Erste Hilfe bei Antisemitismusvorwurf

Von Felix Ruga, März 2023

„Du weißt schon, dass das gerade ziemlich antisemitisch von dir war?“

Eine Antwort, die fast alle antiimperialistisch eingestellten Linken irgendwann schon mal ertragen mussten, während sie mit Freund:innen, in der Familie oder der Schule mit irgendwem diskutiert haben, praktisch immer im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Und da muss man erstmal schlucken: Antisemitismus ist einer der heftigsten Vorwürfe, die man in politischen Debatten überhaupt bekommen kann. Sofort blitzen Bilder von schäumenden Wutreden, Videos und Tweets gegen jüdische Weltverschwörungen, marschierenden Nazis oder gar Vernichtungslagern auf. Für einen selbst ist es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass man Antisemitismus nicht im Entferntesten gutheißen kann oder damit irgendwas zu tun haben will, es viel mehr in der antifaschistischen Praxis aktiv bekämpft. Trotzdem steht man jetzt da und muss sich auf einmal gegen so einen Vorwurf rechtfertigen. Ärger, Frust, Angst steigen auf und, vor allem wenn man damit nicht gerechnet hat, kann man eigentlich gar nicht so recht glauben, was gerade passiert ist. Wie sollte man also damit umgehen?

Zunächst auf jeden Fall erstmal durchatmen und sich nicht direkt einschüchtern lassen. Es hilft, sich ins Bewusstsein zu rufen, dass gerade die Heftigkeit des Antisemitismusvorwurfs der Hintergrund ist, warum er politisch missbraucht wird, beziehungsweise mittlerweile so definiert ist, dass man ihn leichtfertig missbrauchen kann. Man sollte dabei auf einer fortschrittlichen Definition beharren: Antisemitismus bedeutet Rassismus gegen Jüd:innen, also Diskriminierung, Unsichtbarmachung, Entrechtung, physische und verbale Angriffe und so weiter. Speziell am Antisemitismus ist die herbeikonstruierte „jüdische Verschwörung“, mit der angeblich die Gesellschaft zersetzt werden würde. Mehr könnt ihr dazu in unserem Artikel „Wie können wir Antisemitismus beenden?“ lesen. Es gibt aber auch eine gegenläufige Definition, und zwar die sogenannte IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus, die sich vor allem in westlichen Staaten verbreitet. Hierbei werden bestimmte Aussagen oder Formen von Kritik gegenüber Israel als antisemitisch festgehalten. Hierbei floss auch der sogenannte 3D-Test ein: Antisemitismus sei es dann, wenn man Israel dämonisiert, delegitimiert oder Doppelstandards anlegt.

Das Problem hierbei: Diese Aussagen können zwar auch aus antisemitischen Beweggründen getroffen werden, aber insgesamt ist die ganze Definition so schwammig, dass sie auch gegen absolut legitime Kritik oder einer Solidarisierung mit dem palästinensischen Widerstand verwendet werden. Diese Antisemitismus-Definition ist eine extrem wichtige Waffe für reaktionäre Kräfte in der ideologischen Auseinandersetzung rund um den Nahostkonflikt, weil der Antisemitismusvorwurf so heftige Reaktionen hervorruft oder der bürgerliche Staat damit seine Angriffe auf demokratische Rechte oder die militärische Unterstützung Israels verteidigen kann. Die IHRA-Arbeitsdefinition ist also abzulehnen.

Deswegen sollte man, wenn ein Vorwurf dieser Definition folgt, dies erstmal zurückweisen und klarmachen, dass das so erstmal eine Unterstellung ist und es argumentativ abwehren, indem man bei der Sache bleibt. Aber natürlich ist auch klar: Antisemitische Vorurteile gehören ähnlich wie andere Formen des Rassismus‘ zur bürgerlichen Ideologie. Niemand kann in dieser Gesellschaft aufwachsen, ohne zumindest Bruchstücke rassistischen, sexistischen oder sonst wie diskriminierenden Denkens verinnerlicht zu haben. Das ist keine Entschuldigung, sich nicht zu reflektieren, sondern gerade der Ansatz dazu. Deswegen sollte man mit sich und zusammen mit den Genossis Reflexionsräume über die eigenen diskriminierenden Anteile ermöglichen, auch wenn man sich dafür erstmal schämt. Aber, wie bereits gesagt, ist in aller Regel der Antisemitismusvorwurf aufgrund von Palästinasolidarität tatsächlich eine bloße Unterstellung und wird nicht selten leichtfertig rausgehauen. Hier kann es helfen, direkt einige gute Antworten parat zu haben, die ich jetzt anhand von 3 beispielhaften Zitaten durchgehen würde.

„Kufiyas wurden auch von Attentätern getragen, dann solidarisiert man sich mit Antisemiten.“

Kufiyas sind sehr weit verbreitet im arabischen Raum und stehen seit dem Nahostkonflikt zumeist für die Solidarisierung mit dem palästinensischen Befreiungskampf. Wir haben hier auch einen eigenen Artikel zu der Geschichte der Kufiya geschrieben. Diese Argumentation, man würde sich mit irgendwem gemein machen, weil man bestimmte Symbolik verwendet, lässt sich auf alles Mögliche übertragen: Die Palästinafahne, bestimmte Parolen, Früchte, teilweise schon überhaupt die Forderung nach einem freien Palästina. Manchmal wird das verbunden mit der Aufforderung, wenn dann doch bitte eigene Symbolik des palästinensischen Widerstands zu verwenden, die nur von linken Kräften verwendet wird. Das ist letztendlich aber ein Versuch, Spaltungslinien innerhalb des Widerstands aufzumachen und folgt einer Logik von Kollektivschuld. Es ist gerade eine Stärke der Solidaritätsbewegung, dass sie bekannte Symbole und Parolen hat. Aufgabe muss es sein, diese mit fortschrittlichem Inhalt zu füllen. Und unsere Solidarität zu zeigen, indem wir sie verbreiten. Alles andere isoliert uns nur. Hat das Gegenüber ein Verständnis für soziale Bewegung, müsste dies einleuchten. Ansonsten müsste man eher darüber gehen, wie auch Symbole unliebsamer Bewegungen medial geframet werden und dass Kollektivschuld in diesem Kontext Unsinn ist.

„Vor 2000 Jahren wurden die Juden dort vertrieben und wenn du ihnen die Rückkehr nicht zugestehst, dann hast du offensichtlich was gegen sie!“

Es kann zwar ganz interessant sein, über die Geschichte der Region zu sprechen und was auch davor und danach dort passiert ist und was die Geschichte des europäischen und arabischen Judentums angeht. Aber es kann gut sein, dass die andere Person einen damit aufs Glatteis führt im Sinne von: „Wenn du die Völkerwanderung der letzten 3000 Jahre nicht nachzeichnen kannst, solltest du besser nichts zum Nahostkonflikt sagen.“ Davon sollte man sich nicht einschüchtern lassen. Klar, irgendwo beginnt die Geschichte und man kann immer weiter zurückgehen und lernt dadurch immer mehr über den Konflikt. Aber zum einen sollte Unerfahrenheit nicht zum Ausschluss aus Debatten führen, zum anderen ist der Konflikt heute sehr präsent und man kann und muss dementsprechend auch im Hier und Jetzt Lösungen finden, diskutieren und erkämpfen. Dementsprechend kann man nicht ein irgendwie historisch konstruiertes Recht hernehmen, um die Vertreibung durch Siedler:innen oder die Besatzung Palästinas und damit sehr reales Leid zu rechtfertigen. Sowieso sollte man aber für offene Grenzen einstehen und das bedeutet auch, dafür einzutreten, dass Jüd:innen ein freies Leben in der Region führen können – aber Palästinenser:innen eben auch.

„Free palestine bedeutet, man will alle Juden ermorden!“ oder „Weil Israel der Schutzraum der Juden ist, ist Antizionismus gleich Antisemitismus.“

In beiden Fällen wird impliziert, dass es unmöglich ist, dass die arabische zusammen mit der jüdischen Bevölkerung im Nahen Osten in Frieden leben kann und es daher absolut notwendig sei, einen militarisierten und unterdrückerischen israelischen Nationalstaat zu haben. In einer Argumentation dagegen könnte man beispielsweise darauf eingehen, inwiefern Antisemitismus und Rassismus aus dem Kapitalismus entstehen und dementsprechend in einem revolutionären Kampf auch wieder aufgelöst werden können. Oder dass Israel als Schutzraum in Wahrheit eine Farce ist und Israel eigentlich einer der gefährlichsten Orte für Jüd:innen überhaupt ist und man sich dementsprechend fragen muss, wie man diesen Status Quo auflöst. So oder so sind solche Argumente ganz oft nach dem Schema „wenn du A sagst, kannst du in den engen Grenzen meines politischen Bewusstseins nur B sagen“ gestrickt und dem sollte man entschlossen widersprechen: Eine andere Welt ist möglich und erreichbar, denn so, wie es jetzt ist, kann es nicht weitergehen.




Wahlen Türkei: Erdoğan verliert!

von Dilara Lorin, April 2024, zuerst erschienen in der Arbeiter:innenmacht Infomail 1250

Die Kommunalwahlen in der Türkei vom 31. März endeten mit einem Sieg der CHP als stärkste Kraft, während die AKP eine Niederlage hinnehmen musste. Von insgesamt 81 Bürgermeisterämtern errangen die CHP 31 und die AKP 24. Die CHP gewann auch in den fünf größten Städten des Landes, darunter Istanbul, Ankara und Izmir. Nach Wahlerfolgen in diesen Städten äußerte Erdoğan einst: „Wer Istanbul und Ankara gewinnt, hat das Land in der Hand.“ Heute, einige Kommunalwahlperioden später, hat sich die Situation jedoch geändert und der „Große Mann am Bosporus“ hat an Macht verloren. Dabei kommt der Erfolg der CHP für viele Menschen unerwartet.

Nur wenige Monate, nachdem Erdoğan am 28. Mai zum Präsidenten des Landes gewählt wurde, scheint seine Popularität zu schwanken und das Volk scheint ihn und die aktuelle Politik abzustrafen. Insbesondere der wiederholte Erfolg von Ekrem İmamoğlu (CHP) in Istanbul, mit einem größeren prozentualen Abstand als davor, hat die Unbesiegbarkeit der AKP erschüttert.

Unmut in der Bevölkerung

Die wirtschaftliche Lage hat sich in den letzten Jahren kaum erholt. Die Coronapandemie, das Erdbeben vom 6. Februar im letzten Jahr, die globale Wirtschaftskrise und der Einbruch der Baubranche in der Türkei sowie die fatale Wirtschaftspolitik und Instabilität Erdoğans haben dazu beigetragen. Im Februar belief sich die Inflationsrate auf 67 %. Grundnahrungsmittel sind für einen Großteil der Arbeiter:innen kaum noch erschwinglich.

Die anhaltend schlechte Wirtschaftslage in der Türkei trifft insbesondere die Mittelschicht und führt zu einer verstärkten Prekarisierung von Arbeiter:innen und Arbeitslosen. Während des Wahlkampfes spricht Erdoğan in seinen Reden von einer starken Wirtschaft und einer positiven Zukunftsaussicht. Allerdings wird bei genauerer Betrachtung der Zahlen eine Tendenz immer deutlicher: Die Armut nimmt mit jedem Monat zu. Der aktuelle Mindestlohn von 17.000 TL (487 Euro) liegt bereits unter der Armutsgrenze von 20.098 TL für eine vierköpfige Familie. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein/e Alleinverdiener:in aufgrund der seit fünf Jahren steigenden Kosten für Nahrungsmittel nicht mehr in der Lage ist, eine Familie zu ernähren.

Der Anteil der Menschen, die unter der Hungers- und Armutsschwelle leben müssen, ist im März, im Monat der Kommunalwahlen, um 5,9 % bzw. 11 % angestiegen. Dabei stellt die Hungerschwelle die Minimumausgaben für Lebensmittel einer vierköpfigen Familie dar, wenn diese sich ausgewogen ernähren soll; die Armutsschwelle ist eine Kennzahl, welche die Minimalausgaben einer vierköpfigen Familie beschreibt. Diese alarmierende Nachricht wurde im März von der Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Birlesik Kamu-is Konfederasyonu veröffentlicht. Eine wichtige Wählerbasis für Erdoğan und die AKP waren unter anderem auch Rentner:innen, deren Lage sich ebenfalls verschlechtert hat. Laut der Gewerkschaft DISK liegt die Durchschnittsrente bei einem Sechstel im Vergleich zu den Renten in den zentraleuropäischen Ländern. Im Vergleich zum Mindestlohn war die Rente in der Türkei im Jahr 2002 noch um 22 % höher. Im Jahr 2023 lag sie jedoch etwa 26 % darunter.

Aber auch die Konkurrenz von rechtskonservativer Seite führte zur Niederlage der AKP. Die Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei), die in der Vergangenheit vor allem den religiösen Teil der Bevölkerung, der sich aufgrund der wirtschaftlichen Misere zunehmend von der AKP abwandte, für sich gewinnen konnte, erhielt 6 % der Stimmen und gewann die Wahlen in den Städten Yozgat und Sanliurfa. Dabei war die Yeniden Refah Partisi bei den Präsidentschaftswahlen noch Teil von Erdoğans „Volksallianz“, entschied sich bei diesen Wahlen jedoch, eigene Kandidat:innen aufzustellen, nachdem in Gesprächen mit der AKP anscheinend keine Kompromisse gefunden wurden. Auch Kandidat:innen, die aus der AKP ausgetreten sind oder auf deren Listen keinen Platz erhalten haben, lassen sich auf denen der YRP wiederfinden. Somit ist es nicht verwunderlich, dass enttäuschte Wähler:innen der AKP zur YRP übergehen, wenn sie nicht die CHP wählen. Dabei ist es auch die YRP gewesen, die unter anderem im Parlament die AKP und ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel anprangerte und dadurch auch viele Stimmen gewann, die sich aus islamischer Hinsicht mit dem palästinensischen Volk solidarisieren.

DEM – ein Jubelschrei der Kurd:innen wird laut

Die DEM-Partei (Die Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie), welche vor Dezember 2023 noch HEDEP (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker), davor HDP (Demokratische Partei der Völker) hieß, gewann vor allem in den kurdischen Provinzen. Dabei konnten in 10 Bezirken Bürgermeisterämter geholt werden, wobei sie dadurch zur viertstärksten Kraft des Landes wurde. In über 65 Landkreisen, Bezirken und Gemeinden konnte sich DEM als die stärkste Kraft etablieren. Eine große Freude breitete sich vor allem in den kurdischen Gebieten über den Sieg aus, der trotz erzwungener Umbenennung der Partei, starker Repressionen, Haftstrafen, Einschüchterungen und Verbotsverfahren zu einer Stärkung und Ausweitung der Stimmen für sie geführt hat.

In Manisa, Mersin und Izmir sowie in vielen Bezirken Istanbuls und anderen Orten hat die DEM-Partei keine Kandidat:innen aufgestellt, nachdem Gespräche mit der CHP bezüglich der Wahl geführt wurden. Diese Orte sind vor allem diejenigen, in denen die CHP stärker vertreten ist. Die Politik der „kleinen Helferin“ ist für die DEM-Partei fatal, da sie der CHP in diesen Gebieten ihre Wähler:innenschaft überlässt. Es war schließlich auch die CHP, die die AKP bei der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten unterstützte, um viele von ihnen, einschließlich des Co-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas, ins Gefängnis zu brachte.

Ein Wolf im Schafspelz: CHP

Die Liste der Unterstützung der Unterdrückung des kurdischen Volkes seitens der CHP ist lang und geht weit in die Geschichte der Türkei zurück. Aufgrund ihrer nationalistischen und bürgerlichen Ausrichtung kann diese Partei keineswegs als progressiv eingestuft werden.

Obwohl es verständlich ist, dass viele Menschen und Arbeiter:innen in der Nacht vom 31.03. auf den 01.04.2024 auf den Straßen waren und die Niederlage der AKP gefeiert haben, so sollte der Sieg der CHP für linke und revolutionäre Kräfte kein Grund zur Freude sein. Die CHP ist bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 durch rassistische und hetzerische Kommentare und Forderungen gegenüber geflüchteten Menschen und Asylbewerber:innen aufgefallen, wobei sie Erdoğan mit der Forderung nach sofortiger Ausweisung von drei Millionen Menschen sogar rechts zu überholen versucht hat.

Im Wahlprogramm für die Kommunalwahlen 2024 wird unter anderem festgehalten, dass Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr von Geflüchteten und Asylbewerber:innen in enger Zusammenarbeit mit „zuverlässigen“ NGOs vorangetrieben werden sollen. Die Stimmungsmache zeigt Folgen: Täglich werden Geflüchtete auf der Straße angegriffen, und diese Taten enden tragischerweise oft in Mord. Die indirekte Wahlunterstützung in einigen Orten, welche die DEM-Partei als linke Opposition der CHP geleistet hat, indem sie keine eigenen Kandidat:innen aufstellen ließ, ist zu kritisieren und zeigt selbst den kleinbürgerlichen Charakter der Politik der DEM.

Aktuelle Erhebungen in Wan und anderen Städten – ein erster Erfolg

Im Vergleich zu den Kommunalwahlen 2019, bei denen die HDP 65 Kommunen gewinnen konnte, konnte sich die DEM behaupten. Nach den Erfolgen vor 5 Jahren wurden jedoch in 48 Kommunen die Bürgermeister:innen von der Regierung abgesetzt und durch AKP-nahe Verwalter:innen ersetzt und dadurch staatlich zwangsverwaltet.

Auch in diesem Jahr wurde der Erfolg der DEM-Partei in den kurdischen Provinzen schon am 2. April seitens der Regierung in Frage gestellt. Schon während der Wahl wurden Wahlbetrug und Wahlfälschung angewandt. Dabei berichtete die DEM noch am selben Tag, dass bis zu 46.000 Staatbedienstete – darunter vor allem Polizist:innen und Soldat:innen – in den kurdischen Gebieten ihre Stimme abgegeben hatten, obwohl diese nicht aus diesen Orten stammen, sondern dahin transferiert wurden, um die Stimmabgabe zu Gunsten der Regierung zu beeinflussen.

Am Morgen des 2. April folgte dann der erste Schlag der Regierung gegen die DEM. In Wan (türkisch: Van) wurde nicht dem gewählten DEM-Politiker Abdullah Zeydan (55 %), sondern dem AKP-Kandidaten Abdulahat Arvas, welcher lediglich 25 % der Stimmen für sich gewinnen konnte, die Ernennungsurkunde überreicht. Zeydan wurden auf Anordnung der türkischen Regierung die Bürgerrechte entzogen, die er erst im vergangenen Jahr wiedererlangt hatte, nachdem er 2016 als HDP-Abgeordneter verhaftet worden war und fünf Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Wan ist die Provinz, in der die DEM in allen Bezirken die Mehrheit errungen hat, was noch deutlicher macht, dass seit diesem bürokratischen und undemokratischen Akt der AKP die Menschen auf die Straße gehen, um dagegen zu protestieren.

Die DEM-Partei rief richtigerweise kurzerhand zu Protesten auf und erklärte in ihrer Pressemitteilung, dass Respekt vor den Wähler:innen eingefordert werden soll. Der Co-Vorsitzende der DEM-Partei erklärte in einer Ansprache in Wan: „Wan ist das Herz Kurdistans und die Menschen in Wan haben zu Newroz, bei den Wahlen und heute hier auf diesem Platz deutlich gemacht, dass die Forderung der Kurdinnen und Kurden nach Freiheit und Demokratie nicht mit Gewalt und Zwangsverwaltung unterdrückt werden kann. Seit zwei Wahlperioden werden unsere Rathäuser von Treuhänder:innen zwangsverwaltet und jetzt soll ein weiteres Mal der Willen der Bevölkerung mit einem politischen und juristischen Komplott ausgeschaltet werden. Das werden wir nicht zulassen. Dieser Putsch wird keinen Erfolg haben, wenn wir trotz Repression, Knüppeln und Tränengas weiter zusammenhalten. Wir werden die von uns gewonnenen 14 Rathäuser in der Provinz Wan verteidigen.“ Am selben Tag fand eine Sondersitzung des Vorstands der Partei statt, welcher auch der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu beiwohnte. Straßenbarrikaden wurden errichtet und Tausende Menschen folgten diesem Aufruf. Die Geschäfte in Wan blieben größtenteils geschlossen. Der Staat reagiert mit massiver Gewalt und Repression und stürmt das Parteigebäude der DEM. Doch der Protest weitete sich rasch aus: Weitere Städte, darunter Colemêrg (türkisch: Hakkari), Gever (Yüksekova) und Amed (Diyarbakir) schlossen sich dem Ausstand an.

Die Ausweitung der Proteste und der Druck, den sie auf die Regierung ausübten, hatten Erfolg: Noch am Mittwoch, dem 3. April, entschied der Hohe Wahlausschuss, welche zuvor den Kandidaten der AKP zugelassen hatte, über den Einspruch der Partei DEM und beschloss, den Wahlsieger Zeydan anzuerkennen.

Ein Funke ist entfacht

Die Proteste zeigen, dass sich das kurdische Volk seiner Stärke in diesem Land bewusst ist. Sie zeigen aber auch die Schwäche der AKP und ihren mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung. Denn als die Regierung 2016 nach den Kommunalwahlen in den mehrheitlich kurdischen Kommunen die Bürgermeister:innen absetzte und durch eigene Kandidat:innen zwangsverwalten ließ, brachen ebenfalls starke Proteste aus, die jedoch blutig niedergeschlagen wurden. Über die Städte des stärksten Widerstandes wurden Ausgangssperren verhängt, Journalist:innen der Zutritt verweigert und mehr als 200 Menschen ermordet. Der Versuch, den gewählten Bürgermeister der DEM in Wan abzusetzen, ist daher ein Versuch der Demonstration der Unterdrückung und Repressionsmaschinerie. Dass dies innerhalb eines Tages wieder zurückgenommen wurde, zeigt aber auch die Angst vor einer Ausweitung der Proteste und davor, dass der Funke des Aufbegehrens weitere Gebiete erfassen und sich auch über ganz Kurdistan ausbreiten könnte. Dabei sollten die Proteste nicht stehenbleiben, denn die nächsten Wahlen sind erst in 4 Jahren. In der Zwischenzeit kann der Staat trotzdem seine repressiven und unterdrückerischen Handlungen ausüben. Denn eines muss klar sein: kein Vertrauen in staatliche Strukturen!

Die DEM-Partei kann dabei eine tragende Rolle einnehmen und hat als Massenpartei auch die Aufgabe, die aktuellen Proteste auszuweiten. Aufgabe von reformistischen, aber auch radikalen kleinbürgerlichen Parteien ist es dabei nicht, lediglich in Parlamenten und anderen Gremien Sitzplätze zu gewinnen, sondern den Raum der Wahl zu nutzen, um Bewegungen und Forderungen publik zu machen. Sie muss Vorreiterin der aktuellen Proteste sein und diese weiter über das ganze Land ausweiten.

Dabei muss sie aber vor allem versuchen, die Unterstützung der türkischen, progressiven Teile der Arbeiter:innenklasse wieder für sich zu gewinnen, denn die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung hat in den letzten Wahlen stagniert. Gegen die Krisen, die Armut und Unterdrückung müssen Gewerkschaften unter Druck gesetzt werden, um landesweit für ein Sofortprogramm gegen die Preissteigerungen, für einen Mindestlohn und Mindestrenten, die die Lebenshaltung decken, und für eine automatische Anpassung dieser an die Inflation zu kämpfen. Dies muss von Ausschüssen der Gewerkschaften und Lohnabhängigen kontrolliert werden.

Um dieses Ziel umzusetzen, sind politische Massenstreiks (bis hin zum Generalstreik) sowie massive Demonstrationen notwendig, die von lokalen Aktionskomitees organisiert und kontrolliert werden. Gegen die Repression und Provokationen durch Staat und Rechte müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden.

Es kann letztendlich nur eine starke Bewegung der Unterdrückten und Arbeiter:innen gegen die zukünftigen  Komplotte der Regierung, die Wirtschaftskrise, Unterdrückung und Armut vorgehen. Um solch eine Bewegung aufzubauen, welche auch in den wirtschaftlich stärkeren Städten im Westen des Landes die Arbeiter:innen und Unterdrückten für sich gewinnt, müssen die DEM und andere linke Parteien und Organisationen anfangen, vermehrt Basisstrukturen in den Städten, an Unis und in Betrieben aufzubauen. Auch die Basis der CHP muss angesprochen werden, um die Politik der Partei zu entlarven, welche mittels Rassismus versucht, die Bevölkerung zu spalten, und deren nationalistische Ausrichtung keine Lösungen bieten kann. Vor allem aber müssen die Gewerkschaften in den Kampf gezogen werden – ihnen kommt eine Schlüsselrolle bei einer wirklichen Konfrontation mit der Regierung zu.

Es braucht außerdem Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten- und Arbeiter:innen, die die Parteigebäude, Rathäuser etc., die von der DEM gewonnen wurden, gegen Repression verteidigen. Die Türkei sitzt schon lange auf einem absteigenden Ast und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung den Druck von Armut, Hunger und Rassismus nicht mehr aushalten kann. Aufflammende Bewegungen gegen die Regierung dürfen aber keine Hoffnung in die CHP vorheucheln und müssen die Unterdrückten des Landes mit den Arbeiter:innen vereinen. Dies kann letztlich nur eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Programms vorantreiben.




Irland und der Verrat des Befreiungskampfes

von Urs Hecker, April 2024

Die Woche nach Ostern hat in Deutschland eigentlich keine größere Bedeutung. In Irland allerdings ist kaum eine Zeit im Jahr so politisch aufgeladen wie die Osterwoche, kein Wunder, denn der Osteraufstand 1916 und die auf ihn folgenden Kriege sind wahrscheinlich die prägenden Momente der modernen irischen Geschichte.

In diesem Text wollen wir uns mit dem Ablauf dieser auseinandersetzen, nicht (nur) aus reinem historischen Interesse, sondern weil wir der Meinung sind dass gerade aus dem irischen Befreiungskampf viele wichtige Lehren für den antiimperialistischen Kampf heute gewonnen werden können.

Historische Situation vor dem Osteraufstand

Irland hat eine lange Geschichte von Besatzung, Unterdrückung und Kolonialisierung. Aber auch des Widerstands gegen diese. Vor dem Osteraufstand war Irland bereits über 700 Jahre durch England besetzt. In ganz Irland siedelte sich ein englisch/normannischer Landadel an, der so gut wie alles Land besaß und es in seinem Interesse regierte. Da die Ir:innen ihre Ausbeutung und Unterdrückung jedoch nicht einfach hinnahmen kam es in regelmäßigen Abständen zu blutigen Aufständen. Um Irland zu befrieden, setzte die britische Krone auf Siedlungskolonialismus (sog. Plantations). Erfolgreich war dabei jedoch nur die Plantation of Ulster. Im heutigen Nordirland wurden die lokalen Clans enteignet und vertrieben, auf ihrem Land wurden schottische Siedler:innen angesiedelt. Diese waren besonders treu zur Krone und hatten anders als die katholischen Ir:innen protestantischen Glauben. Während die Mehrheit der Schott:innen auch katholisch war und Irland näher stand als England, waren die sog. Ulster Scots zum Protestantismus konvertiert in der Hoffnung so ihre nationale Unterdrückung in Folge des gescheiterteten Jakobitenaufstands zu überwinden, der zur gewaltsamen Vertreibung der Schott:innen aus den Highlands und Zerschlagung der schottischen Kultur geführt hatte. Dieser Versuch gelang: Aus Unterdrückten wurden Unterdrücker im Dienst ihrer vormaligen Schlächter.

Als der aufsteigende Kapitalismus nationalistisches Bewusstsein in ganz Europa verbreitete häuften sich die Aufstände, seit 1798 gab es ungefähr einen pro Generation.  Neben der Aufstände war das 19. Jahrhundert aber vor allem durch Hungersnot, Genozid und Emigration geprägt. Die große Hungersnot konnte nur entstehen da die Ir:innen, welche nur wenig Land hatten, Kartoffeln anbauen mussten um sich zu versorgen. Die größten Landflächen wurden zum Export von Weizen genutzt. Die britische Regierung stoppte diese Exporte selbst dann nicht, als Millionen von Ir:innen den Hungertod starben.  Auch heute ist die Bevölkerung Irlands immer noch kleiner als vor der Hungersnot.

Die fehlgeschlagenen Aufstände führten dazu, dass sich ein auf Reformen gestütztes Bewusstsein durchsetzte: Die sog. „Home-Rule“ Bewegung. Ihr Ziel war es dass Irland einige Zugeständnisse aus London erhielt und die irische Bourgeoise ihr eigenes Parlament in Dublin gründen könne. Dass dies alles als Teil von Großbritannien geschehen müsse wurde nicht in Frage gestellt. Die Protestant:innen im Norden sahen durch die Home Rule Bewegung ihr Privilegien bedroht und gründeten als erstes bewaffnete Organisationen um diese zur verteidigen. Ihre Massenbasis bestand aus Kleinbürger:innen und der Arbeiter:innenaristrokratie des Nordens. Als Antwort darauf und aus Selbstverteidigung gründeten irische Nationalist:innen selbst bewaffnete Milizen, die Irish-Volunteers. Die Mehrheit dieser und vor allem ihre Führung gehörten der reformistischen Home-Rule Bewegung an. Es war also kein Zufall als sich zum Ausbruch des ersten Weltkriegs die Irish Volunteers freiwillig für die britische Armee meldeten. Die Führung erhoffte sich so Londons „guten Willen“ zu verdienen.

Irischer Republikanismus

Eine Minderheit der irischen Nationalist:innen war allerdings radikaler. Der sog. Irische Nationalismus setzte sich aus Radikalliberalen, Sozialist:innen und anderen fortschrittlicheren Nationalist:innen zusammen. Ihr Ziel war eine gesamt irische Republik unabhännig von Großbritannien. Folglich lehnten sie auch den Beitritt in die britische Armee scharf ab. Während einigen Republikaner:innen eine sozialistische Republik vorschwärmte, war die Mehrheit klar für einen bürgerlichen Staat, welcher ein paar soziale Reformen mittragen sollte.
Organisiert waren die Republikaner:innen in der Geheimorganisation Irish Republican Brotherhood (IRB), der Partei Sinn Fein und in der Frauenorganisation Cumann na mBan.

Osteraufstand und Befreiungskampf der IRA

Nach 2 Jahren Weltkrieg entschied die IRB, dass der Zeitpunkt zum Aufstand gekommen war. Am Ostermontag 1916 besetzten sie mit kleineren Gruppen von Irish Volunteers prestigeträchtige und militärstrategisch wichtige Gebäude in Dublin. Im Hauptpostamt wurde die irische Republik proklamiert und die Anführer der IRB erklärten sich zur provisorischen Regierung dieser. Diese neue Republik stellte im Sinne der Proklamation einen fortschrittlichen bürgerlichen Staat dar. Das Wahlrecht für Frauen wurde betont und die Freiheit aller Religionsgemeinschaften, ein proletarischer Standpunkt fehlte allerdings. Dennoch waren Sozialist:innen am Osteraufstand beteiligt. Allen Voran: James Connolly ein ehemaliger Gewerkschafter aus Schottland welcher Teil der provisorischen Regierung wurde. 
Die britische Regierung reagierte erbarmungslos auf den Aufstand. Die Armee marschierte in Dublin ein und für den Rest der Osterwoche herrschte Krieg in der Stadt. Als die britische Armee durch Artilleriebeschuss begann die Stadt zu zerstören und die Situation der aufständischen ausweglos schien ergaben sich diese. Ihre Hoffnung, dass sich der Aufstand auf die breite Bevölkerung ausbreiten würde hatte sich zunächst nicht erfüllt.  
Bis auf Eamon de Valera, welcher amerikanische Staatsbürgerschaft besaß wurden alle Unterzeichner der Proklamation zu Tode verurteilt und hingerichtet.

Durch unermüdliche Propagandaarbeit, allen voran von der Frauenorganisation Cumann na mBan, wendete sich aber nun das Bewusstsein in Irland. Immer mehr Menschen wandten sich von der Home Rule ab und unterstützen den Unabhängigkeitskampf. Dies zeigte sich auch bei den Wahlen zum britischen Unterhaus  im Dezember 1918. 76 der 106 irischen Sitze wurden von der republikanischen Partei Sinn Fein gewonnen, der Republikanismus war zur Mehrheitsideologie geworden. Die Abgeordneten von Sinn Fein erkannten das britische Parlament nicht an, im Januar 1919 gründeten sie ein irisches Parlament (Dail) und erklärten die Unabhängigkeit. Großbritannien erkannte diese nicht an und der Befreiungskrieg brach aus. Die Irish Volunteers wurden umformiert zur irisch-republikanischen-Armee (IRA) welche offiziell dem Dail unterstand. Die IRA führte von nun an einen Guerillakrieg für die Befreiung Irlands. Großbritannien regierte mit Terror und Mord und ließ ehemalige Soldaten des ersten Weltkriegs als paramilitärische Todesschwadronen auf die Zivilbevölkerung los.

Vertrag und Verrat

Es entsteht eine Patt-Situation, die Besatzungsmacht kann die Guerillas nicht besiegen, diese können aber auch nicht eigenmächtig die Besatzungsmacht vertreiben.
Deswegen schlägt die britische Regierung 1921 einen Friedensvertrag vor.
Irland soll ein „Freistaat“ werden der weiter der britischen Krone untersteht, aber hohe Autonomie besitzt. Der Norden Irlands soll nicht Teil des Freistaats werden.
Letztendlich werden durch den Vertrag alle Ziele des Osteraufstands und des republikanischen Kampfes verraten. Es wir keine unabhängige irische Republik geben, der Norden bleibt direkt von Großbritannien kontrolliert, in ihm wird sich die Unterdrückung der Ir:innen sogar verschärfen. Die Situation der irischen Arbeiter:innen und armen Bäuer:innen verbessert sich kaum.

Verständlicher und richtiger Weise reagiert die republikanische Basis den Vertrag empört ab. Für die irischen Massen gab es nichts zu gewinnen. In einer parteiinternen Abstimmung stimmt die Mehrheit der Sinn Fein Mitglieder gegen den Vertrag. 
Aber der Dail, das irische Parlament lässt sich davon nicht aufhalten. Er stimmt dem Vertrag zu, der Verrat der irischen Bourgeoisie am Befreiungskampf ist perfekt. Sie wählt vermeintliche  Autonomie über dem Kampf für echte Unabhängigkeit.

Bürgerkrieg und Konterrevolution

Die Basis rebelliert gegen den Verrat. Der linke Flügel der Republikaner:innen und der große Teil der IRA lehnen sich gegen das Parlament auf. Es bricht ein Bürgerkrieg aus. 
Der neu entstandene Freistaat wird dabei von Großbritannien militärisch unterstützt.  Dadurch gelingt es ihm die IRA zurückzudrängen und letztendlich zu besiegen. Viele republikanische Anführerinnen werden in dieser Zeit von ihren ehemaligen Mitstreitern ermordet.
Nach der Niederlage der IRA geben auch die meisten Republikaner:innen die Republik auf und akzeptieren den Freistaat. Nur eine kleine Minderheit verbleibt in Sinn Fein, die sich weiterhin weigert die Legitimität des Freistaats anzuerkennen.
Der Sieg des Freistaats war faktisch der Sieg der Konterrevolution.
Die Ir:innen wurden demobilisiert und die Unterordnung unter den Imperialismus wurde akzeptiert. Der Freistaat selbst wurde zu einem der rückständigsten und reaktionärsten Staaten in Europa. Republikaner:innen wurden verfolgt und jedes fortschrittliche Bewusstsein wurde an den Rand gedrängt. Es entstand eine erzkatholische Hegemonie, die sehr sexistisch war und in den Ir:innen selbst reaktionäres Bewusstsein festigte. Der Freistaat war entsprechend auch sehr arbeiter:innenfeindlich und kooperierte im Norden zusammen mit Großbritannien gegen die Republikaner:innen.
Jedes Ziel des Befreiungskampfes wurde verraten Irland blieb politisch und wirtschaftliche vom Imperialismus abhängig.

Fazit

Aber worin lagen die Gründe des Verrats und der Niederlage und welche Lehren können wir heute für den antiimperialistischen Kampf daraus ziehen?

Was auffällt ist, dass es im damaligen Irland keine große Arbeiter:innenorganisationen und -parteien gab, die in den nationalen Befreiungskampf intervenierten. Es gab zwar sehr prominente Sozialist:innen an der Spitze der republikanischen Bewegung wie James Connolly, aber der Republikanismus ist keine sozialistische Strömung sondern eine „fortschrittliche“ bürgerlich nationalistische. Die Sozialist:innen im irischen Befreiungskampf gründeten keine unabhängigen Organisationen für das revolutionäre Proletariat sondern ordneten sich diesen „fortschrittlichen“ Teilen der Bourgeoisie unter. Das stellte sich als fataler Fehler heraus. Durch das Unterordnen unter die Bourgeoisie in der gleichen Partei (Sinn Fein) war es den Sozialist:innen nicht möglich effektiv gegen den Verrat ebendieser anzukämpfen und dem Freistaat etwas entgegenzusetzen. Außerdem konnte es ohne proletarische Organisationen auch keinen Weg zum Aufbau echter Doppelmacht geben. Das Parlament konnte den Kampf verraten, da es das einzige Organ mit Regierungsanspruch war und so in der Lage war den Kampf zu führen. Hätte die Arbeiter:innenklasse eigene Organe, wie Räte, geschaffen und sich dabei mit dem armen Bäuer:innen gegen die britischen Landbesitzer:innen verbündet, hätte es die Chance gegeben den Kampf weiter zu führen und ihn von einem Kampf für einen bürgerlichen Nationalstaat in eine sozialistische Revolution wandeln. 
Nur so hätte Irlands Unabhängigkeit verwirklicht werden können. Im nationalen Befreiungskampf wird die Bourgeosie immer, sobald sie ein für sich tragbares Ergebnis erzielt hat, den Kampf verraten. Denn sie hat immer noch kapitalistische Interessen, ihre Existenz beruht immer noch auf der Ausbeutung der Arbeiter:innen, sie muss sich immer noch dem Weltmarkt unterwerfen und sie ist in Kolonien und Halbkolonien oft so schwach, dass sie ihre Herrschaft auf Kollaboration mit den imperialistischen Staaten stützen muss. Nur die Arbeiter:innenklasse ist in der Lage den Kampf gegen den Imperialismus und für Unabhängigkeit zum Ziel zu führen, indem sie Imperialismus und Kapitalismus selbst aus dem Weg räumt.

Das heißt aber nicht, dass wir bürgerliche Bewegungen im antiimperialistischen Kampf einfach ignorieren können, oder dass wir uns nicht mit ihnen als Teil des Kampfes solidarisch zeigen. Oft haben sie nämlich noch die organisatorische und ideologische Führung dieser Kämpfe inne. Würden wir sie einfach ignorieren und uns komplett abspalten, könnten wir kaum Zugang zu den Massen der Arbeiter:innen und armen Bäuer:innen erhalten. Wir würden ihnen so erst Recht die Führung im Kampf überlassen. Um den Befreiungskampf also zum Sieg zu führen, müssen wir eine antiimperialistische Einheitsfront bei organisatorischer Unabhängigkeit mit den bürgerlichen, antiimperialistischen Kräften bilden. Das ist jedoch nicht mit einer Volksfront zu verwechseln, welche die Interessen der Arbeiter:innen denen der Bourgeiosie unterordnet. Gleichzeitig bezieht sich die antiimperialistische Einheitsfront auf konkrete gemeinsame Aktionen und spezifische Abkommen, die den Kampf gegen den Imperialismus vorantreiben. Nur so können wir die Ausgebeuteten und Unterdrückten davon überzeugen, dass die revolutionäre Arbeiter:innenklasse die einzige Kraft ist, die ihre vollständige Befreiung verwirklichen kann.
können wir die Ausgebeuteten und Unterdrückten davon überzeugen, dass die revolutionäre Arbiter:innenklasse die einzige Kraft ist, die ihre vollständige Befreiung.




Frühlingsbeginn in Jordanien?

von Jona Everdeen, April 2024, zuerst veröffentlicht in der Infomail 1250 der Gruppe Arbeiter:innemacht

Die meisten von uns freuen sich vermutlich gerade sehr, dass der Frühling wieder kommt und Sonnenschein und wärmere Temperaturen mit sich bringt. Doch kann es sein, dass die Freude bald noch viel größer ausfällt, wenn auch der Arabische Frühling zurückkehrt und revolutionäre Erhebungen und internationale Solidarität mit sich bringt? Die Massenproteste, die gerade in Jordanien gegen die de facto Unterstützung Israels durch die Haschimitenmonarchie stattfinden, könnten zumindest zum Auslöser eines solches Prozesses werden.

Die Lage in Jordanien

Während die Lage im Land zwischen Jordan und Mittelmeer, in Palästina, noch immer in vielen Medien Thema ist und sich auch in den westlichen Metropolen zahlreiche Menschen mit den Palästinenser:innen solidarisieren, die noch immer unter Israels genozidalem Krieg leiden, erfährt man kaum etwas über das Land östlich des Jordans. Dabei könnten die aktuellen Ereignisse in Jordanien für die Lage in Palästina und der ganzen Region eine große Bedeutung gewinnen.

Seit etwas mehr als einer Woche demonstrieren in unmittelbarer Nähe zur israelischen Botschaft, einer von wenigen überhaupt in einem arabischen Land, täglich zigtausende Jordanier:innen in Amman, der Hauptstadt des Landes. Ihre Forderungen: die Schließung der Botschaft und das Ende der Kooperation der herrschenden Regierung um den Haschimitenkönig Abdullah II. bin al-Hussein mit Israel. Konkret fordern sie auch die Aufhebung des Friedensvertrags zwischen Israel und Jordanien, der 1994 geschlossen wurde und die Beziehungen normalisierte.

Diese Proteste sind nicht die ersten im von König Abdullah II. bonapartistisch regierten Jordanien, so war dieses bereits ein Nebenschauplatz des (ersten) Arabischen Frühlings. Massive Proteste zwangen den König, einige Reformen zuzugestehen, was damals die Lage beruhigen konnte. Im vergangenen Jahr gab es jedoch erneut große Proteste in Jordanien, die sich, wie bereits die des Arabischen Frühlings, gegen die Folgen der Krise richteten, die die Jordanier:innen hart trafen.

Wie in fast allen arabischen Ländern gab es auch hier in den ersten Wochen des Krieges riesige Solidaritätsdemonstrationen mit den Menschen in Gaza. Allerdings litten auch diese unter demselben Problem wie in anderen Ländern, indem sie sich zu großen Teilen nicht gegen die eigenen Regierungen richteten, die, mal mehr, mal weniger versteckt, mit Israel und dessen Verbündeten kooperieren.

Heute sieht das anders aus. Doch nicht nur richten sich die Demonstrationen jetzt in Amman gegen die Politik der Regierung, auch scheinen sie gut organisiert zu sein. So bilden gezielt Ärzt:innen und Anwält:innen die ersten Reihen in der Hoffnung, die Demos so vor Gewalt durch Repressionskräfte zu schützen. Diese antworten nämlich mit Härte. In den letzten Tagen kam es zu zahlreichen Verhaftungen von Demonstrierenden. Doch gelang es auch immer wieder, die Polizei zurückzudrängen. Auch sieht es nicht so aus, als würden sich die Proteste schnell beruhigen, sondern eher, als hätte die Bewegung gerade erst begonnen. Doch wer sind überhaupt die Haschimiten, die in Jordanien die Politik bestimmen? Und in welchem Verhältnis stehen sie zu Israel und der Besetzung und Unterdrückung Palästinas?

Die Haschimiten, Palästina und Israel

Jordanien und Palästina teilen sich nicht nur einen Fluss, sondern auch eine lange, gemeinsame Geschichte. Die Haschimiten spielten in dieser jedoch nie eine rühmliche Rolle. So erlangten sie die Macht über das Gebiet Transjordanien, nachdem sie eine zentrale Rolle in der arabischen Revolte gegen das Osmanische Reich gespielt hatten, welche Britannien nutzen konnte, um die mit Deutschland verbündete Regionalmacht im Ersten Weltkrieg zu besiegen. Anders jedoch als versprochen, wurde das „befreite“ arabische Gebiet nicht unabhängig, sondern in ein französisches und ein britisches Mandatsgebiet aufgeteilt, letztendlich nur ein anderes Wort für Kolonie. So wurde auch Jordanien nicht unabhängig, sondern lediglich zu einem Emirat der Haschimiten, die die Oberhoheit Britanniens anerkannten. Nach der Unabhängigkeit 1946 als Königreich intervenierte Jordanien zwar in den Krieg gegen das neu gegründete Israel, das gerade die Nakba begonnen hatte, allerdings eher aus Machtinteresse denn aus internationaler Solidarität. So verleibten sich die Haschimiten nach dem Krieg, unter Verurteilung anderer arabischer Staaten, die Westbank als eigenes Territorium ein. Im Angriffskrieg Israels gegen seine Nachbarn (Sechstagekrieg) im Jahr 1967 verlor Jordanien zwar die Westbank, seine verräterische Rolle jedoch nicht. In das Land waren nach Beginn der Nakba und im Zuge des Sechstagekriegs hunderttausende Palästinenser:innen geflohen, die einen signifikanten Teil der Bevölkerung stellten. So wurde Jordanien zum Schwerpunkt der PLO, die von hier aus den palästinensischen Befreiungskampf zu organisieren versuchte. Der Haschimitenkönig Hussein I. sah in der nationalistischen PLO eine Gefahr für seine Macht und führte einen brutalen Bürgerkrieg gegen die Palästinenser:innen (Schwarzer September 1970). 1994 dann unterzeichnete Jordanien mit Israel einen Friedensvertrag, der die Beziehungen der beiden Länder normalisierte und die israelische Herrschaft über Palästina anerkannte. Jordanien wurde zum engsten Verbündeten Israels in der Region. Das Haschimitenkönigshaus pflegt ebenfalls enge Beziehungen mit den USA. So unterhält der US- Imperialismus wichtige Militärbasen in Jordanien, die für seine Kontrolle über den Nahen Osten zentral sind.

Doch während das bonapartistische Haschimitenregime, aus Gründen seines Machterhalts, mit den Feind:innen der arabischen Völker klüngelt, sind die jordanischen Menschen mit Palästina solidarisch, nicht zuletzt auch deshalb, weil so viele wie in keinem anderen Land selber ihre Wurzeln in Palästina haben, ihre Großeltern während der Nakba vertrieben wurden und ihre Familienangehörigen heute in Gaza bombardiert oder in der Westbank von Siedler:innen angegriffen werden.

Die Haschimiten haben bisher alles getan zu verhindern, dass die Menschen östlich des Jordans ihre Geschwister westlich des Flusses in ihrem Befreiungskampf unterstützen, haben sich aktiv mit deren Unterdrücker:innen zusammengetan, um ihre Macht zu erhalten und auszubauen. Jetzt ist es an der Zeit, die Macht dieses korrupten Clans endlich zu brechen!

Nur der Frühling kann den Winter beenden

Wenn die Proteste in Jordanien siegen, die mit westlichem Imperialismus und Zionismus kooperierende Bourgeoisie absetzen wollen, muss die Bewegung Organisationen der Gegenmacht aufbauen, sich anders als die Massenproteste des Arabischen Frühlings in den Betrieben und Stadtteilen, an den Schulen, Universitäten organisieren. Die in Jordanien durchaus relevante Gewerkschaftsbewegung kann hier die entscheidende Rolle spielen, denn nur eine massive Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse ist in der Lage, einen dauerhaften Sieg des Volkes gegen seine Unterdrücker:innen zu erringen! Dabei könnte diese Bewegung zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: endlich zu einer Politik der internationalen Solidarität und Unterstützung der Palästinenser:innen aus Jordanien führen und auch die Folgen der kapitalistischen Krise für die Bevölkerung reduzieren und deren Lebensbedingungen mittels einer gezielten Planung der wirtschaftlichen Produktion verbessern. Dabei spielen die Gewerkschaften zwar ein wichtige Rolle, aber im Kampf ist es vor allem Zentral, eine politische Kraft, eine Revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen, die den Kampf gegen die Dynastie mit dem Kampf für eine sozialistische Revolution verbindet.

Doch kann dies nicht isoliert geschehen, eine kleine jordanische Arbeiter:innenrepublik wäre kaum lebensfähig, sondern nur als Teil einer erneuten revolutionären Massenbewegung im Nahen Osten und darüber hinaus – letztlich in einer Föderation sozialistischer Staaten des Nahen Ostens.

Während Jordanien vielleicht das extremste Beispiel für Kooperation eines arabischen Landes mit Israel verkörpert, ist es nicht das einzige. Auch Ägypten hat seine Beziehungen mit Israel im späten 20. Jahrhundert normalisiert und trägt die Unterdrückung der Palästinenser:innen faktisch mit. Doch auch Regierungen, die Solidarität mit Palästina vorgeben, tun dies in der Regel nur, um ihre Bevölkerung ruhigzustellen. Von praktischer Solidarität sieht man wenig. De facto haben sich alle Staaten des Nahen Ostens mit der Existenz des israelischen Staates in seiner derzeitigen Form abgefunden, das heißt mit Apartheid und Besatzung, und akzeptieren auch den genozidalen Krieg in Gaza größtenteils, bei lediglich symbolischer Verurteilung. Schließlich will man es sich ja auch nicht mit Israels westlichen Verbündeten verderben. Denn die bonapartistischen Regierungen der Region sind vom Wohlvollen imperialistischer Mächte abhängig, deren Vormachtstellung sie stützen, und von denen sie, im Gegenzug für die Durchsetzung der Ausbeutung der eigenen proletarischen Massen und die Plünderung ihrer Ressourcen durch internationale Konzerne, eine Teil der Beute erhalten.

Für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens!

Diese Unterdrückung beenden können die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Nahen Osten, auf der arabischen Halbinsel und in Nordafrika sowie in jeder Region der Welt nur, indem sie ihre eigenen Regierungen stürzen und Regierungen der Arbeiter:innen und Kleinbäuer:innen errichten, die in Räten die Kontrolle über Politik und Wirtschaft übernehmen. Um gegen Imperialismus und von diesem unterstützte Konterrevolution gewappnet zu sein, müssen sich diese zu einer sozialistischen Förderation zusammenschließen und gemeinsame Wirtschaftsplanung und Verteidigung in Form von Arbeiter:innen- und Bäuer:innenmilizen etablieren. So kann ein zweiter Arabischer Frühling die Macht des Imperialismus in der Region brechen und zur Inspiration für Unterdrückte auf der ganzen Welt werden. Die derzeitigen Massenproteste in Jordanien haben zumindest das Potential, eine solche Dynamik anzustoßen.




Nein zum Gender-Verbot an Schulen!

von Erik Likedeeler, REVOLUTION, Fight! März 2024 (aufgrund der Gesetzesänderung in Bayern leicht angepasst am 21. März 2024 im Vergleich zur Print-Ausgabe )

Es klingt absurd, ist aber wahr: der bayerische Ministerrat und Sachsens Kultusministerium haben sich dazu entschieden, eine geschlechtergerechte Sprache in Form von Sternchen, Doppelpunkt und Binnen-I an Schulen, in Unis und an Behörden (Bayern) sowie an Schulen und deren Behörden (Sachsen) zu verbieten. Der thüringische Landtag hat beschlossen, dass Landesregierung, Ministerien, Schulen, Universitäten und der öffentliche Rundfunk nicht mehr „gendern“ dürfen. Auch in Niederösterreich haben ÖVP und FPÖ durchgesetzt, dass die Nutzung von Sternchen und Binnen-I in den Landesbehörden untersagt wird. Ein FPÖ-Sprecher betonte, es gehe darum, den „Wahnsinn des Genderns“ zu beenden. Diese Gender-Verbote stellen eine weitere Folge des gesamtgesellschaftlichen Rechtsrucks in unseren Schulen dar. Sie sind eingebettet in einen internationalen Rollback gegen die Rechte von Frauen und queeren Personen, wie die Angriffe auf das Recht auf Abtreibung in den USA oder Italien oder gesetzliche Verbote für geschlechtsangleichende Maßnahmen oder Verbote von gleichgeschlechtlichen Ehen/Partnerschaften in osteuropäischen Staaten. So haben Rechtspopulist:innen auf der ganzen Welt die sogenannte „Trans- und Gender-Lobby“ zu einem ihrer Hauptfeinde erklärt. Auch unsere Schulen werden zur Zielscheibe ihrer Angriffe. Die zunehmenden Verwerfungen der kapitalistischen Krisen machen Teile des Kleinbürgertums und deklassierter Arbeiter:innen anfällig für diese Ideologie. So sorgen Inflation, zunehmende Konkurrenz, drohender Arbeitsplatzverlust und Sozialabbau dafür, dass viele Cis-Männer ihre zugewiesene Rolle des heldenhaften und starken Ernährers nicht mehr erfüllen können. Die Angst vor dem männlichen Macht- und Identitätsverlust wird zu einem rechten Kulturkampf umgeformt. Die Rückkehr zu konservativen Wertvorstellungen, zu einer Welt, in der doch alles noch besser war, wird ihnen dabei als Lösung verkauft. Der Wirbel um den angeblichen „Wahnsinn des Genderns“ dient als Ablenkung vom eigentlichen sozialen Elend. Doch auch die klassenlose Individualisierung des Kampfes um symbolische Repräsentation soll uns davon abhalten, die eigenen Klassenunterdrückungen zu erkennen. 

Den Rechtspopulist:innen geht es also nicht um eine vermeintlich „richtige“ oder „einfachere“ Sprache. Es geht ihnen darum, Frauen und Queers unsichtbarer zu machen und zurückzudrängen. Dabei greifen sie tief in die Mottenkiste der homophoben und sexistischen Vorurteile, indem sie ihre Gender-Verbote damit begründen, dass es angeblich die Kinder verwirre oder in ihrer Entwicklung beeinträchtige. Unter dem Schlagwort „Frühsexualisierung“ wird nicht nur Jagd auf Gender-Sternchen, sondern auch auf die gleichberechtigte Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungsmodelle im Unterricht gemacht. Die angeblichen Interessen der Schüler:innen werden hier argumentativ ins Feld geführt, ohne dass überhaupt die Schüler:innen gefragt wurden. Für den Kampf in der Schule bedeutet dies, dass wir uns nicht auf die Bildungsministerien verlassen können. Jede Errungenschaft kann scheinbar mit einem Regierungswechsel wieder zunichte gemacht werden. Schüler:innen müssen also selbst die Frage der Kontrolle über Lehrpläne und Verhaltensregeln in den Schulen stellen, um das Vordringen rechter und queerfeindlicher Ideologie in unsere Schulen zu stoppen. Was wir für eine gerechte und inklusive Bildung wirklich brauchen, sind Lehrpläne unter demokratischer Kontrolle von Organisationen der Arbeiter:innenklasse sowie Lehrer:innen und Schüler:innen. Selbige müssen selbstverwaltete Antidiskriminierungsstellen an den Schulen erkämpfen, um den Schutz von Mädchen, Frauen und queeren Personen an den Schulen zu garantieren. Es ist nicht das Gendern, was Schüler:innen Probleme bereitet, sondern es ist ein kaputtgespartes Bildungssystem, Lehrer:innenmangel und steigender Leistungsdruck. Doch die bayerische Regierung, das sächsische Bildungsministerium oder die FPÖ denken nicht einmal im Traum daran, an dieser Bildungsmisere etwas zu verändern. Dieser Umstand entlarvt nur noch mehr, dass es ihnen lediglich um den Kampf um ideologische Vorherrschaft und das Zurückdrängen von Frauen und LGBTIA geht. Doch auch Sachsens Lehrerverband (nicht jedoch die Gewerkschaft GEW!) sieht positiv, dass das Gender-Verbot „Klarheit“ und „Barrierefreiheit“ bringen würde. Der Sprecher der FPÖ führte sogar die „Integration“ von Migrant:innen als Grund dafür an, wieso die Partei es bei „einfachen und verständlichen“ Sprachregeln belassen will.

In sprachwissenschaftlichen Studien konnte das Argument jedoch widerlegt werden, dass Gendern für das Gehirn mühsam wäre oder zusätzlichen Aufwand bedeuten würde. Anders als häufig angenommen führen geschlechtergerechte Formulierungen nicht zu langsamerer Verarbeitung, schwächerer Erinnerungsleistung oder schlechterer Lesbarkeit. Das Maskulinum hingegen führt durchaus zu Zögern bei der Verarbeitung und langsamer Reaktion, sobald es geschlechtsübergreifend gemeint ist.

Gleichzeitig sollten wir auch als Linke nicht der Illusion verfallen, dass ein bloßes Ändern unserer Sprache automatisch zu einer tatsächlichen Überwindung gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse führt. Selbst, wenn nun mehr Leute geschlechtergerechte Sprache benutzen, ändert dies leider wenig am Gender-Pay-Gap oder an der Tatsache, dass Frauen immer noch einen Großteil der Haus- und Care-Arbeit leisten.

Anstatt jedoch wie manche Linke den “Kampf um eine inklusive Sprache” abzulehnen, sollten wir diesen viel eher in den Klassenkampf einbinden. Denn in Begriffen stecken implizite Sichtweisen und Wertungen, die beeinflussen können, wie wir bestimmte Gruppen und Ereignisse betrachten. Im besten Fall kann das Verwenden einer bestimmten Sprache unsere Sichtweisen einer breiteren Masse leichter zugänglich machen. Zudem vermittelt inklusive Sprache zusätzlich diskriminierten Personen, dass wir ihre Unterdrückung anerkennen und unsere Befreiungsbewegungen zusammendenken. In diesem Sinne dürfen wir uns keinesfalls der rechten Verbotskultur beugen, sondern müssen dem Gender-Verbot den Kampf ansagen! Denn das, was der bürgerliche Staat als Vertreter des Kapitals am meisten zu fürchten hat, ist eine Arbeiter:innenklasse und Jugend, die sich ihrer gemeinsamen Interessen bewusst ist und gegen die wahren Ursachen ihres Elends ankämpft.

Seid ihr an eurer Schule davon betroffen? Organisiert euch gegen das Verbot und werdet an eurer Schule aktiv! Wir unterstützen euch gerne, auch bei allen anderen politischen Fragen an der Schule!




Gefangen im Schatten der Unterdrückung: Patriarchale Gewalt an Dalit-Frauen in Indien

von Night Ophelia, REVOLUTION, FIGHT! März 2024

Die Situation von Frauen in Indien ist alles andere als homogen. Ihre Realität wird von Faktoren wie gesellschaftlicher Herkunft, Klassen- und Kastenzugehörigkeit, Nationalität und Religion geprägt. Ein kritischer Blick offenbart, dass insbesondere Dalit-Frauen, Angehörige der untersten Kaste, einer besonders unsicheren Lage ausgesetzt sind.

Allgemeines zum Kastenwesen

Das indische Kastensystem ist ein soziales Hierarchiesystem, das die Gesellschaft in verschiedene Gruppen oder Kasten einteilt, basierend auf Beruf und sozialer Stellung. Der Begriffe Kaste selbst stammt ursprünglich aus dem Portugiesischen und überlappt sich nur teilweise mit den indischen Begriffen jati (Gattung, Wurzel) und varna (Farbe), was der Einteilung in vier große Kasten am nächsten kommt: Brahmanen (traditionell intellektuelle Elite, Priester:innen), Kshatriyas (traditionell Krieger:innen, höhere Beamt:innen), Vaishyas (traditionell Händler:innen, Kaufleute, Grundbesitzer:innen, Landwirt:innen) und Shudras (traditionell Handwerker:innen, Pachtbauern/-bäuerinnen, Tagelöhner:innen).

Darunter stehen die Dalits und Adivasi (Indigene). Dazu ist zu sagen, dass die jeweiligen Kasten sich auch noch mal in Subkasten teilen können und das Kastensystem bereits jahrtausende vor der Kolonialisierung zurückreicht. Die Einteilung der Gesellschaft in Kasten entspricht historisch einer Produktionsweise, die selbst auf Gemeineigentum an Produktionsmitteln, einer relativ statischen Arbeitsteilung unter den Gemeindemitgliedern, die Agrikultur und Manufaktur verbindet, sowie einem zentralisierten Staatsapparat, der Beamte, Heer und allgemeine Infrastruktur zur Verfügung stellt, fußt.

Durch die Kolonisierung seitens der Brit:innen wird das Kastensystem keineswegs abgeschafft, sondern vielmehr für die Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse umgewandelt, in gewisser Weise noch prägender. Während der Kastenwesen in der vorkapitalistischen Gesellschaft, die von Marx an mehreren Stellen als „asiatische Produktionsweise“ charakterisiert wurde, Ausdruck eine Gesellschaftsformation war, die auf dem Gemeineigentum an Grund und Boden basierte, so wurde das Kastensystem mit der Kolonisierung, mit der ökonomischen und gewaltsamen Zerstörung der traditionellen Dorfgemeinschaften zu einem Mittel, die privilegierte Rolle der nun mit der kolonialen Herrschaft verbundenen Eliten und das Privateigentum an Grund und Boden (wie an allen andere wichtigen Produktionsmitteln) zu legitimieren.

Vereinfacht gesagt sichert das Kastenwesen die Klassenverhältnisse, erschwert bis verunmöglicht sozialen Aufstieg und verfestigt somit die Spaltung der Gesellschaft wie auch innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen. Klasse und Kaste sind miteinander verwoben, jedoch nicht als Synonym zu verwenden, da  die kapitalistische Produktionsweise selbst Druck auf das Kastenwesen ausübt und es formt.

Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass in Indien Diskriminierung aufgrund der Kastenherkunft zwar formal verboten ist (Artikel 15 der indischen Verfassung oder bswp. Scheduled Castes and Scheduled Tribes [Prevention of Atrocities] Act). In Wirklichkeit verhindert aber ungleiche Kastenherkunft oft Heiraten und bestimmt generell Bildungschancen, Gesundheitsversorgung sowie rechtlichen Schutz.  Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Situation von Dalit-Frauen, auch als „Unberührbare“ bekannt, näher anschaut. Sie stehen am untersten Ende dieser Hierarchie und wurden historisch marginalisiert und diskriminiert.

Wer sind Dalit-Frauen?

Laut Zensus (Volkszählung) des indischen Staates von 2011 machen Dalits 16,6 % der indischen Bevölkerung aus, also rund 240 Millionen. Diese sind vor allem in den Bundesstaaten Uttar Pradesh (21 %), Westbengalen (11 %), Bihar (8 %) und Tamil Nadu (früher: Madras; 7 %) konzentriert und machen dort zusammen fast die Hälfte der Dalit-Bevölkerung des Landes aus. Gleichzeitig leben sie auch häufig in ländlichen Regionen und sind deswegen infrastrukturell schlechter angebunden.

Rund die Hälfte der Dalitbevölkerung sind Frauen und auch wenn sich die Diskriminierung auf beide Geschlechter erstreckt, sind diese doppelter Benachteiligung ausgesetzt. Die Verbindung zwischen dem Kastensystem und Patriarchat zeigt sich durch die Kontrolle über die weibliche Sexualität. Das Kastensystem wird durch die Einschränkung der sexuellen Autonomie von Frauen aufrechterhalten. Dies führt zu einem Klima, in dem sexuelle Gewalt und Vergewaltigung als Mittel der Unterdrückung und Machtausübung eingesetzt werden. Diese Gewaltakte dienen nicht nur der physischen, sondern auch der symbolischen Kontrolle, um die soziale Hierarchie aufrechtzuerhalten. Der Widerstand gegen diese Unterdrückung nimmt zu, da Dalit-Frauen und ihre Gemeinschaften für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung kämpfen. Doch bevor wir dazu kommen, ein paar Fakten.

Ökonomische Lage

Das Kastenwesen im Kapitalismus hat eine gesellschaftliche Arbeitsteilung manifestiert, die die unterste Kaste als landlos zurücklässt. So arbeitet der Großteil im informellen Sektor und Dalits sowie Adivasi stellen landesweit den größten Anteil an temporären Arbeitsmigrant:innen dar. Obwohl sie nur 25 % der Bevölkerung ausmachen, stellen sie offiziellen Schätzungen zufolge mehr als 40 % der saisonalen Migrant:innen. Praktisch arbeiten sie in der Landwirtschaft sowie im Baugewerbe und werden häufig in den gefährlichsten, anstrengendsten und umweltschädlichsten Bereichen der Wirtschaft eingesetzt. Auch Anstellung in Bereichen wie der Abwasserreinigung sind nicht untypisch,  die vor allem für den Status der „Unreinheit“ gesorgt haben, da diese von den oberen Kaste als entwürdigend angesehen wurden. Insbesondere diese Arbeit, die zwar gesetzlich verboten wurde, wird heute mehrheitlich von Frauen verrichtet und sorgt dafür, dass sie weniger verdienen als Männer.

Durch die strukturelle Einstellung in schlechter bezahlte, prekäre Jobs kommt es zu größeren Einkommensunterschieden zwischen den Kasten. Zwar hat sich das in den vergangenen Jahren geringfügig verbessert – an der generellen Ungleichheit ändert das jedoch wenig. Für Frauen kommt noch der Gender Pay Gap hinzu, der dafür sorgt, dass sie im gleichen Beruf weniger verdienen.

Ebenso problematisch ist Schuldknechtschaft, die nicht anderes ist als Zwangsarbeit oder moderne  Sklaverei. So können jüngere Mädchen beispielsweise – um Kosten für die Mitgift zu bezahlen – in Spinnereien angeworben werden. Die Eltern warten oft mehrere Jahre, bevor sie das Geld erhalten, das in der Regel niedriger ist als ursprünglich vereinbart. Aber auch die Vererbung von Schulden über Generationen  ist möglich.

Grundsätzlich dient das Kastenwesen dazu, einen segregierten Arbeitsmarkt zu verfestigen und reproduzieren, auf dem die Dalits einen Kern einer permanent überausgebeuteten Arbeiter:innenschaft darstellen, die strukturell gezwungen ist, in ihrer großen Mehrheit unter den Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft zu leben. Allein schon deshalb bildet das Kastensystem keineswegs einen „Überrest“ der Vergangenheit, sondern vielmehr einen integralen Bestandteil des indischen Kapitalismus.

Bildung

Eine Analyse der ILO auf Basis der Daten der Nationalen Stichprobenerhebung

(NSS) deutet darauf hin, dass der Bildungsstand unter Dalits zugenommen hat, jedoch nicht in demselben Tempo wie bei den oberen Kasten. Während in den zwei Jahrzehnten nach 1983 Dalit-Männer eine Verbesserung von 39 Prozentpunkten (56 Prozentpunkte bei anderer Kastenzugehörigkeit) des Bildungsniveaus nach der Grundschule erreichten, sind es bei Dalit-Frauen nur 21 (38 Prozentpunkte bei Angehörigen der oberen Kaste). Ebenso ist die Abbruchquote innerhalb des Grundschulzeitraums hoch. Laut einer Analyse des IndiaGoverns Research Institute machten Dalits im Zeitraum 2012 – 2014 fast die Hälfte der Grundschulabbrecher:innen in Karnataka (früher: Mysore) aus. Das liegt jedoch nicht nur an der Diskriminierung, die während des Schulalltags passiert. Eine 2014 von ActionAid finanzierte Stichprobenerhebung ergab, dass von den staatlichen Schulen in Madhya Pradesh 88 Prozent Dalit-Kinder diskriminieren: So war es in 79 % der untersuchten Schulen Dalit-Kindern verboten, das Mittagessen anzurühren, und in 35 % befohlen, beim Mittagessen getrennt sitzen.

Der Hauptgrund dafür ist, dass die Einkommen der Familien nicht ausreichen, um diese zu ernähren und Kinder somit gezwungen werden, zu arbeiten, was wiederum schlechtere Anstellungsverhältnisse begünstigt.

Gewalt

Während Gewalt gegenüber Frauen ein Klassen (und Kasten) übergreifendes Problem und kastenbasierte Gewalt ebenfalls Alltag sind, wird hier das Ausmaß der gesellschaftlichen Stellung von Dalit Frauen sichtbar. Eine dreijährige Studie über die Erfahrungen von 500 Dalit-Frauen mit Gewalt in vier indischen Bundesstaaten zeigt, dass die Mehrheit mindestens eine der folgenden Erfahrungen gemeldet hat:

– verbale Gewalt (62,4 %),

– körperliche Übergriffe (54,8 %),

– sexuelle Belästigung und Übergriffe (46,8 %),

– häusliche Gewalt (43,0 %),

– Vergewaltigung (23,2 %).

Ebenso werden nach Angaben des National Crime Records Bureau jeden Tag mehr als vier Dalit-Frauen vergewaltigt. Die Dunkelziffer ist jedoch viel höher, da viele solcher Verbrechen nicht gemeldet werden aufgrund Angst vor Gewalt und Einschüchterung sowie Tatenlosigkeit der Polizei und Gerichte. Die mangelnde Erfassung solcher Daten ist dabei ein großes Problem. Zwar gibt es lokale Statistiken, die aufzeigen, dass Sexualstraftaten mehr geahndet und verurteilt werden, wenn die Betroffenen höheren Kasten angehören, das Ausmaß lässt sich aber nur vermuten. Gleiches gilt für Zwangsheiraten sowie verbindliche Aussagen, wie viele Frauen als Devadasis (Prostituierte; ursprünglich bezeichnete der Begriff Tempeltänzerinnen; d. Red.) arbeiten müssen. Ein Bericht von Sampark (niederländische Stiftung für Bildungsfragen; d. Red.) aus dem Jahr 2015 an die ILO stellt fest, dass 85 % der befragten Devadasis aus Dalit-Gemeinschaften stammen. Wie viele es jedoch an sich gibt, ist unklar aufgrund der Weigerung mancher Bundesstaaten, zuverlässige Daten zu erfassen.

Widerstand

Der Widerstand gegen das Kastensystem an sich existiert schon lange. So engagierten sich in den 1920er Jahren beispielsweise Dalit-Frauen in Bewegungen gegen Kasten und Unberührbarkeit, in den 1930er Jahren in der Non-Brahman-Bewegung und haben dafür gekämpft, dass die eigenen Forderungen auch in der Frauenbewegung Indiens aufgenommen werden, was seit den 1970er Jahren auch Wirkung zeigt. Während der Widerstand gegen die gesellschaftliche Unterdrückung von Dalits in Indien zunehmend an Bedeutung gewinnt, steigt jedoch auch die Gewalt gegen diese, vor allem durch Unterstützer:innen der BJP und faschistische Kräfte. Nach besonders schockierenden Vorfällen von Gewalt, Femiziden oder Sexualstraftaten finden dabei regelmäßig Protestbewegungen statt wie im Fall von Manisha. Sie wurde am 14. September 2020 von vier Männern vergewaltigt, ihre Zunge durchgeschnitten und Wirbelsäule gebrochen, sodass sie nach 15 Tagen ihren Verletzungen erlag. Solche Taten sind keine Einzelfälle und führen regelmäßig zu Mobilisierungen und Aufschrei, gegen die anhaltende Gewalt und Unterdrückung vorzugehen. Auch am 4. Dezember 2023 gab es in Jantar Mantar einen größeren Protest, bei dem verschiedene Organisation für die Rechte von Dalits auf die Straße gingen. Ihre Forderungen waren mitunter: Schutz der bestehenden Wohlfahrtsprogramme für Dalits, Anerkennung von Dalit-Siedlungen, indem Eigentumsrechte eingeräumt werden. Landlose sollten für Wohngrundstücke identifiziert und der Besitz sollte für ihre Erben gesichert werden. Ferner wurde die sofortige Umsetzung des Gesetzes zur Abschaffung der Schuldknechtschaft (Bonded Labor Abolition System Act, 1976). 

Was tun?

Die Realität zeigt: Formale Gleichheit auf dem Papier ist zwar ein wichtiger Schritt, reicht aber lange nicht aus, um diese auch in der Praxis umzusetzen. Dabei muss auch klar sein, dass der Kampf gegen den Chauvinismus, den das Kastensystem mit sich bringt, notwendig ist. Schulungen und Aufklärungskampagnen alleine werden jedoch nichts verändern.

Aufgabe muss sein, das Kastenwesen zu zerschlagen und mit ihm die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die es aufrechterhält. Große Worte, die in der Praxis bedeuten, für ein Sozialversicherungssystem, kollektive Organisation der Reproduktionsarbeit sowie ein Mindesteinkommen, gekoppelt an die Inflation, für alle zu kämpfen. Verbunden werden müssen diese Forderungen mit dem Kampf um ein Programm gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle, finanziert aus den Profiten der Unternehmen, um für alle freie, kostenlos zugängliche Bildungs-, Gesundheits- und Altenvorsorge zu gewährleisten.

Denn nur wenn die grundlegende Lebensabsicherung für alle gegeben ist, kann die Ungleichheit anfangen zu verschwinden. Dies umzusetzen, ist jedoch einfacher geschrieben als getan. Zum einen kann das Vertrauen, wenn es darum geht, solche Maßnahmen umzusetzen, nicht bei Regierung und Staat liegen. Vielmehr braucht es Komitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die die Umsetzung kontrollieren. Dabei muss durch eine Quotierung sichergestellt werden, dass auch aus den untersten Schichten Repräsentant:innen sicher vertreten sind.

Zum anderen sorgt Indiens Stellung auf dem Weltmarkt für die massive Überausbeutung großer Teile der Bevölkerung. Um die Kosten der Ausweitung der Sozialversicherung und die Abschaffung des informellen Sektors zu tragen, muss man mit der Politik, die die Überausbeutung schützt, brechen. Das heißt: Schluss mit der Politik für die Interessen von Weltbank, Währungsfonds, USA, Japan und EU! Schuss aber auch mit einer Politik, die die indischen Großkapitale und Monopole fördert! Ansonsten wird es nie möglich sein, fundamentale Verbesserung für die Mehrheit der Bevölkerung einzuführen.

Kurzum: Der Kampf für konkrete Reformen muss mit dem gegen Kapitalismus und Imperialismus verbunden werden. Um die Umsetzung sicherzustellen, braucht es Selbstverteidigungskomitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die sich gegen die Angriffe von jenen wehren, die das System der Unterdrückung aufrechterhalten wollen.

Der Kampf für die Verbesserung der Situation von Dalit-Frauen ist darin unmittelbar eingebunden. Er bedeutet, für jene Forderungen zu mobilisieren, aktiv zu kämpfen und den Protest zu nutzen, um seitens der Gewerkschaften für organisierte Kampagnen in Stadtvierteln und Dörfern einzutreten, die über den Chauvinismus, der mit dem Kastensystem einhergeht, sowie Sexismus aufklären.

  • Für regelmäßige statistische Erhebungen über die Auswirkungen des Kastenwesens, Geschlecht, sowie Religion auf Beschäftigung und Lebensqualität – kontrolliert durch Gewerkschaften und Ausschüsse der Dalit!
  • Weg mit dem informellen Sektor! Für die flächendeckende Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Berufen!
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit: Weg mit dem Gender Pay Gap, Einführung eines Mindestlohns sowie Mindesteinkommen, das automatisch an die Preissteigerung angepasst wird!
  • Schluss mit Chauvinismus: Zerschlagung des Kastensystems, Kampf dem Hinduchauvisismus und Sexismus, für Aufklärungskampagnen seitens der Gewerkschaften in den Wohnvierteln und Dörfern!
  • Kampf gegen die Reproduktion des Kastensystems in der Linken und den Gewerkschaften, Recht auf gesonderte Treffen von Dalit und Frauen!
  • Kein Vertrauen in die Polizei: Für demokratisch gewählte sowie organisierte  Selbstverteidigungskomitees sowie Meldestellen für Diskriminierung von Organisationen der Arbeiter:innenbewegung!
  • Nein zur Doppelbelastung: Für die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle!

Ein solches Programm, das wir hier nur knapp skizzieren können, ist unvereinbar nicht nur mit der Herrschaft der hinduchauvinistischen BJP, sondern mit dem indischen Kapitalismus selbst. Es muss daher im Rahmen eines Programms der permanenten Revolution mit dem Kampf um die Enteignung des indischen und imperialistischen Großkapitals und die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden werden. Dazu braucht es den revolutionären Sturz der bürgerlichen Herrschaft in Indien und die Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte stützt.




Der Tradwives-Trend: Hausfrauenromantik und die Rechten

Von Isma Johnson, Revolution, FIGHT! März 2024

Habt ihr schon mal auf TikTok oder Instagram ein Video von jungen Frauen gesehen, die ganz ästhetisch Haushaltstätigkeiten wie Kochen, Putzen oder Kinderbetreuung nachgehen? So kommen viele Menschen, vor allem junge Frauen, das erste Mal mit „Tradwives“ in Kontakt. „Tradwives“ ist die Kurzform für „traditional wives“ und diese „traditionellen Frauen“ wollen den überholten Rollenbildern für Hausfrauen der 1950er Jahre nacheifern. Manche von ihnen tragen auch gleich die Mode dieser Zeit mit Petticoatkleidern und Lockenwicklerfrisuren. Andere orientieren sich eher am Landleben (oder daran, was sie sich darunter vorstellen, Stichwort: die Internetästhetik Cottagecore). Viele von ihnen behaupten, es ginge ihnen nur darum, zu Hause zu bleiben und nicht arbeiten gehen zu müssen, für ihren Mann und ihre Kinder zu sorgen und ihren Lebensstil nach außen zu tragen. Aber neben Kochvideos, Babyinhalten und ästhetischen Bildern tauchen etwa bei Estee Williams, einer Tradwife mit über 140 Tausend Follower:innen auf TikTok, Videos mit ganz anderen Inhalten auf. So erzählt sie ihren Follower:innen z. B.: „Gott erschuf zwei Geschlechter zu unterschiedlichen Zwecken“ und „Die Frau, die Ehefrau ist eine Hausfrau“, erklärt, wie sie den richtigen maskulinen Mann anziehen können, und fordert sie auf, sich ihm nach den Prinzipien der Bibel zu unterwerfen.

Warum sind Tradwives so gefährlich?

Tradwives definieren sich aber nicht nur über die Rolle als Hausfrau. Auch wenn sie diese Tätigkeit ausüben, macht eines sie viel mehr aus: warum sie das tut. Denn hinter der harmlos erscheinenden, ultrafemininen Ästhetik steckt meist, wie bei Williams, die Vorstellung, dass Frauen sich selbst hintanstellen und ihrem Mann unterwerfen sollten. Manche Tradwives distanzieren sich zwar ausdrücklich vom ultrarechten Teil der Bewegung und hängen verschiedenen (konservativen) Ideologien an, aber immer beruhen diese darauf, Geschlechterrollen zu festigen. Das zeigt sich schon darin, dass eine „traditionelle Frau“ ganz andere Aufgaben übernehmen soll als ein „traditioneller Mann“. Wie sie sich verhalten soll, ist festgeschrieben und etwas dazwischen soll es erst recht nicht geben.

Das Spektrum von Tradwifethemen beginnt bei eher konservativen Frauen, deren Fokus vor allem auf „traditionellen“ Rollen, konservativen Werten und Hausarbeit liegt, welche subtil in Vergleich zur abgelehnten modernen Welt gesetzt werden. Von da aus besteht ein fließender Übergang zu solchen mit größerem Fokus auf Tradition und Nationalismus, die offen Antifeminismus, Queerfeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus und antiwissenschaftliche Standpunkte (insbesondere gegen Impfungen) vertreten und via Social Media bewerben. Also alles, was die extreme Rechte und Verschwörungstheorien zu bieten haben, aber eben unter dem Deckmantel einer harmlosen „Stay-at-Home-Mom“. Die Hyperfeminität dient also dazu, die dahinterstehende autoritäre Ideologie zu verschleiern und so massentauglicher zu werden. Der religiöse Teil der Bewegung versucht auch, durch Bibelverse Frauen von ihrer aufgezwungenen Geschlechterrolle zu überzeugen, zum Beispiel durch Epheser 5.22: „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn.“

Auch haben die unterschiedlichen Regulationen von Plattformen eindeutig einen Einfluss auf den Inhalt der Posts. Das etwas weniger regulierte und moderierte TikTok wird beispielsweise eher genutzt, um ideologische Inhalte zu posten, wohingegen auf Instagram eher ästhetische Inhalte verbreitet werden sollen und somit auch oftmals als Startpunkt für eine Radikalisierung dienen können. Auch die sind aber keineswegs harmlos, da neben #traditionalwomen auch rechte Dogwhistles (Nutzung einer Sprache, die je nach Publikum unterschiedlich verstanden werden kann) wie #redpillwomen unter den Posts genutzt werden – ein Hashtag der auf radikalen Antifeminismus und Incels verweist und den Abstieg in die Alt-Right-Bubble bedeuten kann. Nicht zufällig ist die Tradwife-Bewegung in den USA nach den Wahlen 2016, aber auch aus der europäischen Identitären Bewegung entstanden, um das sogenannte „Frauenproblem“ zu lösen, also bewusst mehr Frauen für die männerdominierten Bewegungen anzuwerben. Dabei ist die Beteiligung von Frauen an der extremen Rechten nichts Neues. Schon der Ku-Klux-Klan der 1960er Kahre hatte eine Frauenorganisation, die Männer bei rassistischen Angriffen bis zu Vergewaltigungen und Morden unterstützte, indem die Frauen aktiv ihre Ideologie verbreiteten, neue Mitglieder anwarben und Proteste organisierten. Sie halfen auch an der Schule, beispielsweise durch Bibelkunde, ihre Ideologie bereits in der Jugend zu verbreiten, und traten im Wahlkampf für ihre Kandidat:innen ein, indem sie negative Propaganda über die Gegner:innen verbreiteten, um sie auszustechen.

Auch manche Radikalfeministinnen oder TERF’s (trans exkludierende Radikalfeminist:innen) entwickeln sich in die Richtung von „Tradwifery“, obwohl sie zunächst entgegengesetzt erscheinen. Denn Tradwives wollen sich ja eigentlich von den „Ketten“ des modernen Feminismus befreien und ihren Follower:innen erzählen, die Ablehnung von Femininität, Häuslichkeit und Familie würde sie erst so derart depressiv machen und dafür sorgen, dass sie nicht als heiratsfähig angesehen werden würden. Trotzdem sind sich die beiden Gruppen in einer Hinsicht einig: dem biologischen Essentialismus. Beide behaupten, Frauen und Männer hätten tiefer liegende Eigenschaften durch ihre Biologie oder Genitalien, feiern die Rolle der Mutter (die für sie nur Frauen einnehmen können) und lehnen Geschlechtsidentitäten ganz ab.

Warum liegen Tradwives auf einmal so im Trend?

Aber warum bekommen Tradwives überhaupt so viel Aufmerksamkeit und Zuwachs? Sie stellen eine vermeintliche Flucht aus den Tiefen des Kapitalismus dar. Wer möchte nicht dem ständigen Stress des Alltags mit Leistungsdruck am Arbeitsplatz und der gleichzeitig ständig anfallenden Haus- und  Carearbeit entfliehen? Es ist ein Fakt, dass Frauen am Arbeitsmarkt und zuhause in der Reproduktionsarbeit mehr ausgebeutet werden als Männer, da sie einerseits nach wie vor weniger verdienen und andererseits aufgrund der Geschlechterrollen den Großteil der anfallenden Reproduktionsarbeit planen und durchführen. Sie müssen also arbeiten gehen und sich und ihre Familie in der „Freizeit“ wieder arbeitstauglich machen, indem sie die Ware Arbeitskraft reproduzieren. Das schließt das Kochen, Putzen etc. mit ein, aber auch emotionale Sorgearbeit und die Reproduktion der Klasse an sich, indem neue Kinder, später dann Arbeiter:innen, herangezogen werden. Tradwives wissen, dass das schwer möglich ist und für viele eine extrem Anstrengung darstellt, die sie bis zum Burnout bringen kann. Und so behaupten sie ganz nach dem Motto „Früher war alles besser“, Frauen sollten ihre Ausbeutung verringern, indem sie die Arbeitswelt einfach wieder verlassen. Hinzu kommen die Unsicherheiten des modernen Kapitalismus, dass man vielleicht auch erstmal gar nicht weiß, wer man sein will und was man mit sich und seiner Arbeitskraft anfangen soll, also z. B. welchen Job man ausführen soll. Das ist das Dilemma der doppelt freien Lohnarbeit, welches sich mit der Ausdifferenzierung des Kapitalismus immer weiter zugespitzt hat: frei von eigenen Produktionsmitteln, aber auch in der Entscheidung, wem eigentlich die Arbeitskraft verkauft werden soll. Tradwives bieten dagegen eine feste Rolle statt dieser Unsicherheiten und stellen die traditionelle Familie als Lösung für das ganze Dilemma dar. Damit soll ein Halt in dem ganzen Chaos geboten werden.

Außerdem sollen Kinder und Jugendliche durch die mütterliche Betreuung vor „schlechtem“ Einfluss geschützt werden. Müttern, besonders in den USA, wird Angst gemacht, dass ihre Kinder in der staatlichen Schule nur etwas über „woke Ideologie“, Genderwahn und letztendlich Kommunismus lernen würden, was natürlich weit von der Wahrheit entfernt ist. Aber auch sehr reale Probleme bewegen (werdende) Mütter dazu, sich nach anderen Modellen als der staatlichen Schule und der Kita zu sehnen. In Deutschland etwa Angst vor schlechter Betreuung durch überlastete Kitas und schlechte Betreuungsschlüssel.

Hausfrau werden ist nicht die Lösung!

Aber kann das Leben als Tradwife diese Probleme wirklich lösen? Bietet die Alt-Right wirklich eine Alternative zur modernen kapitalistischen Ausbeutung an? Natürlich nicht, denn sie will den Kapitalismus nicht überwinden. Vielmehr ist die Reproduktionsarbeit, die größtenteils die Frauen der Arbeiter:innenklasse verrichten, notwendig, damit der Kapitalismus funktioniert, denn ohne sie würde sich niemand mehr regenerieren und dann arbeiten gehen können. Die traditionelle, bürgerliche Familie, die Tradwives mit aller Kraft als das ideale Leben bewerben, ist entscheidend für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft im Kapitalismus und auch in rechten Ideologien spielt sie eine Schlüsselrolle. Dort soll nämlich das „Volk“ durch Fortpflanzung in der Kleinfamilie erhalten werden, ohne dass wiederum laut Rechten die Nation untergeht. Die Alt-Right sieht Tradwives als Lösung an, da sie genau ihr essentialistisches Weltbild, ihre Vorstellung davon, was eine Frau „natürlicherweise“ ist, ausleben.

Dass das ganze Konzept einen augenscheinlichen Klassencharakter beinhaltet, dürfte klar sein. Denn welche Familie der Arbeiter:innenklasse kann sich bitte eine Frau, die gar nicht arbeiten geht, leisten? Gerade in Zeiten von Krise, Inflation und massivem Reallohnverlust ist das vor allem ein Lebensentwurf des Kleinbürger:innentums und der lohnabhängigen Mittelschichten, was sich auch in der Verbindung zu rechten Bewegungen zeigt, für die, wie im Fall des Faschsimus, das Kleinbürger:innentum die Klassenbasis darstellt. Für die unteren Klassen – vor allem in Halbkolonien – ist es eher eine Utopie, die sich im Kapitalismus nicht erfüllen lässt. Für die herrschende Klasse stellt das Ganze sowieso nichts Erstrebenswertes dar, denn die lässt die Reproduktionsarbeit sowieso von Angestellten erledigen, da für sie kein Arbeitszwang besteht und die ganze Familie von der Ausbeutung anderer lebt. Früher war das etwas anders. Da konnten auch besserverdienende Schichten der Arbeiter:innenklasse, zum Beispiel die Arbeiter:innenaristokratie, in den imperialistischen Kernzentren und in einigen Halbkolonien ihre Familie mit ernähren, ohne dass die Frau selber einer Lohnarbeit nachgehen musste. Aber das ist spätestens seit Beginn der Phase des Neoliberalismus in den 1980er Jahren immer weniger möglich, da das Profitstreben des Kapitals danach verlangte, auch Frauen immer mehr in den Arbeitsmarkt zu integrieren, während gleichzeitig die Löhne immer weiter sanken. Daher ist klar, dass dass das Ideal der bürgerlichen Familie für die Arbeiter:innenklasse noch nie vollumfänglich erreichbar war, heutzutage allerdings weniger denn je. Dennoch wurde die bürgerliche Familie zur prägenden ideellen und materiellen Form und damit auch zu einem Kern reaktionärer Geschlechterrollen. Diese Verallgemeinerung basiert auf einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Und durch die Tradwive-Bewegung kann es auch hier die Auswirkung haben, dass Geschlechterrollen wieder weiter gefestigt werden, indem die Arbeiterinnen weiterhin bzw. wieder vermehrt der Reproduktionsarbeit nachgehen, während sich ihre Lohnarbeit im vermeintlich flexiblen Niedriglohnsektor ansiedelt, da sie so eben auch in der Lage sind, neben ihr auch der Reproduktionsarbeit nachgehen zu können, da sie nicht Vollzeit arbeiten.

Obwohl argumentiert wird, dass das Hausfrau-Sein an sich unproblematisch ist und erst die Ideologie von Tradwives das Problem darstellt, muss ganz klar unterstrichen werden: Eine Hausfrau ist materiell abhängig. Frauen, welche Hausfrauen werden („wollen“), indem sie gar nicht arbeiten gehen oder auf Teilzeit- bzw. Minijobbasis angestellt werden, werden nach wie vor ausgebeutet, bekommen kein oder nur viel weniger Geld und werden so um einiges abhängiger von ihren Männern. Und das geben Tradwives auch offen zu und finden das sogar super: „Er überwacht die wichtigsten Finanzen. Wenn ich Geld und Kleingeld für ein Sofa ausgeben will, sagt er ,Nein’, denn er weiß, was rein- und rausgeht“, schreibt die britische Tradwife Alena Pettitt. Aber das ist wirklich gefährlich: Aus finanziellen Gründen schon können Frauen sich hier zum Beispiel nicht mehr trennen, und ihre Männer können mehr Kontrolle über sie ausüben – ihre „frei gewählte“ Ideologie wird also durch ihre materiellen Umstände zum Zwang. Es ist auch so, dass manchen Männern das sehr deutlich bewusst ist und sie dann teilweise (körperliche) Gewalt anwenden, um zu bekommen, was sie wollen, ohne sich darüber Sorgen zu machen, dass ihre Frau sich trennen wollen könnte. Auch das Thema Altersarmut darf nicht unterschätzt werden. In Deutschland beispielsweise bekommt man erst eine gesetzliche Rente, wenn man mindestens 5 Jahre gearbeitet und Beitrag gezahlt hat. Das kann zwar durch einen Anspruch auf Mütterrente oder diverse staatliche Zuzahlungen auch erreicht werden, jedoch fällt die Altersrente dann trotzdem deutlich geringer aus als bei Männern, die Vollzeittätigkeiten nachgegangen sind. Da Frauen häufiger im Niedriglohnsektor tätig sind und oftmals nicht Vollzeit arbeiten, bekommen sie in Deutschland durchschnittlich monatlich 314 Euro weniger Rente (Stand für das Rentenjahr 2022). Doch das ist natürlich nur ein Durchschnitt, wo es auch mitunter deutliche Schwankungen gibt.

Für eine echte Perspektive gegen Frauenunterdrückung!

Der bürgerliche Feminismus kann die aufstrebende Tradwife-Bewegung jedoch nur bedingt bekämpfen und gibt ihr sogar einen gewissen Aufschwung. Er bietet nämlich keine (langfristige) Lösung gegen Ausbeutung und Reproduktionsarbeit, sondern kann diese höchstens auf mehr Menschen verteilen. Doch hier zeigen sich bereits die Grenzen der kapitalistischen Wirtschaftsweise: So leisten Frauen täglich immer noch durchschnittlich 74 Minuten mehr Hausarbeit in Deutschland als ihre Männer. Diese Messung bezieht sich jedoch nur auf ausgeführte Tätigkeiten und klammert das äußerst anstrengende Planen und Delegieren von Aufgaben aus, was auch zumeist Frauen übernehmen müssen. Hinzu kommen Reiche, die sich Angestellte holen und keinen Finger im Haushalt krümmen. Eine gerechte Aufteilung sieht wirklich anders aus. Denn selbst zu einer besseren Umschichtung von Reproduktionsarbeit ist insbesondere der liberale Feminismus überhaupt nicht in der Lage. Die Märchen des Girlboss-Feminismus und des Choice-Feminismus individualisieren die Frauenunterdrückung und zeigen als vermeintliche Lösung nur auf, dass jede sich ihren eigenen Platz im System erkämpfen solle und ihr freistünde, ob sie sich für Kinder, Küche oder Karriere (oder am besten alles zusammen) entscheidet. Auch die anderen Feminismen haben keinen Lösungsentwurf parat, da sie die Klassengesellschaft, auf der die Frauenunterdrückung basiert, nicht mit einbeziehen und das Patriarchat als etwas vom Kapitalismus bzw. der Klassengesellschaft Losgelöstes betrachten. So kommt es aber dazu, dass Arbeiterinnen und auch schon ihre Töchter sich eine Zukunft im Kapitalismus mitsamt Lohn- und Reproduktionsarbeit nicht vorstellen können und verzweifelt nach Alternativen suchen. Es ist unsere Aufgabe, ihnen eine echte Perspektive aufzuzeigen.

Dafür müssen wir das traditionelle Rollendenken hinter uns lassen, zusammen mit dem kapitalistischen System an sich. Auch einfach Lohn für Hausarbeit zu zahlen, würde das Problem nicht auflösen: Die ökonomische Abhängigkeit würde bedingt besser werden, aber die geschlechtliche Arbeitsteilung, sowie die Isolation von Frauen als Hausfrauen würden weiter bestehen bleiben. Deswegen muss unsere Lösung eine andere sein: Wir müssen die Reproduktionsarbeit auf alle Schultern der Gesellschaft aufteilen. Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass statt individuellem Essen Mensen eingerichtet werden, wo jede/r lecker und gesund essen kann, aber auch jede/r mal für die Zubereitung und das Aufräumen zuständig ist. Ähnliche Konzepte muss es dann auch für das Putzen und die Kinderbetreuung geben.

Denn nur, wenn wir das kapitalistische System überwinden und Wohnraum sowie Hausarbeit vergesellschaften, die Betriebe unter Arbeiter:innnekontrolle stellen und massiv in Bildung, Soziales und Gesundheit investieren, können wir Frauen (und letztendlich auch alle anderen Menschen) entlasten und so auch die Gesamtarbeitszeit reduzieren. Nur indem wir als Arbeiter:innenklasse und Jugend gemeinsam und demokratisch die Arbeit aufteilen und die Produktion planen und verwalten, können wir der doppelten Ausbeutung von Frauen nachhaltig entgegenwirken und strukturelle Überlastung bekämpfen. Dafür müssen wir uns an Schulen, Unis und in Betrieben organisieren und Aktionskomitees aufbauen. Auch braucht es die Bekämpfung von Vorurteilen gegenüber Frauen innerhalb der Arbeiter:innenbewegung sowie einen internationalen Zusammenschluss, der die Kämpfe koordiniert. Nur so können wir eine internationale multiethnische antikapitalistische Frauenbewegung aufbauen, die eng mit der Arbeiter:innneklasse zusammenarbeitet, welche dann gemeinsam mit allen Unterdrückten und Ausgebeuteten in der Lage ist, den Kapitalismus zu überwinden. Gleichzeitig besteht auch die Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen kommunistischen Partei und einer neuen Internationale, die die Kämpfe anführen und zuspitzen kann.

Auch Social Media – ein beispiellos falscher Begriff für die Datenkraken und Geldmaschinen im kapitalistischen Internet – müssen wir den Multimilliardär:innen und ihrem für uns schädlichen Profitinteresse entreißen und stattdessen demokratisch als Arbeiter:innen und Jugendliche überwachen und kontrollieren, damit niemand von uns mehr in eine Alt-Right-Falle tappt, nur weil wir ein Kochrezept geliket haben. Für ein sicheres Social Media für alle, statt maximalen Profiten für einige, müssen wir Konzepte entwickeln, die unseren Bedürfnissen als Gesellschaft entsprechen und ihre Rolle im Kapitalismus hinterfragen.




Warum die Klimakrise auch ein Rassismusproblem ist

Von Jona Everdeen, März 2024

„Die Klimakrise, als ultimative Naturkatastrophe, betrifft uns alle gleich, egal, welches Geschlecht, welche Herkunft, ob arm oder reich.“ Dieser Mythos ist in der bürgerlichen Gesellschaft sehr verbreitet, bis hinein in die bürgerliche Klimabewegung. Allerdings ist er falsch.

Nicht nur, dass ausschließlich die Bourgeoisie in der Lage ist, sich mittels ihrem Geldbeutel vor den meisten Folgen der Umweltkrise zu schützen. Auch muss die Klimakrise im Kontext der jahrhundertealten rassistischen Weltordnung betrachtet werden, die ihren Ausdruck zunächst im Kolonialismus fand und heute im postkolonialen Imperialismus findet.

Umweltimperialismus: Warum nicht alle gleich betroffen sind

Von weiten Teilen der Klimabewegung wird erkannt, dass die „most affected areas“ der Folgen der Klimakrise im Globalen Süden liegen. Der Grund dafür ist jedoch weniger geläufig. Dieser ist nicht in erster Linie geographisches „Pech“, sondern das imperialistische System.

Den verschuldeten, ökonomisch abhängigen, halbkolonialen Ländern Afrikas, Lateinamerikas, etc. ist es nicht möglich, effektive Maßnahmen zum Schutz vor Umweltkatastrophen zu ergreifen. Länder wie Deutschland oder die Niederlande können sich z.B. mit Deichen einigermaßen gegen das Steigen des Meeresspiegels schützen, Länder wie Bangladesch oder die Philippinen können das nicht.

Hinzu kommt, dass die schmutzigsten Industrien, die große Schäden an Ökosystemen verursachen, gezielt in diese halbkolonialen Länder ausgelagert werden. So findet fast der gesamte umweltschädliche Bergbau, der für die moderne Industrie essentiell ist, außerhalb der imperialistischen Zentren statt, wie die Goldminen in Südafrika oder Mali, der Kobaltabbau im Kongo oder der von Kupfer in Peru.

Auch die Steinkohle, die in deutschen Kohlekraftwerken verfeuert wird, kommt nicht mehr aus den Zechen im Ruhrgebiet, sondern aus riesigen Tagebauen vor allem in Kolumbien. In diesen Minen sind die Arbeitsbedingungen katastrophal und häufig werden für ihre Errichtung Indigene und andere ländliche Communities vertrieben. Zudem werden die regionalen Ökosysteme massiv zerstört.

An Gold aus Südafrika und Kohle aus Kolumbien profitieren hauptsächlich Konzerne aus den USA oder Deutschland. Die halbkolonialen Länder sehen von dem enormen Wert ihrer Ressourcen herzlich wenig, abgesehen von einer sehr kleinen aber dafür sehr korrupten nationalen Bourgeoisie.

Das funktioniert durch die ökonomische Abhängigkeit dieser Länder, welche sie dazu zwingt, die wirtschaftliche Forderungen umzusetzen, die von imperialistischen Ländern und ihren Organen wie dem IWF (Internationaler Währungsfonds) gestellt werden.

Dazu gehört der Zwang, zu akzeptieren, dass die eigene Umwelt für die Profitinteressen von deutschen, US-amerikanischen und chinesischen Konzernen zerstört wird, und dass das Land seine Bevölkerung nicht effektiv vor Umweltkatastrophen schützen kann, weil das dafür nötige Geld gebraucht wird, um Banken aus London und New York Schulden zurückzuzahlen.

Das System der Überausbeutung großer Teile der Welt, endete nicht mit dem Kolonialismus, sondern ging nahtlos in neuer Form weiter. Damals wie heute soll es durch Rassismus legitimiert werden, wie den Mythos der „Unterentwicklung“ dieser Teile der Welt gegenüber den imperialistischen Zentren Europas, Nordamerikas und Ostasiens.

Dabei hat die reale ökonomische Unterlegenheit der Länder Afrikas, Lateinamerikas und weiter Teile Asiens eine ganz andere Ursache: Dass die imperialistischen Staaten ihre Wirtschaft gezielt unterentwickelt haben, um sie weiter auspressen zu können.

Rassismus gegen Klimaflüchtende

Durch die Umweltzerstörung im Globalen Süden sowie die fehlenden Möglichkeiten, sich effektiv vor den Folgen der Klimakrise zu schützen, müssen zahlreiche Menschen ihre Heimat verlassen. Bereits jetzt wird geschätzt, dass der Wegfall der ökologischen Lebensgrundlagen die häufigste Fluchtursache ist, noch vor Krieg.

Bislang drückt sich dies vor allem in einer Binnenflucht aus: von ländlichen Regionen, die aufgrund von Dürren und Überschwemmungen nicht mehr genug Ernte bringen in stetig anwachsende Großstädte.

Spätestens, wenn sich die Menge der Gebiete dramatisch ausweitet, die mindestens saisonal nicht mehr bewohnbar sind, werden Menschen ihre Heimat ganz verlassen. Sie werden sich in Regionen und Länder aufmachen, die bessere Bedingungen bieten, also die imperialistischen Zentren, die in der Lage sind, die Folgen von Umweltkatastrophen verhältnismäßig klein zu halten.

Bereits jetzt führen vor allem die EU und die USA eine brutale Migrationspolitik. Für imperialistische Staaten ist dies nötig, da ihre imperialistische Herrschaft untergraben werden würde, wenn überdurchschnittlich stark ausgebeutete Menschen einfach aus den Halbkolonien wegziehen könnten. Mit Klimaflüchtenden wird es nicht anders sein.

Die imperialistischen Staaten sind für die übermäßige Umweltzerstörung in ihrer Heimat verantwortlich, so wie für die übermäßige Ausbeutung ihrer Arbeitskraft zu miesen Löhnen. Damit diese Ausbeutung weitergeführt werden kann, müssen Deutschland, die USA und Co. mit eiserner Hand und eisernem Stacheldraht verhindern, dass diese Menschen ihre Grenzen überqueren.

Eine solche brutale Migrationspolitik ist nur möglich durch das zunehmende Propagieren von Rassismus, den wir nicht nur von Seiten der Rechten beobachten können, sondern auch von liberalen bürgerlichen Kräften wie den Grünen.

Nur auf diese Art können sie begründen, warum sie die Menschen, deren Heimat durch die von Konzernen aus dem eigenen Land verursachte Krise zerstört wurde, an den eigenen Grenzen abweisen oder mit Gewalt an deren Überquerung hindern.

Rassismus und die Klimabewegung

Der Kampf gegen die Klimakrise ist ein Kampf gegen das imperialistische Weltsystem und gegen den Rassismus, der ihm dient.  Während seit Jahrzehnten viele Kämpfe gegen die Umweltzerstörung in Halbkolonien von Indigenen und anderen besonders stark vom Umweltimperialismus Betroffenen ausgefochten werden, kommt dieses Bewusstsein in den weiß dominierten Klimabewegungen des Globalen Nordens nur verspätet an.

In einigen imperialistischen Ländern wie Frankreich, den USA oder Britannien positioniert sich die Klimabewegen inzwischen recht deutlich gegen den Imperialismus, doch in Deutschland sieht es besonders schwierig aus.

Das liegt vor allem daran, dass Fridays for Future Deutschland durch seine starke Bindung zu der fest in den deutschen Imperialismus integrierten Grünen Partei häufig die außenpolitischen Interessen dieses Staates verteidigt. Dazu gehört die Aufrechterhaltung der imperialistischen Überausbeutung und des Umweltimperialismus.

Das drückt sich in der Unterstützung der deutschen „Staatsräson“ aus. Die koloniale Politik Israels, die auch mit massiver Umweltzerstörung verbunden ist, sowie dessen Menschrechtsverbrechen, werden von großen Teilen der Bewegung ohne Kritik akzeptiert oder aktiv unterstützt.

Diese rassistische, pro-imperialistische Position ist nicht nur bei Luisa Neubauer und Co. vertreten, sondern auch bei der sich selbst als „antikolonial“ verstehenden Gruppe Ende Gelände, die Positionen der Unterstützung des israelischen Kolonialismus toleriert und Antizionismus sowie die Unterstützung des palästinensischen Widerstands mit bewegungsinternen Repressionen überzieht.

Was es stattdessen braucht, ist eine Klimabewegung, die versteht, dass der Kampf für Klimagerechtigkeit nur internationalistisch geführt werden, kann, in Solidarität mit allen Unterdrückten auf der Welt. Es ist die Verantwortung von Aktivist:innen in den imperialistischen Ländern, ihre Genoss:innen in den Halbkolonien aktiv zu unterstützen.

Die Klimabewegung im Globalen Norden braucht Organe, in denen von Rassismus Betroffene ihre Anliegen und Perspektiven diskutieren können, damit rassistische Ideologien in der mehrheitlich weißen Bewegung bekämpft werden.

Rassismus wird durch die Umweltkrise verstärkt und die Umweltkrise ist in ihrer Form Folge des rassistischen Weltsystems. Umweltkrise wie (moderner) Rassismus sind Produkte einer Gesellschaftsform, die auf der Ausbeutung von Mensch und Natur basiert: dem Kapitalismus.

Nur wenn dieser überwunden wird, wenn Arbeiter:innen, Jugendliche und die unterdrückte Landbevölkerung sich global zusammenschließen, eine neue Internationale aufbauen und in den Kampf gegen den Imperialismus ziehen, für die Errichtung einer neuen sozialistischen Weltordnung, kann Klimagerechtigkeit erreicht werden.

Nur dann können die Folgen der Umweltkrise bestmöglich reduziert werden, die Überausbeutung von Menschen beendet und somit auch die Wurzel des Rassismus abgesägt werden!

Wir als Kommunist:innen fordern:

  • Offene Grenzen sowie Staatsbürger:innenrechte für alle, an dem Ort, wo sie leben!
  • Die sofortige Streichung der Schulden für alle halbkolonialen Länder und die Enteignung der Konzerne aus den imperialistischen Zentren unter Kontrolle der Arbeiter:innen!
  • Unterstützung der Länder des Globalen Südens, damit sie sich so effizient wie möglich gegen Umweltkatastrophen schützen können. Für globale Einrichtungen zum Katastrophenschutz und den Wiederaufbau von Ökosystemen unter der Kontrolle der Arbeiter:innen und der Landbevölkerung!
  • Das Ende der imperialistischen Überausbeutung, das Ende des Umweltimperialismus sowie das Ende des Kapitalismus, der die Wurzel der Ausbeutung von Mensch und Natur darstellt!



Rechtsruck, Krise und Lage von Frauen

von Kai Zumar, Revolution, FIGHT! März 2024

Für Linke, Frauen, queere Menschen, rassistisch Unterdrückte und andere gesellschaftlich Unterdrückte und Menschen, die in Armut leben, fängt 2024 als gut geölte Rutschbahn in die Hölle an. Der Klimawandel droht nach wie vor, unseren Planeten buchstäblich höllisch heiß zu machen. Mit der Wirtschaft geht es bergab, Rechte sind auf dem Vormarsch, und alles scheint in deprimierender Perspektivlosigkeit zu versinken. Hinzu kommen Kriege und Auseinandersetzungen weltweit. Es wird weiterhin von einem sinkenden Produktionsniveau, Stagnation und Rezession, steigender Arbeitslosigkeit und hoher Inflation in Deutschland ausgegangen. Weltweit sieht es nicht besser aus, wie auch der ökonomische Kollaps von Halbkolonien wie Sri Lanka oder Pakistan verdeutlicht.

Wirtschaftskrise

„Schlechter war die Stimmung in diesem Punkt zuletzt im Jahr der Finanzkrise 2009“, meinte der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Ende 2023. Dass direkt die Krise 2008/2009 zur Sprache kommt, ist kein Zufall. Denn die weltweite Wirtschaftskrise, die wir immer mehr beobachten können, ist direkte Folge dieser damals nicht voll aufgelösten Krise. Eine massive Blase auf den Hypotheken- und Hausmärkten war 2008 geplatzt, als sich Rückzahlungsausfälle häuften. In der Folge kam es zu einer enormen globalen Profitkrise. Doch während es üblicherweise zu einer Erholung kommen kann, wenn eine Reihe an Firmen pleitegeht und es damit zu einer Vernichtung (Außerdienststellung) von ihrem fixen Kapital (z. B. Maschinen) kommt, woraufhin der Anteil an menschlicher Arbeit in der Produktion und damit die Profitraten wieder steigen, wurde diese Entwicklung 2008/9 aufgeschoben. Erreicht wurde das durch Niedrigzinspolitik, die Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innen und internationale Koordination. Losgetreten und befeuert durch die Coronapandemie und die Energiekrise rollt die jetzige Krise als Folge dieser Politik über uns hinweg. Für Frauen hat schon die Pandemie nicht nur einen unfassbaren Anstieg an häuslicher Gewalt und ein Eingesperrtsein mit ihren Tätern, sondern auch überdurchschnittlich oft Entlassung und Prekarisierung bedeutet, was sie zusätzlich ökonomisch abhängiger macht, als sie es ohnehin oft sind. Hinzu kam dann noch eine heftige Mehrfachbelastung dadurch, dass Frauen einerseits besonders oft in „systemrelevanten“ Jobs und im Gesundheitssystem arbeiten, das ohnehin kaputtgespart ist und wo sie Ansteckung noch mehr ausgesetzt sind, und andererseits, dass durch geschlossene Kindergärten und Schulen sowie Homeoffice viel mehr Reproduktionsarbeit in den privaten Familienhaushalt und damit die Frau in eine reaktionäre Geschlechterrolle als Hausfrau gedrängt wurden. Die Rückbesinnung auf die bürgerliche Kleinfamilie wirkt sich auch durch steigende Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen aus. Viele von ihnen mussten lange Lockdowns mit queerfeindlichen und/oder gewalttätigen Familienmitgliedern verbringen und waren gezwungen, sich tief im Schrank zu verschanzen. statt frei und geoutet zu leben. Für viele trans Personen bedeutete die Krise des Gesundheitssystems noch längere Wartezeiten oder die Aussetzung von lebensrettenden Operationen und Behandlungen, während Schutz- und Therapieangebote weiterhin völlig unzureichend sind. Wie in einem Spießroutenlauf ging es nach der Zeit der Lockdowns weiter mit Inflation und einer Krise, die sowohl von ihrem Wesen her als auch in ihren Auswirkungen weitaus umfassender ist als 2008. Für Frauen, die öfter in sozialen Bereichen, anderen schlecht bezahlten Jobs und besonders in einigen Halbkolonien überdurchschnittlich oft im informellen Sektor arbeiten, macht eine Inflation von bis zu 8,8% in Deutschland 2023 und weitaus höher in anderen Teilen der Welt schnell den Unterschied zwischen gerade noch durchkommen und hungern müssen aus. Besonders, wenn man dann noch alleine Kinder großziehen muss. Auch queere Menschen, die überdurchschnittlich oft arm, arbeitslos oder wohnungslos sind, werden besonders hart von der Krise getroffen. Die Lösungsansätze von 2008 waren für Arbeiter:innen und gesellschaftlich Unterdrückte nicht viel besser. Doch sie jetzt einfach zu wiederholen, geht auch nicht. Die mitgeschleppten Probleme der letzten Krise machen das unmöglich. Die Nullzinspolitik ist erschöpft, Quantitative Easing hat zu viele Nebenwirkungen, die Kosten sind nicht komplett auf Arbeiter:innen abwälzbar und die internationale Konkurrenz, entgegenstehende Kapitalinteressen und daraus entstehende militärische Konflikte verhindern internationale Koordinierung.

Geopolitische Lage

Solche politischen, wirtschaftlichen und militärischen Konflikte können wir gerade in großem Ausmaß an vielen Stellen beobachten – seien es der Handelskrieg zwischen China und den USA, der Genozid gegen die Palästinenser:innen oder der immer noch andauernde Ukrainekrieg. Als Folge von unsicheren Produktions- und Handelsketten durch die Pandemie und die globale Rezession verlagern die imperialistischen Zentren wichtige Industrien des nationalen Kapitals immer mehr in ihre eigenen Einflusszonen zurück und betreiben so eine Politik des „Reshoring“. Das sehen wir beispielsweise an der Wiedereinführung von Zollschranken oder den Versuchen Chinas, eigene Alternativen zu dem internationalen Zahlungssystem SWIFT zu etablieren. Dieses Reshoring äußert sich auch in vermehrter imperialistischer Blockbildung. In einer Welt, in der jede Ressource und jedes Fleckchen schon von irgendwem/r kontrolliert wird, versuchen einzelne Kapitalfraktionen verzweifelt, während der Rezession ihren Einfluss zu behalten oder auszuweiten, um sich ihren Platz in der internationalen Konkurrenz zu sichern. Zunehmend nimmt dieser Kampf um die Neuaufteilung der Welt militärische Formen an. Doch viele dieser Kriege sind geopolitische Konflikte von Imperialist:innen, bei denen für Arbeiter:innen nie was drin ist. Von welchem Imperialismus sie unterdrückt und ausgebeutet werden, macht kaum einen Unterschied. Für sie bedeutet Krieg die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage, oft Nahrungsmittelknappheit, noch mehr Ausbeutung und, sich für fremde Interessen erschießen zu lassen. Doch auf Frauen und queere Menschen haben auch Krieg und Flucht oft noch extremere Auswirkungen. Darum gilt es, besonders Kämpfe gegen nationale Unterdrückung wie in Kurdistan oder Palästina zu antiimperialistischen, revolutionären Befreiungskämpfen auszuweiten, in denen Frauen eine führende Rolle für ihre eigene Befreiung einnehmen. Neben einer allgemeinen Verschlechterung der Lebensbedingungen kommt es in Kriegssituationen oft zu einem enormen Anstieg an Gewalt gegen Frauen und queere Menschen. Besonders Vergewaltigungen als massenhaft angewendete, verbrecherische Kriegstaktik, um einer ganzen Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe nachhaltig zu schaden, kommt fern von jeden Beteuerungen über Menschenrechte und Schutz der Zivilbevölkerung oft vor (z. B. Ruanda 1994, Nanking 1937, Bosnien und Herzegowina 1992 – 1995). Konsequenzen hat das für die meisten Täter nicht, obwohl die UNO (erst) 2008 in einer Resolution zu einem sofortigen Stopp von sexueller Gewalt in der Kriegsführung aufrief. In dem UNO-Bericht dazu von 2023 wurde festgehalten, dass diese Verbrechen weiter eine relevante Rolle in der Kriegsführung spielen, im Kontext sich zuspitzender Konflikte sogar zugenommen haben, sie weiterhin auch von UNO-Soldat:innen ausgeübt werden und nach wie vor die meisten Taten unbestraft bleiben. Noch extremer als während Corona trifft auch der Zusammenbruch des Gesundheitswesens im Krieg Frauen und LGBTQ+-Menschen besonders stark, nicht nur weil sie häufig in diesem Bereich arbeiten. Oft gehen die Zahlen von Geburtensterblichkeit drastisch in die Höhe. Dazu kommt, dass eine Frühwitwenschaft durch Krieg die ohnehin bestehende Altersarmut von Frauen verstärkt. Auch werden im Krieg oft Kinderbetreuung, Bildung oder Sozialdienste ausgesetzt, wodurch Frauen mit noch mehr unbezahlter Reproduktionsarbeit zurückgelassen werden als sonst. Doch nicht nur die zuhause Gebliebenen haben es schwer, auch auf der Flucht zeigt sich sexuelle Unterdrückung gegen Frauen und queere Menschen. Etwa die Hälfte der über 27 Mio. Menschen, die gerade auf der Flucht sind, sind Frauen. Auch hier erfahren sie häufig sexuelle Gewalt und tragen Verantwortung für Kinder und Familien. Auch queere Menschen erfahren oft Gewalt auf der Flucht. Die auch nur unzureichenden Schutzversuche der UNO für geflüchtete Frauen wie die Einrichtung von geschlechtergetrennten Sanitäranlagen bieten diesen Land erreichen, werden Verfolgungen aufgrund sexueller Orientierung oder des Geschlechts oft de facto nicht anerkannt. Rechtsruck Doch auch abgesehen von spezifischer Unterdrückung wird die Situation für Geflüchtete ja immer schlechter. Die AfD in Deutschland würde am liebsten wieder die Rassentheorie auspacken und nicht nur Geflüchtete, sondern gerne gleich alle, die kein „reines, deutsches Blut“ haben, abschieben. Schweden erlässt ein Gesetz, nach dem alle im sozialen Bereich Arbeitenden gezwungen sind, Menschen ohne Papiere, die ihre Hilfe aufsuchen, an den Staat zu melden. Die EU schafft fröhlich das Asylrecht nach und nach ab und verweigert Geflüchteten Grundrechte. Es scheint, als gäbe es keine Ecke mehr auf der Welt, aus der nicht Meldungen über neue rechte Regierungen oder rassistische Gesetzgebungen kommen. Analog zu der Wirtschaftspolitik des Reshorings und der Blockbildung greift auf ideologischer Ebene eine neue Welle des Nationalismus um sich. Wir erleben eine allgemeine Entwicklung nach rechts, die sich aus der Schwäche der Linken und der Wirtschaftskrise speist. Die Krise führt zu Abstiegsängsten beim Kleinbürger:innentum und zur Prekarisierung vieler Arbeiter:innen. Mangels irgendeiner fortschrittlichen Perspektive wenden sie sich zum Teil an Rechte, die versprechen, das Gefühl, es gäbe zu wenig, damit zu beantworten, dass halt noch weniger geteilt wird (was faktisch Rassismus und Umverteilung nach oben bedeutet). Auch das binnenmarktorientierte Kapital wendet sich den Rechten zu, die ihre Interessen viel eher vertreten als die der Kleinbürger:innen oder gar Arbeiter:innen. Es ist also kein Zufall, dass AfD, Sverigedemokraterna (rechte Regierungspartei in Schweden) oder die Fratelli d’Italia gerade jetzt so stark sind. Und es ist auch kein Zufall, dass die Rechten in Italien Mussolinis alte Parole „Dio, patria, famiglia“ (Gott, Vaterland, Familie) wieder aufwerfen oder die AfD dafür ist, dass Kinder die ersten drei Jahre zu Hause von der Mutter betreut werden, während sie gleichgeschlechtlichen Paaren gerne Kinderkriegen und Heiraten verbieten würde.

Reproduktionsarbeit

Es ist kein Wunder, dass Krise und Rechtruck mit einer Rückbesinnung auf die bürgerliche Kleinfamilie und damit Angriffen auf die Rechte von queeren Menschen (siehe Transfeindlichkeit, besonders in den USA, Russland, Großbritannien …) und von Frauen (z. B. Kürzungen von Geldern für Frauenhäuser, Abtreibungsrecht) einhergehen. Denn die bürgerliche Kleinfamilie ist der Ort, an dem im Kapitalismus die Arbeitskraft reproduziert wird. Wer morgens brav zur Arbeit erscheinen soll, wurde irgendwann geboren, erzogen und hat Bildung erfahren, braucht einen vollen Magen, eine saubere Wohnung, in der sie/er leben und schlafen kann, gewaschene Klamotten etc. Und wer putzt die Wohnung, erzieht die Kinder, kocht Essen, geht einkaufen, wäscht Geschirr und Kleidung? Frauen wenden im Durchschnitt in Deutschland 52,4 % mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf (bei 34-Jährigen sind es sogar 110,6 %). Ganz schön praktisch für die Kapitalist:innen, die dadurch nicht für die Reproduktionsarbeit verantwortlich sind und mehr Profite machen können. Ideologien wie die Erzählung von der perfekten Hausfrau und dem umsorgenden weiblichen Wesen halten diese Arbeitsteilung (bzw. Mehrarbeit der Frauen) genauso aufrecht wie Regelungen wie z. B. die Bedarfsgemeinschaft für den Empfang von Sozialleistungen oder Ehegattensplitting. Und besonders in einer Krise gilt es für die Kapitalist:innen, Arbeitskraft so billig wie möglich, bestenfalls kostenlos zu mobilisieren. Sexistische Erzählungen kommen darum in Krisenzeiten oft mehr auf und rechtfertigen die unbezahlte Hausarbeit und das Abschieben von Frauen in prekäre Arbeitsverhältnisse. In Deutschland arbeitet momentan fast die Hälfte aller Frauen in Teilzeit (bei Männern sind es 12,7 %). In den fünf schlechtest bezahlenden Branchen arbeiten auch überdurchschnittlich viele Frauen, beispielsweise im Lebensmitteleinzelhandel mit über 80 %. Von ihnen wird erwartet, dass sie den Haushalt schmeißen, während sie gleichzeitig der Lohnarbeit nachgehen müssen, um sich über Wasser zu halten. Die Familie als ökonomische Instanz wird so immer unattraktiver. Das möchten die Rechten gerne ändern. Allerdings nicht, indem sie Hausarbeit vergesellschaften und damit Frauen von dieser Doppelbelastung befreien. Außerdem sollen alle staatlichen Unterstützungen bitte nur für „klassische“ Familienmodelle (á la eine deutsche Mutter, ein deutscher Vater und deren leibliche Kinder) zur Verfügung stehen. Doch dieses Beharren auf sexistischen Erzählungen und der bürgerlichen Kleinfamilie, in der die Frau abhängig vom Mann ist, ist gefährlich. Zum einen sind da die Mehrbelastung, die ökonomische Abhängigkeit, die mit der Krise noch steigt, und fehlende Selbstbestimmung über den eigenen Körper sowie die sexuelle Gewalt. Aber da hört es nicht auf. Frauen werden täglich ermordet, einfach weil sie Frauen sind. Parallel zum Anwachsen sexistischer Ideologien ist auch die Zahl an Femiziden in den letzten Jahren immer noch erschreckend hoch. Mehr als 135 Frauen sind es weltweit täglich, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, zumal diese Statistik nur von Morden in der Familie oder Partner:innenschaften ausgeht. In Deutschland wird etwa jeden dritten Tag ein Mädchen oder eine Frau in einem Femizid ermordet. 2022 wurden so viele Frauen in einem Jahr ermordet wie noch nie. Österreich ist eines der wenigen Länder, in denen es regelmäßig sogar mehr ermordete Frauen als Männer gibt. Mehr als 70 % dieser Morde werden von (Ex-)Partnern begangen. Und auch in Ländern, in denen die allgemeine Mordrate sinkt, bleibt die Zahl der Femizide laut den (sehr unzureichenden) Studien relativ konstant. Neben den schon genannten Gründen, die aus Krise und Rechtsruck erwachsen, kommt hier noch dazu, dass die Krise auch die gesellschaftliche Position der Männer angreift. Viele können ihre zugeteilte Rolle als Ernährer und Familienoberhaupt nicht mehr spielen. Die ökonomische Abhängigkeit wächst und für Frauen und queere Menschen wird es sehr schwierig, den unter diesem Druck oft missbräuchlichen Familien- oder Beziehungsverhältnissen zu entfliehen.

Perspektive

So weit, so deprimierend. Doch all diese Umstände sind mehr als nur traurige Fakten. Uns als Revolutionär:innen zeigen sie Zusammenhänge auf, die wir zu ihrer Bekämpfung unbedingt verstehen müssen. Sie zeigen uns, dass wir wahrhaftig am Anfang einer „Zeitenwende“ stehen, wie Scholz es einmal ausdrückte. Und dass es an uns ist, dafür zu sorgen, dass sich die Zeit im Sinne der Arbeiter:innen, der Frauen, queeren Menschen, rassistisch Unterdrückten und all jenen wendet, die keinerlei Interesse am Fortbestehen des Kapitalismus und seiner Krisen haben. Gerade in solch umfassenden Krisen besteht im Rahmen des Möglichen unsere Pflicht und Aufgabe darin, dem voranschreitenden Rechtsruck und den drängenden Fragen und Problemen unserer Zeit eine fortschrittliche, linke Antwort auf die Krise entgegenzustellen. Das bedeutet, Bewegungen gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innen aufzubauen und sowohl Forderungen gegen die Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen (z. B. Vergesellschaftung der Hausarbeit) als auch gegen Rassismus (z. B. offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle) aufzuwerfen und miteinander zu verknüpfen. Das bedeutet, dass wir demokratisch legitimierte Selbstschutzorgane aus der Arbeiter:innenbewegung brauchen, die sich gegen Sexismus und Rassismus sowie rechten Angriffen entgegenstellen können. Das bedeutet, dass Frauen und queere Menschen eine führende Rolle im Kampf um ihre eigene Befreiung einnehmen und gleichzeitig verstehen müssen, dass unsere vollständige Befreiung im Widerspruch zu den Interessen des Kapitalismus steht, alle unsere Kämpfe sich deshalb gegen diese Wurzel unserer Unterdrückung richten müssen. Und vor allem bedeutet das auch, den Imperialismus und seine Krisen als globales Phänomen zu betrachten, auf das es nur internationale Antworten geben kann. In jeder Bewegung gegen Krise, Krieg und Blockbildung müssen wir dabei für einen internationalistischen und antiimperialistischen Charakter eintreten. Jeden Konflikt, der einen fortschrittlichen Charakter trägt, etwa die Verteidigung Rojavas, die Befreiung Palästinas oder den Sturz des iranischen Regimes gilt es, in einen revolutionären Kampf gegen die „eigene“ Bourgeoisie und den Imperialismus zu verwandeln, in dem Frauen und LGBTQ+-Personen ihre Entrechtung beenden und Perspektiven für ein befreites Leben aufwerfen können. Im selben Atemzug gilt es, die Organe und Organisationen der Arbeiter:innenklasse unter Druck zu setzen und gegen die Krise zu mobilisieren: Vor allem die Gewerkschaften müssen sich gegen eine Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innen stellen und fordern, dass stattdessen die Reichen zur Kasse gebeten werden. Es ist unsere Aufgabe als Revolutionär:innen, diese Forderungen und Perspektiven in die aktuellen sozialen Kämpfe zu tragen und gemeinsam für eine Welt ohne kapitalistische Krisen und Ausbeutung zu kämpfen.




Bomben „im Namen der Liebe“? Israels Pinkwashing von Vertreibung & Kriegsverbrechen

Von Sani Meier, REVOLUTION Zeitung, Januar 2024

Im November 2023 geht ein Foto des israelischen Soldaten Yoav Atzmoni auf Twitter viral: Vor den Trümmern des zerbombten Gaza-Streifens hält er eine Regenbogenflagge hoch, auf die er in Englisch und Hebräisch die Worte „In The Name of Love“ geschrieben hat. In der Bildbeschreibung erklärt er, die IDF (israelische Armee) sei die einzige Armee im Nahen Osten, die für demokratische Rechte einstehe und in der queere Menschen sein könnten, wer sie sind. Als dieser Artikel geschrieben wurde, hat die israelische Armee in zwei Monaten mehr als 20 Tausend Palästinenser:innen getötet, die jetzige Gazaoffensive gilt bereits jetzt als die zerstörerischste der Geschichte und über zwei Millionen Menschen droht der Hungertod. Wie soll also der Mord an den Palästinenser:innen deren Kampf für LGBTQIA-Rechte unterstützen?

Spoiler: Das tut er nicht. Der angebliche Kampf für die Rechte queerer Menschen soll hier als Rechtfertigung für die Bombardierung des gesamten Gazastreifens und den Massenmord an der palästinensischen Bevölkerung genutzt werden. Man nennt dieses Phänomen auch Pinkwashing: Staaten oder Institutionen nutzen augenscheinlich LGBTQIA-freundliche Politik, um moralisch verwerfliche Handlungen zu verbergen, herunterzuspielen oder sich als „die Guten“ darzustellen. Israel begibt sich in die Rolle des modernen und toleranten Staates, welcher den Fortschritt in die arabische Welt bringe – zur Not eben auch mit Gewalt. Eine Geschichte so alt wie der Kolonialismus. Das Bild, das hier von arabischen Menschen gezeichnet wird, ist zutiefst rassistisch, da es sie als durch und durch queerfeindlich und gewalttätig darstellt. Die israelischen Besatzer:innen stellen sich dem als angebliche Retter der queeren Community entgegen, welche ohne sie keine Chance auf ein sicheres Leben habe. Nicht ohne Grund löste das Foto auf Twitter einen empörten Aufschrei vieler queere Aktivist:innen weltweit aus.

Reale Verhältnisse

Blickt man in die Geschichte Palästinas zurück, so lässt sich erkennen, dass die ersten LGBTQIA-feindlichen Gesetze im Nahen Osten eigentlich dem westlichen Imperialismus zu verdanken sind. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges besetzten Großbritannien und Frankreich die Region und etablierten das Verbot von Homosexualität- „im Namen der Zivilisation“. Mit dem gleichen Argument setzt man heute die eigenen geopolitischen Interessen durch und nutzt queere Menschen als Vorwand.

Pinkwashing kann man aber nicht erst seit dem Beginn des Kriegs gegen Gaza in diesem Jahr beobachten, sondern gehört schon seit Jahrzehnten zur israelischen Staatspolitik. In den letzten Jahrzehnten hat die Regierung über 90 Millionen Euro in den schwulen/lesbischen Tourismus investiert, um das Image des Staates in der westlichen Welt aufzupolieren. Man stellt sich vor allem gegenüber Palästina als sicherer Hafen für homosexuelle Menschen dar, um von den eigenen Menschenrechtsverletzungen abzulenken. Während man sich damit schmückt, vor Verfolgung geflüchtete queere Palästinenser:innen aufzunehmen, duldet man sie in Wahrheit nur auf Zeit, bevor sie in Drittländer abgeschoben werden. Betroffene berichteten außerdem davon, vom israelischen Geheimdienst erpresst worden zu sein. Weigerte man sich, als Informant:in die eigene Community auszuspionieren, wurde mit dem Outing gegen ihren Willen gedroht. Auch in den Schulen werden Gelder für Weiterbildungen der Lehrkräfte und Workshops zum Thema geschlechtliche und sexuelle Diversität einseitig an jüdisch-israelische Schulen vergeben, während palästinensische Schulen, die ebenfalls unter die Befugnis des Bildungsministeriums fallen, leer ausgehen.

Natürlich sehen auch wir die katastrophalen Bedingungen, unter denen queere Menschen in Palästina auch heute noch leben müssen, denn gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Männern sind gesetzlich verboten und soziale wie religiöse Normen erschweren ein freies und selbstbestimmtes Leben, wenn man nicht heterosexuell und cis ist. Der Kampf für ein freies Palästina muss also auch ein antisexistischer Kampf sein. Doch queere Befreiung wird nicht dadurch erreicht, ein ganzes Volk zu töten und es im Anschluss als ‚befreit‘ zu erklären. Der israelische Staat hat kein Interesse daran, gegen die sexistische Unterdrückung von Palästinenser:innen zu kämpfen, da er diese ebenso unterdrückt wie das gesamte palästinensische Volk. Er vertreibt sie aus ihren Häusern, zerbombt ihre Dörfer, schneidet sie von lebenswichtiger Versorgung ab und seine Poilitiker:innen fordern öffentlich die ‚Auslöschung Gazas‘. Die gesamte israelische Besatzung der letzten Jahrzehnte ist darauf ausgelegt, eine (linke) politische Organisierung der Palästinenser:innen zu verhindern. Das Gebiet Palästinas ist durchsetzt mit illegalen Siedlungen und militärischen Checkpoints, welche die Bewegungsfreiheit der Bewohner:innen stark einschränken, sogar zwischen benachbarten Dörfern. Man trennt die Palästinenser:innen voneinander und verhindert so jedes Potenzial einer Massenmobilisierung. Dies gilt gleichermaßen für politischen Widerstand gegen die Besatzung, als auch für antisexistische Bewegungen. Um sich selbst befreien zu können, müssen (queere) Menschen in Palästina zuerst einmal überleben und nicht jeden Tag in Todesangst vor den Bomben der israelischen Armee überstehen. Ein wahrhaft freies Leben wird es nur jenseits von Besatzung, Vertreibung und Apartheid geben können. Wir müssen diese Kämpfe also zusammenführen: Für ein freies säkulares Palästina, in dem Menschen aller Nationen, Religionen, Geschlechter und sexueller Orientierungen zusammenleben können.