Kampf dem antimuslimischen Rassismus! Wir lassen uns nicht durch Terror spalten!

REVOLUTION Austria, 9. November 2020

Der Terroranschlag vom 2. November war und ist weiterhin ein großer Schock für uns alle. Unsere volle Solidarität und Anteilnahme gelten den Betroffenen und Angehörigen. Gleichzeitig müssen wir auch leider feststellen, dass das politische Klima seither gerade für Muslim_Innen bzw. jene die als solche wahrgenommen werden äußerst beängstigend geworden ist. Ob auf der Straße, auf sozialen Netzwerken oder in den politischen Antworten der Regierungsparteien – überall ist zu sehen, wie Hass und Hetze sowohl unterschwellig als auch in ganz offener Form zunehmen. Daher legen wir den folgenden Artikel aus dem vergangenen Jahr in einer aktualisierten Fassung neu auf.  Wir lassen uns durch den Terror weder spalten noch einschüchtern – der Kampf gegen Terrorismus muss mit dem antirassistischen Kampf Hand in Hand gehen.

Der antimuslimische Rassismus erlebt seit Jahren einen enormen gesellschaftlichen Aufschwung. Es ist auch längst kein Problem mehr, das sich auf rechte bis rechtsradikale Fanatiker_Innen beschränkt, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem, das die sogenannte politische Mitte ebenso betrifft, und selbst in linken Spektren ein großes Problem darstellt. Mittlerweile sind wir an einem Punkt, an dem rassistische Übergriffe gegen Muslim_Innen und im Speziellen gegen muslimische Frauen, zur tagtäglichen Realität geworden sind. Vor allem jetzt nach dem Anschlag fluten schockierende Berichte über ekelhafte Angriffe und Diskriminierung die sozialen Netzwerke. Von tätlichen Angriffen, Beschimpfungen auf offener Straße, bis hin zu Schweinekadavern die an Orten hinterlassen werden, wo Muslim_Innen sich befinden ist alles mit dabei. In Kärnten zwang sogar eine Lehrkraft eine muslimische Schülerin ein Referat über Terrorismus zu halten und sich dabei ausdrücklich davon zu distanzieren, so als ob sie dafür verantwortlich wäre. Das ist rassistisch, ekelhaft und psychischer Terror. Die Situation war davor ohnehin schon nicht einfach. Das hat auch der 2019 veröffentlichte Report der Dokumentations- und Beratungsstelle Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus deutlich belegt: Von 2017 auf 2018 gab es einen Anstieg von 74% (!) der dokumentierten rassistischen Vorfälle und ganze 83% richteten sich gegen Frauen. Doch woher kommt der antimuslimische Rassismus? Was sind seine besonderen Qualitäten?

Der
moderne antimuslimische Rassismus ist ein relativ neues Phänomen.
Zugleich wurzeln viele der heute präsenten Bilder jahrhundertelang in
die europäische Geschichte zurück. Darstellungen des sogenannten Orients
als primitiv, rückständig und despotisch im Vergleich zum modernen und
aufgeklärten Westen oder das in Europa verbreitete Schreckbild des
expandierenden Osmanischen Reiches als Bedrohung des christlichen
Abendlands haben eine lange Geschichte und werden im modernen
antimuslimischen Rassismus oftmals wieder aufgegriffen und auf die
„Rasse“, „Natur“ oder „Kultur“ der Betroffenen zurückgeführt.

Mit dem „Krieg gegen den Terror“ ab Anfang des Jahrtausends wurden in Europa alte Feindbilder wie Rassismus gegen Osteuropäer_Innen oder Jüd_Innen vermehrt durch einen Rassismus gegen Muslim_Innen abgelöst. Rassismus selbst hat seinen Ursprung im Kolonialismus des 19. Jahrhunderts in dem weiße Europäer_Innen den “unterentwickelten Völkern” vermeintlich Kultur und Zivilisation bringen würden. Natürlich ging es aber darum die brutale Ausbeutung und Versklavung sowie die hierarchische Überlegenheit zu legitimieren und zu festigen. Dabei hatte auch der antimuslimische Rassismus im Zuge der Kolonisierung der islamischen Welt seine Funktion als Rechtfertigungsideologie zu erfüllen. Ein angeblich seit Jahrhunderten existierender Kulturkampf wie er teilweise von Rechten wie u.a. den Identitären oder dem Christchurch-Attentäter beschworen wird, ist reine Fiktion. Willkürlich werden geschichtliche Ereignisse wie die Türkenbelagerungen oder die Reconquista zu einem geschichtlichen Motiv vermischt. Mit historischer Realität hat das wenig zu tun. Die allermeisten und auch die blutigsten Kriege wurde nämlich nicht zwischen Europa und dem Islam ausgefochten, sondern zwischen den diversen europäischen Mächten.

Die Gefahr einer angeblichen ständigen Bedrohung einer Invasion oder Umvolkung ist nicht ohne Grund auch ein Bild das häufig von rechten, wie der FPÖ, AfD, Identitären etc. quasi in einer Dauerschleife gebracht wird. Dabei spielt die tatsächliche Religionszugehörigkeit oder -ausübung keine Rolle. Die Betroffenen werden als homogene Masse bzw. als „Rasse“ wahrgenommen. Um ihren Rassismus zu verschleiern versteckt man sich dann oft hinter kulturalistischen Verklärungen, die dann von deren Werten, Bräuche, Traditionen etc. sprechen, wo jedoch klar ist, dass die Begriffe nur den verpönten Rassebegriff ersetzen. Rassistische Übergriffe werden auch so gut wie nie als solche behandelt, sondern unter dem Deckmantel der Fremdenfeindlichkeit verharmlost. Nun ist es aber so, dass nur bestimmte „Fremde“ angegriffen werden. Weiße Europäer_Innen mit anderen Staatsbürger_Innenschaften sind nicht Ziel von Übergriffen; der Begriff Fremdenfeindlichkeit verschleiert echten Rassismus. Gerade in Bezug auf Religion wird auch oft das Argument gebracht, dass man nicht von Rassismus sprechen könne, weil Religion eine individuelle Entscheidung bzw. keine biologische Tatsache ist. Das Individuum und sein Verhalten spielt aber kaum eine Rolle. Betroffene werden auf Basis rassistischer Kategorien (Aussehen, Kleidung, Sprache etc.) als solche wahrgenommen und diskriminiert, unabhängig davon ob und wie religiös sie nun tatsächlich sind. Bei Übergriffen werden die Betroffenen ja auch nicht im Vorhinein gefragt wie sie es nun mit der Religion halten würden. Das öffentliche Ausleben der Religion bzw. das Tragen religiös konnotierter Kleidung erhöht jedoch beträchtlich die Gefahr rassistisch angegriffen zu werden und führt zu einer Situation in der Betroffene oftmals sich nicht mehr trauen in die Öffentlichkeit zu treten, wie auch die Gegenwart gerade auf erschreckende Art und Weise zeigt.

Eine Besonderheit des antimuslimischen Rassismus ist die Verschränkung mit dem Terror. Insbesondere seit 9/11 kann man einen qualitativen Umbruch beobachten. Sicherheitspolitik, Verschärfungen im Flugverkehr etc. wurden stets mit einer „islam(isti)ischen Gefahr“ in Verbindung gebracht. Durch die ständige mediale Verschränkung, dem sog. Framing, wurde ein Bild geprägt, das den Islam als „böse Terrorreligion“ darstellt, und Betroffene unter den Generalverdacht, Terrorist_Innen zu sein, stellt. Letztes Jahr sprach die FPÖ unter ihrem damaligen Parteichef H.C. Strache bspw. davon, dass es in Wien „150 islamische Kindergärten, wo mit Hasspredigten die Kinder zu Märtyrern erzogen werden sollen“ gäbe.

Es ist unglaublich frustrierend mitzuverfolgen, wie auch aktuell viele Muslim_Innen sich in der Rolle sehen sich für diesen Anschlag entschuldigen zu müssen oder überhaupt erst bezeugen zu müssen, dass man diesen Terror ablehnt. Der Anschlag galt uns allen, und trotzdem attackierten viele Menschen Muslim_Innen, die ihre Anteilnahme, Trauer oder Angst ausdrückten. Schlimmer noch nutzen gerade Rechte wie die FPÖ oder die Identitären den Anschlag um ihre rassistische Propaganda zu befeuern.

Die zutiefst rassistischen und reaktionären Antworten auf solche Anschläge verschleiern zudem das Muslim_Innen selbst am allermeisten betroffen sind von extremistischen Terror. Von 2001 bis 2014 sind in Westeuropa 420 Menschen durch Terror gestorben. Allein im Irak sind in demselben Zeitraum 42.759 Menschen wegen Anschlägen gestorben. In Afghanistan waren es 16.888, in Pakistan 13.524, in Nigeria 11.997 – die Zahlen zeigen eindeutig: Weder ist es so, dass der “islamistische” Terror die größte Gefahr Europas sei (es ist statistisch um einiges wahrscheinlicher in einen tödlichen Autounfall zu geraten als durch einen Terroranschlag zu sterben), noch ist es so, dass es ein Kampf zwischen dem „Islamismus“ und dem Westen ist. So fand auch am selben Tag in Afghanistan ein widerwärtiger Terroranschlag auf dem Gelände der Universität Kabul statt, bei dem über 35 Menschen ums Leben gekommen sind.

Sicherlich mögen Zahlen, Vergleiche und Wahrscheinlichkeiten
den Betroffenen hier aktuell wenig bringen, doch eins ist klar: Wir
dürfen uns jetzt nicht spalten lassen, denn das spielt dem IS in die
Hände und schafft nur noch mehr Nährboden für seine Ideologie. Der
Anschlag hat Menschen das Leben gekostet, viele traumatisiert und ein
Klima von Angst und Verunsicherung geschaffen. Die Frage nach den
Ursprüngen von Terroranschlägen und wieso nach außen hin diese scheinbar
fast immer im Namen des Islams ausgeübt werden, beschäftigt gerade
viele. Dem müssen wir zweierlei entgegnen.

Erstens liegens die Ursprünge von Terrororganisationen und Netzwerken wie Al-Qaida oder dem IS in Ländern wie dem Irak, Afghanistan, Syrien etc. also allesamt Regionen die durch jahrelange imperialistische Kriege (man denke bspw. an den Irak-Krieg wo es primär um geopolitische sowie US-amerikanische Erdölinteressen ging) nahezu komplett zerstört und zerbombt wurden und Generationen an Menschen hinterließen, die jegliche Perspektive verloren haben. Die desaströse politische, wirtschaftliche und soziale Lebensrealität der Betroffenen bietet einen Nährboden, unter dem sich Menschen schnell radikalisieren lassen, den Terrorrist_Innen auch bewusst ausnutzen. Ihre Ideologie gibt solchen Menschen vermeintliche Erklärungen für die Zustände unter denen sie leben müssen und eine übergeordnete Identifikation mit einem höheren Ziel dem sie ihr Leben nun wieder verschreiben können. Der absolute Großteil der in diesen Regionen ansässigen Zivilbevölkerung lehnt aber diese Netzwerke und Organisationen komplett ab, da sie die Länder genauso mit Terror, Tod und Schrecken übersäen.

Zweitens mag nach außen die Ideologie des IS, der Dschihadismus, sich zwar als Religion präsentieren, doch hier muss in aller Klarheit gesagt werden, dass es sich nur einen Deckmantel handelt. Es geht hier um beinharte politische Machtansprüche und ideologische Kämpfe. Viel eher muss man sagen, dass der Dschihadismus den Islam, so wie er von Muslim_Innen weltweit ausgeübt wird, eigentlich fast gänzlich ablehnt. In vielen ideologischen Schriften sehen sie Muslim_Innen, als die weitaus schlimmeren Feinde als bloße „Ungläubige“. Sie gelten als Verräter an der Sache, Sünder und als ideologische Gefahr, zumal die meisten offiziellen islamischen Institutionen und Glaubensgemeinschaften allesamt den Dschihadismus verurteilen.

Das
Religionen als Vehikel für politischer Machtkämpfe genutzt werden, ist
auch keine Neuheit in der Menschheitsgeschichte. Gerade das Christentum
hat eine lange Geschichte von Kreuzzügen, und kriegerischen
Auseinandersetzungen – der dreißigjährige Krieg oder auch in jüngerer
Geschichte der Nordirlandkonflikt können hierfür als Beispiele dienen.
Auch die Methode des Terrors ist keine Eigenheit des Dschihadismus. In
der Region um Uganda verübt die „Lord‘s Resisstance Army“ seit den 80ern
regelmäßig Terroranschläge mit dem Ziel einen christlichen Gottesstaat
zu etablieren. In den 90ern machte eine in Asien ansässige religiöse
Gruppe, die dem Shintoismus-Buddhismus zuzuordnen ist, durch
Giftgasanschläge in Tokyo auf sich aufmerksam. Der seit Jahren
fortlaufende Rechtsruck in Europa hat auch hier zufolge gehabt, dass es
zu mehr rechtsradikalen Terroranschlägen (wie in Utöya, Christchurch
oder Hanau) kam – die Täter sprachen in ihren Manifesten auch stets
davon, das christliche Abendland retten zu müssen.

Um es nochmal
zu betonen, die inhaltliche Qualität von Religionen spielt dabei kaum
eine Rolle für den Terrorismus, da sie primär politische Ideologien
sind, die Religionen als Deckmantel und Projektionsfläche nutzen. Unsere
Aufgabe muss sein solidarisch gegen religiösen Terror zu kämpfen und
die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme anzusprechen,
die dahinterstecken. Ein konsequenter Kampf gegen den Terror kann daher
auch nur internationalistischer und vor allem antiimperialistischer
Kampf sein!

Zurück zum antimuslimischen Rassismus, denn eine weitere Besonderheit sieht man bei dem Vergleich mit rechtsradikalen Terroranschlägen. Während bei jedem “islamistischen” Terroranschlag die Täter_Innen als diabolische Märtyrer_Innen bezeichnet, alle rassistischen Klischees ausgepackt und wiederum die größte Gefahr für Europa beschworen wird, wird bei rechtsradikalen Anschlägen ungemein verharmlost und psychologisiert. Rechtsradikale Anschläge, wie der des Attentäters von Christchurch, der bei einem Angriff auf zwei Moscheen 50 Menschen tötete, werden als individuelle Tragödien dargestellt. Die Taten werden entpolitisiert, und mehr als Ergebnis psychologischer Probleme verklärt. In der Berichterstattung wird nach der Kindheit, der Lebensgeschichte etc. gefragt und es entsteht letztlich der Eindruck, dass solche Täter_Innen bemitleidenswerte Opfer der Gesellschaft wären. Es passt nun mal nicht in das jahrelang von Medien und Politiker_Innen geschaffene Bild des „islamistischen“ Terrors, dass auch rechtsradikale und christlich geprägte Menschen Terroranschläge ausüben. Das Leid der wahren Betroffenen geht dabei komplett unter. Die Message ist klar: Die Betroffenen sind weniger wert, ihr Leid unwichtiger, weil sie nun mal nicht zu dem völkisch bzw. rassistisch gedachten „uns“ gehören. Außerdem wird die Gefahr des Faschismus deutlich und bewusst verklärt, der deutliche Anstieg verschwiegen und der politische Kontext des internationalen Rechtsrucks verschleiert.

Antimuslimischer
Rassismus, ob in Österreich oder anderswo, muss bekämpft werden –
gemeinsam, solidarisch und internationalistisch. Wir dürfen uns nicht in
rassistische, völkische oder nationalistische Kategorien spalten lassen
– auch jetzt angesichts des Terroranschlags erst recht nicht – und
müssen stattdessen aufzeigen, dass die sozialen und ökonomischen
Probleme in unserer Klassengesellschaft wurzeln. Wir müssen an den Orten
wo wir uns befinden, egal ob Schule, Uni oder Arbeit uns organisieren
und dürfen zugleich den internationalen Rechtsruck und die rassistischen
Angriffe nicht mehr so einfach hinnehmen. Antirassistisch zu sein,
bedeutet auch konsequent Widerstand zu leisten und dem antimuslimischen
Rassismus den Kampf anzusagen!




Wahlen in den USA: Der Brandstifter unterliegt, doch das Feuer ist nicht gelöscht!

Resa Ludvin

Stand 08.11.2020

Die Mauer kam
nicht, zumindest nicht so wie angekündigt. Dennoch starben tausende
Menschen an der amerikanischen Migrationspolitik und die Mauern
innerhalb der USA wurden immer höher- wirtschaftliche Isolation,
Ausstieg aus internationalen Verträgen, Staatsstreiche,
Kriegsverbrechen und anstehende Kriege.

Eigentlich nichts
Neues. Ebenso wenig, dass es die republikanischen Wähler_Innen nicht
interessiert, was ihr despotischer Kandidat nun als nächstes plant
oder welche Fake News Trump beim morgendlichem „Twitter“-Klogang
ablassen wird. Dennoch haben ihn 47,7% gewählt. Und auch die
Inszenierung Joe Bidens als Heilsbringer, nicht nur von
Trump-Gegner_Innen, sondern auch Linken und Aktivist_Innen in den
USA, kann nicht über die desaströse Lage des Landes hinwegtäuschen.
In der Geschichte kamen und gingen Großmächte. Die USA brennt und
ist dennoch internationaler Brandstifter.

Was die Wahl nun
für die zerfallende Großmacht, die arbeitende Klasse und die
internationale Politik bedeutet, wollen wir hier beleuchten. Ebenso
die Frage, welche Rolle der vorherige und nächste Präsident spielt.

Trumps Bilanz:
Krieg, Putsch, Morde, Sprengung internationaler Normen

„Mother of all
bombs“ in Afghanistan, Putschversuch in Venezuela, Hassliebe mit
Putin, Ermordung eines Generals im Iran, Anfachen des
Nahost-Konflikts, Drohgebärden gegen Peking und Pjöngjang. Wäre
der internationale Fokus durch Corona nicht verschoben worden, so
wäre 2020 wohl auch ein Jahr mit Phasen heißen und kalten Krieges
geworden. Insgesamt hat Trump den Sprung auf eine neue
Eskalationsstufe innerhalb der Neuaufteilung der Welt eröffnet. Wo
in den westlichen Ländern gezittert wird, er könne nach dem
Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen auch noch aus der NATO oder
anderen internationalen Bündnissen austreten, hat er weite Teile der
Welt bereits in eine reale Angst vor Krieg versetzt.

Warum sich
niemand mit ihnen anlegt? Weiterhin bleiben die USA eine der größten
Militärmächte und natürlich wollen auch wirtschaftliche
Beziehungen gerettet werden, sofern das möglich ist. Gerade für die
kleine imperialistische EU wäre ein zu offensiver Angriff eine
lose-lose Situation. Lediglich China könnte einen Angriff wagen, was
aber zu einer Konfrontation von internationalem Ausmaß führen
würde.

Auch im Inland
sieht es nicht viel besser aus. Die USA sind eines der am schwersten
von der Coronakrise getroffenen Länder. Millionen Infizierte und
über 200.000 Tote. Kein Wunder in einem Gesundheitssystem, das sich
ein bedeutender Teil der Bevölkerung nicht leisten kann. Ebenso
nicht verwunderlich, dass es nicht Leute wie Trump sind, die an dem
Virus sterben, ihre Jobs und somit ihre Lebensgrundlage verlieren. Es
sind Arbeiter_Innen. Genauer gesagt migrantische und
afro-amerikanische Arbeiter_Innen.

Die prekäre Lage
von Migrant_Innen und nichtweißen Menschen ist nicht zuletzt der
rassistischen Politik geschuldet. Die rassistische Spaltung in den
USA ist größer denn je, sei es im Gesundheits- oder Wahlsystem, in
denen gerade Afrokamerikaner_Innen, aber auch die meisten anderen
Minderheiten benachteiligt werden. Sei es die voranschreitende
Polarisierung in den USA, die mitunter zu bürgerkriegsähnlichen
Zuständen geführt hat oder bewaffnete Straßenschlachten mit einem
großen Vorsprung für Rechte, da sie einfacher an Waffen kommen und
die Polizei schaut am Rand zu. In der Kombination mit Trumps
Protestpolitik im Inland hat er den Krieg, den die USA seit
Jahrzehnten im Ausland führen, zurück nachhause gebracht.

Rechte,
Erzkonservative und Evangelikale geben in der US-amerikanischen
Politik den Ton an. Egal ob an den Außengrenzen oder wenn es darum
geht, Wahlgeschenke strategisch zu verteilen. Und das kam nicht erst
mit dem Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus. Zusammengefasst und
einfach verständlich wurde das durch Trump unter dem Slogan „Make
America Great Again“. Jedoch sollte dies nur bei weißen
Amerikaner_Innen aus der absteigenden Mittelschicht und aus
bestimmten Teilen der Arbeiter_Innenklasse Stimmen fangen.

Doch trotz des
Versprechens, den USA wieder eine blühende Wirtschaftslandschaft zu
bescheren, verfallen Industriestandorte wie Michigan oder Ohio
weiter. Denn viele der geschlossenen Stahlwerke, Fabriken usw. waren
natürlich kein Resultat der Regierung Obamas, sondern eines
Rationalisierungsprozesses. Wenn Betriebe nicht mehr ausreichend
Profit machen, Technologie veraltet ist oder Innovationen zu teuer
sind, werden sie eben dicht gemacht. Trumps Antwort in einigen
Gebieten: Stärkt das Fracking, stärkt die Region. Doch das bringt
einem_einer ehemaligen Stahlarbeiter_In wenig, wenn es keine
Umschulungen gibt. Kein Wunder also, dass sich an der
Massenarbeitslosigkeit unter Trump nicht viel geändert hat, nicht
viel ändern konnte.

Wäre all das
nicht schon genug, interessiert es Trump nicht im Geringsten, dass
die Westküste der USA monatelang brennt und beschuldigt die lokale
Bevölkerung dafür verantwortlich zu sein. Der gleiche Präsident,
der Umweltschutzgebiete verkleinert und die Arbeit der Umweltbehörde
immer weiter einschränkt hat, weil sie lukrativem Fracking im Weg
steht. Wäre die Umwelt mal ein Sturmgewehr, dann hätte sie auch
eine Lobby.

Genaueres zur
Lage in der USA findet ihr hier:
http://onesolutionrevolution.de/what-the-fuck-is-wrong-in-the-usa/

Demokratie“
als Staatsform in Gefahr?

Sieht man mal
davon ab, dass Trump wohl jener US-amerikanische Präsident ist, der
die meisten Verfahren gegen sich hatte- Amtsenthebungsverfahren,
Verdacht der Wahlmanipulation sowie nicht gezahlte Steuern- ist seine
Präsidentschaft, zumindest in den Augen seiner vielen
Anhänger_Innen, erfolgreich. Uns als Revolutionär_Innen zeigt er
aber vor allem, was für ein zweischneidiges Schwert die bürgerliche
Demokratie ist. Einerseits zeigt sich wie undemokratisch das
US-System auch unter bürgerlichen Maßstäben ist, da der Präsident
a la „L’etat c’est moi“ („Der Staat bin ich“) regieren
kann. Andererseits ist auch der Erfolg von Fake-News als Ausdruck der
Krise zu nennen. Die Wahl war noch gar nicht angelaufen, unwichtig,
einfach mal schon präventiv behaupten, die Wahl wäre manipuliert.
Und jetzt, da auch die Ergebnisse wirklich gegen Trump sprechen, wird
diese Behauptung mit allerlei fadenscheinigen Behauptungen
untermauert und mit rechtlichen Schritten gedroht. Ob und wer wählt,
scheint also ein für alle Mal egal.

Auch Trumps
eindeutig zweideutigen Ansprachen an die rechten Bewegungen
Alt-Right, QAnon oder „proud boys“ zeigt, wie offen er sich
bezüglich Rechtsextremen zeigt und dass viele seiner Wähler_Innen
darüber hinwegschauen. Das An-der-Macht-Bleiben des Oligarchen steht
im Mittelpunkt. Und wenn es Trump Senior nicht mehr macht, haben sich
in letzter Zeit auch seine Kinder immer weiter in den Vordergrund
gedrängt. Eine Abwahl Donald Trumps, sofern sie überhaupt
akzeptiert wird, bedeutet also nicht zwangsläufig eine dauerhafte
Abwahl der Agenda Trumps.

Nach 4 Jahren
Trump ist offensichtlich, was für Revolutionär_Innen vorher schon
klar war: Die bürgerliche Demokratie taugt nichts. Trump hat
lediglich sämtliche Ideale dieser bürgerlichen Demokratie
vorgeführt und uns auch gezeigt, dass in einem vermeintlich
„westlich, demokratischen Partner“ alles so gedreht werden kann,
wie es einem selbst gerade passt. Sie ist somit, was sie immer war:
eine „Demokratie“ herrschender Interessen. Die Situation der
Arbeiter_Innenklasse hat sich nicht verbessert. Der einzige
Unterschied zum vorherigen Präsidenten Obama war, dass die
Zersetzung vom Sozialstaat noch deutlich schneller voranging und das
deutlich unverhohlener.

Währenddessen
wird Biden als großer Retter inszeniert, der auch in keiner Weise
den Fortschritt darstellt. Er selbst ist nicht nur ein weiterer
„Establishment“-Vertreter alter, weißer Männer, sondern auch
noch erzreligiös. Er stimmte nicht nur für den Irakkrieg, sondern
auch für ein „law & order Gesetz“, was bis heute dazu führt,
dass vor allem schwarze Amerikaner_Innen schon beim kleinsten
Vergehen hart bestraft werden. Oder brachte er das Gesetz durch, dass
viele Schulden von Privatpersonen bei Insolvenz nicht mehr gestrichen
werden können, sodass vor allem die Arbeiter_Innenklasse für immer
mit der Last von Studien-, Gesundheits- und Kreditkartenschulden zu
kämpfen hat, während große Betriebe weiterhin gerettet werden. An
seiner Seite hat er Kamala Harris als Vize-Präsidentin, die zwar von
Republikaner_Innen abfällig als „Marxistin“ bezeichnet wird,
sich aber noch nicht mal zu den geringsten arbeiter_Innenfreundlichen
Reformen durchringen kann wie der allgemeinen, staatlichen
Krankenversicherung. Kein Wunder also, dass sich viele progressive,
junge Wähler_Innen jetzt schon von den Demokrat_Innen abgewandt und
gegen eine Stimmabgabe entschieden haben. Der fehlende Enthusiasmus
für Biden hat sicherlich mit reingespielt, dass das Rennen zwischen
ihm und Trump so knapp war.

Wie die Wahl
gelaufen ist

Notfalls mit
Gewalt. Gewalt der Waffen oder der Gerichte. Fest steht: Obwohl Biden
schon als Präsident ausgerufen wurde, ist die Wahl noch nicht
vorbei, da Trump und seine Anhänger_Innen mit allen Mitteln daran
festhalten. Doch dass Trump nicht gehen will und selbst
„demokratische“ Gerichte ihn wahrscheinlich nicht stoppen können,
hat er bereits vor der Wahl vorbereitet. In diversen Staaten hat er
ihm treue Richter_Innen an die obersten Gerichtshöfe gebracht und
vorher schon mal behauptet, dass die ganze Wahl manipuliert sei. Sein
Sohn Donald Trump jr. sprach sich angeblich sogar für den „Totalen
Krieg um die Wahl“ aus.

Noch in der Nacht
der Wahlen hat Trump seinen Sieg ausgerufen, obwohl die Auszählungen
noch in vollem Gange waren. Er war zu diesem Zeitpunkt noch in
Führung, aber das lag daran, dass die Brief- und Frühwahlen, die
deutlich mehr von Biden-Supportern genutzt wurden, erst später
gezählt werden. Diese Reihenfolge hat er selbst erwirkt und es
gehörte sicherlich zum Kalkül, dass er vielleicht durch eine frühe
Ausrufung als Präsident taktische Vorteile hat. Je länger die
Auszählungen dauerten, desto schlechter sah es für Trump aus und
desto verzweifelter wurden seine Vorwürfe, dass ihm hier gerade die
Wahl geklaut wird. Bei den Auszählungen in den heiklen Bundesstaaten
wurde von Trump wahlweise gefordert, dass man aufhören sollte oder
unbedingt weitermachen sollte, zu zählen, je nachdem, wie es gerade
stand. Einige Republikaner_Innen wollten auch die Häuser stürmen
oder zumindest stören, in denen gezählt wurde. Zu größeren
Aufmärschen oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen, wie ja oftmals
befürchtet wurde, kam es bislang noch nicht.

Nach langem
Warten sind nun die meisten Staaten (zumindest ein erstes Mal)
ausgezählt und Biden als Präsident abgesichert. Er hat in den
relevanten Staaten, denn die meisten haben seit Jahrzehnten ihre
Farbe (Blau= Demokratische Partei, Rot= Republikanische Partei) nicht
geändert, einen Vorsprung erzielt. Diese so genannten Swing States
sind u.a. Pennsylvania oder Arizona.

Dabei ist zu
berücksichtigen, dass nicht nur viele Menschen von der Wahl direkt,
sondern auch indirekt ausgeschlossen sind und gleichzeitig das
Wahlsystem auch unter bürgerlichen Maßstäben ungerecht und
undemokratisch ist. Am Ende entscheiden nicht nur einfache Worte,
sondern auch einfache Mehrheiten, die dann durch Wahlmänner(!)
abgebildet werden. Im Winner-takes-it-all-Prinzip könnte es sein,
dass 49% der Wähler_Innen unsichtbar gemacht werden, weil sie als
Unterlegene nichts abbekommen.

Auch gewählt
wurden Sitze im Senat und im Repräsentantenhaus, das in
demokratischer Hand bleibt. Auch wenn Biden vereidigt wird, stehen
ihm aber möglicherweise der Senat sowie definitiv der Supreme Court
entgegen, der seine Chance auf „Reförmchen“ weiter schwinden
lässt. Gewonnen ist in den USA eben nicht zwangsläufig gewonnen.

Die Krise nach
der Wahl kommt so oder so.

Welche
Auswirkungen hat die US-Wahl für die amerikanische und
internationale Arbeiter_Innenklasse?

Die globale
Hegemonie der USA ist nur noch ein Traum jener, die die letzten 30
Jahre im Winterschlaf verbracht haben. China, Russland und die EU
sind längst Blöcke, die zumindest mitreden wollen, wo als nächstes
einmarschiert wird. Es könnten ja potenzielle Bündnispartner_Innen
(aka Syrien) oder Länder sein, aus denen sich dann Geflüchtete in
die EU aufmachen (wieder Syrien). Biden als Präsident wird
wahrscheinlich noch mehr als Trump ins Schwimmen zwischen den
Interessen des Kapitals kommen, das sich daran gewöhnt hat,
international eine Rolle zu spielen. Eine Rolle, die gerne auch
militärisch verteidigt wird. Sein Fokus wird sein, die alte Ordnung
aus diplomatischen und strategischen Beziehungen wiederherzustellen.
Die Frage ist, wie sehr diese Ordnung nicht vorher schon am Ende war.

Im Inneren
tatsächlich etwas zu verändern, wenn er das denn überhaupt möchte,
wird auch schwer werden. Trump hat eine konsequente Politik der
Verneinung der Interessen der Unterdrückten gefahren und sie
verhöhnt und an den Rand getrieben, wo es nur ging. Biden wird wohl
eher versuchen, durch Augenwischerei und kleine Reförmchen „das
Land zu einen“, ohne dabei dem Kapital auch nur den geringsten
Schaden zuzufügen. Denn nicht nur der wahrscheinlich mehrheitlich
republikanische Senat, sondern nun auch die konservative Besetzung
des Supreme Courts werden jedem Angriff auf Kapitalinteressen massiv
im Weg stehen. Zu allem Übel gibt es noch den Druck von der Straße
durch die extreme Rechte. Leidtragender all dessen wird weiterhin der
prekäre Teil der US-Bevölkerung sein. Dies wiederum wird die
Polarisierung und Abstieg prekärer Schichten weiter vorantreiben-
die Frage ist nur, wie tief es in den USA noch geht, wo im Frühjahr
bereits Millionen Menschen durch den Jobverlust das Äquivalent zur
Tafel aufsuchen mussten, um überhaupt etwas zu essen zu bekommen.

Von Biden ist
also nicht zu erwarten, dass er die soziale, politische oder
wirtschaftliche Krise auch nur befrieden kann. Hinzu kommen noch die
Pandemie und die Umweltkrise. Gerade letztere hat nicht nur interne
Folgen, sondern auch für die gesamte Welt, da die Klimakrise kein
nationales Problem ist und somit auch nicht national gelöst oder
ignoriert werden kann. Jedoch wird ein Fortschreiten dieser Krise
Migration, Armut und Umweltkatastrophen auch weit über die Grenzen
der USA hinaus Auswirkungen haben.

Unsere
Perspektive: Verbesserung braucht die Macht von Unten!

Trump war nicht
der Präsident der Minderheiten, nicht der Präsident der Frauen*.
Zieht man dann noch die jugendlichen Massen auf der Straße ab, die
sich gegen die Stimmabgabe entschieden haben, bleibt nur ein
kleinerer weißer Teil, deren Präsident Trump war und weiterhin als
Ideal bleiben wird. Doch Biden ist nicht der Heilsbringer. Er
repräsentiert den rechten Flügel der demokratischen Partei, die
schon immer kapitalfreundlicher und rechter als europäische
bürgerliche Arbeiter_Innenparteien war. Er ist kein progressiver
Kopf, der sich an die Spitze einer antirassistischen,
antisexistischen und sozialen Bewegung setzen könnte. Niemand, der
diejenigen im Land abholt, die die letzten Jahre und Jahrzehnte
gelitten haben unter der Politik, die überhaupt erst den Boden für
den Aufstieg eines Trumps geschaffen hat.

Die Spaltung der
Arbeiter_Innenklasse begründet sich nicht auf der rassistischen
Politik Trumps, sondern den Auswirkungen der Krise von 2008 und somit
systemimmanenten Spaltungsmechanismen. Man kann also nicht darauf
vertrauen, dass sich der Kapitalismus von selbst wieder zum Guten
richtet. Es brennt und brodelt an alle Ecken und Enden. Eine radikale
Kehrtwende ist das Einzige, was den Arbeiter_Innen, Demonstrant_Innen
und Unterdrückten in der USA noch bleibt.

Doch die
zahlreichen Proteste der letzten Monate sind eine große Hoffnung.
Ihnen fehlt bisher nur eine Führung, was nicht zuletzt mit der
Schwäche und dem niedrigen Organisationsgrad der US-Gewerkschaften
zusammenhängt. Dennoch müssen bestehende Strukturen genutzt und die
Kämpfe zusammengeführt werden. Geeint ist jede Bewegung stärker!
Was den USA fehlt ist eine Arbeiter_Innenpartei. Und zwar keine
kleine Zelle, sondern eine, die sich auf den Massen stützt und aus
den Massen hervorgeht. Ein stärkendes Moment könnte es sein, durch
Massenproteste und Streiks nun Trump, der sich ans Weiße Haus
klammert, aus selbigen hinauszubefördern. Im Zuge solcher Proteste
entstehen Strukturen, die auch auf Biden Druck ausüben und
hoffentlich auch die Frage auf die Tagesordnung setzen können, ob
wir nicht eigentlich eine ganz andere Vertretung brauchen!

Eine
Massenpartei, die auf der Grundlage der arbeitenden Bevölkerung dem
System Druck macht. Eine Massenpartei, die tatsächlich die Macht des
„US-Establishment“ angreift und ihre Interessen durch die eigenen
ersetzt. Eine Massenpartei, die sich für Frauen*rechte einsetzt, die
rassistische Strukturen der US-Polizei durch gewählte
Arbeiter_Innenmilizen ersetzt und der Massenarbeitslosigkeit anstelle
von Fracking o.ä. mit sozialstaatlichen Maßnahmen wie
Umschulungsprogrammen in überholten Branchen begegnet.

Wir fordern:

Proteste reichen lange nicht! Für den Aufbau einer revolutionären Arbeiter_Innenpartei!

Brot, Gesundheit
und Frieden für Alle!

Streikt Trump aus
dem Weißen Haus!

Freilassung aller
politischer Gefangener und Demonstrant_Innen!




#ENDSARS: Nigerias Jugendbewegung gegen Polizeigewalt & ihre Perspektive

Vor
circa 2 Wochen brachen in Nigeria im ganzen Land Proteste aus.
Tausende junge Menschen wehren sich gegen die anhaltende und brutale
Polizeigewalt, die vor allem von der Sondereinheit „SARS“
ausgeht.
Sie
werfen der „Anti-Überfalleinheit“ wiederholte
Raubüberfälle und Misshandlungen von Zivilist_Innen vor und fordern
deren Auflösung. Nach einer Woche heftiger Proteste, in denen auch
eine Polizeistation in Flammen aufging, kündigte Nigerias Präsident
Muhammadu Buharu an, dieser Forderung nachzukommen. Doch darauf kann
man sich nicht verlassen! Dies ist bereits die 4. Ankündigung dieser
Art in den letzten Jahren. Und passiert ist nichts! Die Menschen sind
wütend, der Protest richtet sich längst auch schon gegen die
Regierung als Ganzes.

Diese
scheint mit der Situation sichtlich überfordert zu sein, denn auch
wenn dies von offizieller Stelle geleugnet wird, eröffnete das
Militär in Lagos das Feuer auf friedliche Demonstrant_Innen. Sie
schossen auf die mutigen Menschen, die sich dem ungerechten und
mörderischen System widersetzen. Über 50 Zivilist_Innen wurden
mittlerweile im Zuge der Proteste getötet. Die Regierung hat eine
Ausgangssperre verhängt, nachdem in Benin fast 2.000 Häftlinge aus
einem Gefängnis befreit wurden, doch die Menschen lassen sich nicht
einschüchtern und kämpfen weiter! Richtete sich ihr Protest anfangs
allein gegen SARS, wurden die Forderungen mittlerweile ausgeweitet.
Sie fordern den Rücktritt des Präsidenten und ein Ende der massiven
Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig absurd hohen Gehältern der
PolitikerInnen. Diese Protestwelle ist vor allem ein Protest der
Jugend, denn mit einem Durchschnittsalter von 18 Jahren ist Nigeria
die jüngste Region der Welt und Jugendliche leiden besonders unter
den prekären ökonomischen Verhältnissen: Nur eine Minderheit der
Schul- und Hochschulabsolvent_Innen hat eine Arbeit, von der sie
leben kann und Migrationswege in den Rest der Welt sind dank der
europäischen Grenzpolitik mittlerweile versperrt. Diese
Perspektivlosigkeit einer ganzen Generation hat sich nun in Wut
umgewandelt. Dabei ist es sicherlich kein Zufall, dass die politische
Krise Westafrikas mit der schwersten Wirtschaftskrise dieses
Jahrhunderts zusammenfällt: Durch die enormen Einbrüche im
Außenhandel des Ölstaates hat sich die Lebenssituation vieler
Menschen noch einmal drastisch verschlechtert. Millionen von
Menschen, die vorher knapp über dem Existenzminimum lebten, rutschen
nun darunter und die ohnehin hohe Arbeitslosenquote von 27% steigt
weiter an. Die Übergriffe der SARS-Einheit haben nun das Fass zum
Überlaufen gebracht und eine Jugendbewegung geschaffen, die
entschlossen ist, sich nicht länger ihrer Ausbeutung zu beugen und
ihre Zukunft selbst gestalten will. Jetzt ist es an der Zeit, den
aufgeworfenen sozialen Forderungen eine antikapitalistische
Perspektive zu geben und die Massen der Arbeiter_Innen und
Student_Innen in Räten zu organisieren. Es darf kein Vertrauen mehr
in die Reformen der Regierung gesetzt werden. Stattdessen müssen die
AktivistInnen selbst demokratisch über ihre Zukunft entscheiden!

Wir,
von REVOLUTION solidarisieren uns ausdrücklich mit der kämpfenden
Protestbewegung in Nigeria! Das Regime, das brutal mit Waffengewalt
gegen die eigene Bevölkerung vorgeht muss entmachtet werden und die
Verantwortlichen zur Rechenschafft gezogen werden! Für eine
demokratische Bewegung der Arbeiter_Innen und Student_Innen, die der
Polizeigewalt & der Krise den Kampf ansagt!

Hoch die
internationale Solidarität!




5 Fragen, 5 Antworten: Indonesien – Zwischen Unterdrückung und Widerstand

Leila Cheng

Indonesien: Ein Land mit 264 Millionen Einwohnern und damit das 4. bevölkerungsreichste Land der Welt, sowie auch der größte Inselstaat. Dennoch ist es stark abhängig von ausländischen Konzernen und Banken. Und jetzt beschließt die Regierung ein Gesetz, das auf Kosten der indonesischen Arbeiter_Innen ausländische Investitionen und Unternehmen anlocken soll und damit die Abhängigkeit und die Armut der Massen verschärfen würde. Dagegen erhebt sich im ganzen Land verbissener Widerstand bis hin zu militanten Streiks! Die Hintergründe und Perspektiven wollen wir in diesem Artikel klären.

1. Wie zeigt sich die aktuelle Weltwirtschaftskrise in Indonesien?

Während
sich die Covid-19-Pandemie im Land wieder verstärkt und sich auch
hier bereits eine zweite Welle abzeichnet, werden von der Regierung
jede Menge neoliberale Reformen durchgedrückt. Privatisierungen,
Entlassungen und weitere Angriffe auf Arbeiter_Innenrechte, angeblich
um die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Doch was ist der
wirkliche Grund?

Staatsverschuldung und Wirtschaftskrise!

Im
Jahr 2018 betrug die Staatsverschuldung Indonesiens rund 30,3 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts (Unter anderem eine langfristige Folge der
Kredite des IWF nach der Finanzkrise 2008/2009) und stieg in der
Coronakrise noch weiter.
Hinzu
kamen massive privatwirtschaftliche Einbußen während der Pandemie:
Indonesiens Wirtschaftsleistung ist nach Angaben des Statistikamtes
BPS im 2. Quartal 2020 im Vorjahresvergleich um 5,3 Prozent
geschrumpft, was damit das schwächste Quartal seit der Asienkrise
des Jahres 1999 ist. Auch der Rückzug ausländischer Kapitale
während der Pandemie hat wirtschaftliche Einbußen gebracht. Zudem
musste die Hauptinsel Bali wegen Corona alle Tourist_Innen dieses
Jahres abweisen. Dies sorgt für wirtschaftlichen Einbruch bei einer
Insel, die fast komplett vom Tourismussektor abhängig ist.

Hinzu kommt das internationale Machtgefüge, in dem sich Indonesien befindet. Der Staat ist abhängig von den USA. Diese nutzen die Regionalmacht auch als Stützpunkt gegen ihren Hauptkonkurrenten China im Pazifik. Aber neben den engen militärischen Beziehungen gibt es auch große Mengen US-amerikanischer Kredite in Indonesien. Zudem ist das Land für viele transnationale, meist US-amerikanische Konzerne eine profitbringende Kapitalanlage, was durch das neue Gesetz mit verstärkter Ausbeutung der Arbeiter_Innen und weniger Umweltstandards verschärft werden wird. Aber warum machst sich Indonesien so abhängig von den USA? Wenn es amerikanische Weisungen und „Bitten“ ignorieren würde, würde es schnell weh tun, z.B. durch wirtschaftliche Sanktionen oder Rückforderung der Schulden oder sogar einen militärischen Einmarsch. Abgesehen davon wird die Wirtschaftsentwicklung, also die Hauptsektoren Bergbau (Export von Rohstoffen) und der Tourismussektor, ja meist von US-amerikanischen Konzernen dominiert. So ist zum Beispiel der größte Gold- und Kupferproduzent PT Freeport Indonesia ein US-amerikanisches Unternehmen, was auch gleichzeitig der größte Steuerzahler des Landes ist. Eine weitere große Einnahmequelle ist die Landwirtschaft: So ist Indonesien weltweit der größte Palmölproduzent, was zwar gewinnbringend aber auch sehr schädlich für die Umwelt ist, denn den Monokultur-Plantagen weichen die riesigen Urwälder, die im Grunde nur noch in Nationalparks existieren. Dieser Zweig wird von einem transnationalen Unternehmen aus Singapur dominiert. Hier zeigt sich die Konkurrenz, aber auch die Abhängigkeit von anderen Regionalmächten, die sich natürlich in erster Linie wirtschaftlich äußert.

2. Welche neoliberalen Reformen hat die Regierung beschlossen?

Die
Regierung hat 79 neue Gesetze (Omnibus Law beziehungsweise Gesetz zur
Arbeitsplatzbeschaffung) verabschiedet. Die Regierung behauptet: Die
Reformen
sollen Bürokratie abbauen, um
mehr ausländische Direktinvestitionen zu fördern, das
Wirtschaftswachstum zu unterstützen und Beschäftigungsmöglichkeiten
für Indonesier_Innen zu schaffen.

Doch
das Gesetz sorgt für massive Angriffe auf Arbeiter_Innenrechte,
leichtere Entlassungen,
Kurzzeitverträge, Lohnsenkungen (auch des Mindestlohnes), geringere
Abfindungen und die Auslagerung von Arbeitsplätzen. So können
imperialistische Staaten einfacher ihre billige und umweltschädliche
Produktion zur Profitmaximierung nach Indonesien auslagern. Dies
sorgt im Endeffekt nur für eine verstärkte Ausbeutung des
indonesischen Proletariats, das in Elend, Arbeitslosigkeit und Hunger
gedrängt wird.

Es
sorgt auch für eine verstärkte Ausbeutung der Natur, sowie eine
stärkere Umweltverschmutzung. Denn durch das Gesetz wird zudem die
Verpflichtung von Unternehmen gelockert, eine Analyse von
Umweltrisiken zu erstellen. Unmittelbare Folgen von
Umweltverschmutzung und Klimakrise sind Umweltkatastrophen wie
Überschwemmungen, die das Land knapp über dem Meeresspiegel immer
wieder stark belasten, sowie auch eine verstärkte Smogbelastung der
Städte, insbesondere der riesigen Slums.

Auch die Jugend und die Frauen der Arbeiter_Innenklasse sind besonders von den Reformen betroffen. Gerade Jugendliche und nicht voll arbeitenden Personen werden als erstes entlassen oder noch schlechter bezahlt. Zudem werden proletarische Jugendliche früher arbeiten müssen, wenn sich die Familie ihre Ausbildung/Studium nicht mehr leisten kann. Hinzu kommt, dass die Jugend noch am längsten leben wird: Sie wird mitbekommen, wie ihre Heimat aufgrund der Klimakrise immer mehr im Meer versinkt, sie wird hauptsächlich von den Umweltkatastrophen betroffen sein und sie wird vermutlich zu großen Teilen später vor den Überflutungen fliehen müssen. Auch Frauen werden eher entlassen oder schlechter bezahlt. Neben ihrer harten Arbeit haben sie auch noch zu großen Teilen unbezahlte Hausarbeit und Kindererziehung allein zu tragen. Nun soll durch eine Reform auch noch das Recht auf bezahlten Mutterschaftsurlaub eingeschränkt werden.

3. Wie sieht der Widerstand gegen diese Reformen aus?

ArbeiterInnen,
Student_Innen und Umweltschützer_Innen demonstrieren gegen die
neoliberalen Reformen während der Corona-Pandemie. Die großen
Proteste haben vor allem gesellschaftlichen und Klassencharakter.
Inzwischen hat sich die Union of all Indonesian workers (KSPSI), ein
mittelgroßer Gewerkschaftsbund (ca. 4,6 Millionen Arbeiter_Innen),
als teilweise führende Kraft der ArbeiterInnen herausgebildet. Die
KSPSI hatte bereits vor dem Beschluss des Gesetzes zu Streiks
aufgerufen. Der sehr viel größere und reformistischere indonesische
Gewerkschaftsbund (KSPI) hatte vereinbart, ein Team zur
Umformulierung des Gesetzesentwurfs des Omnibus Laws zu bilden. Wie
so oft sieht man hier den Verrat der Gewerkschaftsbürokratie, die
bei minimalen und reformistischen Forderungen stehen bleibt, anstatt
die die Massen in den Kampf zu führen.

Als
dies jedoch gescheitert ist und die Regierung dieses Gesetz
verabschiedet hat, haben sich die Gewerkschaftsverbände
KSPI,
KSPSI und die National Welfare Movement (GEKANAS) geeinigt und zu
3-tägigen Streiks (06.
bis 08. Oktober 2020)
aufgerufen.
Insgesamt wollten sie bis zu 5 Millionen ihrer Arbeiter_Innen zu
diesem Streik mobilisieren. In Wirklichkeit waren es
höchstwahrscheinlich noch viel mehr.
Insgesamt 32
Gewerkschaftsverbände, sowie Bauernverbände organisierten Streiks.
Es gibt aber keinen Überblick darüber, wie viele Streiks mit wie
vielen Teilnehmer_Innen tatsächlich stattgefunden haben.

Hier
zeigen sich zwei Dinge:

Erstens:
Wie eine kämpferische Basis, wenn sie konsequent kämpferisch
vorwärts geht, ihre reformistische und opportunistische Führung
zwingen kann, mitzuziehen. Immerhin gab es schon vorher Demos und
vereinzelte Streiks, die sich auch mit Hilfe der SPSI immer mehr
zuspitzten.

Und
zweitens: Welche enormen Ausmaße ein politischer Streik annehmen
kann.
Ein Beispiel für diese enormen Ausmaße ist ein Streik in einem
Frauenbetrieb: Dort mobilisierten 70.000 Arbeiterinnen in einer von
Asiens größten Schuhfabriken zum dreitägigen Streik.

Neben
den großen Streiks fanden, wie schon erwähnt, auch
Massendemonstrationen statt. Daran beteiligten sich auch viele
Student_Innen
(vor allem wegen der Auflockerung von Umweltschutzmaßnahmen). Da
zeigt sich auch, wie die Jugend in den Kämpfen mit ganz vorn dabei
ist. Dies ist ein Phänomen, was man weltweit betrachten kann, ob bei
den sozialen Protesten in Chile oder bei der internationalen
Umweltbewegung, so jetzt auch in Indonesien. In Indonesien haben sich
sogar bereits Ansätze der Organisation von Studierenden in
Räte-ähnliche Gremien gebildet, über die aber noch nicht viel
bekannt ist.

Doch wie sehen die Forderungen der Streiks und Demonstrationen aus? Es gibt eigentlich nur eine einheitliche Forderung und die lautet: Ersatzloser Verzicht auf das Gesetz! So ist es eine soziale Forderung und der Streik ein politischer Streik, aber revolutionär sind die Proteste damit noch nicht. Und das Problem, dass die kommunistische Partei Indonesiens seit 1965 verboten und damals ein Großteil der Kommunist_Innen ermordet wurde, macht es auch nicht besser. Dennoch sind die Proteste sehr fortschrittlich und können je nach der Entwicklung zu einem revolutionären Katalysator werden. Das liegt in ihrer letzten Besonderheit, der Vereinigung der antiimperialistischen, antikapitalistischen, Umwelt-, Jugend- und Antirepressions-Kämpfe, und vor allem ihrem im Grunde proletarischen Klassencharakter.

4. Wie sieht die Repression durch Staat und Kapital aus?

Wie
immer bei Protesten und Straßenkämpfen zwischen dem bürgerlichen
Staat und Demonstrant_Innen herrscht ein ungleiches Kräfteverhältnis.

Auf
der Insel Sumatra z.B. gingen Polizisten mit Tränengas gegen junge
Demonstrant_Innen vor, die Steine auf die Beamten geworfen hatten.
Auch in West Java kam es an dem Streiktag zu Zusammenstößen mit der
Polizei. In der Hauptstadt Jakarta versammelten sich Tausende
Student_Innen und Arbeiter_Innen vor dem Präsidentenpalast des
südostasiatischen Inselstaats. Als Steine geworfen wurden, setzte
die Polizei Tränengas und Wasserwerfer ein. Weitere Protestzüge
wurden aus Yogyakarta, Medan, Palembang und Makassar gemeldet.
Bereits am Tag vor den Streiks waren die Polizist_Innen zum Teil mit
Gummigeschossen gegen Demonstrant_Innen vorgegangen.

Die
Polizei begründete ihr hartes Vorgehen und das Verbot eines Teils
der Proteste mit Corona-Schutzmaßnahmen. Die besonders prekäre Lage
und Notwendigkeit der Proteste werden dadurch unmissverständlich
unterstrichen, dass man die Infektionsgefahr in Kauf nimmt, um die
eigene Lebensgrundlage zu sicher. Vielen Menschen dort geht es sehr
schlecht, genauso wie in vielen weiteren Ländern. Auch so lässt
sich eine Verbindung zu den momentanen Protesten in Chile ziehen. Nur
dass die Gewalt durch die Polizei dort noch viel enormer ist, man
erinnert sich nur mal an die massenhaften Vergewaltigungen von
Verhafteten und die mit Säure versetzten Wasserwerfer.

Auch in Indonesien setzte die staatliche Repression sehr stark auf Massenverhaftungen. Die Polizei meldete allein für den dritten Tag 3862 Festnahmen landesweit (darunter 796 “Anarchisten_Innen“). Die Massenverhaftungen trafen vor allem schwarz-gekleidete Jugendliche, die die Polizei für “Anarchisten_Innen“ hielt. Hier zeigt sich wieder eine bürgerliche Hetze, wonach Anarchismus nur Zerstörung und Durcheinander wäre und dass alle, die für soziale Ziele demonstrieren, als solche verrufen werden.

5. Was muss getan werden, damit die Proteste und Streiks eine Perspektive haben?


Unsere Klasse darf sich nicht
unterkriegen lassen unter einer bürokratischen Gewerkschaftsführung,
die auf einen Kompromiss mit dem Staat und den Unternehmen hofft.
Auch nach den 3 Tagen müssen die Streiks konsequent weitergeführt
werden!


Die
sozialen und antiimperialistische Forderungen sind gut, sollten aber
auch mit dem Kampf gegen die eigene Kapitalist_Innenklasse
verbunden werden und für Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien
unter ArbeiterInnenkontrolle einstehen!


Dafür sollte die Führung ein
konkretes revolutionäres Programm aufstellen, in dem die
Minimalforderungen (reformistische Forderung) der Ablehnung des
Gesetztes und die Ablehnung der Angriffe auf die Klasse mit
revolutionären und Übergangsforderungen bis hin zur sozialistischen
Revolution verbunden werden. Ein Problem dabei ist, dass es seit dem
bis heute anhaltenden Verbot der kommunistischen Partei von 1965
keine Arbeiter_Innenpartei in Indonesien gibt, sondern nur eine etwas
linkere stark populistische Partei, deren Führung aus
Gewerkschaftsverbänden besteht. Andererseits sind diese offenbar
bereit, unter dem Druck der Massen auch politische Streiks
durchzuführen.


Die gemeinsamen Kämpfe mit
der besonders unterdrückten Jugend sollten weiterhin geführt
werden. Die Jugend sollte sich jedoch noch in eigenen Organisationen
zusammenfinden, um auch spezifisch ihre Lage im kapitalistischen
System besprechen zu können. Die studentischen Räte sind gute
Ansätze dafür. Dasselbe sollte jedoch auch in Schulen und Betrieben
durchgeführt werden.


Zur besseren Koordinierung der
Demos sollten ArbeiterInnen-, Jugend- und Bäuer_Innenräte
eingerichtet werden und das Mittel des politischen Streiks bis zum
Generalstreik angewandt werden, da es den stärksten wirtschaftlichen
Druck ausübt.


aber die Bewegung kann nur
gelingen, wenn sie sich international koordiniert und mit anderen
sozialen Bewegungen vernetzt (wie z.B. der sozialen Bewegung in
Chile, den antimonarchischen Protesten in Thailand, Gewerkschaften in
den USA, …)




What the Fuck is wrong in the USA?!

Jan Hektik

Wenn bloß ein wenig darauf geachtet wird, was gerade in den USA so alles abgeht, verliert man schnell den Überblick. Es kommt einem so vor, als ob dort alles gleichzeitig zusammenbricht, sich aber trotzdem nicht wirklich etwas ändert. In diesem Artikel möchten wir kurz beschreiben, was eigentlich in den USA gerade schiefläuft. Kurze Antwort: Alles! In diesem Artikel wollen wir aber drei der Konflikte näher beleuchten. Erstens Corona und das Gesundheitssystem, zweitens die Wirtschaftskrise und das Sozialsystem und drittens Black Lives Matter und Rassismus. Alle diese Konflikte finden ihren Ausdruck auch im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf, also wird auf diesen auch in einem Abschnitt eingegangen werden.

Corona und Gesundheit

Die USA sind eines der am härtesten von der Pandemie getroffene Land mit Zehntausenden von Neuinfektionen täglich und massenhaft Toten. Warum ist das so?

Die einfache Antwort, die insbesondere die Demokraten gerne geben, ist wegen Trump. Doch auch wenn diese Aussage einen wahren Kern hat, so ist sie zumindest nicht ausreichend. Viel liegt auch an dem Gesundheits- und Sozialsystem, welches auch vor Trump in den Vereinigten Staaten schon bestand.

Das Gesundheitssystem in den USA basiert auf einer sehr starken und einflussreichen Pharmalobby (Big Pharma), welche ein gigantisches und profitables Netzwerk aus Versicherungen aufgebaut hat. Anders als in Deutschland gibt es keine staatliche Gesundheitsversicherung und auch keine Versicherungspflicht. Dadurch haben viele Menschen in den USA überhaupt gar keine Versicherung, besonders nicht die ärmeren. Gleichzeitig sind Preise für Medikamente und Behandlungen exorbitant hoch. 41% aller amerikanischen Personen im arbeitsfähigen Alter haben Probleme mit medizinischen Rechnungen oder zahlen medizinische Schulden ab.

Sind Menschen versichert, so sind sie es erstens meistens über ihren Job, zweitens unter strengen Bedingungen und drittens meist mit Selbstbeteiligung. D.h. auch wenn du versichert bist, kannst du trotzdem an den Kosten einer Krankheit zugrunde gehen.

Die Versicherungen funktionieren nach Netzwerken. Jede Versicherung hat ein Netzwerk. Ärzte, Krankenhäuser etc. können Teil dieses Netzwerk sein. Brauchst du eine Behandlung, geh besser in ein Krankenhaus, dass Teil des Netzwerks ist, ansonsten zahlt die Versicherung nicht.

Durch den Affordable Healthcare Act (Obamacare) wurde manche Missstände zwar abgeschwächt, in der Grundstruktur sind sie aber immer noch stark vorhanden.

Weiterhin trifft die Pandemie die USA so stark, weil im Gesundheitssektor durch die Ausrichtungen auf Wirtschaftlichkeit für die Bevölkerung relativ wenig Kapazitäten freistehen. Und schließlich wurde auf die Pandemie politisch von der Regierung langsam, zögerlich und minimal reagiert. Dies hat seinen Grund jedoch sehr stark in den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in den USA.

Die Wirtschaftskrise und das Sozialsystem in den USA

In den USA gibt es auch außerhalb des Gesundheitssystems kaum soziale Absicherungen, keine gesetzliche Rente (nur private Rentenversicherungen), sehr begrenzte und viel zu geringe Arbeitslosenversicherungen usw.

Das führt dazu, dass die Leute noch viel stärker auf ihre Jobs angewiesen sind als hier. Weiterhin gibt es auch keinen Kündigungsschutz und auch sonst kaum arbeitsrechtliche Regelungen zum Schutz der Beschäftigten, sowie generell eher schwache gewerkschaftliche Organisierung und kaum einheitliche Kämpfe. Das führt dazu, dass die Unternehmen in den USA, wenn sie ihre Produktion wegen Corona runterschrauben müssen, einfach massenhaft Leute entlassen können.
Die Gesundheitsversicherung über den Job ist dann weg.

Die Regierung hat den Lockdown lange hinausgezögert, ihn dann so minimal wie möglich durchgeführt, sodass die Infektionen trotzdem in die Höhe schossen (z.B. weil bei Amazon massenhaft Menschen unter massiven Zeitdruck arbeiten und keine Zeit haben sich die Hände zu waschen), woraufhin massenhaft Menschen entlassen wurden und ihre Versicherung verloren haben. Somit ist ein sich gegenseitig befeuerndes Verhältnis aus wirtschaftlicher und gesundheitlicher Krise entstanden woraus ein krasser Angriff auf die ärmsten Teile dieser Gesellschaft entstand.

In den USA stehen auf der einen Seite die Bourgeoisie (Corporate America) und ihre (offenen) Vertreter Trump, die Republikaner und die Rechte und auf der anderen Seite das Proletariat und in ihm besonders die unterdrücktesten Teile (People of Color, LGBTIA, Frauen). In den USA kann man besonders stark die Auswirkungen von wirtschaftlichen Nachteilen auf soziale und gesundheitliche Aspekte sehen. Gleichzeitig besitzen die Reichsten 1% mehr als die Hälfte der US-amerikanischen Bevölkerung.

All diese Probleme haben sich mit dem Eintritt der Krise, ausgelöst durch die Pandemie, plötzlich massiv verschärft. Besonders hart hat es People of Color und besonders die Schwarze Bevölkerung getroffen. Sie sind häufiger in schlechter bezahlten Berufen, schlechterer Gesundheitsversorgung, leben in infrastrukturell schlechteren Gebieten enger zusammen, haben weniger Absicherung bei Lohnausfällen oder Jobverlust und arbeiten überwiegend in Berufen die eine erhöhte Ansteckungsgefahr aufweisen. Der Rassismus in den USA hat somit eine ökonmoische Grundlage…und viel Sprengkraft.

Rassismus

Rassismus in den USA hat eine lange Geschichte und tiefe Verwurzelung. Er drückt sich neben der wirtschaftlichen in vielen anderen Formen aus. Eine ist die überproportionale Verfolgung von Schwarzen durch den Staat. 38,4% von allen Häftlingen in den USA sind Schwarz bei 12,7% der Bevölkerung, daneben sind 57,7% der Häftlinge weiß bei 72% der Bevölkerung.

In der Geschichte der USA gab es viele Bestrebungen den Gedanken der „weißen Rassenüberlegenheit“ (white supremacy) in der Gesetzgebung und der Exekutive zu verankern.

Die Polizei ist überproportional von Weißen besetzt wird, Tötungen durch die Polizei treffen unverhältnismäßig oft Schwarze Personen und Todesurteile treffen überproportional Schwarze Personen bei weißen Opfern. Rassismus durchzieht die gesamte Staatlichkeit der USA. Die Vorfälle in Kenosha, wo Jacob Blake von der Polizei ermordet wurde und in dem darauf folgenden Protest ein Rechter zwei BLM-Demonstrant_Innen ermordete, sind nur die Spitze des Eisbergs.

Der US-Amerikanische Wahlkampf

Im Sud dieser Konflikte brodelt der US-Amerikanische Wahlkampf. Für die Demokraten tritt Joe Biden an und für die Republikaner Donald Trump. Während die Republikaner die rechten Teile der Gesellschaft und den rechten Flügel der Bourgeoisie vertreten, versuchen die Demokraten, welche den etwas linkeren Teil der Bourgeoisie vertreten, gleichzeitig möglichst viele progressive Stimmen abzufangen.

Die Republikaner

Zunächst zum Wahlkampf der Republikaner, dieser stützt sich vor allem auf drei Punkte: Law and order (Recht und Ordnung), Kampf gegen den Sozialismus und Garant der individuellen „Freiheit“ (der Reichen und Weißen).

Law and Order ist der republikanische Propagandabegriff für die brutalste Niederschlagung jeglichen Widerstandes gegen Ausbeutung und Unterdrückung, sowie die Art und Weise der Durchsetzung der oben genannten Krisenlösung von Kürzungen und Angriffen auf die ärmsten Teile der Bevölkerung.

Die Kosten der Krise auf die unterdrückten Teile der Gesellschaft abwälzen, das wollen beide Parteien. Die Fragen, über die sie sich uneinig sind, drehen sich nur um die Intensität und die Durchführung dessen.

Die BLM-Proteste werden als Plünderer bezeichnet und rechte Milizen und Polizei zu Hütern von Recht und Ordnung verklärt. Das Ganze eben unter dem Deckmantel gesellschaftlicher Regeln und wer sich nicht an diese halte, müsse hart bekämpft werden.

Im Kampf gegen den Sozialismus wird sich im Endeffekt auf Bernie Sanders bezogen und die Politik der Bewegung, die ihn unterstützt hat, auf Biden übertragen, ohne dass dafür eine tatsächliche Grundlage besteht. Biden ist ein Musterschüler des US-Imperialismus, Sanders ein sozialdemokratisch angehauchter Reformer.

Weiter geht’s mit der individuellen „Freiheit“ als klassischem Thema der Rechten in den USA. Patriotismus und Nationalismus sind eng verbunden mit diesem Begriff von Freiheit. Hier verbindet sich auch Law and Order mit Antisozialismus. Soziale Programme werden als Eingriffe in die Freiheit dargestellt, Privateigentum der Kapitalist_Innen und damit verbundene Ausbeutung als Ausdruck dieser Freiheit.

Die Demokraten

Biden dagegen stützt sich eigentlich nur auf zwei Punkte: Anti-Trump und im Winde wehen.

Biden und Trump führen den Wahlkampf der Persönlichkeiten. Viel der Debatte geht um das Alter von Biden oder die Unfähigkeit von Trump. Eigentlich ist Bidens Hauptargument: „Wählt mich, denn ich bin nicht Trump“ und „Ich war Vize unter Obama“.

Das sind vermutlich auch die beiden Hauptpunkte, mit denen er sich gegen Sanders durchsetzen konnte. Einerseits hatte er insbesondere unter älteren Menschen hohe Zustimmungswerte, besonders unter Schwarzen über 40, andererseits kam sein plötzlicher Zuwachs nachdem Obama dazu aufgerufen hat für ihn zu stimmen. Obama wird von vielen als linker wahrgenommen als er eigentlich war, insbesondere im Kontrast zu seinem Nachfolger. Die Hauptauseinandersetzung zwischen Biden und Sanders war Bidens Argument, Sanders sei zu links, um gegen Trump zu gewinnen. Dass dies nicht zutrifft, zeigt sich auch schon an der großen Zustimmung, die Sanders unter eher republikanisch geprägten Teilen der Bevölkerung hatte aufgrund der hohen Beliebtheit seiner Gesundheitsreform und einem stärkeren Klassenbezug.

Sanders großes Problem war eigentlich nicht mit der Demokratischen Partei zu brechen. Zwar ist er an sich ein Unabhängiger, der nur 2016 und 2020 jeweils zu den Wahlen den Demokraten beitrat. Jedoch hat er erst Hillary Clinton und dieses Mal Biden unterstützt, nachdem er die Wahl um die Kandidatur verloren hat. Jeder Beobachter_In klar ist, dass seine Ziele und erst recht die weitergehenden Ziele der Bewegung niemals mit dem Establishment der Demokraten, welches durch Clinton und Biden repräsentiert wird, umsetzbar sind.

Die DSA

Durch die Kandidatur zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten von Bernie Sanders wurde 2016 in den USA eine Debatte gestartet, die zu einer gesteigerten Popularität sozialistischer Begriffe, Phrasen und Politik geführt hat. Er hatte damals (und erneut dieses Jahr) unter anderem gefordert, alle privaten Krankenversicherungen abzuschaffen und durch eine staatliche zu ersetzen, welche bessere Bedingungen als in den meisten europäischen Ländern geschaffen hätte, eine stärkere Besteuerung der Reichen, verbunden mit großen Sozialprogrammen, und sich explizit an die arbeitende Bevölkerung und die Gewerkschaften gewandt und mit ihnen zusammen gearbeitet.

Gleichzeitig hat sich die Bewegung um ihn mit Black Lives Matter und Protesten von Latinos vernetzt. Dies ist der bisherige Höhepunkt einer Entwicklung, die mit den Protesten von Occupy Wallstreet begann und die Organisierung und den Klassenbezug stetig erhöht hat. Auch untypisch für den US-Wahlkampf war Sanders‘ Methode nicht auf seine Persönlichkeit, sondern auf seine Forderungen und eine Bewegung zu setzen. Auch dies hat ermöglicht, dass die Democratic Socialists of America (DSA) in 2016 von unter 10.000 auf 35.000 und 2019 auf 55.000 Mitglieder anwuchsen.

Die DSA ist eine Partei, deren Politik in Deutschland als sozialdemokratisch gelten würde. Sie stützt sich auf die Arbeiter_Innenklasse und benennt diese klar als Bezugspunkt. Auch ihre Versuche sich mit Gewerkschaften zu vernetzen und eine Verbindung der Kämpfe von Antisexismus, Antirassismus und gewerkschaftlichen Kämpfen herzustellen sind vielversprechend. Einerseits stellt dies eine große Chance für Kommunist_Innen dar, Menschen für die kommunistischen Ideen zu begeistern und andererseits ist eine unabhängige Organisierung auch ein notwendiger Schritt zu einer klassenunabhängigen, wenn auch noch nicht unbedingt revolutionären Politik. Alleine schon die Existenz einer unabhängigen Massenarbeiter_Innenpartei in den USA wäre ein großer Fortschritt und die Bereitschaft in den linken Teilen der Gesellschaft und auch in der DSA, mit den Demokraten zu brechen, ist hoch wie nie. Gerade die Konflikte um Sanders und die Demokraten haben dies verstärkt.

Verhältnismäßig viele der linkeren Teile der demokratischen Basis sind dazu geneigt Unabhängige zu wählen. Das ist für die USA besonders bedeutsam, da historisch nie mehr als zwei große Parteien ernsthafte Chancen auf die Präsidentschaft hatten. Dies wird immer als Totschlagargument gegen die Gründung und Wahl neuer Parteien benutzt. Doch es geht in Wirklichkeit darum einen gesellschaftlichen Wandel zu bewirken und das ist nur durch die Aktion möglich, durch die Organisierung von Protesten, Strukturen und Streiks. Mit der wachsenden sich als sozialistisch verstehenden Bewegung, Black Lives Matter, Solidaritätsstreiks im Profisport und vielen Produktionszweigen und der Debatte um Krise von Wirtschaft und Gesundheit, die durch die Pandemie losgetreten wurde, ist dies eine der besten Gelegenheiten für den Aufbau einer unabhängigen Arbeiter_Innenpartei, die es jemals gab.

Wer gewinnt, Biden oder Trump?

Das ist schwer zu sagen, da ihre Prognosen eng beieinander liegen. Es wird an den Zielen ihrer Politik aber nicht viel ändern. Beide beabsichtigen die Krise mit Förderung der Kapitalist_Innen und Angriffen auf die Arbeiter_Innenklasse zu beantworten. Der Unterschied liegt hauptsächlich in der Art und Weise. Unter Trump werden die Angriffe mit härteren Mitteln und offenerem Rassismus durchgeführt werden. Man kann auch nicht sagen, dass es überhaupt keinen Unterschied macht, wer gewinnt, allein schon weil die Wahl eines offenen Rassisten wie Trumps auch als Gradmesser für das Bewusstsein der US-amerikanischen Bevölkerung verstanden werden muss. Aber an den kapitalistischen Grundbedingungen wird sich nichts ändern, keiner von beiden wird das Gesundheitssystem reformieren, keiner wird Streikende unterstützen oder Klasseninteressen ansprechen und keiner von beiden wird den rassistischen Polizeiapparat angehen. Biden sagte dazu bloß, es sei ja ein Unterschied, ob man Polizisten beibringe auf den Kopf oder die Beine zu schießen. Und genau diese Art von Kandidat stellt er dar. Er ist der Einen-Schuss-in-die-Beine-statt-in-den-Kopf-Kandidat.

Warum kein Schuss in die Beine?

Immer noch besser als ein Kopfschuss, also Biden wählen. Könnten wir jetzt sagen. Sagen wir aber nicht, denn wie sollen wir als Revolutionär_Innen die Klasse für unsere Ideen gewinnen, wenn wir sie dazu aufrufen sich für einen Schuss in ihre Beine stark zu machen. Und wir haben ja oben ausführlich geschildert, dass Biden eben nicht die Interessen der Arbeiter_Innenklasse vertritt, sondern nur eine andere Strategie der bürgerlichen Klassenherrschaft, die sich eher zufällig an manchen Punkten mit progressiver Politik verwechseln lässt.

Was jetzt in den USA notwendig bleibt, ist das Nutzen von Wahlkampf und den Bewegungen, um eine Organisation aufzubauen, die die Interessen der Klasse und der Unterdrückten auch außerhalb von Wahlen unterstützt. Die es z.B. fördert, wenn Schwarze Communities selbst Patrouillen durch ihre Nachbarschaft schicken, um sich vor Rechten, Kriminalität aber auch der Polizei zu schützen. Oder die Gewerkschaften dazu drängt den Schulterschluss mit den antirassistischen und antisexistischen Kämpfen zu suchen. Und zu guter Letzt braucht es den Kampf um eine unabhängige Arbeiter_Innenpartei, in der Kommunist_Innen für ein revolutionäres Programm kämpfen, die die Kosten der Krise Trump, Biden und Co. zahlen lässt!




„Lesbos ist für uns ein Gefängnis!“

„Lesbos ist für uns ein Gefängnis!“Nach dem Brand im Lager Moria: Das vieler Geflüchteter
hat sich trotz hehrer Versprechen weiter verschlechtert. Wir sprachen vor Ort
mit Bahal über die aktuelle Situation auf der griechischen Insel Lesbos.

REVO: Die Lage auf der Insel ist nach dem Brand in Moria besorgniserregend. Aber kannst du zuerst erzählen, wie dein Leben auf der Insel bisher verlaufen ist, ehe wir über die aktuelle Situation sprechen?

Als ich damals mit meiner Familie auf einem Schlauchboot mit
35 weiteren Menschen von der Türkei auf die griechische Insel Lesbos gekommen
bin, war ich 21 Jahre alt. Heute bin ich 25 und ich habe das Gefühl, den
Großteil dieser Zeit allein mit Warten verbracht zu haben: Stundenlanges Warten
in der Essensschlange auf eine Mahlzeit; Warten auf eine freie Toilette;
Warten, dass wieder ein Monat vorbei ist, damit ich die rationierte Dusche
benutzen darf; Warten, dass ich aus der Zelle entlassen werde, in die ich grundlos
inhaftiert wurde; Warten, dass die Nacht vorbei geht, die mich vor Angst nicht
schlafen lässt; Warten bis mein Asylantrag bearbeitet wird.

REVO: Wo hast du in dieser Zeit des Wartens gelebt?

Über mehrere Jahre hinweg haben meine Familie und ich in
einem Zelt in „Moria“, dem größten Camp der Insel, gelebt. Neben mangelnder
Nahrungsversorgung und schlechten Hygienebedingungen hatte ich dort als Frau
zusätzliche Probleme. Sexuelle Gewalt ist nämlich Alltag im Camp: Ob durch
nächtliche Überfalle oder in der Essensschlange. Ich habe mich nicht getraut,
nachts auf die Toilette zu gehen.

REVO: Wo lebst du heute und hat sich deine Situation dort verändert?

Seit 3 Monaten wohnen meine Familie und ich im
selbstorganisierten Camp „PIKPA“. Solidarische Inselbewohner und Geflüchtete
haben das Camp vor einigen Jahren zusammen aufgebaut und für bis zu 100 Menschen
dort einen Ort zum Leben geschaffen. Und mit „Ort zum Leben“ meine ich wirklich
einen Ort, an dem ich mich halbwegs sicher fühle. Dieses Gefühl hatte ich,
seitdem ich in Europa bin, noch nie. Ich konnte viel Kraft aus meiner neuen
Lebenssituation schöpfen. „PIKPA“ bedeutet für mich, dass „Moria“ nicht
alternativlos ist. Das Camp wurde speziell für besonders schutzbedürftige
Menschen wie schwangere Frauen, Menschen mit Behinderung, Familien mit mehreren
kleinen Kindern und Opfer von Folter errichtet.

REVO: Der griechische Migrationsminister Panagiotis Mitarakis hat vor Kurzem verkündet, „PIKPA“ bis zum 31.10.20 räumen zu wollen. Sein Ziel scheint es zu sein, jede menschlichere Alternative zu „Moria 2.0“ aus dem Weg zu räumen. Wie haben du und die anderen Bewohner_innen diese Ankündigung aufgenommen?

Ich würde sagen, dass ich seit einer Woche nur weine, aber
dafür reichen meine Tränen nicht. Seitdem wir davon gehört haben, müssen wir
nun auch hier in Angst und Verzweiflung leben. Unsere Sorge ist groß, dass wir
nun auch im neu errichteten Camp „Moria 2.0“ untergebracht werden. Niemand
sollte in diesem Gefängnis leben müssen und umso gefährlicher ist es dort für
die Leute aus „PIKPA“, die eigentlich besonders schutzbedürftig sind.

REVO: Nachdem das ursprüngliche Massencamp „Moria“ im September dieses Jahres abgebrannt ist, haben die griechischen Behörden mit Hilfe der EU ein neues Camp („Moria 2.0“) auf einem ehemaligen Schießübungsplatz des Militärs errichtet. Über 10 000 Menschen wurden bereits dort untergebracht. Was weißt du über die Situation dort?

Im Gegensatz zum abgebrannten „Moria-Camp“ wurde das
provisorische Zeltlager als eine geschlossene Einrichtung gebaut. Die Bewohner
dürfen es nur mit schriftlicher Ausgangserlaubnis verlassen. Ihre Situation hat
sich deshalb sogar noch verschlimmert. Die ärztliche Versorgung wurde bis auf
ein Team, das für Corona-Tests zuständig ist, quasi eingestellt. Es herrscht
ein großes Chaos und die griechische Polizei agiert sehr respektlos gegenüber
den Bewohnern. Freunde von mir, die nun dort wohnen müssen, durften sich noch
kein einziges Mal duschen. Hinzu kommt, dass es auch sehr wenige Toiletten
gibt, was angesichts der Pandemie-Gefahr ein besonders großes Problem darstellt.
Mittlerweile gibt es mehrere hundert Infizierte im neuen Camp.

REVO: Obwohl die EU und die griechische Regierung den Geflüchteten auf Lesbos nach dem Brand in „Moria“ versprochen haben, die Situation zu verbessern, haben sich eure Lebensbedingungen tatsächlich verschlechtert. Was würdest du den EU-Politiker_innen gerne sagen?

Ich würde mir wünschen, dass diese Leute mal einen einzigen Tag in „Moria 2.0“ verbringen. Vielleicht würde das ihre Meinung ändern. Die ganze Insel Lesbos ist für uns ein Gefängnis. Doch wir haben nichts verbrochen. Niemand hat es deshalb verdient, hier eingesperrt zu werden. Wir haben ein Recht auf Bildung, Arbeit, Sicherheit und ein Dach über dem Kopf. Für alle Geflüchteten auf den griechischen Inseln sollte es die Möglichkeit geben, sicher auf das Festland weiterreisen zu können!

Interview erschien zu erst in der Jungen Welt vom 7.10.2020, Online unter: https://www.jungewelt.de/artikel/387801.festung-europa-lesbos-ist-f%C3%BCr-uns-ein-gef%C3%A4ngnis.html




Was ist „Racial Profiling“?

Luisa Muth

Weltweit
werden Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Hautfarbe oder
Religion rassistisch diskriminiert, erfahren Respektlosigkeit,
Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Gewalt. Rassismus ist eine
Ideologie, welche die Menschen in verschiedene „Rassen“ einteilt
und diese hierarchisch einstuft. Die Hautfarbe wird als bestimmender
Faktor eines Menschen gesehen und seine Wertigkeit danach
eingeordnet.

„Racism is a social disease.“

Es
durchzieht unsere Gesellschaft und Politik. Bereits im Grundgesetz
finden wir im Artikel 3 das Wort „Rasse“ vor. Die
Auseinandersetzung mit dieser Begriffsschwierigkeit hat im
deutschsprachigen Raum gerade erst begonnen. People of color
(Menschen, die in der Mehrheitsgesellschaft als nicht-weiß angesehen
werden und Rassismuserfahrungen machen müssen) sind überall von
Rassismus betroffen, ob in den (Berufs-)Schulen, an den
Universitäten, beim Amt, am Arbeitsplatz oder im Alltag. Rassismus
wird auf unterschiedlichste Arten und Weisen sichtbar: Von
herablassenden Blicken, über verbal diskriminierende Sprache bis hin
zu rassistisch motivierter Gewalt und Terroranschlägen wie zuletzt
im Februar in Hanau.

Auch
in staatlichen Strukturen ist Rassismus präsent: Vor allem in der
Polizei, die eigentlich für Sicherheit sorgen und unser
wohlgemeinter „Freund und Helfer“ sein sollte – und zwar für
alle Menschen, die hier leben – unabhängig von ihrer Herkunft oder
Hautfarbe. Dies sieht in der Realität jedoch oft ganz anders aus:
Racial Profiling ist leider ein alltäglicher Vorgang. Ob am Bahnhof,
in den Parks oder sonstigen öffentlichen Plätzen, an denen sich
viele Menschen aufhalten, werden Personen aufgrund ihres Aussehens
scheinbar willkürlich und ohne Grund durchsucht und ihre Personalien
werden aufgenommen. Dies bestätigen viele Aussagen von Betroffenen.
Allein ihre Hautfarbe wird als Anlass genommen, sie zu kontrollieren,
ohne dass sie sich etwas haben zuschulden kommen lassen.

Rassismus hat System

Dies wird auch bei den Vorfällen im Juni in Stuttgart erkennbar. Viele Journalist_Innen und die Polizei machten für die Ausschreitungen vor allem Deutsche mit Migrationshintergrund verantwortlich. Es zeigt uns, dass sie sogleich den Migrationshintergrund als Ursache dieses Verhaltens ausmachten. Wie schon bei anderen Vorfällen auch voreilige, auf Vorurteilen beruhende Reaktionen und Schlussfolgerungen der Polizei getroffen wurden, stellte sich auch dieses Mal dies als eine falsche Information heraus. Nur weniger als die Hälfte der Jugendlichen waren Deutsche mit einem Migrationshintergrund. Nun macht die Polizei die „Party- und Eventszene“ für die Ausschreitungen verantwortlich. Die gravierenden Falschinformationen der Polizei sorgten für starke Kritik.

Justiz
und Innenministerium wollten die Polizei auf rassistische Tendenzen
hin prüfen, welches Seehofer jedoch mit der Aussage „Racial
Profiling sei in der Polizei sowieso verboten und deshalb gäbe es
das dort auch nicht“, verhinderte. Damit ist die auch von der
Bundesregierung vorgeschlagene Studie wieder vom Tisch.

Rassismus
innerhalb der Polizei führt nicht „nur“ zu Racial Profiling und
vermehrter Gewalt gegenüber People of Color, sondern auch zu Mord.
In den USA gehören rassistisch motivierte Polizeigewalt und Morde
zum Alltag. Georg Floyd zählte zu einem der zahlreichen Toten durch
polizeiliche Gewalt. Damit wurde wieder das Leben eines Menschen
aufgrund seiner Hautfarbe sinnlos ausgelöscht.

Aber nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland fanden POC durch Polizeigewalt ihren Tod. Bis heute sind die Umstände des Todes von Oury Jalloh, Amad Ahmad oder Matiullah J. nicht aufgeklärt. Beamte decken Beamte, sogar wenn jemand getötet wurde und der Staat tritt die Gerechtigkeit mit Füßen! Bis heute gibt es keine unabhängige Beschwerdestelle, die in Fällen von Polizeigewalt neutral ermitteln könnte.

Woher kommt Rassismus?

Die
Ideologie des Rassismus war vorherrschend in der Epoche des
europäischen Kolonialismus und Imperialismus bis nach dem zweiten
Weltkrieg. Diese Ideologie diente der Rechtfertigung des
Kolonialismus, der Sklaverei, den Verbrechen der Nazis und der
Apartheid.

Das
Entstehen von Ungleichheiten und Hierarchien im Kapitalismus sollte
auch unter dem Blickwinkel von Rassismus betrachtet werden. Der
Kapitalismus etabliert sich daher über rassistische Hierarchien.
Der
Wille des Kapitals ist es, die Bevölkerung anhand von ethnischen,
religiösen und nationalen Unterschieden zu spalten, indem er
Misstrauen und Hass gegeneinander schürt, um so seine Herrschaft zu
sichern und einen Zusammenschluss aller unterdrückten und
ausgebeuteten Menschen gegen das Kapital zu verhindern und von den
gesellschaftlichen Problemen abzulenken. Die tatsächliche Teilung
der Gesellschaft auf Grundlagen der ökonomischen Klassen wird somit
auch verschleiert. Um es verständlicher auszudrücken: Eine
entlassene Person wird nicht gegen die Firmenleitung protestieren,
wenn sie für die Entlassung „die Ausländer“ verantwortlich
macht.

In
diesem Sinne sind auch z.B. die Aushebelung des Asylrechts und die
rassistische Hetze durch alle bürgerlichen Parteien zu verstehen.
Die Gesetzesverschärfungen werden mal eben mit der rassistischen
Aussage erklärt, dass man sich damit gegen die Massen von
„Terrorist_Innen“ unter den Flüchtlingen schütze. Mit dieser
rassistischen Lüge lassen sich auch vermehrte Überwachung und
Polizeibefugnisse rechtfertigen. Und mit der islamophoben These, dass
der Islam das Hauptproblem Deutschlands sei, lässt sich auch
insgesamt von den katastrophalen Auswirkungen der kapitalistischen
Politik Deutschlands ablenken und Kriege wie in Afghanistan, Syrien
oder Mali rechtfertigen.

Die
Polizei setzt die rassistische Regierungspolitik in die Tat um. Sie
schließt die Grenzen, greift „illegale“ Migrant_Innen auf und
führt Abschiebungen durch. Sie ist also mit der Aufgabe betraut,
gegen den deklarierten ausländischen Feind vorzugehen. Legitimiert
wird diese Politik mit dem angeblichen Schutz unserer Kultur und dem
Kampf gegen Terrorismus. Die Polizei ist daher einer der maßgeblichen
Ausdrücke dieser Politik.

Im
Kampf gegen den Rassismus und die Repressionen der Polizei fordern
wir:

  • Kein
    Racial Profiling! Hartes Aburteilen von Polizist_Innen, die Racial
    Profiling anwenden!
  • Schränkt den Handlungsraum der Polizei ein: Keine verdachtsunabhängigen Kontrollen, keine Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren, keine Begriffe wie „drohende Gewalt“!
  • Defund the police! Keine Finanzierung der Polizei. Das Geld brauchen wir für Sozialleistungen, Bildung oder sozialen Wohnugsbau!
  • Die Einrichtung unabhängiger Untersuchungsstellen für Vorfälle von (rassistischer) Polizeigewalt und Racial Profiling: Die Polizei darf sich nicht länger selbst überwachen!



Bergkarabach: Krieg droht zum Flächenbrand zu werden

zuerst veröffentlicht unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/10/02/bergkarabach-krieg-droht-zum-flaechenbrand-zu-werden/

Martin Suchanek, Neue Internationale 250, 2. Oktober 2020

Am Morgen des 27. September eskalierte der seit über drei Jahren mal offen ausgetragene, mal vor sich hin schwelende Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Aserbaidschanische Truppen beschossen Stepanakert, die Hauptstadt von Bergkarabach (Nagorny Karabach), einer armenischen Enklave, die formell zum Staatsgebiet Aserbaidschans gehört, aber seit Mitte der 1990er Jahre faktisch als unabhängige Region mit Armenien eng verbunden ist und um ihre internationale Anerkennung ringt. 2017 erklärte sich Bergkarabach unabhängig unter dem Namen Republik Arzach, wird aber seither international nicht anerkannt.

Reaktionärer Angriff

Die Bombardierung durch die Armee Aserbaidschans stellt eine qualitative Verschärfung der Kampfhandlungen im schwelenden Konflikt dar, der schon seit Juli von beiden Seiten verstärkt bewaffnet ausgetragen wird.

Die Führung Aserbaidschans unter dem autokratischen Präsidenten Alijew steht ihrerseits unter Druck extrem nationalistischer oppositioneller HardlinerInnen, die der Regierung zu große Nachgiebigkeit gegenüber Armenien und Bergkarabach vorwerfen. Eine Mobilisierung gegen den Erzfeind Armenien, militärische Erfolge im umkämpften Grenzgebiet und erst recht die Rückeroberung Bergkarabachs wären für das Regime angesichts einer tiefen Wirtschaftskrise, grassierender Korruption und sinkender Öl- und Gaspreise (und damit der wichtigsten Einnahmequelle des Landes) ein „Befreiungsschlag“. Und wie so oft wird ein nationalistischer Angriff als Selbstverteidigungsaktion legitimiert. Die massiven Artillerieangriffe auf armenische Siedlungen am 27. September wurden vom Verteidigungsministerium Aserbaidschans als „Gegenoffensive“ deklariert, „um Armeniens militärische Aktivitäten zu stoppen und die Sicherheit der Bevölkerung zu schützen“.

In Wirklichkeit ist der Angriff eindeutig reaktionärer Natur. Im Falle eines Erfolges würde die armenische Bevölkerung Bergkarabachs zu einer unterdrückten Nation, ihr Selbstbestimmungsrecht mit Füßen getreten werden. In Aserbaidschan würde die Herrschaft der OligarchInnen und des seit 15 Jahren mit halb-diktatorischen Mitteln regierenden Präsidenten Alijew neue Legitimität erhalten. Nicht nur die Minderheiten, sondern auch die ArbeiterInnenklasse und die Jugend, die als Kanonenfutter im reaktionären Waffengang verheizt werden soll, wären verstärkter, nationalistisch legitimierter Unterdrückung ausgesetzt.

Angesichts dieser Lage gilt unsere Solidarität allen Kräften der Linken, wie der Azerbaijani Leftist Youth (http://www.criticatac.ro/lefteast/anti-war-statement-of-azerbaijani-leftist-youth), die sich dem reaktionären, nationalistischen Treiben widersetzen und ein Ende des Angriffs fordern.

Zweifellos kann die Bevölkerung Bergkarabachs ein legitimes Recht auf Selbstbestimmung (und Selbstverteidigung) für sich reklamieren. RevolutionärInnen, ja alle DemokratInnen sollten ihr Recht anerkennen, selbst zu entscheiden, ob sie einen eigenen Staat gründen oder sich Armenien anschließen wollen.

Wurzeln des Konflikts und Armeniens Rolle

Ginge es nur um Bergkarabach und die Frage von dessen Selbstbestimmungsrecht, so wäre der Charakter des Gesamtkonflikts recht einfach zu bestimmen. Doch im seit über drei Jahrzehnten offen ausgetragenen Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien verhält sich die Sache nicht so unkompliziert.

Gegen Ende der Existenz der Sowjetunion brach der selbst weit zurückliegende Konflikt um Bergkarabach offen aus. In der UdSSR war die Region entgegen dem Willen der armenischen Bevölkerung Aserbaidschan zugeschlagen worden. Mit dem Zerfall der Sowjetunion reklamierte diese erneut  das Recht auf Lostrennung für sich und stieß dabei auf den erbitterten Widerstand Aserbaidschans. Das Land befand sich auf dem Weg in die Unabhängigkeit und die NationalistInnen – ihrerseits ehemalige ParteibürokratInnen und städtische Intellektuelle – wollten nicht auf Bergkarabach verzichten, lehnten sowjetische Vermittlungsversuche ab und suchten eine militärische Lösung.

Am Beginn des von 1992 bis 1994 andauernden offenen Krieges schienen die Streitkräfte Aserbaidschans als Siegerinnen hervorgehen – nicht zuletzt aufgrund ihres brutalen Vorgehens, das tausenden ZivilistInnen das Leben kostete und in barbarischen Massakern ganzer Dörfer gipfelte. Doch das Blatt wendete sich. Die militärischen Verbände Armeniens und Bergkarabachs waren nicht nur in der Lage, die Enklave zu verteidigen, sondern eroberten auch mehrere Provinzen, die Armenien von dieser trennten. Diese mehrheitlich aserbaidschanischen Siedlungsgebiete wurden unter dem Kommando des nicht minder brutal vorgehenden armenischen Nationalismus ethnisch gesäubert. Er beschränkte sich offensichtlich nicht auf die Unterstützung der eigenen Verbündeten, sondern vertrieb hunderttausende AserbaidschanerInnen aus sieben Bezirken, die seit dem Waffenstillstand 1994 von Armenien kontrolliert werden.

Bis 1994 wurden über 1,1 Millionen Menschen aus Aserbaidschan und Armenien vertrieben, also fast 10 % der gesamten Bevölkerung der beiden Staaten. 25.000 bis 50.000 Menschen starben nach unterschiedlichen Schätzungen. Seit damals befinden sich Armenien und Aserbaidschan in Lauerstellung. Nicht nur die Frage Bergkarabachs ist ungelöst. Beide Seiten verweigern die Rückkehr hunderttausender Geflüchteter.

Reaktionärer Nationalismus auf beiden Seiten

Der Nationalismus wurde faktisch zur Staatsdoktrin beider Seiten einschließlich einer oft extremen religiösen und ethnischen Überhöhung. Seit 1994 kam es immer wieder zu begrenzten bewaffneten Konflikten zwischen den beiden Parteien, zuletzt im sog. „Vier-Tage-Krieg“ 2016.

Beide Staaten erlebten zwar einen massiven ökonomischen Einbruch nach dem Zerfall der Sowjetunion, auf deren gesamtstaatliche Arbeitsteilung ihre Wirtschaftsplanung bezogen war. Der Maschinenpark in der Industrie war weitgehend veraltet. Die Einführung der Marktwirtschaft und die Privatisierungen nahmen die Form einer Plünderung, einer Art ursprünglicher Akkumulation durch mafiöse, oligarchische Strukturen an.

Beide Staaten bzw. deren Regime unterhielten weiter enge wirtschaftliche Beziehungen zu Russland. Dieses fungierte als Moderator zwischen den befeindeten Seiten – sei es auf eigene Rechnung, sei es im Rahmen der sog. Minsker Gruppe, die 1993 zur Vermittlung und Befriedung des Konflikts ins Leben gerufen wurde und neben Russland auch solche Staaten wie Deutschland, Frankreich und die USA umfasst. Im Grunde wurde der Konflikt eingefroren. Die UN verweigert die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes von Bergkarabach. Umgekehrt wurden dessen enge Verbindung mit Armenien und eine Wirtschafts- und Währungsunion ebenso faktisch geduldet wie die armenische Kontrolle über Gebiete mit ehemals aserbaidschanischer Mehrheitsbevölkerung.

Armenien und Aserbaidschan bezogen beide den größten Teil ihrer Waffen aus Russland, wenn auch zu unterschiedlichen Konditionen. So musste das öl- und gasreiche Aserbaidschan zu Weltmarktpreisen kaufen, während die armenische Armee zu günstigeren, russischen „Inlandspreisen“ aufrüsten konnte. Auch Serbien verkaufte an beide „befreundete“ Staaten, während Israel und die Türkei exklusiv an Aserbaidschan lieferten.

Während sich die Regionalmacht Türkei als Schutzpatronin Aserbaidschans ins Zeug legt und extrem aggressive Töne anschlägt, band sich Armenien stärker an Russland und den Iran. Dieser ist der wichtigste Energielieferant des Landes. Russland ist faktisch die Schutzmacht Armeniens, unterhält dort mehrere Militärbasen. Außerdem ist das Land Mitglied in den von Russland dominierten wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bündnissen, in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wie auch in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), dem von Russland dominierten Gegenstück zur NATO.

Warum jetzt?

Dass der Konflikt im Juli wieder bewaffnete Formen annahm, inkludiert möglicherweise auch ein zufälliges Element. So ist bis heute umstritten, wie die ersten Kampfhandlungen in den letzten Monaten ausgelöst wurden.

Wir können jedoch drei Faktoren ausmachen, die das Gleichgewicht unterminierten, das seit 1994 zu einem brüchigen Waffenstillstand geführt hatte und von der Minsker Gruppe und insbesondere auch von Russland weiter „vermittelt“ worden war.

Erster besteht in der politischen und wirtschaftlichen Instabilität beider Staaten. Beide sind nicht nur hart von der Weltwirtschaftskrise betroffen, beide Länder werden auch von repressiven, kapitalistischen und anti-demokratischen Regimen geführt, selbst wenn sich der armenische Präsident rühmt, über die samtene Revolution an die Macht gekommen zu sein. Für beide bietet der Nationalismus daher eine Möglichkeit, von inneren Konflikten abzulenken und die „Einheit des Volkes“ zu beschwören.

Zweitens haben sich aber die wirtschaftlichen Gewichte zwischen den Staaten verschoben. Aserbaidschan verfügt, anders als Armenien, über große Öl- und Gasvorkommen und damit Devisenquellen, auch wenn dieser Reichtum vor allem der kapitalistischen Oligarchie und den führenden Schichten im Staatsapparat zugutekommt. Die Rendite aus dem Öl- und Gasexport konnte Aserbaidschan aber auch für Rüstungsausgaben verwenden, die jene Armeniens in den letzten Jahren um das Fünffache übertreffen. Angesichts der Ziele des Regimes (und der nationalistischen Opposition) dürfte es nur zu verlockend sein, die größeren wirtschaftlichen Reserven und die militärische Aufrüstung in Gebietsgewinne praktisch umzumünzen.

Drittens sind es die veränderten geo-strategischen Verhältnisse, die diesen Konflikt befeuerten – insbesondere die wachsende Rivalität zwischen dem russischen Imperialismus und der Regionalmacht Türkei. Diese beiden geraten schließlich nicht nur im Kaukasus, sondern auch in Syrien und Libyen aneinander, was den Konflikt noch explosiver macht.

Auch wenn EU und USA vor allem als VermittlerInnen agieren wollen, wenn beide mit größeren inneren Problemen und anderen Prioritäten konfrontiert sind, so ist es fraglich, dass v. a. die USA abseits stehen werden, falls sich der Konflikt verschärft oder regional ausweitet, also z. B. der Iran hineingezogen wird.

Drohender Flächenbrand

Der Konflikt um Bergkarabach und der drohende Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan droht somit leicht zu etwas Größerem zu werden, so wie die Balkankriege vor 1914 leicht zu einem Weltkrieg hätten werden können.

Beide Seiten, Aserbaidschan und Armenien, lehnen bisher jede Vermittlung ab, beide haben das Kriegsrecht verhängt. Beide beschuldigen andere Mächte mit mehr oder minder viel Recht der Unterstützung der Gegenseite. Während sich die Türkei offen und ganz hinter Aserbaidschan, logistische Hilfe stellt und reaktionäre MilizionärInnen aus dem Syrien-Krieg als „Freiwillige“ schickt, bezichtigt sie den Iran und Russland der Unterstützung Armeniens.

Zur Zeit zieht Russland (und wohl auch China und der größte Teil des Westens) eine „friedliche“ Lösung, also das weitere Einfrieren des Konflikts vor. Das würde Russland enge Verbindungen zu Aserbaidschan und Armenien und eine dominante Rolle erlauben. Eine geostrategische Expansion der Türkei kann es hingegen schwer dulden, weil diese seine Rolle als Ordnungsmacht sowohl in Eurasien als auch im Nahen Osten und im Mittelmeer schwer erschüttern würde.

So würde sich die OVKS als Papiertigerin entpuppen, wenn sie ein in Bedrängnis geratenes Armenien und das von ihm gestützte Bergkarabach nicht einmal gegen aserbaidschanische Kräfte und wachsenden Einfluss der Türkei schützen könnte.

Die Kriegsgefahr ist real. Der Konflikt kann sich leicht zum Flächenbrand ausweiten, selbst wenn das niemand will, denn jede Aktion der einen Seite droht eine Reaktion der anderen hervorzurufen. Selbst wenn die groß-türkische Rhetorik Erdogans teilweise „nur“ leeres Gerede sein mag, so können gerade bonapartistische Regime wie das seinige den Bogen ihrer außenpolitischen Abenteuer leicht überspannen – mit fatalen Konsequenzen.

Welche Perspektive?

Die internationale ArbeiterInnenbewegung und die gesamte Linke müssen der nationalistischen Mobilmachung auf beiden Seiten und jeder Einmischung der Türkei, Russlands und anderer Mächte entschieden entgegentreten. Es gilt, alle Kräfte in Armenien und Aserbaidschan zu unterstützen, die sich einem drohenden Gemetzel widersetzen, und diese durch Aktionen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten insbesondere in der Türkei und Russland zu stärken.

Ein zentrales Mittel zum Stopp der geo-strategischen Interventionen der Türkei und Russlands (wie anderer Mächte) besteht im Kampf gegen die autokratischen Regime Erdogans und Putins selbst.

Um dem Nationalismus in Armenien und Aserbaidschan eine politische Alternative entgegenzusetzen, braucht es aber auch ein Programm, das eine Lösung der drängenden demokratischen und sozialen Fragen leisten kann.

Das beinhaltet die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes aller Nationen, also auch der Bevölkerung von Bergkarabach. Es beinhaltet ebenso das Recht auf Rückkehr aller Vertriebenen und Geflüchteten des Krieges und die Entscheidung über den weiteren Status der durch die armenischen Streitkräfte besetzten Bezirke durch die Bevölkerung. Das Selbstbestimmungsrecht bildet im Kaukasus – ähnlich wie auf dem Balkan – dabei nur ein Element der Lösung der nationalen Frage. Das andere muss in der Bildung einer freiwilligen Föderation der Staaten des Kaukasus bestehen, um so offene Grenze zwischen den verschiedenen Regionen zu gewährleisten.

Demokratie und Sozialismus

Wie die Geschichte der Sowjetunion, vor allem aber der Restauration des Kapitalismus gezeigt hat, ist eine demokratische Lösung der nationalen Frage untrennbar mit der Klassenfrage verbunden, der Frage, in welchem Interesse die Ökonomie organisiert wird. Auf der Basis von oligarchischem Kapitalismus, neoliberalem Markt, Mangel, Arbeitslosigkeit und Armut werden immer wieder reaktionäre, nationalistische oder rassistische Scheinlösungen von den Herrschenden präsentiert werden.

Der Kampf um das Selbstbestimmungsrecht und eine Föderation der Staaten des Kaukasus muss daher verbunden werden mit dem für revolutionäre Arbeiter- und Bauern-/Bäuerinnenregierungen und die Bildung einer sozialistischen Föderation auf Basis demokratischer Planwirtschaften.




Black Lives Matter – 5 Fragen, 5 Antworten

Leila Cheng, Felix Ruga

In
den USA wird an den momentanen
Black-Lives-Matter-Protesten sichtbar, dass Polizist_Innen eben nicht
unsere Freund_Innen und Helfer_Innen sind. Die Aufgabe der
staatlichen Exekutive ist es, die Herrschaftsverhältnisse, also die
Herrschaft der Kapitalist_Innen und des Staates,
aufrechtzuerhalten und das natürlich auch mit Gewalt. Neben
der Unterdrückung von explizitem Widerstand gegen dieses System
(z.B. Niederschlagung von Demos oder Streiks) geht von den
staatlichen Strukturen auch eine rassistische Gewalt aus.
Das ist einerseits ein Resultat der Konkurrenz zwischen den Staaten
und andererseits ein Mittel der Herrschenden, die
Arbeiter_Innenklasse zu spalten. Hier zeigt sich, was bereits der
afro-amerikanische
Bürgerrechtsaktivist Malcolm X in den 1960ern sagte: „You can’t
have capitalism without racism“ (Es gibt keinen Kapitalismus ohne
Rassismus). In dieser Analyse stellen wir uns 5 Fragen zu den
antirassistischen Protesten in den USA.

Was ist der Auslöser der Proteste?

25. Mai 2020, Minneapolis, Minnesota, die Vereinigte Staaten von Amerika. Ein weißer Police Officer, Derek Chauvin, greift zusammen mit seinen Kollegen Tou Tha, Thomas Lane und J. Alexander Kueng den 46-jährigen Afroamerikaner George Floyd auf. Ein Ladenbesitzer, bei dem Floyd Zigaretten kaufte, hat wegen angeblicher Verwendung von Falschgeld die Polizei angerufen. Die Polizisten, die sich daraufhin auf den Weg machen, gehen wie gewohnt mit einem Afroamerikaner um. Sie bedrohen ihn mit einer Waffe und nehmen ihn gewaltsam fest, indem er gewürgt und ihm die Luft abgedrückt wird. Das Ganze dauert 9 Minuten an. Später wird ein Krankenwagen gerufen, doch Floyd stirbt, bevor sie das Krankenhaus erreichen. Eine alltägliche Situation in den USA wäre das ganze nur nicht als Video in der ganzen Welt publik geworden.

Eine
alltägliche Situation? Ja, dieser Mord ist kein Einzelfall! Man muss
sich nur die rassistischen Morde von Polizist_Innen in den letzten
Jahren anschauen, denn die Liste Schwarzer
Opfer von Polizeigewalt ist lang: 2014 wurde der 18-jährige Schüler
Michael Brown von dem Polizisten Darren Wilson in Missouri (USA)
erschossen, März 2020 wurde Breonna Taylor in Louisville (USA) oder
im Juni 2020, wo der vierfache, afroamerikanische Vater Rayshard
Brooks in Atlanta von Polizist_Innen erschossen wurde. 2019 war es in
den USA zweieinhalb so wahrscheinlich als Afroamerikaner_In
erschossen zu werden als als Weiße_R.

Wie entwickelten sich die Proteste?

Das Video verbreitete sich rasant in den sozialen Medien und die Proteste entzündeten sich schnell und kraftvoll. So mussten die vier beteiligten Polizisten innerhalb kürzester Zeit aus dem Dienst entlassen werden, um die Menschen zu besänftigen. Doch die Proteste wurden über die folgende Woche immer kämpferischer. Diese hatten ihren Höhepunkt in der Nacht vom 28. zum 29. Mai, in der Aktivist_Innen den 3. Polizeibezirk der Stadt niederbrannten. Die Proteste entwickelten sich zu einer Rebellion, die sich mit enormer Geschwindigkeit auf die gesamten USA ausweitete. Momentan ist die Dynamik nicht mehr so umfassend wie anfangs, jedoch gibt es einige Zentren, in denen die Bewegung weiterhin sehr präsent ist und regelmäßig Proteste stattfinden, vor allem Seattle, Portland und Chicago.

Initiiert
und angeführt werden die Proteste von Black Lives Matter (BLM), die
in den vergangenen Jahren zur Speerspitze des Widerstandes gegen
rassistische Polizeigewalt geworden ist. BLM ist selbst heterogen und
dezentral, aber weit verbreitet und bringt immer wieder zehntausende
Menschen auf die Straße. Dazu beteiligen sich linke und
antifaschistische Gruppen, ihr Umfeld, eher unpolitische Menschen und
ein großer Teil der Black Community. Aber auch die Demokratische
Partei solidarisierte sich mit den Protesten. Das ist aber eigentlich
höchst widersprüchlich, hat die Demokratische Partei doch in den
vorherigen Jahren selbst rassistischer Polizeigewalt Vorschub
geleistet (stop-and-frisk, Broken-Windows-Theorie) und lässt auch in
demokratischen Bundesstaaten den größten Teil der Gelder in die
Polizei fließen.

Ein wichtiger Faktor beim Gelingen der Bewegung ist die weltweite Solidarität. Nicht nur in den USA, sondern weltweit schlossen sich Millionen von Menschen der Black Lives Matter-Bewegung an. Hierbei spielten für die Mobilisierung auf Demonstrationen und Kundgebungen auch die sozialen Medien eine wichtige Rolle. All diese Proteste haben die Gemeinsamkeit, dass sie sich gegen Rassismus in staatlichen Strukturen und Polizeigewalt richten und diesen Fakt international kritisieren. Denn nicht nur amerikanische Polizist_Innen begehen Morde aus rassistischen Hintergründen. So ereignete es sich 2005 in Deutschland, dass der westafrikanische Einwanderer Oury Jalloh in einer Zelle in Dessau verbrannte, wobei der Polizeibeamte freigesprochen wurde. Im Februar dieses Jahres gab es einen furchtbaren Mord an 9 Nichtweißen durch einen Nazi in Hanau.

Was ist die Situation zwischen den Protesten und dem Staat?

In der Gemengelage der Proteste werden einige Forderungen klarer: Die erste ist die Gerechtigkeit für George Floyd in Form einer Anklage gegen alle beteiligten Polizisten wegen Mordes. Die zweite ist das Ende rassistischer Polizeigewalt und rassistischer Morde in den USA. Weitere Forderungen sind unter anderem: Das Ende der Ungleichbehandlung von Afroamerikaner_Innen im Bildungs-, Gesundheitswesen und Beruf oder öffentliche Gelder von der Polizei in die öffentliche Versorgung zu verschieben (#defundthepolice). Einige Forderung deuten auch auf die sich aktuell anbahnende Wirtschaftskrise hin: Die Anzahl der gemeldeten Arbeitslosen stieg seit Ausbruch von Corona sehr stark an und liegen nach leichter Entspannung jetzt bei um die 25 Millionen Menschen. Arbeitslosenzahlen, die es seit der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre nicht mehr gab, vor einem Jahr waren es nur knapp 1,7 Millionen! Bei den momentan durchgeführten Massenentlassungen wurden Afroamerikaner_Innen und andere People of Colour meist zuerst entlassen. Hier zeigt sich auch, weshalb die Solidarität der Arbeiter_Innenklasse mit der Bewegung so wichtig ist. .

Der
Staat hingegen reagierte sofort mit massiven Repressionen:
Massenhafter Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen, Aufmarsch
der Nationalgarde plus die Drohung mit der Armee, Einschränkungen
von Grundrechten in vielen Städten, Gewalt und Verhaftungen
begleitet von Hetze und Diffamierungen durch Präsident Trump und den
Republikaner_Innen. Amnesty International sprach in einem Bericht von
Anfang August von „schweren Menschenrechtsverletzung“ gerade im
Umgang mit friedlichen Protestierenden und Journalist_Innen. So wie
die Unterdrückten von der Krise bedroht sind, so ist es
in anderer Hinsicht auch
die Vormachtstellung der US-amerikanischen Bourgeoisie und das lässt
ihr wenig Spielraum für jegliche soziale Reformen und tatsächlichen
Abbau von Unfreiheit und Ausbeutung. In der wirtschaftlichen
Konkurrenz mit China oder der EU wird die herrschende Klasse nur mit
großem Unwillen auf die Massen an extrem billigen Arbeiter_Innen im
durchökonomisierten Gefängnissystem und die Vorteile einer
Steueroase verzichten wollen. Und da die Krise die Konkurrenz nur
verschärft, ist die einzige Möglichkeit der Herrschenden die
gewaltsame Zerschlagung der Proteste.

Warum wird es keinen Kapitalismus ohne Rassismus geben?

Es
ist unmöglich diese Frage in einem kurzen Absatz zu erklären, aber
wir haben sie ausführlicher in unserem Programm und in anderen
Texten auf unserer Homepage behandelt. Letztendlich
dient Rassismus im Kapitalismus als Rechtfertigung dafür, dass
imperialistische Nationen andere Länder unterdrücken und ausbeuten
oder dass man nichtweißen Arbeiter_Innen einen schlechteren Lohn
zahlt und sie gegen ihre Klassengeschwister ausspielt.

Wie kommt die Bewegung zum Erfolg?

Die Proteste machen auf eine zentrale Form der Unterdrückung aufmerksam und führen gerade in Zeiten wirtschaftlicher Krisen zum öffentlichen Druck auf Staat und Kapital. Sie erreichten, dass die Mörder von Floyd entlassen wurden und dass es eine Anklage gegen Chauvin und die anderen Cops gab, die tatenlos danebenstanden. Auch ist das Thema nun politisch sehr präsent. Aber die Frage ist nun, auf welchem Weg man den Kampf gegen Probleme wie den institutionelle Rassismus zum Erfolg führen kann.

Eine
zentrale Frage der Bewegung ist die Gewaltfrage und auch in der
deutschen Linken gibt es seit Beginn der Proteste eine Debatte um
„sinnlose Gewalt“ auf den US-amerikanischen Straßen. Viele
verurteilen diese Gewalt und werben für „friedliche“ Proteste.
Wenn man die Proteste genau betrachtet, fällt auf, dass der größte
Teil der Gewalt aus
den Repressionen durch den US-amerikanischen Staat besteht,
auf die ein großer
Teil der Gewalt durch Demonstrant_Innen erst
eine
Reaktion ist.
Sowieso stehen kleine Plünderungen oder Vandalismus in keiner
Relation zur tagtäglichen Gewalt des Staates und des
kapitalistischen Systems und wir sollten es als legitimen Ausdruck
von Wut und Verzweiflung nicht moralisch verurteilen. Und nicht jede
Gewalt dort ist sinnlos. Beispiele sind die Angriffe auf die
Polizeiwache oder koloniale Denkmäler. Wir wollen aber über die
individuellen und oftmals ziellosen Aktionen hinaus und stattdessen
demokratisch wähl- und abwählbare, bewaffnete
(Selbstverteidigungs-)Milizen aus Arbeiter_Innen, Schwarzen
und anderen in der bürgerlichen Gesellschaft unterdrückten Gruppen
aufbauen, um dabei eine rechenschaftspflichtige und taktische Kraft
zu kreieren. Dafür sind die existierenden Ansätze von
Selbstverwaltung und massenhafter Militanz gute Möglichkeiten.

Doch um sich effektiv gegen die Gefahr der Zerschlagung durch Staat und faschistische Milizen zu wehren und die oben besprochene kapitalistische Grundlage des Rassismus‘ zu überwinden, braucht es auch eine klare antikapitalistische Perspektive, also auch die klare Ablehnung des bürgerlichen Staates an sich. Stattdessen setzen bislang viele Demonstrant_Innen auf Reformen innerhalb von Polizei und Justiz, die aber zu kritisieren sind. Reformen können erstens immer wieder abgeschafft werden und zweitens greifen sie die objektive Grundlage, den Privatbesitz an den Produktionsmitteln und eine Wirtschaft, die auf Tausch und Leistung beruht (Kapitalismus), nicht an. Die kürzlich vorgebrachten Reformpakete sowohl von den Demokrat_Innen aber erst recht von den Republikaner_Innen sind mehr als unzureichend und sind eher Kaschierung des Problems, indem sie meinen, das Problem sei die Praxis des Würgegriffs an sich und ist sie erstmal eingeschränkt, sei es halb so wild.

Es
gibt jedoch auch Teile der Bewegung, die sehr wohl offen die Polizei
und den Staat zerschlagen wollen und diese müssen dafür nun ein
klares Bild zeichnen, wie das geht: Wir brauchen eine Bewegung, die
sich auf weitere Teile der Gesellschaft und damit auch auf weitere
Themen ausbreitet, sodass ein Kampf aller Unterdrückten unter
Führung der Arbeiter_Innen gegen die Krise und das gesamte System
geführt wird. Forderungen wie bedingungsloses Recht auf Wohnraum,
Krankenversorgung, Arbeit und kollektiven Selbstschutz müssen
aufgestellt werden und größere Organisationen wie Gewerkschaften
und progressive Bewegungen offen dazu aufgerufen werden, sich an den
Kämpfen zu beteiligen. Darum braucht es auch eine solidarisch und
zielstrebig geführte Debatte innerhalb der BLM-Bewegung, die sich in
einer demokratischen Konferenz konstituiert und damit wehrhafter und
taktischer vorgehen kann und es einen Raum gibt, in dem sich die
wirklich radikalen Forderungen beweisen können. Mit einer größeren
gesellschaftlichen Basis sind neben Demonstrationen auch weitere
massenhaften Widerstandsformen wie der politische Streik oder
Betriebsbesetzungen verteidigt durch die demokratischen
Selbstverteidungsstruktuen möglich, mit denen man die herrschende
Klasse dazu zwingen kann, unsere bitternötigen Forderungen
umzusetzen und eben Platz zu machen für eine antirassistische,
solidarische und soziale Gesellschaft!

Daher
treten wir ein für:

  • Aufbau
    von demokratisch
    kontrollierten antirassistischen Milizen
    aus Arbeiter_Innen, Schwarzen
    und anderen in der bürgerlichen Gesellschaft unterdrückten Gruppen
    gegen Rassist_Innen und Faschist_Innen auf der Straße ob
    mit oder ohne Uniform!
  • Wahl
    von Volkstribunalen, um kein Vertrauen in bürgerliche Gerichte
    setzten zu müssen
  • Die
    Gewerkschaften sollen sich der Bewegung anschließen! Setzt die
    reformistischen Führungen unter Druck! Gegen
    die Spaltung von weißen und nichtweißen Arbeiter_Innen, für einen
    gemeinsamen Mindestlohn!
  • Verankert
    die Bewegung mit demokratischen Komitees in
    den Stadtteilen, Betrieben, Universitäten, Schulen, verbindet
    den Kampf auf den
    Straßen mit einer sozialistischen Perspektive!
  • Aufbau
    einer revolutionären Arbeiter_Innenpartei in den USA, die sich
    international vernetzt, und mit einem klaren revolutionären
    Programm an die Spitze der Bewegung stellt

  • Internationale
    Solidarität uns
    Vernetzung von
    antirassistischen
    und antikapitalistischen Massenbewegungen!



Betrachtet: Zwei Halbkolonien

Leila Cheng

Teil 2: Bolivien (Stand Mitte September 2020)

Wie sind die Auswirkungen von Pandemie und Wirtschaftskrise?

  • Vor der Covid19 Pandemie hatte Bolivien (bis auf einen Einbruch 2019) ein konstantes Wirtschaftswachstum von knapp über 4 %. Für dieses Jahr erwartet der IWF einen Einbruch von knapp 5,9%.
  • Durch Corona hat die Arbeitslosigkeit massiv zugenommen (perspektivisch bis zu 8%).
  • Der Sturz von Evo Morales wurde maßgeblich von der US-Bourgeosie vorangetrieben, um uneingeschränkten Zugriff auf bolivianische Ressourcen wie zB. Lithium zu bekommen
  • Aktuell nehmen die ausländischen Investitionen insgesamt ab, nicht zuletzt wegen Verstaatlichungen im Bergbau. Derzeit investiert jedoch vor allem China in bolivianische Infrastrukturprojekte und baut konsequent seinen Einfluss in Südamerika aus
  • Während Umfragen derzeit den MAS-Kandidaten (Movimiento al socialismo) und früheren Wirtschaftsminister Luis Arce in Führung sehen, geht es der Übergangsregierung darum, Zeit zu schinden und länger an der Macht zu bleiben.

Welche Proteste gibt es?

  • Anlass der Proteste: Beschluss des Obersten Wahlgerichts, die Neuwahlen, angeblich wegen der Pandemie ein weiteres Mal zu verschieben (von Mai auf Mitte Oktober).
  • Hauptforderung: Durchführung der Wahl wie ursprünglich vorgesehen am 6. September , Rücktrittsforderung gegen Añez (Präsidentin der Putschregierung).
  • Der Dialog zwischen dem Obersten Wahlgericht und den Gewerkschaften scheiterte.
  • Dutzende Blockaden haben mehrere Städte von der Versorgung abgeschnitten. An einigen Orten geht der Kraftstoff aus, das Trinkwasser wird knapp und die Lebensmittelpreise steigen immer weiter. Die medizinische Versorgung ist an manchen Orten gefährdet. So muss die Armee dringend benötigten Sauerstoff für die Behandlung von Corona-Patienten auf dem Luftweg transportieren.
  • Der vergangene Generalstreik zeigte seine Wirkung und setzte die Regierung zunehmend unter Druck. Rechte und kleinbürgerlich geprägte „Bürgerkomitees“ stellten sich den Bauern und Gewerkschaftern entgegen, um deren Blockaden zu verhindern.
  • Die Putschregierung hat ein härteres Vorgehen angekündigt und mit dem Einsatz „aller Mittel“ gedroht, um die Blockaden aufzulösen.

Wie können sie erfolgreich sein?

  • Ein
    Generalstreik für eine demokratische Wahl Anfang September muss mit
    sozialen Forderungen verbunden werden. Nicht nur die Regierung und
    der US-Imperialismus sind schuld am Elend der Bevölkerung. Das
    Wirtschaftssystem muss als objektive Grundlage für
    Unterdrückung verstanden werden. Statt
    einer bestenfalls reformistische Regierung der MAS (Bewegung zum
    Sozialismus), die durch teilweise Verstaatlichung und Investitionen
    in Gesundheit und Bildungswesen die Lage nur kurzfristig verbessert,
    braucht es eine revolutionäre
    antikapitalistische Bewegung, die auch die inländische Bourgeoisie
    enteignet und sich dem Einfluss des US-Imperialismus widersetzt.

  • Diese
    Errungenschaften müssten langfristig gegen die politischen
    Interventionen und die wirtschaftlichen Sanktionen aus den USA
    verteidigt werden. Die Revolution muss auf
    die umliegenden Länder
    Südamerikas (z.B. nach Chile).

  • Die
    MAS als führende Kraft muss revolutionäre Forderungen aufwerfen
    und die Gewerkschaften unter Druck setzen, sich ihnen anzuschließen,
    statt weiterhin mit der Putschregierung verhandeln.

  • Um
    den Generalstreik konsequent weiterführen zu können, sollten
    „Volxküchen“ und Praxen zur Gewährleistung der Ernährung und
    Gesundheit der Bevölkerung eingerichtet werden.

  • Außerdem
    sollten alle proletarischen Kräfte in Anbetracht der zu erwartenden
    und bereits geschehenden Angriffe des Staates und faschistischer
    Milizen bewaffnete Arbeiter_Innen und Bäuer_Innenmilizen gründen.