas hat von Beginn an gewaltige Sprengkraft in der Region. Der jüngste Angriff der Hamas ist nur die neueste Äußerung dieser Tatsache, in der Vergangenheit kam es mehrfach zum Krieg. Israel konnte bis dato auch durch militärische wie finanzielle Unterstützung westlicher Staaten die Oberhand behalten, sollte sich der Wind drehen, ist es mit der prekären „Sicherheit“ schnell vorbei. In diesem Sinne ist es eben nicht nur im Interesse der palästinensischen, sondern auch der israelischen Arbeiter_Innenklasse, den Zionismus für gescheitert zu erklären und gemeinsam für einen säkulären Staat zu kämpfen.

Antisemitismus entgegentreten!

Die Gleichsetzung von Anti-Zionismus und Antisemitismus ist also abzulehnen – trotz dessen heißt das nicht, dass kein Zusammenhang zwischen Antisemitismus und dem Konflikt in Nahost besteht. Beispielhaft lässt sich dafür das Markieren mehrerer Haustüren in Berlin von Häusern, in denen Jüd_Innen leben anführen. Dabei muss man zwei Phänomene unterscheiden. Zum einen gibt es den heuchlerischen „Anti-Zionismus“ rechter Gruppen, wie zuletzt in Dortmund gesehen. „Der Staat Israel ist unser Unglück“ prangte dort auf einem Banner an einem Nazitreff, zusammen mit einer Palästina-Flagge. Das stellt einen direkten Bezug auf die Parole des „Stürmers“, „Die Juden sind unser Unglück“, dar. Ihnen ist die Unterdrückung der Palästinenser_Innen völlig egal, vielmehr sehen sie in Israel eine Art „Hauptquartier des Weltjudentums“, dessen Zerstörung Priorität sein muss. Es muss nicht extra betont werden, dass ihre Antwort auf den Zionismus dabei keineswegs einen säkulären, gleichberechtigten Staat darstellt, sondern die Vertreibung und den Mord an israelischen Jüd_Innen herbeiwünscht. Dass sich auf Israel als Substitut für eben gleich das Judentum als solches bezogen wird, geschieht aus Gründen der Legitimation der eigenen Positionen.

Zugleich gibt es aber auch einen antisemitischen Anteil seitens Menschen, die sich tatsächlich als Teil einer anti-Zionistischen Bewegung begreifen, der sich beispielsweise in vereinzelten Proklamationen von Jüd_Innen als Mörder_Innen auf pro-palästinensischen Demos der letzten Jahre ausdrückt. Ironischerweise gehen diese Menschen ihrerseits Israels Doktrin des „jüdischen Staates“ auf den Leim, was eine weitere Problematik dieser Behauptung offenlegt. Antisemitische Grundtendenzen, wie sie in der ganzen Gesellschaft auftreten, werden durch die Verbrechen Israels, das als Repräsentant der Jüd_Innen fehlinterpretiert wird, scheinbar bestätigt. Repressionen der deutschen Polizei gegen pro-palästinensische Demonstrationen wirken irrational, wenn man nicht in der Lage ist, das Interesse auch des deutschen Imperialismus am zionistischen Staat Israel zu analysieren, und wirken wie eine Bestätigung des Narrativs der Weltverschwörung. Das ist letztendlich eine reaktionäre Interpretation der Unterdrückung.

Diesen Tendenzen gilt es also entschieden entgegenzutreten. Sie sind nicht nur reaktionär und daher als solche abzulehnen, sie stehen darüber hinaus auch einem progressiven Ende der Besatzung direkt entgegen. Der Gegenentwurf zum jüdisch-nationalistischen Ethnostaat kann kein arabisch-nationalistischer Ethnostaat sein, und die Errichtung eines säkulären, sozialistischen Staates erfordert die Zusammenarbeit der palästinensischen mit der israelischen Arbeiter_Innenklasse ebenso wie umgekehrt. Antisemitismus hingegen treibt einen Keil zwischen sie und kann somit der Bewegung nur schaden.

Wir fordern:

  • Offene Grenzen & volle Staatsbürger_Innenrechte für alle! Für ein Ende der Abschiebepraxis und uneingeschränktes Asylrecht!
  • Konsequente Bekämpfung von Antisemitismus in Tat und Rhetorik! Gegen jeden antisemitischen Ausfall und gegen eine Verwässerung des Begriffs, vor allem als Waffe gegen Linke!
  • Freiheit für Palästina und ein Ende der Besatzung! Für einen sozialistischen, säkulären Staat in dem Jüd_Innen und Palästinenser_Innen gleichberechtigt leben können!

Quellen:

https://www.tagesschau.de/inland/hamas-unterstuetzer-ausweisen-spd-100.html

Dani Kranz: Israelis in Berlin – Wie viele sind es und was zieht sie nach Berlin? (https://archive.jpr.org.uk/object-ger221)

https://www.berliner-kurier.de/kriminalitaet/mitten-in-berlin-judenhasser-markieren-haeuser-mit-davidsternen-li.2149247

https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/nazi-flagge-israel-dorstfeld-100.html

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172320.propalaestinensische-demonstration-al-aqsa-protest-antisemitische-parole-womoeglich-falsch-uebersetzt.html




Der deutsche Staat auf Kriegskurs

auf Basis eines Artikels von Martin Suchanek, Oktober 2023, zuerst veröffentlicht in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Einstimmig beschloss der deutsche Bundestag am 12. Oktober den von SPD, Grünen, FPD und CDU/CSU vorgelegten Antrag zur Lage in Israel. Davor erklärte Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung: „Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“

Auch die Fraktionen von AfD und DIE LINKE applaudierten und stimmten dem Antrag zu. Wenn es um die Staatsräson des deutschen Imperialismus geht, will im Bundestag offenkundig niemand beiseitestehen.

Bedingungslose Solidarität mit Israel …

Dabei läuft der Beschluss auf nichts weniger hinaus als eine Unterstützung der Bombardierung Gazas und der bevorstehenden Bodeninvasion durch die israelische Armee. Die Absicht der israelischen Regierung und des neu ernannten Notstandskabinetts, Gaza faktisch dem Erdboden gleichzumachen und keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, ficht den deutschen Bundestag nicht an. Für die Toten der Bombardements durch die israelische Luftwaffe und durch Bodentruppen wird einfach die Hamas als verantwortlich erklärt.

Und diesmal sollen, so Regierung und Opposition in seltener Einmütigkeit, den Worten auch Taten folgen. Zivile Tote in Gaza seien, so erklärt Außenministerin Baerbock, leider unvermeidlich – und zwar aufgrund der „perfiden“ Taktik der Hamas, ihre Kämpfer_Innen nicht auf offenem Feld zum Abschuss aufzustellen, sondern sich zu verschanzen. Geflissentlich ignoriert sie dabei das Offenkundige, dass in jedem Krieg besonders die verteidigende oder die militärisch unterlegende Seite im Schutz der eigenen Bevölkerung agiert.

Das hat auch seinen Grund. Der Bundestag, die Regierung, die gesamte Opposition und sämtliche „etablierten“ Medien missbrauchen die Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Ausbruchs der von Hamas geführten palästinensischen Kräfte aus Gaza zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines brutalen Krieges gegen die dortige Bevölkerung. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen.

… bedingungslose Unterstützung des Krieges gegen Palästina

Parallel zur Debatte im Bundestag untermauert das Verteidigungsministerium die deutsche Solidarität mit Israel. So will Deutschland Munition für Kriegsschiffe liefern, Drohnen zur Verfügung stellen und Schutzausrüstung für die IDF schicken. Israel, so heißt es in der Entschließung, sei im Krieg „jedwede Unterstützung zu gewähren.“ Dass die Regierung, die Unionsparteien, die AfD zustimmen, verwundert niemanden. Doch auch sämtliche anwesenden Abgeordneten, alle Flügel der „Friedenspartei“ DIE LINKE wollen sich an diesem Tag der Staatsräson nicht entziehen und stimmen für einen Krieg im Nahen Osten, der „Frieden“ durch die Vernichtung jedweden Widerstandspotentials der Palästinenser_Innen bringen soll.

„Jedes Hamas-Mitglied ist ein toter Mann“, verkündet Netanjahu. Die neu geformte israelische Notstandsregierung verwendet dabei Hamas als Codewort für alle Palästinenser_Innen, die Widerstand gegen die Besatzung und Vertreibung leisten und weiter leisten wollen.

Daher zielt die israelische Strategie auf die Säuberung und Vertreibung der gesamten Bevölkerung von Gaza-Stadt. Innerhalb von 24 Stunden sollen diese den Norden Gazas verlassen oder es drohen „verheerende humanitäre Konsequenzen“ – eine unverhohlene Drohung mit dem Mord an Tausenden und Abertausenden.

Mit den Stimmen der Linkspartei verdreht der Bundestag einmal mehr die Ursachen des sog. „Nahostkonflikts“, indem die führende Rolle der reaktionären islamistischen Hamas in Gaza zur Ursache des „Konflikts“ uminterpretiert, so getan wird, als bestünde das zentrale Hindernis für „Frieden“ im „Terrorismus“ der Hamas, des Islamischen Dschihad, von PFLP und DFLP oder anderen palästinensischen Gruppierungen. Würden diese vernichtet, wäre alles wieder gut und die israelische „Demokratie“ müsste nur auf die Palästinenser_Innen ausgedehnt werden, die dann – jedenfalls in der Traumwelt des Bundestages – sogar einen eigenen Staat kriegen könnten, auf dem Gebiet, das noch nicht von Israel übernommen und annektiert ist.

In Wirklichkeit bildet die Ideologie der Hamas eben nicht den Kern des Problems. Als Revolutionär_Innen haben wir diese immer abgelehnt und treten wir für ein Programm der permanenten Revolution ein, für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina, der Palästinenser_Innen wie Jüd_Innen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser_Innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zur regeln.

Der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser_Innen basiert, ist mit einer solchen Lösung jedoch unvereinbar. Solange dieser Palästina kontrolliert, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden geben. Letztlich wird das Gebiet auch nicht von der Hamas beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist_Innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas und ihres Regimes in Gaza. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von Zivilist_Innen ab. Diese erleichtert es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza als „Selbstverteidigung“ hinzustellen. Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist_Innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker_Innen und aller, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehören leider auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter_Innenklasse. Der Ausbruch der Palästinenser_Innen am 7. Oktober war ein verzweifelter Aufstandsversuch Gazas nach Jahrzehnten der Isolierung, Aushungerung, Entrechtung, von Bombardements und Vertreibung und damit Teil des palästinensischen Widerstands.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands wie auch der Kampf gegen politisch falsche und kontraproduktive Aktionsformen darf daher keineswegs zu einer Abwendung von dem gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker_Innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter_Innenklasse den Kampf um nationale Befreiung auch gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.




Nein zu den reaktionären Angriffen der Türkei – Solidarität mit Rojava!

Von Leonie Schmidt, Oktober 2023

Die Welt schaut gerade nach Israel und betrauert dabei fast ausschließlich die getöteten israelischen Zivilist_Innen, während das Töten palästinensischer Zivilist_Innen als Kampf gegen Terrorismus geframet und damit unsichtbar wird. Doch ebenso unsichtbar bleibt eine weitere humanitäre Katastrophe: In Nordsyrien, in den Gebieten der kurdischen Selbstverwaltung Rojava, fliegt die Türkei nun seit über einer Woche Bombenangriffe, die die Infrastruktur zerstören, Menschen töten und die Schwersten dieser Art seit langem sind. Seit dem 5.10.23 wurden 47 Menschen ermordet, darunter auch neun Zivilist_Innen und zwei Kinder (Stand 11.10.23). So wurden bereits mehrere Krankenhäuser durch die Angriffe zerstört, sowie ein Kraftwerk getroffen, außerdem die Wasser- und Energieversorgung, Schulen, Ölfelder, Fabriken, Warenlager, sowie Geflüchtetenlager und Dörfer. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Infrastruktur massiv angegriffen wird, was nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen darstellt. So ist in großen Teilen Rojavas nach den Angriffen die Stromversorgung eingebrochen. In vielen Fällen sollen die Luftschläge auch Menschen in Fahrzeugen und auf Motorrädern gegolten haben. Erdogan möchte den Menschen die Lebensgrundlage rauben und er legitimiert es wie Netanjahu mit dem Kampf gegen den Terrorismus. Am 2. Oktober kam es zu einem Anschlag der PKK in Ankara und nun wird behauptet, einer der Attentäter würde aus Nordsyrien stammen, wenngleich es dafür keine Beweise gibt. Aber Beweise braucht es für Erdogan schließlich auch nicht, da die Behauptung seiner Ideologie und seinem rassistischen Kampf gegen die Kurd_Innen entsprechen. Bereits im November 2022 wurde ein Anschlag in Istanbul als Vorwand genutzt einen zweiwöchigen Luftangriff auf die Region zu fliegen, wo ebenso Infrastruktur getroffen wurde und unter dessen Auswirkungen die Bevölkerung heute noch zu leiden hat. Seit den Angriffen gibt es nur einige Stunden am Tag Strom, Diesel ist rar und teuer geworden und auf eine neue Gasflasche zum Kochen muss man in der Regel eine Woche warten. Hinzu kommt die enorme psychische Belastung für die Bevölkerung, Drohnenangriffe sind allgegenwärtig. Und damit nicht genug: Innerhalb der Türkei wird das gerade damit begleitet, dass Dutzende prokurdische Aktivist_Innen inhaftiert und insgesamt ein harter Kampf gegen die fortschrittlichen Bewegungen geführt wird.

Doppelmoral so weit das Auge reicht

Erdogan sagte in einer gestrigen Ansprache an die Staatengemeinschaft, man solle sich hinsichtlich der Luftschläge gegen Gaza doch zurückhalten, denn es würde nicht den Menschenrechten entsprechen, Infrastruktur zu zerstören. Er prangerte des Weiteren das Schweigen der internationalen Staatengemeinschaft hinsichtlich dieser humanitären Katastrophe in Gaza an. Wenngleich seine Aussagen bezüglich Gazas einen wahren Kern haben, so ist das doch am Ende des Tages nichts weiter als dreckige Heuchelei. Scheinbar sind ihm Menschenrechte ziemlich egal, wenn es um den eigenen Dorn im Auge geht: den kurdischen Befreiungskampf.

Auch die USA und Russland nehmen die Angriffe ohne ein Augenzucken hin, denn sie sind es, die den Luftraum in Nordsyrien kontrollieren. Ohne die Zustimmung der beiden Militärs wären die türkischen Angriffe nicht möglich. Jedoch gibt es aktuell das unbestätigte Gerücht, die USA hätten eine Drohne des Nato-Bündnispartners Türkei über dem Ort Tal Baydar abgeschossen. Sollten diese Meldungen zutreffen, wäre es das erste Mal, dass US-Militär ein Flugobjekt der Türkei abgeschossen hat.

Ziele der Türkei

Die Türkei verfolgt mit dem Angriff ihr eigenes Ziel als Regionalmacht an der Neuordnung des Nahen Osten mitzuwirken, aber auch innenpolitische Ziele werden vom Regime in Ankara verfolgt.

Die Türkei steckt seit Jahren in einer Wirtschaftskrise, besonders die Inflation ist nach wie vor in einem sehr hohen Ausmaß und türkische Währung Lira ist weiterhin schwach. Im August lag die Teuerungsrate bei 58,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, was extrem hoch ist. Diese wird auf Arbeiter_Innen und Jugendliche abgewälzt. Der Krieg in Syrien schafft eine äußere Ablenkung von den sozialen Angriffen, aber bedient auch ganz unmittelbar ökonomische Interessen:

Die „Toki“ Häuser, die von staatlichen Bauunternehmen gebaut werden, sollen da, wo zerstört wird, aufgebaut werden und die Baubranche ankurbeln. Außerdem will Erdogan in diesem Gebiet bis zu 2 Millionen Geflüchtete zwangsansiedeln und das passt wiederum super in den Kram der EU, siehe die aktuelle GEAS-Gesetzgebung, bei der Menschen aus vermeintlich „sicheren Herkunftsstaaten“ (z. B. Türkei, Indien oder Tunesien) so schnell wie möglich dorthin abgeschoben werden sollen. Auch für Menschen aus Staaten, auf die diese Kategorie nicht zutrifft, finden die EU-Innenminister_Innen einen Weg, der an einem Asyl für diese vorbeiführt. Die Reform besagt, dass nun auch eine Abschiebung in ein „sicheres Drittland“, welches auf dem Fluchtweg passiert worden ist oder auf andere Weise mit der geflüchteten Person assoziiert wird (z.B. über entfernte Verwandtschaft), möglich sei.

Der Kampf um Befreiung ist international

Rojava muss gegen die Angriffe des türkischen Staates verteidigt werden. Der Kampf gegen die Militärmaschinerie in der Türkei, gegen das PKK-Verbot in Europa, für uneingeschränkte legale Betätigung aller Befreiungsbewegungen und, wann immer möglich, das Leisten materieller Hilfe für die Verteidigung von Rojava ist aktuell notwendig und könnte den entscheidenden Unterschied ausmachen.

Gleichzeitig müssen wir auf die Doppelmoral und auf die Ähnlichkeiten der Kämpfe in Gaza und in Nordsyrien hinweisen: one struggle, one fight! Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung!

  • Schluss mit den Angriffen auf Rojava! Solidarität mit dem kurdischen Volk!
  • Nein zu allen Abschiebungen in die Türkei! Niederschlagung aller Verfahren gegen kurdische Aktivist_Innen!
  • Aufhebung der sog. Antiterrorliste der EU! Weg mit dem Verbot der PKK und anderer kurdischer Vereine!



Stoppt Belagerung und Invasion! IDF raus aus Gaza!

von Felix Ruga, Oktober 2023

Nach dem Angriff der Hamas vergangenen Samstag war Netanjahus Regierung in Israel schwer angeschlagen. Dass eine schlecht ausgestattete Miliz aus dem ausgehungerten und verarmten Gaza dazu in der Lage war, die Zäune und Mauern zu durchbrechen und unmittelbar auf israelisches Gebiet anzugreifen, ist für eins der modernsten und höchstgerüsteten Militärs der Welt eine große Demütigung. Das rüttelt an der Überzeugung, dass Israel tatsächlich dazu in der Lage ist, seine Bevölkerung mittels militärischer Stärke und Entrechtung der Palästinenser_Innen zu schützen.

Das bringt auch die israelische Bevölkerung in Panik. Aber die Frage, wie es dazu kommen konnte, wird erstmal auf später verschoben. Denn die Agenda hat Netanjahu nun unmittelbar klar gemacht: „Ich leite eine umfangreiche Mobilisierung der Reservist_Innen ein, um mit einem Ausmaß und einer Intensität zurückzuschlagen, die der Feind bisher noch nicht erlebt hat. Der Feind wird einen beispiellosen Preis zahlen.“

Und dies nimmt mittlerweile Formen an: Die IDF bereitet gerade eine Bodenoffensive auf Gaza vor. Neben den massiven Bombardements, die aber in Gaza ohnehin mittlerweile zum tragischen Alltag gehören und längst nicht nur die Stellungen der Hamas treffen, werden jetzt 360.000 Reservist_Innen mobilisiert. Eine nie dagewesene Zahl. Viele junge Israelis müssen ihr Zuhause verlassen. Die Ortschaften in unmittelbarer Nähe von Gaza sind bereits evakuiert. In den sozialen Medien sieht man endlose Kolonnen von Panzern und Militärjeeps.

Und dazu kommt nun auch die Belagerung Gazas. Das heißt: Kein Essen, kein Wasser, kein Strom für die 2 Millionen Bewohner_Innen. Hierbei ist eine humanitäre Katastrophe praktisch unausweichlich, wenn man einer ganzen Gesellschaft die lebensnotwendigen Güter verwehrt, die auch schon sonst am Rande des Kollaps‘ steht. Gleichzeitig wird aber den Menschen auch nicht die Möglichkeit der Flucht gegeben: Alle Grenzübergänge sind dicht.

Besonders zynisch ist dann der Aufruf Netanjahus, dass im Angesicht des geplanten Angriffs die Zivilist_Innen Gaza verlassen sollten. Wohin denn? Wie denn? Gaza wird nicht ohne Grund als Freiluftgefängnis bezeichnet. Ein großer Teil der Bevölkerung hat in ihrem Leben noch nie etwas anderes gesehen als dieses kleine Fleckchen Land.

Und auch sonst wird die drohende Invasion mit abscheulichen Aussagen begleitet. Der Verteidigungsminister Israels Gallat wird dabei besonders klar, nachdem er die Belagerung Gazas verordnet: „Es sind menschliche Tiere, gegen die wir kämpfen – und genauso behandeln wir sie.“ Eine Wortwahl, die sprachlos macht und tief blicken lässt. Ebenso wie bei der Belagerung selbst wird auch in dieser Aussage nicht nur die Hamas und ihre Anhänger_Innen sondern die gesamte Bevölkerung Gazas getroffen. Wasserknappheit und geschlossene Krankenhäuser bei unaufhörlichen Luftangriffen werden jetzt schon viele zivile Opfer fordern.

Was droht gerade?

Die kommende Bodenoffensive auf Gaza ist noch nicht offiziell bestätigt, aber eigentlich ist allen klar, dass sie kommen wird und sie wird offensichtlich auch fieberhaft vorbereitet. Aber was steht konkret bevor? Es gibt konkrete Aussagen von Netanjahu und Gallat, dass die Vorbereitungen auf eine „monatelange“ Offensive ausgelegt seien. Als Ziel hat Netanjahu durchscheinen lassen, die Hamas in Gänze zu vernichten. Das scheint jedoch eher unrealistisch, weil das bedeuten würde, dass dann eigentlich die IDF Gaza als Ganzes besetzen muss. Es würde dann unweigerlich die Frage aufkommen, wer für die öffentliche Ordnung vor Ort sorgen wird. Das ist ein Stein, den sich kein Regierungschef gerne ans Bein binden will. Aber ausgeschlossen ist dies nicht. Vielleicht ist eine weitgehende Entwaffnung der Hamas wahrscheinlicher, aber das sind bisher nur Mutmaßungen. Sowieso ist eine Befriedung des Nahostkonflikts auf diese Weise unmöglich.

Klar ist jedoch: Es wird nicht nur die Hamas treffen. Wie schon die ganze Zeit werden viele palästinensische Zivilist_Innen sterben. Aber nach Jahrzehnten der Unterdrückung und Vertreibung, nach Jahren der Bomben und Morden und nach einer heftigen Eskalation in den letzten Monaten und Tagen wird es einen großen und entschlossenen Widerstandswillen in der palästinensischen Bevölkerung gegen die israelische Besatzung geben, der sich in militanten Widerstand äußern wird. Und diesen sehen wir als absolut gerechtfertigt und unterstützenswert an. Dass dieser aber über die Strukturen der Hamas hinausgehen wird, läuft darauf hinaus, dass die IDF dann nicht nur Funktionäre der Hamas ermorden oder festnehmen wird, sondern eigentlich den palästinensischen Widerstandswillen als Ganzes auslöschen muss. Auf einen drohenden Massenmord stimmt sich mittlerweile auch die internationale Rechte ein. Forderungen danach, Gaza dem Erdboden gleichzumachen, häufen sich, oftmals damit vertuscht, dass man nicht klar macht, ob man nun die Hamas oder alle Palästinenser_Innen zum Ziel nimmt.

Was heißt das jetzt für uns?

Trotz der einseitigen und teils verlogenen Berichterstattung in Deutschland, trotz der Morde an Zivilist_Innen durch Hamas-Kämpfer und trotz wachsender Repressionen gegen Palästinasolidarität müssen wir klar bleiben, dass wir an der Seite Palästinas für ihre Freiheit stehen. Das bedeutet auch, dass wir damit solidarisch sind, wenn sie sich gegen die Besatzung Gazas wehren. Es bleibt ein Kampf gegen koloniale Unterdrückung und diese Unterdrückung geht von Israel aus. Diese Position dürfen wir gegen all den medialen Druck nicht aufgeben.

Wir müssen aber auch unsere eigenen Regierungen unter Druck setzen. Deutschland, USA, GB, Frankreich und Italien haben gemeinsam eine Erklärung abgegeben und darin Israel die volle Unterstützung zugesichert. In den anderen Ländern gibt es größere Demonstrationen und Aktion, die ihre Solidarität mit Palästina ausdrücken. In Deutschland bleibt es schwach, aber dennoch müssen wir mobilisieren, wo es geht.

In besagter Erklärung steht außerdem, dass Israel in der Lage versetzt werden solle, sich selbst zu verteidigen und die Voraussetzungen für eine friedliche Nahostregion zu schaffen. Das ist eine Illusion! Solange der israelische Staat dort existiert, wird die Region von kolonialer Gewalt bestimmt und dementsprechend nie zum Frieden kommen. Wir kennen nur eine Lösung für den Nahostkonflikt, die nicht die Auslöschung der einen oder der anderen Volksgruppe beinhaltet: Ein gemeinsamer, säkularer und sozialistischer Staat, in dem Israelis und Araber_Innen Seite an Seite leben können. Hierfür muss eben das geschafft werden, was momentan so fern scheint, nämlich der gemeinsame Kampf der israelischen Arbeiter_Innenklasse und der Palästinenser_Innen gegen die herrschende Klasse und damit Revolution. Grundlage hierfür ist die Anerkennung der Legitimität des palästinensischen Widerstands und Stärkung der israelischen Linken, die gerade heute mit dem Rücken zur Wand steht.

Deshalb fordern wir:

  • Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf!
  • Verhindert die Bodenoffensive und Besetzung von Gaza!
  • Für ein Ende der Belagerung und Luftangriffe! Lasst die Bevölkerung nicht ausbluten!
  • Öffnung der Grenzen nach Gaza! Recht auf Rückkehr und Freizügigkeit!
  • Für ein gemeinsames, multiethnisches, säkulares und sozialistisches Palästina!



Niederlage für die israelische Unterdrückung – Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand

von Dave Stockton, Oktober 2023, ursprünglich erschienen in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innemacht

Am 7. Oktober um 6.30 Uhr Ortszeit feuerte die im Gazastreifen ansässige palästinensische Hamas ein Sperrfeuer von Raketen auf Israel ab, von denen einige das 80 Kilometer entfernte Tel Aviv erreichten. Zur gleichen Zeit überraschten Hamas-Kämpfer_Innen die israelischen Verteidigungskräfte (IDF), durchbrachen die befestigten Linien und griffen die Siedlungen Sderot und Aschkelon an. Israelischen Medien zufolge eröffneten die Hamas-Kräfte das Feuer auf Zivilist_Innen. Die Times of Israel berichtete von Schießereien rund um den Militärstützpunkt Re’im. Bilder in den sozialen Medien zeigen palästinensische Jugendliche, die um einen zerstörten israelischen Panzer herum feiern.

Ungefähr 700 Israelis wurden getötet und mehr als 2.000 verletzt. Die Hamas behauptet außerdem, Dutzende von Israelis, darunter Soldat_Innen, gefangengenommen zu haben, die sie als Geiseln für die Freilassung palästinensischer Gefangener halten will. Innerhalb weniger Stunden flogen jedoch Dutzende von israelischen Kampfjets Angriffe auf militärische und zivile Ziele im Gazastreifen. Mindestens 410 Palästinenser_Innen sind bisher bei israelischen Vergeltungsangriffen getötet worden.

Unmittelbare Auswirkungen

Die unmittelbaren Auswirkungen des „Ausbruchs“ der Hamas-Kräfte und das Ausmaß des Raketenbeschusses sind angesichts der strengen Belagerung des Gazastreifens und der bisherigen Wirksamkeit des israelischen Überwachungssystems bemerkenswert. Es scheint, dass der Angriff die IDF und den Sicherheitsdienst Schin Bet völlig überrumpelt hat. Zweifellos wird es zu einem massiven Angriff auf Gaza kommen, und Siedler_Innen und Regierungstruppen werden wahrscheinlich in verschiedenen Teilen des Westjordanlandes brutale Vergeltungsmaßnahmen ergreifen.

Innerhalb von fünf Stunden nach dem Ausbruch des Angriffs verkündete Premierminister Benjamin Netanjahu in einer Rundfunkansprache: „Bürger_Innen Israels, wir befinden uns im Krieg und wir werden gewinnen.“ Und weiter: „Wir werden alle Orte, an denen die Hamas organisiert ist und sich versteckt, in Trümmerinseln verwandeln.“ Das Verteidigungsministerium mobilisierte am 9. Oktober 300.000 Reservist_Innen, die größte Zahl in der Geschichte Israels. Weite Gebiete vom Gazastreifen bis nach Tel Aviv wurden in den Ausnahmezustand versetzt. Alle Treffen und Versammlungen wurden verboten.

Diese Maßnahmen könnten Netanjahu auch aus einer schwierigen innenpolitischen Lage heraushelfen. Das ganze Jahr über und bis weit in den September hinein protestierten wöchentlich Hunderttausende Israelis gegen seinen Versuch, die Befugnis des Obersten Gerichtshofs, ein Veto gegen Regierungsgesetze einzulegen, zu untergraben. Abgesehen von kleinen Kontingenten von Linken blieben diese Demonstrationen jedoch dem zionistischen Staat gegenüber entschlossen loyal, und die Reservist_Innen machten deutlich, dass sie im Falle eines Krieges dienen würden.

Netanjahu war auch von der US-Regierung wegen seiner drohenden Verstöße gegen die Demokratie kritisiert worden. Jetzt beeilte sich Joe Biden, den „Terrorismus“ der Hamas anzuprangern und Israel zu versichern, dass es alle Hilfe bekommen wird, die es braucht. Und „natürlich“ stimmen die westlichen Verbündeten, darunter auch der deutsche Imperialismus, in den Chor der „bedingungslosen Solidarität“ mit Israel ein. Von der AfD über die CDU/CSU bis zur Ampel-Koalition rufen alle nach Unterstützung für den hochgerüsteten zionistischen Staat.

Freiluftgefängnis Gaza

Tatsächlich ist Israel bereits ein hochgerüsteter Staat, der keine zusätzlichen Waffen aus den USA benötigt. Die „westlichen Demokratien“ sind vorsätzlich blind gegenüber der Tatsache, dass Israels Demokratie nicht einmal seinen eigenen palästinensischen Bürger_Innen gleiche Rechte einräumt, geschweige denn den rechtlosen Bewohner_Innen des Westjordanlandes und des Freiluft-Gefängnis‘ Gaza. Gaza ist gerade 40 Kilometer lang und zwischen sechs und 14 Kilometer breit. Auf engstem Raum beherbergt es eine Bevölkerung von über 2 Millionen Menschen. Seine Hoch- und Krankenhäuser wurden schon mehrfach in Schutt und Asche gelegt. Die Bedingungen dort sind wirklich unerträglich.

Eine Reihe brutaler Aktionen der rechtsgerichteten Regierung Netanjahu kommt einer Provokation gleich, die die Behauptung, die Israelis seien Opfer des Terrorismus – eine Behauptung, die nicht nur von der Regierung Netanjahu, sondern auch von Washington, Paris, London und Berlin aufgestellt wird –, als verachtenswerte Unwahrheit erscheinen lässt.

Die Hamas hat in den letzten Tagen auf die Übergriffe israelischer Siedler_Innen auf die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem hingewiesen, die mit staatlicher Unterstützung auch an der ethnischen Säuberung Ostjerusalems von seinen palästinensischen Bewohner_Innen beteiligt sind. Daher haben sie ihre Gaza-Offensive „Operation al-Aqsa-Flut“ genannt. In diesem Jahr kam es auch zu Angriffen der IDF auf das riesige Flüchtlingslager in Dschenin, bei denen Palästinenser_Innen getötet, verletzt und ihre Häuser mit Bulldozern zerstört wurden.

Die intensivsten Angriffe fanden im Januar/Februar und erneut im Juni statt, bei denen Hunderte getötet wurden. Auch in anderen Städten des Westjordanlands wurden Zivilist_Innen und ihre jungen Verteidiger_Innen getötet. Gleichzeitig haben rechtsgerichtete Siedler_Innen mit Unterstützung von Regierungsstellen Dorfbewohner_Innen von ihrem Land vertrieben. All dies wird von den westlichen Medien zweifellos vergessen, die den zionistischen Staat stets als „einzige Demokratie“ im Nahen Osten darstellen und Israel praktisch wie einen europäischen oder nordamerikanischen Staat behandeln.

Das ist kaum verwunderlich, da es sich um einen Staat handelt, der nur im Rahmen des britischen Mandats entstehen konnte, das die zionistische Besiedlung förderte und der einheimischen palästinensischen Bevölkerung das Selbstbestimmungsrecht verweigerte. Im Jahr 1948 unternahmen die britischen Truppen nichts, um Israels Eroberung von 78 % des Mandatsgebiets zu stoppen, indem sie mehr als die Hälfte der damaligen palästinensischen Bevölkerung vertrieben: ein Prozess, der sich nun unter Schirmherrschaft der USA durch die Eroberung des Westjordanlands und des Gazastreifens wiederholt.

Widerstandswille

Doch trotz 75 Jahren Besatzung, ethnischer Säuberung und wiederholtem Verrat durch die umliegenden arabischen Staaten haben die Palästinenser_Innen den zionistischen Staat nie anerkannt oder den Kampf für die Wiederherstellung ihres Staates und die Rückkehr ihrer Flüchtlinge aufgegeben. Wie ineffektiv auch immer die von den Führungen des Widerstands verfolgten Strategien sein mögen, revolutionäre Sozialist_Innen in aller Welt haben den Kampf gegen die nationale Unterdrückung stets verteidigt.

Als revolutionäre Marxist:innen haben wir immer den politischen Charakter der Hamas angeprangert, das System, mit dem sie den Gazastreifen beherrscht, ihre Unterstützung der Mullah-Diktatur im Iran oder des Erdogan-Regimes in der Türkei. Ebenso lehnen wir den willkürlichen Angriff auf Zivilist:innen ab und kritisieren die Strategie der Hamas. Aber eine Sache ist der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands gegen den Zionismus, eine andere ist die Unterstützung des zionistischen Staates gegen das palästinensische Volk und sein Recht auf Widerstand. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden.

Die vor 30 Jahren in Oslo propagierte „Zweistaatenlösung“ erweist sich immer mehr als bankrott, nicht weil die palästinensische Führung nie kompromissbereit gewesen wäre, sondern weil die zionistische Bewegung niemals ihr Ziel aufgeben würde und wird, ganz Palästina zu erobern. Wir weisen den Vorwurf, der Widerstand gegen einen Siedler- und Kolonialstaat sei eine Form des Antisemitismus, mit Verachtung zurück.

Die Förderung des Gedankens, dass es einen „neuen Antisemitismus“ der radikalen Linken gibt, lenkt von dem tatsächlichen Antisemitismus ab, der heute in der extremen Rechten in Europa und den USA zu beobachten ist, von denen viele Israel bedingungslos unterstützen.

Ein einziger palästinensischer Staat kann sowohl Menschen palästinensischer als auch israelischer Nationalität nur ohne Privilegien umfassen. Wenn Palästina zudem ein sozialistischer Staat wird, in dem das Land, die Ressourcen und Produktionsmittel gemeinsam genutzt werden, kann dieses historische Unrecht überwunden werden. Es ist die Aufgabe der Arbeiter_Innenklasse beider Nationen, ja der gesamten Region, dies zu erreichen. Dazu gehört ein Kampf gegen die imperialistischen Mächte, die die Region so lange geteilt und ausgebeutet haben, und für eine sozialistische Föderation in der gesamten Region. Bis dahin haben die gesamte Arbeiter_Innenklasse und die fortschrittliche Bewegung der Welt die Pflicht, den Kampf der Palästinenser_Innen zu unterstützen und sich mit ihnen zu solidarisieren.




Erweiterung der BRICS-Staaten: Gipfel unterdrückter Völker oder imperialistisches Projekt?!

von Yorick F., September 2023, zuerst veröffentlicht in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Die BRICS Staaten wollen sich mit dem Jahresbeginn 2024 fast verdoppeln. Das wurde auf ihrem Gipfel in Johannesburg (Südafrika) vom 22. bis 24.8.2023 beschlossen. Zu den 5 bisherigen Namen gebenden Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sollen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, Argentinien, Äthiopien, Ägypten und dem Iran sechs weitere dazukommen. Einig davon sind schon seit Jahren erklärte Gegner des westlichen imperialistischen Blocks, andere waren jahrzehntelang jedoch dessen strategische Verbündete, die sich aber seit Jahren zwischen den USA und China neu positionieren.

Diese Erweiterung, die unter dem Namen BRICS Plus firmiert, will sich als Gegengewicht zu den 2006 gegründeten geführten G7 positionieren und könnte – wenn auch nicht in unmittelbarer Zukunft – eine ernste Bedrohung für das US-geführten Staatenbündnis werden.

Aktuell leben in den BRICS-Staaten bereits 42 Prozent der Weltbevölkerung, nach der Erweiterung wären es sogar 46. Bedeutsamer ist aber die ökonomische Zunahme: Die aktuellen 31 Prozent Anteil an der Weltwirtschaftsleistung nach Kaufkraft bereinigtem BIP würden sich auf 37 erhöhen. Tatsächlich überholten die BRICS damit bereits die G7. Was als Wendepunkt in der kapitalistischen Weltordnung erscheint, muss jedoch relativiert werden.

Ungleichheit unter den BRICS

Zunächst herrscht innerhalb der BRICS – noch mehr noch als in den G7 – eine extreme Ungleichverteilung der Anteile an diesem BIP vor. China zeichnet verantwortlich für 17,6 Prozent, gefolgt mit großem Abstand von Indien mit 7 Prozent und schließlich Russland (3,1), Brasilien (2,4) und Südafrika (0,6). Nach dem ökonomisch bedeutsameren Nominalwert in US-Dollar, also dem nicht bereinigten BIP, liegen die BRICS immer noch weit hinter den G7. So verfügten sie als gesamter Block 2022 über ein BIP von 26 Billionen US-Dollar, etwa so viel wie die USA alleine.

Nach BIP pro Kopf sind die BRICS noch immer weit abgeschlagen. Selbst wenn man nicht nach der Kaufkraft des US-Dollars rechnet, sondern bereinigte Größen zu Grunde legt, fällt es in den USA mit 80.035 US-Dollar mehr als dreimal so hoch aus wie das chinesische BIP von 23.382.

Auch als BRICS Plus mit allen potenziellen neuen Mitgliedsstaaten bleibt das Wirtschaftsbündnis letztlich eine weitaus schwächere und kleinere Wirtschaftsmacht als der imperialistische Block der G7. Darüber hinaus sind die BRICS in noch höherem Maße divers in ihrer Bevölkerung, dem BIP pro Kopf, ihrer Geografie und der Zusammensetzung ihrer Handelsströme.

Nicht zuletzt herrscht größere Uneinigkeit auch politisch zwischen den Mitgliedsstaaten, während  der G7–Block über lange etablierte Institutionen des globalen Finanzkapitals, gemeinsame militärische Institutionen verfügt und die Hegemonie der USA über ihre imperialistischen Verbündeten größer ist als jene Chinas über die BRICS-Staaten.

Im Gegensatz zu den G7, die unter Führung der USA trotz innerer Konkurrenz relativ einheitliche wirtschaftliche Ziele gegenüber den anderen Ländern verfolgen, haben die BRICS auch in Bezug auf ihre Wirtschaftsstrategie diese nicht. Sie eint – was für die aktuelle Lage schon bedeutend genug ist – vor allem, dass sie ein Gegengewicht gegenüber den USA und den anderen langjährigen imperialistischen Mächten bilden wollen. Sie haben aber keine gemeinsame Zielsetzung bezüglich eine anderen Weltwirtschaftsordnung.

Es eint sie vielmehr der Versuch, sich von der wirtschaftlichen Dominanz der USA und insbesondere des US-Dollars zu lösen. Und selbst das dürfte schwierig werden. Der Dollar bleibt trotz sinkender Dominanz der USA die weltweit bedeutsamste Währung für Handel, Investition und Devisenreserven. Der Anteil des Renminbi an globalen Währungsreserven hingegen beträgt heute nur etwa 3 %. Selbst China hält noch 58 % seiner Währungsreserven in Dollar. So wurde auch die Diskussion über die Ablösung des Dollars insbesondere aufgrund der Einwände vor allem Indiens auf den nächsten Gipfel im russischen Kasan (Republik Tatarstan) vertagt.

Auch im Hinblick auf die dominanten internationalen Institutionen der kapitalistischen Weltordnung gibt es wenig Aussicht auf eine Ablösung der westlichen Hegemonie. Die New Development Bank (NBD) konnte bisher kein spürbares Gegengewicht als Kreditinstitution gegenüber IWF und Weltbank aufbauen.

Dennoch wird sich die internationale Rivalität in diesem Jahrzehnt politisch, wirtschaftlich und militärisch verschärfen und die Erweiterung der BRICS wird insbesondere für China wohl von größerer Bedeutung sein. Das Bündnis erweitert sich um drei wichtige Lieferanten von fossilen Rohstoffen: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und den Iran. Unter Miteinbeziehung Russlands werden derzeit 60 Prozent der weltweit geförderten Öl- und Gasvorkommen in BRICS-Ländern gewonnen. Demnächst könnte BRICS Plus 80 Prozent der weltweiten Ölförderung kontrollieren.

Innere Spannungen

Vor allem Indien befürchtet eine wachsende Dominanz Chinas innerhalb des BRICS-Bündnisses, insbesondere auch aufgrund des territorialen Streites an der indisch-chinesischen Grenze. Die führende Rolle innerhalb des Bündnisses hat China zwar sowieso inne, aber mit einer Währung, die sich konjunkturell am Renminbi (Yuan; RMB) orientieren würde, könnte es seine dominierende Rolle für die BRICS Staaten ausbauen. Als zweitgrößte imperialistische Macht der Welt betrachtet China die BRICS letztlich natürlich als Mittel, den kriegsgeschüttelten russischen Imperialismus, aber auch aufstrebende und geostrategisch wichtige Halbkolonien enger an sich zu binden und seine ökonomische, militärische und politische Dominanz auszubauen.

Doch das ist bei weitem nicht die einzige Konfliktlinie innerhalb des BRICS-Bündnisses. Damit zusammenhängend bildet die Frage, was das Bündnis eigentlich vor allem in Bezug auf die G7 sein soll, einen immer wiederkehrenden Streitpunkt. Während China und Russland das Bündnis für sich als Unterstützung im Kampf um die Neuaufteilung der Welt mit dem Westen sehen wollen, sind die meisten anderen alten wie neuen Mitgliedsstaaten gegen eine dezidiert antiwestliche Ausrichtung und erhoffen sich, sowohl mit den G7 als auch den BRICS gute Beziehungen zu unterhalten. So verhalten sich die meisten z. B. in der Frage des Ukrainekrieges nach außen hin neutral.

Staaten wie Brasilien und Indien, aber auch neue Mitglieder wie Ägypten oder die VAE haben zwar ein direktes Interesse daran, China als Partner auf ihrer Seite zu haben, wollen aber auch nicht ihre wirtschaftlich guten Beziehungen mit dem Westen aufgeben. Andere (neue) Mitglieder wie der Iran oder Südafrika stehen hingegen ziemlich eindeutig auf russischer Seite, auch wenn Südafrika sich dem UN-Beschluss des internationalen Haftbefehls gegen Putin beugt und dieser deshalb nur per Videoschalte an der Konferenz teilnehmen konnte. Gerade aufgrund dessen waren vor allem Indien und Brasilien eher abgeneigt gegenüber einer Erweiterung des Bündnisses und forderten einheitliche Kriterien für zukünftige BRICS-Plus-Mitgliedsstaaten, da sie befürchten, innerhalb des Bündnisses an Einfluss zu verlieren und den Kurs vollständig in die Hände v. a. Chinas zu legen.

Diese Konflikte könnten in Zukunft auch durchaus noch größer werden, wenn es um die Aufnahme von 16 weiteren Staaten geht, die bereits einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt haben. 40 weitere haben ihr Interesse bekundet.

Unter den Bewerber_Innen sind nämlich so unterschiedliche Staaten wie Kuba oder Venezuela mit einer recht eindeutigen antiwestlichen Ausrichtung, aber z. B. auch Nigeria, welches relativ gute Beziehungen zum Westen pflegt und vor einem potentiellen Krieg in der Sahelzone mit Niger, Burkina Faso und Mali auf Seiten des Westens steht.

Diese Spannungen zeigen zu einem gewissen Grad den Charakter des Bündnisses auf. Es ist offensichtlich nicht das Ziel Chinas und Russlands, eines zu schaffen, welches die Interessen der unterdrückten Nationen des globalen Südens vertritt, sondern ihre eigenen ökonomischen und geostrategischen Ziele zu verfolgen. Aber zugleich müssen sie Kompromisse mit wichtigen halbkolonialen Ländern eingehen, um diese näher an sich zu ziehen oder aus einer engen Westbindung zu lösen. Die Formel, ein umschließendes Bündnis für mehr friedliches Miteinander in einer neuen multipolaren Weltordnung zu schaffen, dient dabei als ideologische Klammer, die realen imperialistischen Ambitionen Russlands und Chinas zu verschleiern – ganz ähnlich wie das Spielen der Demokratiekarte auf westlicher Seite.

Vor welchem Kontext findet das statt?

Noch deutlicher wird das, wenn wir uns angucken, in welchem Kontext, in welcher aktuelle Periode wir uns befinden. Die aktuellen wie auch die nächsten Jahre sind von einer tiefen Überakkumulationskrise, stagnierenden oder fallenden Profitragen geprägt. Natürlich versuchen alle kapitalistischen Staaten, die Kosten von Krieg, Krise, Stagnation auf die Arbeiter_Innenklasse abzuwälzen (beispielsweise auch durch die Inflation). Aber das wird nicht reichen, um die Weltwirtschaft wieder flottzumachen, zumal innerimperialistische Konkurrenz und der Krieg um die Ukraine gemeinsame Lösungsstrategien mehr und mehr verunöglichen.

Die Tage der unbestrittenen Vorherrschaft des imperialistischen Blocks unter Führung der USA sind vorbei – und damit die Zeiten der ungehinderten Expansion der Handels- und Finanzströme der 1990er Jahre und der ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Da die Rentabilität des Kapitals in den großen Volkswirtschaften in den letzten beiden Dekaden zurückging, hat sich der Kampf der großen kapitalistischen Volkswirtschaften um die Generierung von Profit verschärft.

Und dies führt zu einer Zersplitterung der wirtschaftlichen Macht. Der imperialistische Block unter Führung der USA ist zwar immer noch dominant, aber seine Vorherrschaft wird wie nie seit 1945 in Frage gestellt. Das führt dazu, dass sich die innerimperialistischen Konflikte weiter verschärfen. Nicht nur die Konkurrenz zwischen den großen Rivalen USA/EU und China, sondern auch zwischen verbündeten Imperialist_Innen tritt immer mehr zum Vorschein (z. B. die Versuche des US-Imperialismus mithilfe Anheizens des Ukrainekrieges Deutschland und Frankreich über die EU weiter an sich zu binden). Als Resultat davon wollen viele Staaten ihren Spielraum zwischen den sich formierenden Blöcken vergrößern, um sich im Zweifelsfall auf die günstigste Seite zu schlagen. Zugleich stehen etablierte Liefer- und Wertschöpfungsketten immer mehr zur Disposition, so dass immer mehr Tendenzen einer „Deglobalisierung“ hervortreten. Der Weltmarkt wird zunehmend fragmentiert, wirtschaftliche, militärische und politische Blöcke formieren sich im Rahmen des imperialistischen Weltsystems.

Nein zu allen imperialistischen Blöcken!

Für uns ist also klar, dass dieser Gipfel nicht, wie von z. B. dem brasilianischen Präsidenten Lula behauptet, einer der unterdrückten Völker des globalen Südens war. Die BRICS sind vielmehr ein Bündnis aus imperialistischen Mächten (China und Russland) sowie halbkolonialen Staaten, die ihrerseits um einen größeren Anteil am Reichtum der Welt kämpfen, inklusive bedeutender Regionalmächte, die selbst gern in den Kreis imperialistischer Mächte aufsteigen möchten (was sicher bei Indien am deutlichsten hervortritt).

Wir sehen in einem Erstarken der chinesischen und russischen Einflusssphäre keinen antiimperialistischen Fortschritt, sondern im Gegenteil ein Mittel des russischen und vor allem des chinesischen Imperialismus, in der sich im Zuge der Deglobalisierung vollziehenden Blockbildung möglichst viele Staaten als u. a. Einflusssphären, Ressourcenquellen und Absatzmärkte um sich zu scharen, um vor allem wirtschaftlich den USA die Stirn zu bieten.

Bei der Neuaufteilung der Welt zwischen „alten“ Großmächten (USA und die übrigen G7) einerseits und den neuen, aufstrebenden handelt es sich im einen reaktionären, innerimperialistischen Gegensatz, der auf dem Rücken der Arbeiter_Innenklasse und der unterdrückten Nationen ausgetragen wird.

Als Revolutionär_Innen müssen wir zum einen die Propaganda unserer „eigenen“ imperialistischen Bourgeoisie – des deutschen Kapitals – und seiner Regierung vom „Gipfel der Tyrannen“ als Heuchelei entlarven und den Klassenkampf gegen diese entschlossen führen. Gleichzeitig müssen wir uns mit der Arbeiter_Innenklasse und den Unterdrückten auch in den BRICS-Staaten im Kampf gegen „ihre“ herrschende Klasse solidarisieren. Dazu aber müssen wir selbst eine internationale Kampforganisation unserer Klasse, eine neue revolutionäre Internationale aufbauen.

Nein zu BRICS, G7 oder NATO – Zerschlagung aller imperialistischen Bündnisse! Für den gemeinsamen Kampf der Arbeiter_Innen und Unterdrückten!



JIN JIYAN AZADΖ die Flamme der Revolution im Iran brennt weiter!

Von Pauline P., September 2023

Der Mord an der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini durch die „Sittenpolizei“ jährt sich heute zum ersten Mal. Er war der Funke, der das Feuer einer neuen Massenbewegung im Iran entfachte. Seither versucht das diktatorische, islamistische Regime, die Proteste im Blut zu ertränken. Mit über 500 Ermordungen, über 20.000 Festnahmen und öffentlichen Hinrichtungen versuchen die bewaffneten Kräfte der Staatsmacht, die Massen einzuschüchtern – die Bewegung im Keim zu ersticken und die Anhänger_Innen des Regimes zu stärken. Aus Angst vor einer Masse, die mehr und mehr revolutionären Charakter annimmt, gehen die Repressionen immer weiter und erkämpfte Fortschritte werden wieder rückgängig gemacht. So marschiert und fährt die Sittenpolizei wieder durch die Straßen Irans und die Strafen bei Verstößen gegen die Kleidervorschriften werden sogar erhöht. Auch heute – am Todestag Aminis – fürchtet sich das Regime vor einem erneuten Aufflammen der Proteste. Das Polizeiaufgebot in den Städten ist verdoppelt und im Vorhinein wurden 6 Personen festgenommen, die Proteste geplant haben sollen. Auch wenn es auf den Straßen wieder ruhiger geworden ist, das Feuer brodelt weiterhin unter der Oberfläche. Das Regime kann zwar die Proteste niederschlagen – das erwachende Bewusstsein der Menschen und die Ursachen für die revolutionäre Erhebung von Millionen können sie aber nicht aus der Welt schaffen. Denn es ist das reaktionäre, ausbeuterische, frauen- und menschenfeindliche Regime selbst – die spezifische Mischung aus Kapitalismus, Nepotismus und islamistischer Diktatur, die immer wieder den Widerstand hervorbringen wird, den sie mit aller Gewalt – und letztlich nur noch mit Gewalt – blutig unterdrückt.

Von bürgerlichen Protesten zum bewussten Klassenkampf

 Seit 2017 hat sich eine Sache grundlegend geändert: Während vorher, auch bei der sogenannten grünen Revolution im Jahre 2009, vor allem die städtischen Mittelschichten die Basis der Massendemonstrationen bildeten, so ist heute vor allem die Arbeiter_Innenklasse Trägerin des Kampfes. Seit einem Jahr allen voran Frauen, Studierende, die Jugend sowie die unterdrückten Nationalitäten. Die Hoffnungen und Illusionen in den „reformorientierten“ Teil des Regimes sind bei den Massen verflogen. Soziale Fragen rücken in den Vordergrund. Und dies ist ein Fortschritt, der sehr zu begrüßen ist.  Ein Fortschritt mit dem Potential, das Blatt ein für alle mal zu wenden. Denn langsam wird immer mehr klar, dass iranischer Kapitalismus und islamistisches Regime von Anfang an eng miteinander verbunden waren und nur gemeinsam bekämpft werden können.

Das islamistische Mullahregime

Die Unterdrückung der Frauen gehörte von Beginn an zur politischen DNA des islamistischen Regimes. Der Sieg von Khomeini und den Mullahs bei der iranischen Revolution in den 1970ern bedeutete für alle Frauen im Iran eine Katastrophe. Die Elemente formaler Gleichheit, die unter dem Schah errungen und in den ersten Monaten der Revolution faktisch sogar ausgeweitet worden waren, wurden rigoros abgeschafft. Natürlich hatten Khomeini und die Mullahs die Frauenunterdrückung und das Patriarchat nicht erfunden, sie institutionalisierten sie jedoch im extremen Ausmaß. Die Scharia, als islamisches Gesetz, wurde zu deren rechtlich-ideologischer Grundlage, welche Frauen auf verschiedensten Ebenen unterdrückt, entrechtet und schikaniert. Die extreme Form der Entrechtung seit Beginn der Mullahherrschaft ging mit einer widersprüchlichen Entwicklung der Lage der Frauen im Bildungswesen und in der Arbeitswelt einher. Heute gibt es im Iran rund 4,5 Millionen Studierende, eine für ein halbkoloniales Land beachtliche Zahl und Quote. Fast jede/_r zweite Studierende ist eine Frau. Dies spiegelt den Versuch des Mullahregimes wider, nach der Machtergreifung eine staatskapitalistische Industrialisierung voranzutreiben, was sich auch im Zwang, vermehrt Frauen als Lohnarbeiterinnen zu beschäftigen oder professionell zu qualifizieren, ausdrückt. Somit entstand im Iran einerseits eine sehr qualifizierte Schicht von Frauen, die zugleich weiter politisch und kulturell entrechtet blieb. Über Jahre versprach das Regime den Frauen und der Jugend im Gegenzug für soziale Unterdrückung Jobs, Einkommen und sogar einen gewissen Aufstieg. All das entpuppte sich nach anfänglichen ökonomischen Erfolgen in den 1990er Jahren mehr und mehr als Fiktion. Die neoliberalen Reformen und Privatisierungen des letzten Jahrzehnts, vor allem seit dem Einbruch 2012/13, verschlechterten die Lage weiter. Für die Frauen und die Jugend sieht die Zukunft düster aus. Die Arbeiter_Innen bilden mittlerweile die zahlreichste Klasse der iranischen Gesellschaft. Zugleich lebt ein großer Teil dieser Klasse heute in Armut. Für die Lohnabhängigen repräsentierte die Diktatur der Mullahs immer eine brutale Herrschaft der Ausbeuter_Innen. Proletarische, aber auch junge, akademisch gebildete Frauen trifft dies besonders. Die Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt sind beachtlich. Das verdeutlicht auch die Arbeitslosenquote von Frauen mit offiziell 18,96% im Jahr 2021, die fast doppelt so hoch ist wie jene der Männer (9,89%). Noch höher liegt sie bei Jugendlichen – und das heißt insbesondere auch bei jungen Frauen – mit 27,21%. Mit fast 89% extrem stark von Arbeitslosigkeit – und damit von Armut – betroffen ist die ohnedies stigmatisierte Gruppe von alleinerziehenden Frauen. Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Einerseits natürlich die Inflation und die ökonomische Stagnation selbst, die die gesamte Klasse der Lohnabhängigen betrifft. Zweitens ziehen viele, natürlich männliche Unternehmer, vor, junge Männer statt Frauen zu beschäftigen, selbst wenn diese z. B. einen weit besseren Hochschulabschluss vorweisen. Darüber hinaus nutzen Unternehmen bewusst die reaktionäre Gesetzgebung, um gewerkschaftlich aktive oder einfach Widerstand leistende Arbeiterinnen unter dem Vorwand „unislamischen“ Verhaltens oder „unsittlicher“ Bekleidung zu entlassen.

Unterdrückungsformen können nur mit dem Kapitalismus zusammen untergehen!

All dies verdeutlicht, wie eng der Kampf gegen Frauenunterdrückung mit dem gegen Ausbeutung verbunden ist und einen essentiellen Teil des Klassenkampfes bildet, da Frauen im Kapitalismus durch die ins Private gedrängte Reproduktionsarbeit doppelt ausgebeutet werden und die Existenz des Kapitalismus dieser Reproduktion bedarf. Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzutasten. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher). Eine politische Kraft, die konsequent die Interessen der lohnabhängigen Frauen, der Student_Innen und Arbeiter_Innenklasse insgesamt zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken. Entscheidende gesellschaftliche Fragen müssen mit der Enteignung des Kapitals und der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden werden. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Ausgebeuteten bleiben. Entscheidend ist außerdem internationale Solidarität mit den Kämpfen im Iran und der gemeinsame Aufbau von Massenbewegungen, um den Kapitalismus und mit ihm auch die Frauenunterdrückung weltweit zu schlagen!




Wahlen in der Türkei: Mücadeleye devam – Wir kämpfen weiter

Von Dilara Lorin, aus Neue Internationale 274 (Gruppe Arbeiter:Innenmacht), Juni 2023

In den letzten Monaten, vor allem, aber in den letzten Wochen war das Land politisiert und die Spannungen innerhalb der Bevölkerung wurden immer größer. Dies hat verschiedene Ursachen. Das verheerende Erbeben vom 6. Februar, welches mehr als 50 000 Menschen das Leben kostete, aber auch die Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung aufzeigte; die Inflationsrate, die Oktober 2022 ganze 80 % erreichtet; die immer prekärer werdende Lage der Arbeiter:innenklasse, auch eine zumeist tief rassistisch geführte Debatte über die Lage und Rolle von Millionen Flüchtlingen und der Kurd:innen.

Dennoch konnte Erdogan die Präsidentschaftswahlen im zweiten Wahlgang für sich entscheiden. Zweifellos kam ihm dabei das Monopol über die staatlichen Medien wie das Fernsehen, die Kontrolle des Staatsapparates, Repression und Entschücherung der Opposition, vor allem der kurdischen HDP, die vom Verbot bedroht sind und von der hunderte Mitglieder in den Gefängnissen sitzen zugute. Aber sein Gegenkandidat, der kemalistische türkische Nationalist Kılıçdaroğlu versprach selbst eine reaktionäre, kapitalistische und rassistische Politik, die keine Alternative zu Erdogan dargestellt hätte.

Zwei Lager, aber zwei reaktionäre Lager

Zweifellos hat die Wahl die Menschen in zwei Lager gespalten, die einen, die Erdogan weiterhin unterstützen, die anderen, die sich für Kılıçdaroğlu aussprachen, weil sie diesen als Alternative zum bonapartistischen Regime Erdoğan ansahen. Dass dies jedoch eine Wahl zwischen Pest und Cholera war und Kılıçdaroğlu keine Alternative für die Arbeiter:innen, Kurd:innen, Geflüchteten und weitere Unterdrückte darstellen kann, wurde in den letzen zwei Wochen immer deutlicher.

Im ersten Wahlgang war neben den beiden Kandidaten trat noch ein dritter angetreten: Sinan Oğan, ein Rechter, der wegen nationalistischen und rassistischen, wegen sexistischen und frauenfeindlichen Äußerungen bekannt wurde, erhielt 5 %. In der Stichwahl versuchte er sich als „Königsmacher“ zu inszenieren. Jedenfalls buhlten beide Kandidaten um seine Stimmen. Auch deshalb waren die vergangen zwei Wochen geprägt von rassistischen Äußerungen und vor allem Kılıçdaroğlu fokussierte seine Wahlpropaganda darauf, innerhalb von 2 Jahren bis zu 2 Millionen Geflüchtete zu deportieren. Zugleich verlor er kaum ein Wort zur Inflation und die kapitalistische Wirtschaftspolitik Erdogans. Vielmehr würden die Geflüchteten Arbeitsplätze „klauen“ und nur deshalb ginge es der Arbeiter:innenklasse so schlecht.

Die rassistischen Äußerungen Kemal Kılıçdaroğlu erinnern an NPD und AfD. Dass dabei Erdogan keine bessere Position vertritt, ist klar. Er benutzt die Geflüchteten als Spielball gegenüber der EU. Große Teile des Geldes, welches im Zuge des reaktionären Flüchtlingsdeals in die Türkei gelangt, erreichen gar nicht erst die Lager und die Betroffenen und letztlich verfolgt auch Erdogan das Ziel, viele wieder zurückzuschicken. Jedoch behauptet er, dies erst zu tun, wenn die dafür notwendigen Bedingungen geschaffen sein würden würden. Dass bedeutet, dass Assad als Diktator wieder anerkannt wird und auch die Beziehungen nach Syrien wieder normalisiert werden – und das auf den Rücken nicht nur der Geflüchteten, sondern vor allem der Kurd:innen in Rojava. 

Parlamentswahlen

Gewonnen hat in den Parlamentswahlen letztlich wieder die AKP, welche  bei den Wahlen zur 600 Abgeordnete umfassenden großen Nationalversammlung 35,61% für sich gewinnen konnte. Dabei hat die AKP aber im Vergleich zu den Wahlen 2018 6,95% der Stimmen eingebüßt. Diese Zahlen verdeutlichen auch, dass die AKP nicht mehr jene Zustimmung in der Bevölkerung erhält wie es früher einmal der Fall war. Auch ihre Basis bröckelt, viele Anhänger:innen stehen nicht mehr hinter der Partei. Nichtsdestotrotz kann sie mit dem Wahlbündnis „Volksallianz“, mit welchen sie auch zur Wahl angetreten ist, insgesamt 49,47 % erhalten. Die AKP tritt dabei im Bündnis mit der faschistischen MHP an. Von den 318 Sitzen der Volksallianz hält die MHP immerhin 50 Sitzen.

Die CHP, welche von vielen als die Alternative zur AKP angesehen wird, kam in den Parlamentswahlen auf 25,33 % und trat ebenfalls in einem Wahlbündnis mit 5 weiteren Parteien auf, dem „Bündnis der Nation“. Dabei koaliert unter anderem mit der IYI Partei, welche islamisch, konservativ und rechts einzuordnen ist. Das „Bündnis der Nation“, das in den Medien auch „Sechsertisch“ genannt wird, kommt auf insgesamt 213 Sitze.

Dass dieses Wahlbündnis kein Interesse daran hat, wirklich demokratische Zustände in der Türkei wieder durchzusetzen, eine Verbesserung für die Arbeiter:innenklasse herbeizuführen oder für die Rechte von den unterdrückten Minderheiten einzutreten, zeigt schon der bürgerliche Charakter der CHP, deren historische Verrat an der Arbeiter:innenklasse, aber auch die Position zu den Kurd:innen  und Geflüchteten ist extrem reaktionär. 

Ergebnis von HDP und YSP

Die links-kleinbürgerliche HDP, welche für die Rechte von Frauen, LGBTI, Kurd:innen und Geflüchteten kämpft, fuhr das schlechteste Ergebnis bei den Parlamentswahlen seit ihrer Gründung ein. Sie trat aufgrund aufgrund der möglichen Illegalisierung unter dem Namen der Yeşil Sol Partei (YSP) an. Die YSP kam lediglich auf 8,82 %. Somit büßt die HPD 2,68% der Stimmen im Vergleich zu den Wahlen im Jahr 2018 ein. Mit dem Wahlbündnis „Arbeit und Freiheit“ traten im Rahmen der YSP 5 weiteren kleinere linke Parteien zu den Wahlen an, da runter die bekannteste, neu gegründete TİP (Arbeiterpartei der Türkei), welche 1,73 % mit ihren eigenen Listen erlangte, denn im Wahlbündnis selbst konnten alle Parteien auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten.

Dass die YSP in diesem Wahlgang an Stimmen verloren hat, zeugt auch von ihren taktischen Fehlern, welche sie schon vor der Wahl entschieden: kein gemeinsames Auftreten einer/s eigenen Präsidentschaftskandidat:in und damit die offene oder indirekte Unterstützung des CHP Kandidaten Kılıçdaroğlu und der fälschliche Glaube, man müsse sich nur auf einige Sitze im Parlament, sowie Bürgermeister und andere Posten fokussieren. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass der Wahlkampf des Bündnis für Arbeit und Freiheit unter massiver Repression stattfand, darunter der Inhaftierung sowie Einschüchterung von vielen Aktivist:innen und Wahlhelfer:innen.

Und die Kurd:innen?

Diese haben in dieser Wahl komplett verloren. Dadurch dass es keinen Präsidentschaftskandidaten von der YSP gab, konnten sie ihren Forderungen kaum öffentliches Gewicht und kein Gehör verschaffen. Dabei ist für die CHP ohnedies klar: Kurd:innen sollen allenfalls als Stimmvieh fungieren, ansonsten setzt man auf Nationalismus und Chauvinismus. So positionierte sich die CHP 2015 gegen Friedensverhandlungen und kritisierte Erdogan und die AKP von rechts. Sie unterstützte viele Angriffe der Türkei auf Rojava.

Dadurch dass die YSP und etliche revolutionäre und kommunistische Gruppen dazu aufriefen, den Präsidentschaftskandidaten der CHP zu unterstützen, verschwand die Masse der kurdischen Stimmen in denen der reaktionären, nationalistischen und bürgerlichen Masse der CHP. Die Politik des kleineren Übels ist jedoch nicht aufgegangen: Erdoğan gewinnt die Wahl am 28.5. und beginnt seine dritte Amtszeit als Präsident. Die stärkte das nationalistische Bewusstsein der AKP-Unterstützer:innen, welches sich jetzt nochmal bestätigt fühlen. Und schon in seiner ersten Ansprache als neuer Präsident hetzt Erdogan gegen den inhaftierten HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und spricht vom Großtürkischen Reich, welches er in dieser Amtsperiode weiter forcieren möchte.

In seine ersten Ansprach nach den Wahlen gibt sich Kılıçdaroğlu als „wahrer Demokrat“, hinter den vor allem Frauen und Jugendlichen zu stehen scheinen, um gleich in den nächsten Sätzen seine rassistische Haltung gegenüber den Geflüchteten noch einmal zu bekräftigen. So äußert er sich gleich am Anfang seiner Rede rassistisch und verkündet: „Als Millionen Geflüchtete kamen und ihr zum Volk zweiter Klasse wurdet, konnte ich nicht dazu schweigen“. Von den Kurd:innen war keine Rede mehr, es schien so, als seine sie vergessen, unwichtig oder nicht der Rede wert. Dabei waren es Städte vor allem die Städte aus der kurdischen Region, in denen oftmals mit einer überwältigenden Mehrheit Kılıçdaroğlu gewählt wurde. 

Kaybettik (Wir haben verloren)  oder Mücadeleye devam (Wir kämpfen weiter)?

Während viele am 28. Mai mit Türkei-Fahnen, den Wolfs- oder Rabiagrüßen den Sieg Erdoğans feierten, war ein anderer Teil der Bevölkerung niedergeschlagen. Es wurde seitens liberaler und bürgerlicher Kräfte, aber auch großer Teil der Linken für einen möglichen Sieg der „Demokratie“ unter Kılıçdaroğlu geworben. Für eine gewisse Zeit hinterließ diese bei vielen den Eindruck, dass „bessere Zeiten“ bevorstände: Erdoğan und die AKP hätten ausgesorgt, sie würden gehen. An ihre Stellt würden besser Zeiten mit mehr demokratischer Mitbestimmung, mehr Rechten für das Parlament, einer stärkeren Wirtschaft folgen.

Auch wenn es vollkommen nachvollziehbar ist, dass man sich nach besseren Zeiten sehnt, man das autoritäre Regime satt hat, so war die CHP nie eine Alternative. Denn eine bürgerlich, nationalistische Partei, welche weiterhin im Sinne der Kapitalist:innenklasse agiert, hat nicht das Interesse daran, wirkliche Verbesserungen durchzusetzen. Und alleine die weltweite wirtschaftliche Lage und tiefe ökonomische Krise in der Türkei (Inflation, Verfall der Währung) hätten gar nicht erst die Möglichkeit unter Kılıçdaroğlu geben, Reformen durchzuführen. Vielmehr hätte auch seine Regierung die Arbeiter:innenklasse massiv angegriffen, um die Profitwirtschaft wieder flott zu machen.

Wir dürfen daher auch jetzt nicht dem Modus des Verlorenen – kaybettik – verfallen, sondern unser Motto muss lauten: „Mücadelemis devam etmeli“ – Unser Kampf muss weiter gehen! Denn was notwendig gewesen wäre, und was weiterhin notwendig ist, ist die stark politisierte Lage in der Türkei zu nutzen, um die Arbeiter:innen und Unterdrückten jetzt für ihre Interessen zu mobilisieren, für den Abbau einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen den Rassismus, gegen das Regime. Die Wahlbeteiligung lag zwar bei über 80%, aber kaum eine Organisation hat einen dritten Weg der Organisierung und Mobilisierung aufgezeigt, obwohl es die Situation dies erfordert.

Es ist notwendig, dass die türkische Linke jetzt in einer Einheitsfront tritt, in welcher sie alle kämpferischen und fortschrittlichen Teile der Gesellschaft vereint, und versucht, die Gewerkschaften, die linken Parteien, die Kurd:innen, die Umwelt- und Frauenbewegung gemeinsam zu mobilisieren. Wir brauchen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und einer gleitenden Skala Löhne, nach Enteignung der Großunternehmen und Banken unter Arbeiter:innenkontrolle. Nur so kann die Inflation und die damit einhergehende Wirtschaftskrise bekämpft werden.

Dafür müssen die Gewerkschaften in der Türkei anfangen ihre Mitgliedschaft und ihren Organisationsgrad auszuweiten, Aktionskomitees in Betrieben und Stadtteilen aufzubauen, um so zu Massenorganen der Arbeiter:innen zu werden. Revolutionär:innen müssen für ein  Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse eintreten, das die Rechte und Forderungen aller unterdrücken Minderheiten, allen voran der Kurd:innen und Araber:innen und aller Geflüchteten vertritt! Eine solche Einheitsfront muss sich auf Massenversammlungen und Aktionskomitees in den Betrieben und Stadtteilen stützen sowie auf Selbstverteidigungseinheit gegen die Repression.

Es ist eine große Aufgabe, aber das Regime kann nicht durch einen weiteren nationalistischen und bürgerlichen Kandidaten gestürzt werden, sondern nur von der Arbeiter:innenklasse und den Unterdrückten selbst – und dazu ist der Aufbau einer neuen, revolutionären Arbeiter:innenpartei nötig, die unabhängig von allen Flügeln der herrschenden Klasse agiert.