Crash, Kürzung und Corona

Christian Mayer & Felix Ruga

Nachdem die
Kursverläufe an der Börse in den letzten Jahren vergleichsweise
stabil verlaufen sind, brechen sie seit ca. einem Monat weltweit
rapide ein. Und spätestens mit der Ausbreitung des Corona-Virus‘ zur
Pandemie wird die globale Krise immer greifbarer. Doch betrachtet man
zentrale Wirtschaftszweige in Deutschland wie Autos oder Chemie, war
es nur eine Frage der Zeit, denn der Niedergang war dort schon in
vollem Gange.

Was zuvor geschah:
Die deutsche Industrie baut auch ohne Virus ab.

In den letzten sechs
Monaten wurden von verschiedenen mittelgroßen bis großen
Unternehmen Stellenabbau und Sparprogramme angekündigt, nachdem
ständig das Wirtschaftswachstum nach unten korrigiert wurde und sich
überall die Sorge um eine kränkelnde Industrie breit machte.
Hauptsächlich kündigten die großen Autobauer diese Sparprogramme
an, die sehr harte Einschnitte bei der Belegschaft darstellen. Egal
ob nun VW, Daimler, Audi oder auch Zulieferer wie Bosch, Continental,
Mahle, Brose; ja sogar der Chemiekonzern BASF hat Personalabbau von
insgesamt mehreren 10.000 Beschäftigten angekündigt.

Die offiziellen
Begründungen seitens der Kapitalist_Innen waren damals zumindest in
der Automobilindustrie immer dieselben: Neben den Altlasten des
„Abgasskandals“ müsse man auf die aktuellen Entwicklungen des
Weltmarktes reagieren, bzw. Geld für die bevorstehende
„Transformation“ beiseitelegen. Mit „Transformation“ ist hier
die Umstellung auf E-Mobilität gemeint, wie auch die Einführung von
Industrie 4.0 im Zuge einer weiter voranschreitenden Digitalisierung
der Produktionsprozesse. Laut Studien werden mehrere 100.000
Arbeitsplätze allein durch die Einführung vollständig
automatisierter Fertigungsprozesse überflüssig, die ohne
menschliches Zutun auf Basis der Nutzung von künstlicher Intelligenz
ablaufen und bei der die Maschinen mittels Datennetzen miteinander
kommunizieren. Nichts anderes bedeutet die Einführung von Industrie
4.0: Es wird ein riesiges Heer an Arbeitskräften freigesetzt, die
alle auf den Arbeitsmarkt drängen und nach Ersatzbeschäftigungen
suchen. Diese kann aber das bestehende System nicht anbieten, da
mögliche Umschulungsprogramme aus Kostengründen abgelehnt werden.

In den letzten 10
Jahren, also seit der letzten großen Finanzkrise, hat sich die
Weltwirtschaft sehr unterschiedlich entwickelt.
Zwar konnten sich große Binnenwirtschaften wie die der USA
wieder erholen und Länder wie China verzeichnen seit Jahren ein
permanent hohes Wirtschaftswachstum. Allerdings konnten andere
Wirtschaftsräume wie die EU kaum bis gar kein Wachstum erzielen, die
gegenteilige Entwicklung ist der Fall. Auch Lateinamerika, das eine
Zeit lang der Hoffnungsträger für die positive Entwicklung der
Weltwirtschaft war, steckt seit Jahren in einer zunehmenden Krise
fest. Allein Staaten wie Venezuela oder auch Argentinien stehen am
Rande des Staatsbankrotts mit noch nicht absehbaren Folgen für die
lokale wie auch die Weltwirtschaft und das trotz eines
Freihandelsabkommens zwischen den Staaten des Mercosur-Raumes und der
EU. Dies wurde noch mit einem beschleunigenden Niedergang an den
Rohstoffmärkten verstärkt. Vor allem der Ölpreis fiel schon seit
letztem September im Zuge fehlgeschlagener Verhandlungen zwischen den
ölfördernden Ländern rapide und man sprach schon von einer neuen
Ölkrise. Dies stellt eine existentielle Bedrohung für die Länder
dar, die von dessen Förderung abhängig sind. Hinzu kommen auch die
nach wie vor unklaren Auswirkungen des Brexits, bei dem die
Feinarbeiten an der Entflechtung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen
den EU-Staaten und Großbritannien erst begonnen haben.

Die
Corona-Pandemie ist also letztlich nur ein Auslöser aber nicht die
Ursache der Wirtschaftskrise. Diese liegt weitaus tiefer in der
kapitalistischen Produktionsweise selber. 2007/2008 ist sie in eine
tiefe Absatzkrise geraten, sodass die Produktivität und die
Investitionen massiv gesunken sind. Diese Krisenursachen wurden
jedoch nicht behoben, sondern nur durch Niedrigzinspolitik und
riesige Bankenrettungspakete abgefedert und das hat bis heute
destabilisierende Auswirkungen auf die Wirtschaft, indem sich zum
Beispiel durch Spekulation in einigen Sektoren große Blasen bilden.

Und dann auch noch
Corona

In diese Schwächelage
hat nun Anfang diesen Jahres ein weiterer Faktor die Karten neu
gemischt: das Corona-Virus. Die Auswirkungen und dabei vor allem die
notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung sorgen seitdem
dafür, dass die so empfindliche globalisierte Marktwirtschaft
vollends crasht. Wir sollten
uns jedoch nichts vormachen: Die Quarantänemaßnahmen, die in vielen
kapitalistischen Staaten beschlossen wurde, sind nicht aus
Menschenliebe passiert. Vielmehr drücken sie Kalkulationen des
Kapitals aus, dass eine ungehemmte Ausbreitung der Pandemie die
Wirtschaft mehr kosten würde, als es aktuellen Schutzmaßnahmen tun.
Das ewige Hinundher und das lange Zögern der bürgerlichen
Regierungen widerspiegeln diesen Abwägungsprozess, der darüber
hinaus auch schnell zu anderen Resultaten kommen kann.

Die Rezession hat sich
jedoch schon vor der Pandemie abgezeichnet: China als Lokomotive des
Weltmarktes wurde als erstes in der Millionenstadt Wuhan getroffen
und hat Ende Januar begonnen, riesige Gebiete vom Verkehr abzuriegeln
und mit Essen und medizinisch zu versorgen, was sowohl Kapital als
auch Arbeitskraft band. Das öffentliche Leben vor Ort kam durch
Ausgangssperren zum erliegen und in ganz China wurden
Wirtschaftsabläufe gestört und teilweise heruntergefahren, wenn
deren Produktion mit den abgeriegelten Gebieten zusammenhing. Dadurch
sank zunächst der Ausstoß und bald auch die Nachfrage des
chinesischen Marktes und damit kamen auch weltweite Produktions- und
Lieferketten zum Erliegen. Ironischer Weise kann etwa das
Organisieren von Nachschub für Atemschutzmasken schwieriger sein, da
diese überwiegend in China produziert werden. Auch Apple spürte die
ersten Auswirkungen schon damals, da z.B. der Elektronik-Riese
Foxconn ebenfalls überwiegend in China produzieren lässt und Apple
mit massenhaft Teilen beliefert. Daher wurde auch der
Produktionsbeginn für ein neues Smartphone um Monate verschoben.
Gerade anhand der Ausfälle in der Produktion kann man sehr gut
sehen, wie stark die Abhängigkeit von China als Produktionsstandort
weltweit geworden ist.

Diese Belastung wurde
selbstverständlich ungleich verstärkt, indem sich Covid-19 von
einer lokalen Massenerkrankung zur Pandemie entwickelt hat und nun
vor allem Europa und die USA betrifft. Dadurch bricht nun Panik aus,
jedes Land fährt einen nationalen Alleingang und die Grenzen werden
dicht gemacht. Dies blockiert nun auch hier die Produktions- und
Lieferketten. Dazu werden wie auch in China heftige und sehr
autoritäre Einschränkungen des öffentlichen Lebens wie
Ausgangssperren und Zwangsschließungen öffentlicher Treffpunkte
verordnet. Zwar werden die meisten Industriestandorte nicht
zwangsgeschlossen, doch aus Gewinneinbrüchen fahren Stück für
Stück alle großen Betriebe runter: Zunächst die Flug- und
Reiseunternehmen, nun auch die Autoindustrie, Zulieferer,
Chemieunternehmen und weite Teile der restlichen Industrie. Wenige
schaffen es, dann doch noch mit der Krise ihre Profite zu machen:
Trigema macht jetzt Atemschutzmasken, BASF Desinfektionsmittel,
Maschinenbauunternehmen wechseln zu Beatmungsgeräten.
Selbstverständlich ist das bloß ein Tropfen auf den heißen Stein,
die deutsche Industrie hat momentan nichts zu lachen und die Börsen
befinden sich auch im freien Fall. Wie tief der Fall wird, kann
natürlich niemand voraussehen.

Wie
die Staaten reagieren und was wir machen müssen!

Die staatlichen Hilfsmaßnahmen für das nationale Kapital sind dabei weitestgehend ausgereizt: Der Leitzins kann nicht mehr gedrückt, die Steuern für’s Kapital kaum noch herabgesenkt werden. Klar ist, dass die Unternehmen versuchen werden, die Kosten der Krise auf die Arbeiter_Innenklasse abzuladen. Wenn wir keinen Widerstand organisieren, warten also massive Entlassungswellen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Sozialkürzungen und der weitere Abbau öffentlicher Dienstleistungen auf uns.

Ebenso
werden die kapitalistischen Staaten, die zur Eindämmung der Pandemie
dringend nötigen Einschränkungen von Produktion und öffentlichem
Leben nicht solange aufrechterhalten können, wie es aus
medizinischer Sicht notwendig wäre. Kein kapitalistischer Staat kann
über mehrere Monate oder gar Jahre hinweg mit einem so niedrigen
Produktionsniveau überleben. Da im Kapitalismus Profite mehr als
Menschenleben zählen, werden die Infektionsschutzmaßnahmen
spätestens dann zurückgefahren, wenn sie für die Kapitale zu teuer
werden. Und, wenn ein Staat beginnt die Wirtschaft wieder
hochzufahren, müssen die anderen nachziehen, da ein derartiger
Konkurrenznachteil ihr volkswirtschaftliches Todesurteil bedeuten
könnte. Es warten also nicht nur massive soziale Angriffe, sondern
auch ein tausendfaches Sterben auf uns.

Eine
internationale sozialistische Planwirtschaft könnte dagegen über
längere Zeit hinweg mit dem rein gesellschaftserhaltenden
Produktionsniveau überleben, da es in ihr ja keinen
konkurrenzbedingten Zwang zur Profitmaximierung gibt. Ebenso wäre
sie weitaus schneller und effektiver in der Lage, die Produktion auf
die dringend notwendigen Güter wie Beatmungsgeräte,
Desinfektionsmittel, Atemschutzmasken etc. umzustellen. Es gäbe
genug Intensivbetten für alle, da das Gesundheitssystem als
gesellschaftliche Aufgabe verstanden wird, in der Sparmaßnahmen,
Privatisierungen, Pflegemangel oder Fallpauschalen keinen Sinn
ergeben. Auch die ökonomische Existenz eines jeden Menschen wäre
gesichert, da niemand um seinen_ihren Arbeitsplatz oder seine_ihre
Miete fürchten müsste. Da es auch keine nationale Abschottung und
Konkurrenz um das Patent für Impfstoffe gäbe, wäre auch (im
Gegensatz zu den aktuellen nationalen Alleingängen) ein
koordiniertes internationales Vorgehen gegen die Pandemie möglich.

Der Kampf für ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem beginnt damit, dass wir uns den geplanten Angriffen auf unsere Klasse entgegenstellen. Die Gewerkschaften und Arbeiter_Innenparteien sind dagegen aktuell eher auf nationalistischen Kuschelkurs mit dem Kapital aus. Aus den Reihen der Linkspartei wurde geäußert, dass es aktuell „nicht die Zeit für Oppositionspolitik“ sei. Wir Arbeiter_innen, Jugendliche und Migrant_innen müssen unsere Interessenvertretungen durch eigene Forderungen unter Druck setzen und selber die Initiative ergreifen, wenn wir das Schlimmste verhindern wollen. Wir fordern:

  • Keine Entlassungen während der Pandemie! Volle Lohnfortzahlung aus den Profiten der Kapitalist_Innen!
  • In Berufen, die die gesellschaftliche Grundversorgung garantieren, müssen die Arbeiter_Innen ausreichenden Arbeitsschutz, Arbeitszeitverkürzungen und massive Lohnerhöhungen erhalten!
  • In allen Berufen 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn und Personalausgleich!
  • Kostenlose Test-Kits, Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel, Seife und Handschuhe für alle! Die dafür notwendigen Fabriken müssen sofort entschädigungslos enteignet und unter Kontrolle der Beschäftigten gestellt werden, um die Produktion auf die notwendigen Güter umzustellen. Für Beatmungsgeräte statt SUVs!
  • Verstaatlichung aller Kliniken, Pharmakonzerne, Forschungsinstitute und Labore!
  • Für offene Grenzen, um auch Menschen aus anderen Ländern vor Corona retten zu können!
  • Corona war nur Auslöser der Krise, nicht die Ursache! Das Problem liegt im kapitalistischen System!



Corona-Pandemie: 4 Fragen und 4 revolutionäre Antworten!

Kein Thema hat in letzter Zeit unsere Gespräche, Gedanken und Social Media Feeds so geprägt wie das neuartige Coronavirus / Sars-CoV-2, kurz: Corona. Weltweit ist bereits eine Viertelmillion Menschen an dem Virus erkrankt, wovon bisher etwas fast 12.000 (Stand 21.3.) Menschen sterben mussten. Europa ist, nachdem in China die Zahl von Neuinfektionen wieder leicht rückgängig ist, zum neuen Zentrum der Pandemie geworden. Nachdem die Zahl von Infizierten in Italien blitzartig in die Höhe schoss, ist ein ähnlich steiler Anstieg auch in Deutschland zu beobachten. Vor einigen Tagen meldete sich nun auch Kanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehansprache zu Wort: Die Rede war vor allem vom Zusammenhalten, von Vertrauen und von Geduld. Man könnte sie auch so verstehen, dass wir alle schön die Klappe halten und machen sollen, was man uns sagt. Das würde nämlich bedeuten, dass wir stillschweigend hinnehmen, wie deutsche Banken und Unternehmen durch Milliardenkredite gerettet werden, während wir durch Entlassungen, Kurzarbeiter_Innengeld und Grundrechtseinschränkungen die Kosten dessen tragen sollen. Aber ist in der aktuellen Krisensituation der richtige Zeitpunkt für Widerstand? Diese und andere Fragen wollen wir hier beantworten.

Sollten wir nicht gerade jetzt in der Krise zusammenhalten und Kritik hinten anstellen?

Zusammenhalten sollten wir auf jeden
Fall, denn die aktuell stattfindenden Einschränkungen im
öffentlichen Leben und die permanente Angst, sich anzustecken, sind
für uns alle nicht leicht. Positiv sind in diesem Zusammenhang die
an vielen Orten entstehenden Nachbarschaftsinitiativen zur
Lebensmittelversorgung. Hierbei muss aber klar angeprangert werden,
dass diese vor allem deshalb notwendig werden, weil der Staat in
dieser Versorgungsaufgabe versagt.

Die Frage ist für uns, mit wem wir
zusammenhalten. Sicherlich nicht mit den Bossen, die unsere Löhne
kürzen, uns entlassen oder uns auf der Arbeit mit schlechten
Schutzmaßnahmen einem erhöhten Infektionsrisiko aussetzen.
Bestimmte Beschäftigungsverhältnisse wie Scheinselbstständigkeit,
Stunden- oder Projektverträge und Angestellte im Gastro- und
Kulturbetrieb sind aktuell besonders hart betroffen. Während wir uns
also fragen, wie wir unsere Miete bezahlen sollen, versuchen die
Unternehmer_Innen ihre getätigten Investitionen noch irgendwie ins
Trockene zu bringen und uns die Kosten dafür zahlen zu lassen. Für
sich können sie auch nur im kleinsten Verdachtsfall auf ein weiches
Intensivbett in einer Privatklinik mit ausgewiesenem Fachpersonal
vertrauen, während wir und insbesondere ältere Menschen und
Menschen mit Vorerkrankungen das Hauptrisiko tragen.

Die Bundesregierung setzt in ihren
Krisenmaßnahmen vor allem die Interessen der Kapitalist_innen um.
Während Schulen, Unis, Kindergärten, Theater, Clubs, Bars, Museen
und Schwimmbäder geschlossen bleiben, müssen vor allem die Leute
(trotz Infektionsrisiko) an den zentralen Wirtschaftsstandorten
weiterarbeiten. Dass in der Autoindustrie kaum noch mehr gearbeitet
wird, ist viel mehr Folge des Absatzeinbruchs als von
Gesundheitsmaßnahmen.

Ebenso auch Beschäftigte im öffentlichen Dienst, die die Grundversorgung einer Gesellschaft durch Pflege, Erziehung, Infrastruktur und Lebensmittelhandel sicherstellen. Für sie hat Merkel ganz viel Danke und Applaus übrig, doch davon kann sich niemand etwas kaufen. Während Gesundheitsminister Jens Spahn uns lange erzählt hat, dass das deutsche Gesundheitssystem bestens auf eine Corona-Pandemie vorbereitet sei, sehen wir nun, wie überfordert es ist. Kein Wunder, denn jahrelang wurden die Krankenhäuser kaputtgespart und privatisiert. Der erzeugte Personalmangel in der Pflege wurde zusätzlich befeuert durch Unterbezahlung, Ausbeutung und Auslagerung von Beschäftigtengruppen an Dienstleistungsunternehmen, um Tarifverträge zu umgehen. Und zwar nicht nur in Deutschland, auch in Südeuropa waren deutsche Politiker_Innen im Zuge der Euro-Krise ganz vorne mit dabei, durch erzwungene Sparmaßnahmen die lokalen Gesundheitssysteme zu zerstören. Dafür verantwortliche Politiker_Innen und die Bildzeitung versuchen nun, der Öffentlichkeit die Schuld zuzuschieben, um die eigene Verantwortung an dieser katastrophalen Situation unter den Teppich zu kehren. Zusammenhalten müssen also vor allem wir Jugendliche, Lohnabhängige und Migrant_Innen, und zwar über Nationalstaatsgrenzen hinweg. Unsere Kritik dürfen wir dabei nicht verschweigen, sondern müssen sie gerade jetzt durch eigene Forderungen und Maßnahmen zum Ausdruck bringen. Wenn wir keinen eigenen gesamtgesellschaftlichen Notfallplan aufstellen, wird es von der Bundesregierung nur einen Notfallplan zur Rettung der Konzerne geben.

Was wären denn sinnvolle Maßnahmen, die umgesetzt werden sollten?

Unsere Forderungen sollten sich
einerseits gegen die sozialen Angriffe richten und andererseits
wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vorschlagen.
Zuallererst müssen wir für ein sofortiges Entlassungsverbot
eintreten. Ebenso fordern wir statt Kurzarbeiter_Innengeld (also eine
Weiterzahlung von 60 % des letzten Nettolohns durch Steuergelder)
Lohnfortzahlungen, finanziert aus den Profiten der Unternehmen.
Überall, wo es möglich ist, müssen die Leute ohne Konsequenzen von
der Arbeit freigestellt werden,
damit die Eindämmung durch soziale Distanzierung wirklich
funktioniert. In Berufen, die die gesellschaftliche
Grundversorgung garantieren, müssen die Arbeiter_Innen ausreichenden
Arbeitsschutz, Arbeitszeitverkürzungen und massive Lohnerhöhungen
erhalten. Welche Berufe für die gesamtgesellschaftliche
Grundversorgung wichtig sind, entscheiden demokratisch gewählte
Komitees aus Schulen, Unis und Betrieben und nicht die
kapitalistischen Politiker_Innen. Auch unter den erschwerten
Bedingungen können wir solche demokratischen Prozesse online möglich
machen, um eine soziale Antwort auf diese Krise zu finden!

Auch müssen wir entscheiden können,
welche Grundrechtseinschränkungen uns auferlegt werden. Die Gefahr
ist ganz real, dass sie zwar zum Zwecke der Eindämmung beschlossen
werden, aber nur teilweise zurückgenommen werden und generell das,
was „ok“ ist, verschoben wird. So wurde beispielsweise könnte
in Bayern bald der Notstand ausgerufen werden und damit wäre der
Einsatz der Bundeswehr im Inneren legalisiert. Dagegen zu
demonstrieren ginge natürlich nicht, weil das Versammlungsrecht
praktisch abgeschafft wurde. Obwohl es in der aktuellen Situation
nicht sinnvoll wäre, große Massendemonstrationen abzuhalten, sollte
die Regierung uns dieses Recht nicht einfach nehmen dürfen!
Einschränkende Maßnahmen im öffentlichen Raum zur Eindämmung der
Neuinfektionen können natürlich richtig sein, die Frage ist aber,
wer diese festlegt und vor allem wer diese wieder abschafft. Wenn
diese Verantwortung Seehofer und Co. zufällt, die schon vor Corona
versucht haben, autoritäre Polizeistaatsmaßnahmen durchzusetzen,
warum sollte man dann die Teile der Einschränkungen, die man eh
schon vorhatte, nicht einfach beibehalten? Das wäre nicht das erste
Mal in der Geschichte, dass die „Verteidigung gegen einen äußeren
Feind“ dazu benutzt wurde, die Grundrechte der eigenen Bevölkerung
dauerhaft einzuschränken. Beispiel hierfür ist der „Kampf gegen
den Terror“, der schon für Kriege, Einschränkung des Asylrechts
und der Spionage der eigenen Bevölkerung herhalten musste. Der beste
Schutz dagegen ist es, dass wir uns als Betroffene gemeinsam mit
Wissenschaftler_Innen organisieren und selbst die Menschen
delegieren, die in demokratischen Krisenkomitees verbindliche
Maßnahmen festlegen.

Um eine Ausbreitung des Virus‘ zu verhindern, benötigen wir sofort einen kostenlosen und freien Zugang zu Gesundheitsversorgung für alle. Ebenso müssen Test-Kits, Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel, Seife und Handschuhe für alle kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Die dafür notwendigen Fabriken müssen sofort entschädigungslos enteignet und unter Kontrolle der Beschäftigten gestellt werden, um die Produktion auf die notwendigen Güter umzustellen. Statt SUVs brauchen wir halt gerade nun mal Beatmungsgeräte. Das klingt nach einem krassen Schritt, aber beispielsweise waren die kapitalistischen Regierungen mit solchen Maßnahmen während der zwei Weltkriege überhaupt nicht zimperlich, indem sie der Industrie vorgeschrieben haben, dass sie nun Munition, Waffen und Feldversorgung herstellen müssen. Neben massiven Investitionen in Forschung und Versorgung, was auch eine schnellstmögliche Anlernung und gute Bezahlung von Pflegekräfte bedeutet, müssen ebenso alle Kliniken, Pharmakonzerne, Forschungsinstitute und Labore verstaatlicht werden. Es ist sehr problematisch, dass momentan einige Forscher_Innen-Teams nebeneinander her an ähnlichen Projekt arbeiten, aber wegen des Geschäftsgeheimnisses keine vollständige Zusammenarbeit stattfindet, vor allem unter privaten Unternehmen. Die Jagd ist wild, denn wer den Impfstoff oder Schnelltest findet, wird dabei sicherlich Milliarden verdienen. Jetzt kommt es aber auf die Rettung von Menschenleben an und nicht auf Profite!

Wären diese ganzen Maßnahmen aber nicht insgesamt sehr schlecht für die Wirtschaft?

Die Corona-Krise ist nur ein
weiteres Beispiel dafür, wie die freie Marktwirtschaft nicht dazu in
der Lage ist, die dringendsten Bedürfnisse der Menschheit zu
befriedigen und dafür, wie viel effizienter und
bedürfnisorientierter eine demokratische Planwirtschaft agieren
könnte. Das Chaos des Marktes führt zur Anfälligkeit für
Zusammenbruch und Krise, so auch nun mit dem Ausbruch von Corona: Der
DAX fällt täglich ins Bodenlose, die Ölpreise sinken und die für
die deutsche Exportwirtschaft so wichtige just-in-time-Produktion
gerät durch Grenzschließungen immer weiter ins Stocken. Corona ist
dabei jedoch nur der Auslöser und nicht die Ursache der Krise. Diese
liegt weitaus tiefer in der kapitalistischen Produktionsweise selber.
2007/2008 ist sie in eine tiefe Absatzkrise geraten, sodass die
Produktivität und die Investitionen massiv gesunken sind. Diese
Krisenursachen wurden jedoch nicht behoben, sondern nur durch
Niedrigzinspolitik und riesige Bankenrettungspakete abgefedert. Das
Coronavirus ist nun die Nadel, die die riesige Blase gerade zum
Platzen bringt. Weitere Fabrikschließungen, Massenentlassungen und
Sparmaßnahmen werden bald auf der Tagesordnung stehen.

Zugleich verschärfen sich bereits aktuell die Spannungen unter den imperialistischen Ländern und Regionalmächten. Der Wettlauf um einen Corona-Impfstoff ist bereits ein Ausdruck davon. Die Volkswirtschaft, die sich am schnellsten von den Coronafolgen erholt, wird einen gewaltigen Vorteil auf dem Weltmarkt haben und für Verschiebungen im innerimperialistischen Kräfteverhältnis sorgen. Momentan scheinen die Zeichen ganz auf China zu stehen, aber auch andere Ländern setzen in diesem Kampf auf das Konzept „Herdenimmunität“, also das absichtliche Krankwerdenlassen der Bevölkerung bei gleichzeitiger Überlastung des Gesundheitssystems, sodass unzählige Menschen sterben könnten. In Europa hängen prominent die Niederlande und bis vor kurzem noch Großbritannien dieser Taktik an. Die Maßnahmen, die nun doch ergriffen werden, kommen zu spät.

Ist es aber nicht gerade wichtig, die Grenzen zu schließen, um eine weitere Ausbreitung der Infektionen zu verhindern?

In der aktuellen Abschottungspolitik
der kapitalistischen Staaten zeigt sich deutlich, dass ihr ganzes
Gerede von Solidarität nur eine leere Worthülse ist. Wer nur
national beschränkte medizinische Krisenmaßnahmen ergreift, aber
sich nicht für 20.000 von Corona bedrohte, auf der griechischen
Insel Lesbos eingeschlossene und unter schlimmsten hygienischen
Bedingungen lebende Geflüchtete interessiert, braucht uns nichts von
Solidarität zu erzählen. Da eine Pandemie
auch so nicht vor Nationalstaatsgrenzen halt macht, bedeutet
nationale Abschottung darüber hinaus auch immer eine Behinderung von
wirksamen internationalen Schutzmaßnahmen oder der Entwicklung eines
Impfstoffes. Und nicht nur das, nationale Abschottung bedeutet auch,
dass die reichen imperialistischen Länder die ärmeren Ländern mit
ihren schlechter ausgestatteten Gesundheitssystemen alleine lassen
und somit eine weitere Ausbreitung der Infektionen in Kauf nehmen,
solange es nicht auf dem eigenen Staatsgebiet passiert. Dabei wirkt
es so, als wären die imperialistischen Länder nicht dafür
verantwortlich, dass die Gesundheitssysteme in den ärmeren Ländern
so schlecht ausgebaut sind. Durch Kolonialismus, Ausbeutung und
erzwungene Sparmaßnahmen haben die imperialistischen Länder dem
Rest der Welt jedoch die Möglichkeiten für einen adäquaten
medizinischen Kampf gegen das Coronavirus genommen. Zuletzt stärkt
nationale Abschottungspolitik auch immer ausgrenzende,
nationalistische und rassistische Tendenzen, die ja bekanntermaßen
schon vor Corona stark an Fahrtwind dazugewonnen haben.

Wir fordern stattdessen keine
Abschottung und Grenzschließungen sondern Grenzöffnungen, um auch
Menschen aus anderen Ländern vor Corona retten zu können.
Geflüchtete sollen wie alle anderen Einreisenden medizinisch
getestet und, im Fall einer Infektion, medizinisch und sozial
versorgt werden. Die Lager auf den griechischen Inseln müssen sofort
aufgelöst und eine Weiterreise aufs europäische Festland
gewährleistet werden. Das gilt auch für die türkisch-griechische
Grenze am Fluss Evros. Wir fordern legale Fluchtwege und
Einreisemöglichkeiten ebenso wie volle Staatsbürger_Innenrechte für
alle!




Hölle auf Erden – Geflüchtete wie Tiere zusammengepfercht

Dilara Lorin, zuerst erschienen auf arbeiterinnenmacht.de

Vor noch nicht allzu langer Zeit, um genauer zu sein, vor 2–3
Wochen, war es ein Skandal, als die Türkei am 4. März 2020 die Grenzen zur EU
öffnete, obwohl die EU dem türkischen Staat jährlich mehrere Milliarden Euro
bietet, damit die geflüchteten Menschen ja nicht nach Europa kommen. Heute
spricht niemand mehr darüber. Dabei stecken mehrere tausend Menschen im
Grenzgebiet zwischen Türkei und Griechenland fest. Es gibt praktisch keine
Hoffnung für diese auf ein menschenwürdiges Verfahren, denn seit dem 1. März
lässt Griechenland keine Asylanträge mehr zu. Die EU und Frontex schotten
weiter ihre Grenzen ab und gehen dort rigoros gegen Menschen vor. Handgranaten,
Tränengas, Gummigeschosse werden eingesetzt.

Videos, Bilder und Berichte, sofern diese noch möglich sind, zeigen ein deutliches und grauenvolles Bild der EU und der Nationalstaaten Türkei und Griechenland. In einigen Videoaufnahmen sieht man, wie türkische Sicherheitskräfte Hand in Hand mit faschistischen Strukturen Geflüchtete erst in den Bus zerren und dann im Niemandsland im Grenzgebiet mit Gewalt und einer gezückten Waffe nach draußen schleifen. Videoaufnahmen zeigen eindeutig, wie die griechische Küstenwache mit einer Eisenstange versucht, ein Schlauchboot mit mehreren Dutzend Geflüchteten zurückzudrängen, oder Aufnahmen von wütenden Inselbewohner_Innen und Faschist_Innen aus ganz Europa, die an den Küsten warten, nur um Menschen, die vor Leid, Elend, Krieg und Tod fliehen, anzugreifen und wieder ins Wasser zu jagen. Erst letzte Woche wurden Kader neofaschistischer Organisationen und der „Identitären Bewegung“, darunter auch aus Deutschland, in Griechenland gesichtet. Diese waren nur da, um bewaffnet Jagd auf Geflüchtete zu machen und „ihre“ Grenzen zu schützen. Zwar wurden einige von ihnen, darunter auch Mario Müller, zusammengeschlagen, aber dies ist leider nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Am Gesamtbild ändert es nichts.

Die Angst vor COVID-19 und die Angst der Geflüchteten

Die Situation in den Camps auf den fünf Inseln in Griechenland war schon immer scheiße und wird immer verheerender. Auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos leben bis zu 42.000 Asylbewerber_Innen. Dabei ist jedes Camp überfüllt und beherbergt mehr Menschen, als für die es vorhergesehen war.  In Moria, einem der größten Camps auf Lesbos, sollten eigentlich nur 3.000 Menschen unterkommen, jedoch leben nach aktuellen Schätzungen dort 20.000 bis 24.000 unter schlimmsten Bedingungen. Wenn hier das Virus ausbrechen sollte, dann wird es katastrophale Folgen haben und zahlreiche Tote mit sich bringen. Um die Situation noch einmal zu verdeutlichen:

  • Es gibt einen Wasserhahn für je 1.300 Menschen
  • 167 Menschen teilen sich eine Toilette
  • 240 Menschen teilen sich eine Dusche
  • Seifen oder ähnliches sind kaum vorhanden
  • Familien mit fünf oder sechs Personen müssen auf höchstens 3 m2 schlafen

Ständiges Händewaschen oder Social Distance? Diese
Hygienemaßnahmen können nicht eingehalten werden! Aktuell gibt es einen
bestätigten Fall von COVID-19 auf Lesbos. Dieser kommt aus dem Süden der Insel
und hatte kaum Kontakt zu den Geflüchteten. Jedoch ist es nur noch eine Frage
der Zeit, bis das Virus auch im Camp angekommen ist.

Ein antifaschistischer Aktivist aus Dresden vor Ort sagt dazu: „Generell gibt es eine große Angst vor dem Corona-Ausbruch im Camp. Dabei ist eher die Gefahr, dass die Seuche von außen hineingeschleppt wird und weniger, dass die Menschen, die dort sind, diese Krankheit mitgebracht haben, wie von Rassist_Innen gern behauptet wird.“

Und wie reagiert die griechische Regierung? Die rechtspopulistische konservative Partei von Kyriakos Mitsotakis, Nea Dimokratia, schürte schon immer Hetze und Anfeindungen gegen die Geflüchteten. Sie hört auch in Zeiten des Corona-Virus nicht damit auf. In den Medien und auch in Interviews hört und sieht man immer wieder, wie Geflüchtete mit Kriminellen und Drogendealer_Innen gleichgestellt werden.

Sie müssen auch als Sündenbock für den Niedergang der
griechischen Wirtschaft herhalten. Dass die EU mit ihren Spardiktaten und die
Troika die griechische Wirtschaft bis zum letzten Rest ausgesaugt haben, wird
kaum mehr diskutiert. Geflüchtete sind die neuen Sündenböcke für Konservative,
RassistInnen, RechtspopulistInnen und FaschistInnen. Wir kennen das schon aus
Deutschland, Frankreich, Polen oder der Türkei.

Abschottung der Geflüchteten

Zumindest für die nächsten zwei Wochen dürfen keine Besucher_Innen mehr die Camps betreten, darunter zählen auch die wenigen noch verbliebenen NGOs. Auch diese Helfer_Innen dürfen nicht in das Camp hinein. Außerdem darf seit Anfang der Woche nur noch eine Person pro Familie das Lager einmal am Tag verlassen, um Erledigungen auf der Insel zu tätigen. Andere Außenaktivitäten sind nicht mehr gestattet. Das bedeutet: keine Schulen, keine sportlichen Aktivitäten, kein Besuch in der Bibliothek. 24.000 Menschen sollen, abgeschottet in einem Freiluftgefängnis, unter schlimmsten hygienischen Bedienungen ausharren. Dass diese Situation den ohnehin traumatisierten und entkräfteten Menschen noch mehr zusetzen wird, ist deutlich. Ohne äußere Ablenkungen werden vor allem Kinder, die sich schon vor der COVID-19-Pandemie versucht hatten, das Leben zu nehmen, unter nun noch krasseren psychischen Bedingungen leiden. Und wir sprechen hier nicht von wenigen.

Der ansteigende Rassismus der Inselbewohner_Innen zeigt sich auch darin, dass mit den Freien BürgerInnen (Eleftheri Politis) eine explizit rassistische Partei in den Dorfparlamenten sitzt und 12 Sitze in den Regionalparlamenten der südlichen Ägäis hat.

George Hatzimarkos, der Gouverneur der südlichen Ägäis, kündigte an, als angebliche weitere „Schutzmaßnahme“ gegen die Ausbreitung des Virus einen Zaun um das Camp Moria bauen zu lassen. So wird es dem Bild eines Freiluftgefängnisses immer ähnlicher. Die rassistische Hetze der Türkei, Griechenlands und der Nationalstaaten Europas führte vermehrt dazu, dass faschistische Banden an den Grenzen und auf den Inseln patrouillieren. Auf den Inseln ging die Gewalt soweit, dass Journalist_Innen zusammengeschlagen und ihr Equipment wie Kameras ins Wasser geschmissen wurden. Die Situation ist weiterhin angespannt, gerade wenn sich die Zivilgesellschaft nur noch Gedanken um das Corona-Virus macht. Die Geflüchteten sind in dreifach lebensbedrohlichen Situationen.

Schäbiges Gezerre um Kinder

Sieben EU-Staaten, darunter auch Deutschland, erklärten sich
nach wochenlangem Gezerre „bereit“, gerade 1.600 Kinder aus dem Camp
aufzunehmen. Nun ist selbst diese vollkommen unzureichende Geste wieder
umstritten. Es wird so getan, als sei von den Geflüchteten zu befürchten, dass
mit ihrer Einreise die Anzahl der Infektionen weiter ansteigen würde. Wie
rassistisch das doch ist, verdeutlicht schon, dass aktuell die meisten
Infizierten in Ländern wie China, Italien, Deutschland, Frankreich, Spanien –
und zum Glück nicht in den Camps – zu finden sind.

Es ist auch keine Gnade der EU, dass sie 1.600 geflüchtete
Kinder aufnehmen wollte, sondern eine Schande. Es ist eine symbolische Geste,
die notdürftig die reale, rassistische Grenzpolitik beschönigen soll. Was wir
jetzt brauchen? Die Aufkündigung des Flüchtlingsdeals mit der Türkei, welcher
am 13. März erneuert und erweitert wurde! Die Geflüchteten dürfen kein
Spielball zwischen den Mächten und ihren Interessen und Profiten sein! Öffnung
aller Grenzen und die Zerschlagung von Frontex – jetzt! Aufgrund der
andauernden Krisen und Kriege, vor allem auch in Idlib, fliehen Millionen
Menschen und es muss unsere Aufgabe sein, für alle und jede/n ein
menschenwürdiges Leben zu erkämpfen! Nicht in Lager, zwischen Grenzzäunen oder
Camps! Für die sofortige Evakuierung aller Camps. Es gibt nur eine einzige
humanitäre Lösung, die diesen Namen verdient – die Öffnung der Grenzen der EU,
die Aufnahme der Menschen in den EU-Mitgliedsstaaten ihrer Wahl, die Schaffung
und das Zur-Verfügung-Stellen von Wohnraum, von kostenloser medizinischer und
psychologischer Betreuung, von Ausbildung und Schulung sowie von
Arbeitsplätzen, die zu tariflichen Löhnen bezahlt werden. Geflüchtete, die vom
Virus infiziert sein sollten, sollen kostenlos in Krankenhäusern untergebracht
und betreut werden.

Um zu verhindern, dass bürgerliche Regierungen und rechte Demagog_Innen die Geflüchteten gegen Lohnabhängige – z. B. Erwerbslose, prekär Beschäftigte oder Menschen in Altersarmut – ausspielen, geht es darum, Arbeit, ein Mindesteinkommen, soziale Leistungen wie Alterssicherung für alle zu erkämpfen – bezahlt aus der Besteuerung der Gewinne und großen Vermögen. Um dies zu erreichen müssen sich antirassistische Bewegungen zusammenschließen mit Gewerkschaften, Arbeiter_Innenorganisationen, Geflüchteten und migrantischen Strukturen!




Droht der Krieg in Syrien zum Flächenbrand zu werden?

von Dilara Lorin und Martin Suchanek, zuerst erschienen unter
http://arbeiterinnenmacht.de/2020/02/29/krieg-syrien/

Hunderttausende, wenn nicht Millionen, befinden sich in Syrien auf der Flucht. Die Offensive der syrischen Armee sowie ihrer russischen und iranischen Verbündeten sollte ein weiteres blutiges Kapitel im Bürgerkrieg zum Abschluss bringen – die Rückeroberung Idlibs samt Vertreibung Hunderttausender, der Zerschlagung der oppositionellen bewaffneten Gruppen – egal ob nur dschihadistisch, pro-westlich oder verbliebene Restbestände der demokratischen Opposition.

Zweifellos kalkulierten das syrische Regime wie auch seine Verbündeten, dass sie dieses mörderische Unternehmen rasch durchziehen konnten. Protestnoten der zur „Weltgemeinschaft“ hochstilisierten westlichen Mächte waren einkalkuliert, ein Stillhalten der Türkei, der Russland (und damit das Assad-Regime) wichtige Teile Nordsyriens und vor allem Rojavas überlassen hatten, ebenfalls.

Doch wie schon in Libyen erweist sich die Putin-Erdogan-Allianz als brüchig. Sie ist praktisch am Ende. Beide Räuber, beide „Sieger“ wollen ihren Teil vom Kuchen. Das Assad-Regime will erst recht nicht mehr auf die Türkei Rücksicht nehmen.

Umgekehrt droht nun der Krieg, selbst zu eskalieren, von einem StellvertreterInnenkrieg in einen heißen Krieg umzuschlagen. Selbst wenn keine der Parteien diese Entwicklung anstrebt, so spielen sie doch mit dem Feuer. Während Russland weitere Kriegsschiffe ins Mittelmeer beordert, ruft die Türkei die NATO-PartnerInnen an. Die Trump-Administration sieht die Chance gekommen, verlorenen Einfluss wiederherzustellen, und verspricht Unterstützung. Die NATO erklärt ihre Solidarität mit dem Mitgliedsstaat, auch wenn sie noch offenlässt, welche praktischen Formen diese annehmen soll. Bei allem Gerede von Besorgnis ob der Eskalation könnte sich die Konfrontation in den nächsten Tagen massiv zuspitzen, im extremsten Fall aus dem syrischen BürgerInnenkrieg ein Krieg zwischen Russland und NATO werden.

Lage in der Türkei

Im Folgenden wollen wir die Lage in der Türkei genauer betrachten.

In den vergangenen Tagen starben laut türkischen Nachrichtenagenturen bis zu 33 Soldaten in Idlib, einer Stadt im Nordwesten Syriens, durch syrische Luftangriffe. Laut der kurdischen Nachrichtenagentur ANF (Firatnews Agency) sind bis zu 113 Soldaten ums Leben gekommen. Mehrere Videoaufnahmen kursieren im Internet, die von mehreren hundert „Märtyrern“ sprechen, und türkische Soldaten beklagen, „man komme aus Idlib nicht mehr lebend heraus“.

Der Kurznachrichtendienst Twitter ist seit gestern Abend in der Türkei geschlossen, um keine weiteren Meldungen über den Krieg und die getöteten Soldaten zu verbreiten. Aber die Grenzregion zu Syrien liegt lahm, die Krankenhäuser sind überfüllt mit Leichen und das Gesundheitsministerium ruft die Bevölkerung dazu auf, Blut zu spenden. Das deutet darauf hin, dass die Opferzahlen wahrscheinlich viel höher sind als die 33.

Die Türkei führt gerade einen offenen Krieg in Syrien gegen das Assad-Regime, faktisch auch einen gegen seinen Verbündeten Russland. Dass die Türkei seit dem 27. Februar ihre Grenzen nach Europa für syrische Geflüchtete geöffnet hat und und diese nicht mehr darin hindert, dorthin auszureisen, bedeutet für sie nur, die Geflüchteten als Spielball zu benutzen. Sie möchte damit die EU unter Druck setzen und zwingen, im Krieg um Idlib auf ihrer Seite einzugreifen oder jedenfalls Unterstützung zu gewähren. Dies könnte auch zu einem Krieg zwischen Türkei, EU und Russland führen.

Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu steht im Telefonkontakt mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Dieser verkündete am 28. Februar, dass die NATO die Türkei auch militärisch unterstützen und die Luftverteidigung stärken wird. Teile der NATO stellten sich schon vorher und während des Manövers in Idlib auf die Seite der Türkei, welche mit dschihadistischen Truppen wie der Division Sultan Murad und Ahrar Al-Sharqiya (Freie Männer des Ostens) zusammen kämpft.

Das Leid der 3 bis 4 Millionen ZivilistInnen in Idlib jedoch wird in der Türkei kaum gehört. Mehrere tausende Menschen, welche vom syrischen Regime teils zwangsumgesiedelt wurden, befinden sich in Idlib unter türkisch-dschihadistischem und syrisch-russischem Beschuss.

Während Russland und Syrien, die Türkei und USA Stellung beziehen und eine weitere Eskalation droht, laviert die schwächelnde EU. Sie fordert ein Ende der Kampfhandlungen, unterstützt zur gleichen Zeit den NATO-Verbündeten. Mit der Türkei freilich hadert sie um die Frage der Geflüchteten, denen sie auf keinen Fall helfen will.

Die Öffnung der türkischen Grenzen bedeutet längst nicht, dass die Menschen, die fliehen, allzu weit kommen. Frontex wurde in den letzten Jahren weiter aufgerüstet, an die EU-Außengrenzen werden mehr und mehr Polizei und Grenzschutzeinheiten beordert. Wird der Andrang zu groß, kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass der bewaffnete Arm der Frontex auf Menschen an den Grenzen schießen wird. Es droht somit eine humanitäre Krise der Menschen in Idlib und der Millionen Flüchtlinge des Bürgerkriegs.

Aktuell sammeln sich größere Gruppen von Geflüchteten vor Edirne, einer türkischen Grenzstadt nahe Bulgarien und Griechenland, sowie in Izmir und anderen Hafenstädten im Westen der Türkei und versuchen, der Hölle von Bürgerkrieg und Vertreibung zu entkommen. Wir brauchen offene Grenzen für alle! Jetzt sofort! Wir müssen gemeinsam dafür kämpfen, dass alle, die nach Europa wollen, sichere Fluchtwege über Meer oder Land erhalten und sich in den Ländern ihrer Wahl niederlassen, arbeiten und eine Existenz aufbauen können.

Geostrategische Gründe

Der türkische Einmarsch in Syrien erfolgte – wie die Intervention aller anderen Mächten – aus geostrategischen Gründen. Ursprünglich ausgezogen, Assad selbst zu stürzen, will Erdogan nun ein möglichst großes Stück von der Beute, sprich die Neuordnung des Landes mitbestimmen. Den Einmarsch türkischer Truppen, die Eroberung Afrins und anderer kurdischer Städte stellt er als Akt der „Verteidigung“ des Landes dar, ganz so wie Russland, Iran und Syrien die brutale Wiedererrichtung des Assad-Regimes zum „Kampf gegen den Terrorismus“ verklären.

Doch der Krieg könnte für Erdogan leicht zum Bumerang werden. Die Türkei befindet sich in einer wirtschaftlich sehr schlechten Lage und ein Krieg trägt sicherlich nicht zu einer Erholung bei. Im Gegenteil, die ArbeiterInnenklasse wird zu den Kriegen einberufen und muss für die Interessen eines Staates sterben, der vielen nicht einmal genug zum Überleben bieten kann. Der Mindestlohn reicht kaum, um sich und seine Familie zu ernähren. Die Lebensqualität sinkt mit jedem anbrechenden Tag und nun werden junge Lohnabhängige auch noch zur Armee berufen, um in einem Krieg zu sterben, der in keinster Weise ihren Interessen dient.

So wie die ArbeiterInnenklasse Russlands oder Irans, so muss auch die türkische ArbeiterInnenklasse „ihrer“ Regierung jede Unterstützung verweigern. Der Krieg Erdogans ist nicht unser Krieg. Es hilft jedoch nicht, sich über den Tod türkischer Truppen und Soldaten zu freuen, es kommt darauf an, Erdogan und das Regime zum Rückzug aus Syrien zu zwingen – und zwar nicht nur aus Idlib, sondern auch aus Rojava und allen anderen Gebieten.

Ein Rückzug aus Idlib allein – ob nun infolge syrisch-russischer Militärschläge oder durch ein weiteres „Waffenstillstandsabkommen“ – würde schließlich bedeuten, dass sie weiter Besatzungsmacht in Nordsyrien/Rojava bleibt. So kontrolliert sie strategisch wichtige Verkehrsknotenpunkte der nordsyrischen Region wie die Autobahn M14, die Antalya mit Mossul verbindet, und dem türkischen Staat dienen soll, im arabischen Raum besser Fuß zu fassen. Sie wird weiterhin Besatzungsarmee der kurdischen Gebiete sein und dschihadistische Strukturen weiter aufbauen, bewaffnen und unterstützen.

Nein zum Krieg! Abzug aller imperialistischen Truppen und Regionalmächte!

In der Türkei, in Russland und den NATO-Staaten brauchen wir eine breit aufgestellte Einheitsfront von Organisationen, Gewerkschaften und Parteien der ArbeiterInnenklasse. Denn nur die ArbeiterInnenklasse kann in internationaler Solidarität mit den Geflüchteten, KurdInnen, der ArbeiterInnenklasse und demokratischen Opposition in Syrien diesen Krieg stoppen! Wer soll eingezogen werden, wenn wir streiken? Wie soll die Türkei weiter Krieg führen, wenn die ArbeiterInnenklasse sich mit den bis zu vier Millionen ZivilistInnen in Idlib und den drei Millionen KurdInnen in Nordsyrien solidarisiert, auf die Barrikaden geht und einen Generalstreik ausruft?

Alle Räder stehen still, wenn die Klasse das auch will, und natürlich ist damit auch das Rad eines Panzers gemeint!

Wir brauchen keine weiteren imperialistischen AkteurInnen und Regionalmächte im Krieg in Syrien, die allesamt nur für ihre eigenen Profite und strategischen Interessen kämpfen. Es war schon ein richtiger Schritt, dass sich viele türkische und internationale Linke gegen den Einmarsch der Türkei in die kurdischen Gebiete in Syrien aussprachen und sich mit den KurdInnen solidarisierten, aber Solidarität darf und kann nicht bei Lippenbekenntnissen stehenbleiben! Es muss eine gemeinsame Mobilisierung diskutiert und umgesetzt werden, um die drohende Ausweitung des Kriegs zu verhindern und der Zivilbevölkerung in Idlib beizustehen.

Die ArbeiterInnenklasse, die Gewerkschaften müssen erkennen, dass die Intervention der Türkei in Syrien nicht dem Schutz der Bevölkerung dient, sondern nur eigenen Machtinteressen und der Verhinderung kurdischer Selbstbestimmung. Sie muss erkennen, dass eine etwaige US-amerikanische oder NATO-Intervention nur dazu führen, kann dass der Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten eine militärische Form annimmt, sich zu einem internationalen Flächenbrand ausweiten kann. Daher: Nein zu jeder NATO-Intervention! Abzug aller deutschen, französischen, US-amerikanischen Truppen, nein zu allen westlichen imperialistischen Sanktionen! Öffnung der EU-Grenzen für die Flüchtlinge! Sie muss aber auch erkennen, dass die Intervention Russlands und Irans keinen Akt des „Anti-Imperialismus“, sondern selbst nur nackte und brutale Verfolgung eigener geostrategischer Interessen bedeutet. Sie muss erkennen, dass sie mit dem Assad-Regime eine mörderische Kriegsmaschinerie am Leben hält, die für den Tod Hunderttausender und die Vertreibung von Millionen verantwortlich ist.

Ob sich der Krieg in Syrien zu einer internationalen Konfrontation ausweitet oder ob er am Verhandlungstisch auf dem Rücken der Bevölkerung“ befriedet” wird – wir dürfen nicht auf die Assads und Erdogans, die Putins und Trumps, aber auch nicht die Merkels und Macrons unsere Hoffnungen setzen. Sie sind alle Teil des Problems.

Nur eine gemeinsame, internationale Anti-Kriegsbewegung, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützt, kann in der Aktion verhindern, dass sich der syrische BürgerInnenkrieg weiter ausweitet, ja zu einer Konfrontation zwischen NATO und Russland wird.

  • Abzug aller imperialistischen Truppen und Regionalmächte aus Syrien, vor allem der türkischen, russischen und iranischen Truppen!
  • Nein zu jeder Intervention und Waffenlieferungen an Erdogan oder Assad!
  • Abzug aller NATO-Truppen aus der Region, Schließung der NATO-Basen in der Türkei!
  • Schluss mit dem EU-Türkei-Deal! Öffnung der europäischen Grenzen für alle Geflüchteten!
  • Unterstützung für Rojava sowie für die ArbeiterInnenklasse, die demokratische und sozialistische Opposition in Syrien!



Pro Choice: Für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Leila Chang, Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

In den letzten Jahren gab es immer wieder massive Angriffe auf Abtreibungsrechte von Frauen. Hinzu kommen die Verabschiedungen harter Abtreibungsgesetze, die jahrelang erkämpfte Reformen rückgängig machten. Ein Beispiel dafür ist der am 15. Mai 2019 beschlossene „Human Life Protection Act“ des US-amerikanischen Bundesstaates Alabama. Auch wenn diese Einzelstaatenregelung durch Bundesgesetz gebrochen werden kann, verkörpert sie doch Druck auf jene. Bei diesem Antiabtreibungsgesetz handelt es sich um eines der härtesten weltweit. So soll eine Frau nur noch bei eigener Lebensgefahr abtreiben dürfen. „Strafbar wären demnach auch Abtreibungen nach Vergewaltigung oder Inzest.“ (siehe Tagesschau, 29.10.2019) Ein Arzt oder eine Ärztin, die solch einen Eingriff durchführt, könnte demnach bis zu 99 Jahre Gefängnisstrafe bekommen. Nach internationalem Protest wurde dieses Gesetz zwar Ende Oktober vom obersten US-Gerichtshof gestoppt. Dennoch zeigt es, in welchem Ausmaß die Angriffe auf körperliche Selbstbestimmung und Frauenrechte in unserer kapitalistischen Weltordnung stattfinden. Doch warum ist das so?

Ursachen

Hier spielen mehrere Faktoren zusammen. Der Kapitalismus profitiert von sozialen Unterdrückungen. Zum einen spaltet er die Arbeiter_Innenklasse beispielsweise nach Geschlechtern, Nationen, Sexualität oder Alter. Das verringert den Zusammenhalt innerhalb der Klasse. Zum anderen gewinnen die Kapitalist_Innen dadurch Profite. Zudem festigen sie beispielsweise die bürgerliche Familie.

Diese ist für die herrschende Klasse wichtig, weil sie die Vererbung ideologisch stützt. Große Mengen an Geld, Besitz an Produktionsmitteln und zusätzliches Kapital (z. B. in Form von Aktien) werden stets an die Kinder vererbt, um das Geld „in der Familie“ zu behalten, so ähnlich wie Adelstitel in der Zeit der Feudalherrschaft vererbt wurden. Der Fortbestand dieser ist also in ihrem Interesse, auch wenn Frauen in privilegierten Positionen oftmals die Möglichkeit haben, sich „freizukaufen“.

Das hat aber auch Auswirkungen auf die Arbeiter_Innenklasse. In der Regel hat diese wenig zu vererben. Hier greift aber das Interesse der Kapitalist_Innen an immer mehr Nachwuchsarbeitskräften, die für sie arbeiten. Gleichzeitig festigen solche rückschrittlichen Verbote auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Familie. Denn mit ihr gehen auch repressive Sexualmoral, Geschlechternormen, Einschränkungen der Kontrolle über den eigenen Körper, Zwangsgeburten von Kindern usw. einher. Kurz gesagt: Die repressiven frauenfeindlichen Strukturen werden so auch in der ArbeiterInnenklasse reproduziert.

Privatisierung der Reproduktion

Ebenso entscheidend ist die Verlagerung der Reproduktion in die individuelle Familie. So konnten in imperialistischen Kernländern einige Liberalisierungen durchgeführt werden. Mit der Notwendigkeit, höher qualifizierte Arbeitskräfte auszubilden und in den Produktionsprozess einzubinden, sowie Durchsetzung von Sozialversicherungsrentensystemen stützt sich das Überleben im Alter in der Arbeiter_Innenschaft immer weniger auf eigene Kinder. Bildungsreformen und Integration von Frauen in Fabrik und Büro gingen damit Hand in Hand. Deswegen konnten hier Lockerungen erzielt werden, auch wenn es aufgrund der sinkenden Geburtenrate wie in Deutschland in Ordnung ist, ein Abtreibungsgesetz aus dem Dritten Reich zu behalten- wenn auch ein modifiziertes.

Im Kontrast dazu stehen die Verhältnisse in Halbkolonien und Schwellenländern. Dort sind die eigenen Kinder meist „die“ Rentenversicherung schlechthin. Kein Wunder, dass Abtreibungsverbote hier viel schärfer ausfallen.

Es geht also beim Antiabtreibungsmythos nicht um das Wohl ungeborener Kinder. Sondern vielmehr um den Erhalt einer patriarchalischen, Jahrtausende alten Gesellschaftsordnung mit dem Ziel, viele billige Arbeitskräfte für die Zukunft zu schaffen, Kapital innerhalb der kapitalistischen Familie zu vererben und Kosten bei der Reproduktion insgesamt zu sparen. So ist es kein Zufall dass in Zeiten der Krise, wo versucht wird, viele der Kosten auf die Arbeiter_Innenklasse auszulagern, sich die Angriffe auf Abtreibungsrechte verstärken. Vor allem Rechtspopulist_Innen und religiöse Fundamentalist_Innen nutzen diese auch, um die Rolle der bürgerlichen Familie, die wichtig für sie ist, zu stärken.

Protestbewegungen gegen diese Angriffe

Auf der ganzen Welt gibt es heutzutage feministische Organisationen und Demonstrationen. Die Bewegung der jährlichen „Marches of Choice“ ist dafür nur ein Beispiel. Diese bekämpfte das rückschrittliche Abtreibungsgesetz in Irland, welches das strengste Europas war. Selbst nach Vergewaltigungen, Inzest oder bei einem kranken Fötus waren Schwangerschaftsabbrüche strafbar. Als Folge mussten jedes Jahr tausende Frauen nach Großbritannien reisen, um Abtreibungen durchführen zu lassen. 2012 verstarb dann die 31-jährige Savita Halappanavar an den Folgen einer zu spät vorgenommenen Abtreibung, die eine Blutvergiftung zur Folge hatte. Ihr war die Abtreibung trotz ärztlicher Empfehlung verweigert worden. So wurde 2014 eingeführt, dass Schwangerschaftsabbrüche bei der Gefahr des Lebens einer Frau durchgeführt werden durften. Weitere Proteste erzwangen ein Referendum. Nach dessen Erfolg und einer Volksabstimmung, die mehrheitlich für ein neues Abtreibungsgesetz stimmte, akzeptierte das irische Parlament 2018 ein Gesetz, das legale Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche und bei bestimmten medizinischen Gründen auch später ermöglicht.

Ein weiteres Beispiel ist die deutsche Bewegung gegen die Paragraphen 218 und 219, die aus dem Dritten Reich stammen. Zuerst einmal scheint es fortschrittlich, dass Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche, unter bestimmten Umständen auch länger, erlaubt sind. Doch es ist nicht so einfach. Schwangerschaftsabbrüche sind nur unter bestimmten Bedingungen straffrei. Zudem gibt es nicht überall flächendeckende Abtreibungseinrichtungen, v. a. im ländlichen Raum. Kirchliche Träger verweigern den Eingriff und Abtreibungen sind nicht fester Bestandteil der Arztausbildung. Auch ist es in Deutschland für Ärzte/Ärztinnen verboten, offizielle Informationen darüber online zu stellen, weil es als „Werbung“ gilt. Ebenso ist gesetzlich festgeschrieben, dass Frauen vorher ein ärztliches Gespräch führen müssen mit dem Hintersinn, die Abtreibung nicht durchführen zu lassen. Gegen diese Einschränkungen gibt es seit Jahren Demonstrationen. Im Februar 2018 war es schließlich so weit, dass mehrere Gesetzesentwürfe zur Aufhebung der Artikel entstanden. Jedoch wurden sie allesamt von der Großen Koalition trotz Versprechen der SPD abgelehnt. Tausende Frauen beteiligen sich in den letzten Jahren an den Demonstrationen, auch wenn bisher keine Veränderung erreicht wurde.

Beide Beispiele stehen hier nur stellvertretend für hunderte von anderen Frauenbewegungen weltweit. Ob Polen, Spanien, Argentinen: der Kampf um die Selbstbestimmung über den eigenen Körper ist allgegenwärtig. Trotzdem wurden bisher nur eingeschränkte, regionale Erfolge erreicht. Deswegen müssen wir uns fragen, wie wir erfolgreich für das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper kämpfen können.

Arbeiter_Inneneinheitsfront für freie Abtreibung

Statt nur auf Angriffe zu reagieren, müssen wir selbst Verbesserungen erkämpfen. Deswegen muss der Kampf für das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper damit verbunden werden, dass wir für kostenlose Abtreibungen und Verhütungsmittel eintreten oder, dort wo nicht vorhanden, für staatliche Krankenversicherungen. Um das zu erreichen müssen wir die Organisationen der Arbeiter_Innenklasse klar auffordern für diese Kampagne einzutreten und zu mobilisieren.

Gewerkschaften beispielsweise waren für die Arbeiter_Innenklasse schon seit Beginn des Klassenkampfes eine Möglichkeit, sich zu organisieren und für ihre Rechte einzutreten. Mit Streik als Mittel können sie ökonomischen und politischen Druck aufbauen. Ein erster Schritt dahin wäre beispielsweise: Die Betriebsräte könnten dazu Betriebsversammlungen einberufen, wo diese Frage diskutiert wird. Im Rahmen von Aktionstagen und für die Durchführung eines politischen Streiks gegen die Gesetze wäre es wichtig, Streik- und/oder Aktionskomitees zu gründen, die vor Ort mobilisieren.

Ebenso können Gewerkschaften internationale Kooperation gewährleisten, z. B. von zentralen, internationalen Aktionstagen zum Thema Abtreibungsrechte. Dies ist wichtig, um die unterschiedlichen Protestbewegungen international zu koordinieren. Schließlich existiert die Unterdrückung nicht nur in einem Land und zusammen können wir mehr Druck aufbauen. Trotzdem bringen Gewerkschaften auch einige Probleme mit sich. Gerade in Berufen, die Dienstleistungen anbieten und oft verstärkt durch Frauen besetzt werden, organisieren sich nur wenige Arbeiter_Innen darin. Ebenso existiert eine Gewerkschaftsbürokratie, deren Interesse eher der Erhalt der eigenen Stellung ist, als Fortschritte für die gesamte Klasse zu erkämpfen. Deswegen beschränken sie sich eher darauf, ihren Frieden mit dem jetzigen System zu machen und sich auf das Feilschen um Lohn und Arbeitsbedingungen zu reduzieren. Revolutionäre Kommunist_Innen müssen sich darum für eine klassenkämpferische, antibürokratische Basisbewegung einsetzen, die der bürokratischen Spitze die Gewerkschaften entreißt, um sie zu einem Glied in den Reihen des Kampfes für den Sozialismus umzugestalten.

Daher fordern wir national und international:

  • Hände weg von unseren Körpern! Raus mit der Kirche und anderen Religionen aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Für Abschaffung aller Abtreibungsparagraphen sowie der Beratungspflicht!
  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Vollständige Übernahme der Kosten für eine Abtreibung, egal in welchem Monat, und aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat!
  • Für die Abschaffung von Fristen, bis zu denen abgetrieben werden darf! Für die ärztliche Entscheidungsfreiheit, lebensfähige Kinder zu entbinden!
  • Gegen leibliche Zwangselternschaft für so geborene Kinder! Der Staat soll für sie aufkommen und sich um sie kümmern bzw. zur Adoption freigeben! Adoptionsvorrang für leibliche/n Vater und/oder Mutter, falls sie das Kind später großziehen wollen und dieses zustimmt!
  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!



Flucht und Sexismus

Lydia Humphries, Unterstützerin Red Flag Großbritannien,
Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Die Reisen von Frauen, intersexuellen und nichtbinären
Menschen, die nach Großbritannien einwandern, werden durch die Bedrohung durch
sexuelle Übergriffe, Ausbeutung und Gewalt erschwert und gefährlich. Wenn sie
in Großbritannien ankommen, sehen sie sich den rassistisch-frauenfeindlichen, -homophoben
und -transphoben Strukturen des britischen Einwanderungssystems gegenüber.

Die unmenschlichen Praktiken der Inhaftierung in Abschiebezentren
für EinwanderInnen (IRCs) werden durch die institutionell vorherrschenden
sexuellen Übergriffe verstärkt. Viele der Personen in den IRCs fliehen bereits
vor Missbrauch, was ihre Inhaftierung nach britischem Recht illegal macht. Aber
eine gut dokumentierte „Kultur des Unglaubens“, die in der „feindlichen
Umgebung“ Großbritanniens eingebettet ist, lässt MigrantInnen, die sexuelle
Übergriffe überlebt haben, oft schutzlos zurück. Eine solche Ungläubigkeit
konfrontiert LGBTQI+-Menschen, die vor Verfolgung wegen ihrer Sexualität oder
geschlechtlichen Identität fliehen, wobei viele gezwungen sind, ihre
Unterdrückung vor Berufungsgerichten zu „beweisen“, und ihnen diese dennoch
immer noch nicht geglaubt wird.

Die AktivistInnen arbeiten gegen die volle Kraft des
rassistischen und chauvinistischen britischen Staates, um auf die
Entmenschlichung von MigrantInnen aufmerksam zu machen. Im Jahr 2018 traten 120
Menschen in Yarl’s Wood in den Hungerstreik, um gegen die unbefristete Haft,
ausbeuterische Arbeit, den Mangel an angemessener medizinischer Versorgung und
die nicht freiwillige Abschiebung zu protestieren, neben
geschlechtsspezifischeren Themen wie der Inhaftierung von
Missbrauchsüberlebenden. Im Jahr 2016 enthüllten Stonewall und die Lesben- und
Schwulen-Immigrationsgruppe des Vereinigten Königreichs den fehlenden Zugang zu
Medikamenten, Schutz und „sicherer Zuflucht“ für LGBTQI+-Personen in Haft.

An anderer Stelle protestierte der Südost-Londoner Zweig der
feministischen Direktaktionsgruppe Sisters Uncut gegen die Anstellung von
EinwanderungsbeamtInnen in den örtlichen Diensten für häusliche Gewalt und
beleuchtete, wie zwischenmenschliche und staatliche Gewalt ineinandergreifen,
so dass Frauen und nichtbinäre MigrantInnen aus Angst vor Abschiebung ihre Täter
nicht verlassen können. Diese Kampagne lenkte auch die Aufmerksamkeit auf die
Auswirkungen von No Recourse to Public Funds (Kein Rückgriff auf öffentliche
Gelder; NRPF), einer Bedingung für den Einwanderungsstatus aus
Nicht-EU-Ländern, die MigrantInnen und Asylsuchenden den Zugang zu sozialen
Ressourcen wie Flüchtlingsbetten verwehrt, wogegen die sich die Labour-Kampagne
für Freizügigkeit wendet.

Während solche Kampagnen diese Themen weiter ins politische
Rampenlicht gerückt haben, waren die Reaktionen der PolitikerInnen frustrierend
unzulänglich. In ihrem Manifest für 2019 verpflichtete sich die Labour Party
zur Schließung der berüchtigten, gewalttätigen Gefangenenlager Yarl’s Wood und
Brook House, ohne sich jedoch unmissverständlich gegen die Einwanderungshaft
auszusprechen.

Darüber hinaus lösen PolitikerInnen oft die Probleme, mit
denen Migrantinnen konfrontiert sind, von dem „feindlichen Umfeld“ und den
damit verbundenen Sparmaßnahmen ab, in die sie eingebettet sind. Ein Beispiel
für diese Praxis ist der Fokus liberaler feministischer Abgeordneter auf den
Sexhandel. Wie die Autorinnen von „Revolting Prostitutes“, Molly Smith und Juno
Mac, argumentieren, stellen Kampagnen gegen den Menschenhandel ihn oft so dar,
als ob einzelne Männer die Frauen in eine böse Sexindustrie entführen, und
leugnen die Tatsache, dass der Menschenhandel oft dann stattfindet, wenn
diejenigen, die bereits migrieren wollen, aufgrund des Mangels an sicheren,
erschwinglichen und legalen Wegen, über die sie sich bewegen können, der
Ausbeutung ausgesetzt werden.

Solche Kampagnen führen oft zu Forderungen nach der
Kriminalisierung von Sexarbeit als Lösung für den Menschenhandel. Die
Labour-Abgeordneten Jess Phillips und Sarah Champion, prominente Mitarbeiterinnen
des parteiübergreifenden parlamentarischen Ausschusses „Prostitution und
weltweiter Sexhandel“, spiegeln diesen Gedankengang wider. Sie verknüpfen
routinemäßig Menschenhandel mit Sexarbeit und nutzen ihre Unterstützung für die
Opfer des Menschenhandels, um für das nordische Modell zu werben, eine Politik,
für die Jeremy Corbyn ebenfalls vage Lippenbekenntnisse abgegeben hat, die
Käufer von Sexarbeit und Dritte, die mit dieser in Verbindung stehen,
kriminalisieren würde.

Wie SexarbeiterInnen in aller Welt argumentieren, würde jede
Form der Kriminalisierung das Überleben von SexarbeiterInnen grundlegend
erschweren. Dazu gehören auch migrantische SexarbeiterInnen, die sich
möglicherweise für Sexarbeit entscheiden, weil sie keine gesetzlichen Rechte
auf Arbeit oder den Zugang zu Sozialleistungen haben, Aspekte eines „feindlichen
Umfelds“, die tief mit denselben gewaltsam rassistischen Grenzen verflochten
sind, die andere für MenschenhändlerInnen anfällig machen.

So übersieht die Verschmelzung von Sexarbeit und
Menschenhandel – die Schuld für beides wird der männlichen Gewalt zugeschoben –
die Art und Weise, in der beide als unterschiedliche geschlechtsspezifische
Manifestationen der rassistischen und migrantenfeindlichen Strukturen der
Klassengesellschaft angesehen werden können, die zu überleben versucht wird.
Sie ignoriert auch die Realität, dass die Wege in die Sexarbeit, auch für
MigrantInnen, oft durch einen Mangel an gut bezahlten alternativen
Beschäftigungsmöglichkeiten und durch Kürzungen der Sozialleistungen, die den
Schwächsten schaden, genährt werden. Eine solche Rhetorik verschleiert also die
gemeinsamen Unterdrückungen zwischen MigrantInnen und anderen Menschen aus der
ArbeiterInnenklasse, was den Aufbau von Solidarität zwischen den Gruppen
erschwert.

Dieser Fokus auf den Menschenhandel trägt auch dazu bei,
dass die gewalttätigen patriarchalischen Kräfte in den halbkolonialen Ländern
vereinfacht mit dem Vereinigten Königreich kontrastiert werden, das als
liberaler sicherer Hafen für Frauen und LGBTQI+- Menschen dargestellt wird.
PolitikerInnen aller Couleur haben diese Rhetorik wiedergekäut. Wie die
Schriftstellerin Maya Goodfellow argumentiert, verschleiert die Förderung
Großbritanniens als ein einladender, fortschrittlicher Staat seine gewaltsam
kolonialistische Geschichte und seine bewusst „feindliche“ Gegenwart.

Jede linke oder sozialistische Alternative muss diese
Rhetorik grundlegend in Frage stellen. Wir müssen erkennen, dass die
miteinander verflochtene Einwanderungs- und Sparpolitik Großbritanniens
entscheidend zur gewaltsamen Unterdrückung von Frauen und nichtbinären MigrantInnen
beiträgt. Dies muss ein Engagement für offene Grenzen und die Bereitstellung
sicherer Migrationsrouten durch Europa und darüber hinaus einschließen, wobei
das „feindliche Umfeld“ in Frage gestellt werden muss, das Frauen und
LGBTQI+-Asylsuchende weiter dem Missbrauch aussetzt und sie dann zwingt, diesen
Missbrauch erneut zu erleben, um Zuflucht zu finden. Es gibt keine „humanen“
Gefangenenlager, und der Kampf für Frauenrechte muss den für die Beendigung der
unbefristeten Haft und die Schließung von IRCs für EinwanderInnen einschließen.
Die Unterstützung für die Opfer von Menschenhandel muss mit der Unterstützung
der Rechte von SexarbeiterInnen einhergehen, wobei die entscheidenden Unterschiede
zwischen Menschenhandel und Sexarbeit anerkannt werden müssen. Dennoch muss man
verstehen, wie beide mit einem Kontext von Grenzen, Sparmaßnahmen und dem
Mangel an sicheren, legalen Alternativen zusammenhängen. Grundsätzlich müssen
wir anerkennen, dass die Rechte von Frauen und MigrantInnen Klassenfragen und
ein integraler Bestandteil des Kampfes für den Sozialismus sind.




LGBTQ in Tunesien: Interview mit einem tunesischen Aktivisten

Robert Teller, Gruppe ArbeiterInnenmacht Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Alaa Khemiri ist ein tunesischer Rechtsanwalt, der auf die Verteidigung von LGBTQ-Menschen vor staatlicher Repression spezialisiert ist. Er ist seit der Revolution von 2011 ein Aktivist in der tunesischen Linken.

Hallo Alaa. Du bist Rechtsanwalt und
verteidigst LGBT-Menschen, die in Tunesien von staatlicher Repression betroffen
sind. Wie sieht diese Repression aus?

Die LGBT-Community wird vom tunesischen
Staat mithilfe des Strafrechts verfolgt. Gemäß Artikel 230 des Strafgesetzbuchs
steht auf homosexuellen Geschlechtsverkehr bis zu 3 Jahre Gefängnis und eine
zusätzliche Geldstrafe. Artikel 226 richtet sich gegen Transgender-Personen,
weil diese die „öffentliche Moral“ verletzen. Darüberhinaus sind die
tunesischen Gerichte Homosexuellen gegenüber feindlich eingestellt. Sie wenden
nicht nur die genannten Paragraphen an, sie gehen sogar über die gesetzlichen
Straftatbestände hinaus und behandeln die homosexuelle Identität als
Verbrechen, obwohl Artikel 230 nur den Geschlechtsverkehr kriminalisiert und
nicht bereits die sexuelle Orientierung.

In der Praxis wandern Homosexuelle ins
Gefängnis, ob sie sexuelle Beziehungen hatten oder nicht. Die tunesischen
Gerichte ordnen bei männlichen Homosexuellen Anal-Untersuchungen an, um
sexuelle Kontakte nachzuweisen. Andere Gerichte gehen sogar noch weiter.
Manchmal reicht es aus, dass ein Mann „verweiblicht“ erscheint, damit ein
Gericht ihn als Homosexuellen ansieht und entsprechend bestraft.

Lesbische Frauen und bisexuelle Frauen und
Männer haben es etwas leichter. Gerichte können Homosexualität bei Frauen nur
schwer nachweisen, weil kein medizinischer oder sonstiger „Test“ hierfür
anerkannt ist. Auch bisexuelle Männer können nur schwer der Homosexualität
„überführt“ werden, sofern sie mit einer Frau verheiratet oder verlobt sind.
Die Heirat verleiht ihnen eine soziale Legitimität. Viele Homosexuelle heiraten
aus diesem Grund, um ihre wirkliche Identität zu verbergen und gesellschaftlicher
Stigmatisierung und Ausgrenzung zu entgehen.

Tunesien scheint nach der Wahl von Kais
Saied von einer Welle des Populismus erfasst zu sein, wie auch viele andere
Länder. Denkst du, dass es für LGBT-Menschen schwieriger wird?

Die rechtliche Situation für Homosexuelle
hat sich nicht verändert. Aber die Äußerungen von Kais Saied vor der Wahl waren
homophob und populistisch. Für ihn ist Homosexualität pervers und ein Virus,
das der Westen verbreitet hat, um die tunesische Gesellschaft zu zerstören.

Auf welche Weise sind junge LGBT-Menschen
speziell von Unterdrückung betroffen, etwa in der Schule, an der Uni oder in
ihrer Familie?

Abgesehen von der systematischen
rechtlichen Unterdrückung erfahren Homosexuelle gesellschaftlichen Hass und
Zurückweisung. Viele Familien werfen ihr Kind aus dem Haus, wenn sie von seiner
Homosexualität erfahren – um Einschüchterung durch die erweiterte Großfamilie
oder das soziale Umfeld zu vermeiden. Auch in Schulen werden Homosexuelle Opfer
von Hass und Einschüchterung, und deshalb versuchen sie normalerweise, ihre
sexuelle Identität zu verheimlichen und dem gesellschaftlichen Mainstream zu
folgen, um gesellschaftlicher Ausgrenzung und staatlicher Repression zu
entgehen.

Welche Gründe hat die Diskriminierung von
LGBT-Personen, abgesehen von den gesetzlichen Regelungen?

Die Ausgrenzung entspringt der islamischen
Doktrin und den islamischen Institutionen. Der orthodoxe Islam sieht als Strafe
für Homosexualität die Todesstrafe vor. Der islamische Diskurs in Tunesien ist
hasserfüllt, Homosexuelle werden als pervers oder krank betrachtet. Die
islamischen Institutionen sind das größte Hindernis für Gleichberechtigung.

Staat, Religion und Gesellschaft
akzeptieren in Tunesien Homosexualität nicht, sie verbreiten Propaganda, um deren
sexuelle Identität zu erniedrigen, die sie als Bedrohung für Werte und Moral
der Gesellschaft betrachten. Die tunesische Gesellschaft ist für ihren
Konservatismus bekannt. Sogar viele Abgeordnete betrachten Homosexualität als
Sünde.

Die Tunesische Revolution hat den
Klassenkampf in Tunesien stark bestimmt. Gab es seither Verbesserungen bei den
Rechten von LGBT-Menschen?

Der einzige Fortschritt ist, dass das Thema
nun öffentlich debattiert wird. Vor 2011 war es ein Tabu, man konnte es nicht
öffentlich ansprechen. Das ist der Verdienst von LGBTQ-Vereinigungen, die das
Thema in die Öffentlichkeit gebracht haben.

Welche Positionen gibt es in den
traditionellen Organisationen der tunesischen Linken dazu? Ist sexuelle
Befreiung für sie eine Priorität?

Die traditionelle Linke ist konservativ und
betrachtet LGBTQ-Rechte nicht als Priorität ihres Kampfes. Selbst wenn dieses
Thema diskutiert wird, verteidigen die konservativen Linken die LGBT-Community
nicht. Sie betrachten das als zweitrangig gegenüber der Verteidigung
ökonomischer und sozialer Errungenschaften.

Wie organisieren sich LGBT-Menschen in
Tunesien, um für ihre Rechte zu kämpfen? Was ist deiner Meinung nach notwendig,
um den Kampf voranzubringen?

Nach der Revolution 2011 haben sich viele
Vereinigungen gegründet, die das Ziel haben, die LGBTQ-Community zu verteidigen
– und zwar zum ersten Mal in der Geschichte Tunesiens und der arabischen Welt
überhaupt. Es gibt mehr als 5 verschiedene Organisationen, die sich der
gegenseitigen Hilfe und Verteidigung der LGBTQ-Community verschrieben haben,
etwa die Organisationen „Shams“, „Damj“ und „We exist“.

Diese Organisationen machen kontinuierlich
öffentliche Kampagnen. Eine von ihnen veranstaltet seit 2015 ein jährliches
Festival für Queer-Kultur. Shams hat einen eigenen Radiosender gestartet,
„Shams Rad“, der die Belange der LGBTQ-Community verteidigt.

Dennoch, die Strategie bei den meisten
dieser Organisationen zielt nicht darauf ab, die gesellschaftliche Wahrnehmung
gegenüber LGBTQ-Menschen zu verändern, sondern durch Lobbyarbeit auf die
liberalen Kräfte einzuwirken, um die homophobe Gesetzgebung zu beseitigen. Sie
finden es zu schwer, die gesellschaftlichen Ansichten über die homosexuelle
Identität in der tunesischen Gesellschaft ändern zu wollen.

Sie versuchen durch Öffentlichkeitsarbeit,
die liberalen Kräfte und die ausländischen Stiftungen in Tunesien zu
sensibilisieren, um damit politische Entscheidungen zu beeinflussen. Ich denke,
die Community sollte geschlossen auftreten und Druck auf das Parlament ausüben,
die homophobe Gesetzgebung zu ändern.

Tunesien wird oft als das
fortschrittlichste nordafrikanische Land beschrieben, was Frauenrechte
betrifft. Trifft das zu, und widerspricht das der Situation von LGBT-Personen?

Die tunesische Gesetzgebung in Hinblick auf
die Rechte von Frauen ist tatsächlich die fortschrittlichste in ganz Nordafrika
und dem Nahen Osten, aber das gilt eben nicht für die LGBTQ-Gesetzgebung – die
ist genauso reaktionär wie überall im arabischen Raum.




Rechtsruck: Warum sind die Rechten so reaktionär gegenüber Frauen?

Saskia Wolf, Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Ob nun in den USA durch Trump, Duterte auf den Philippinen,
Modi in Indien, Le Pen in Frankreich oder die AfD in Deutschland, seit mehreren
Jahren erleben wir international ein Erstarken der Rechten. Dies geht einher
mit Asylgesetzverschärfungen, Abschiebekampagnen, Angriffen auf Geflüchtete und
Migrant_Innen. Aber nicht nur Nationalismus und Rassismus nehmen zu. Auch
Angriffe auf demokratische Grundrechte und fortschrittliche Gesetze für Frauen
und die Frauenbewegung gehen damit einher. Wir schreiben also das Jahr 2020.
Anstatt dass wir der Befreiung aus der sexuellen Unterdrückung näherkommen,
gibt es ein Rollback für Frauen, ein Zurückwerfen auf ihre Rolle als Mutter und
Hausfrau. Aber warum haben rechte und konservative Kräfte es auf die Freiheit
der Frauen abgesehen?

Seit der Weltwirtschaftskrise 2007/08 hat sich die
Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalist_Innen und ihren Staaten verschärft.
Es kam zu einer massiven Konzentration von Kapital. Gerade die größeren
Monopole konnten davon profitieren, während kleinere Unternehmen nicht
mithalten konnten.

Kleinere UnternehmerInnen,
auch gerne als Mittelstand bezeichnet, haben Angst, ihre Stellung zu verlieren
und pleitezugehen. Getrieben von der Angst des sozialen Abstieges fangen sie
an, laut herumzubrüllen: Protektionismus, Nationalchauvinismus,
Standortborniertheit, das sind ihre Argumente, um sich zu schützen. Kurz
gesagt: Sie wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen, um nicht ihren Reichtum
zu verlieren. Sie wollen den globalen Kapitalismus also auf reaktionäre Art
bekämpfen.

Mit der Fokussierung
auf Nationalstaat und Protektionismus geht auch einher, dass das Ideal der
„bürgerlichen Familie“ gestärkt werden muss. Denn im Kapitalismus ist die
Arbeiter_Innenfamilie der Ort, wo unbezahlte Reproduktionsarbeit stattfindet.
Ob nun Kindererziehung, Altenpflege, Waschen oder Kochen – all das reproduziert
die Arbeitskraft der einzelnen Arbeiter_Innen und sorgt gleichzeitig dafür,
dass dem Kapital die Produktivkraft nicht ausgeht. Oftmals wird diese
unbezahlte Hausarbeit von Frauen verrichtet. Diese Arbeitsteilung wird dadurch
gefestigt, dass Frauen weniger Lohn als Männer bekommen und sie somit nach
einer Schwangerschaft eher zu Hause bleiben. So verdienen beispielsweise Frauen
im Schnitt 22 % weniger als Männer, machen 75 % der Beschäftigten in
sozialen Berufen aus und arbeiten immer noch doppelt so lang im Haushalt wie
Männer. Im Kontrast dazu stehen erkämpfte Rechte von Frauen und LGBTIAs. Ob nun
Legalisierung von Homosexualität, die Gleichstellungsgesetze, das
Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper – all das lehnen die Reaktionär_Innen
mit aller Macht ab. Denn diese Errungenschaften greifen das Idealbild der
Familie an, auf das sie stark angewiesen, sind damit ihre protektionistische
Vorstellung der Nation Wirklichkeit wird.

Warum sind sie erfolgreich?

Um erfolgreich gegen rechts zu kämpfen, müssen wir
verstehen, warum diese überhaupt so stark geworden sind. Ein zentraler Grund
dabei ist die Führungskrise der Arbeiter_Innenklasse. Nach der Finanzkrise
stieg nicht nur die Konkurrenz unter den Kapitalist_Innen. Große Teile der
Krisenkosten wurden auf die Arbeiter_Innenklasse abgewälzt in Form von Sparmaßnahmen,
Entlassungen und dem Ausbau des Niedriglohnsektors. Das sorgte dafür, dass
große Teile der Klasse in Armut abrutschten. Dabei konnten weder
Sozialdemokratie noch Gewerkschaften die Lage verbessern. Vielmehr verwalteten
sie diese Politik im Interesse des Kapitals mit. Die desillusionierten Teile
der Arbeiter_Innenklasse wenden sich daraufhin den Versprechungen der
Populist_Innen zu.

Was tun?

Gegen Rechtspopulist_Innen und Reaktionär_Innen bedarf es
einer antirassistischen Arbeiter_Inneneinheitsfront, nicht nur gemeinsamen
Kampfs mit den Bürgerlichen gegen rechtliche Einschränkungen. So nennen wir
einen Zusammenschluss zwischen Organisationen der Arbeiter_Innenklasse für
Klassenziele, die z. B. die liberalen Elemente nicht teilen, und mit
Kampfmitteln wie Streiks, über die andere Klassen nicht verfügen. Im Zuge
dessen bedarf es zentraler Aktionstage, bei denen alle Beteiligten
mobilisieren. Dabei ist es wichtig, nicht nur formal zu einer Demo aufzurufen,
sondern klar zu fordern, dass die Basis der Organisationen in die Mobilisierung
einbezogen wird. Das bedeutet, dafür einzutreten, dass es Vollversammlungen und
Aktionskomitees  an Schulen, Unis und in
Betrieben gibt, die sich im Rahmen der Mobilisierungen mit der aktuellen
Politik auseinandersetzen und sich fragen: Wie kann hier konkret eine
fortschrittliche Politik aussehen? Das sorgt dafür, dass an den Orten, an denen
wir uns tagtäglich bewegen müssen, eine bewusste politische Auseinandersetzung
anfängt und zeitgleich mehr Leute erreicht werden als jene, die sich eh schon
für Antirassismus und Antifaschismus interessieren. Zentral ist es, Kämpfe
miteinander zu verbinden und nicht nur aktuelle Angriffe abzuwehren, sondern
auch für konkrete Verbesserungen, um aus der Defensive herauszukommen. Um die
Situation von Geflüchteten unmittelbar zu verbessern, müssen Revolutionär_Innen
für offene Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für alle eintreten. Darüber
hinaus müssen wir die Integration in die Gewerkschaften verlangen, um gemeinsam
der Spaltung entgegenzutreten, besser gemeinsame Kämpfe führen zu können wie
beispielsweise für einen höheren gesetzlichen Mindestlohn, aber auch das Selbstbestimmungsrecht
über den eigenen Körper.

Wenn wir erfolgreich dem Rechtsruck entgegentreten wollen,
müssen wir aktiv gegen rassistische, sexistische Spaltung und für
Verbesserungen der Klasse kämpfen. Nur so können wir die Reaktionär_Innen
aufhalten!




Femizide – Frauenmorde international, Widerstand international

Jonathan Frühling, Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Femizide

Der Begriff des Femizids (engl. femicide) wird
seit Beginn des 19. Jahrhunderts benutzt in Abgrenzung zum englischen Begriff
„homicide“ (Mord, Totschlag). Die feministische Soziologin Diana Russell
definiert den Femizid als einen Mord an einer weiblichen Person durch einen
Mann aufgrund der Tatsache, dass sie weiblich ist. Diese Definition schließt
die Tötung von Kindern mit ein. Außerdem wird damit die geschlechterspezifische
Motivation der Morde verdeutlicht, die Frauen durch Männer widerfährt. Der
Femizid stellt noch vor der Vergewaltigung die höchste Manifestation der
Unterdrückung der Frau dar.

2017 wurden laut UNO 87.000 Frauen Opfer von Mord,
50.000 wurden dabei durch eigene Familienmitglieder oder den Partner getötet,
wobei 38 % dieser Morde auf den eigenen (Ex-)Partner entfallen.

Die meisten Femizide werden nicht bestraft, was an
dem limitierten Zugang von Frauen zu Gerichtsbarkeit und der benachteiligten
Stellung in polizeilicher Ermittlungsarbeit liegt. Allgemein ist die
statistische Lage zu Femiziden allerdings sehr schlecht, da in Mordstatistiken
meist nicht einmal das Geschlecht, geschweige denn der Tötungsgrund erfasst
werden.

Gründe für Femizide

Der allgemeinste, auch in der bürgerlichen
Gesellschaft anerkannte Grund für Femizide ist der Wille der Männer das Leben,
den Körper und die Sexualität der Frauen zu kontrollieren. Versuchen sich
Frauen, dem zu widersetzen, nehmen die Männer auch die Tötung der Frau in Kauf,
um ihre Vormachtstellung zu erzwingen.

Die Morde an homosexuellen Frauen werden ebenfalls
als Femizide bezeichnet. Eine weitere Form der Femizide sind die sogenannten
Ehrenmorde. Dabei werden Frauen ermordet, weil sie z. B. vor der Ehe Sex
hatten oder vergewaltigt wurden und somit aus der Sicht der Sexisten die „Ehre“
der Familie verletzt haben.

Femizide passieren aber auch, weil Frauen der
Hexerei bezichtigt werden, was besonders im Südpazifikraum ein Problem
darstellt. Vor allem in Südasien werden Frauen wiederum in Zusammenhang mit
einer als zu gering angesehenen Mitgift getötet. Obwohl Mitgiften eigentlich
allgemein z. B. in Indien verboten sind, ist es in vielen Ländern immer
noch üblich, dass die Frau, um eine Ehe schließen zu können, teure Geschenke an
die Familie des Mannes machen muss. Allein in Indien wurden zwischen 2007 und
2009 8.200 Mitgiftmorde registriert.

Zudem sterben Frauen an erzwungener Abtreibung,
erzwungener Mutterschaft, Genitalverstümmelung oder Sexsklaverei. Diese
Tötungen müssen laut Diana Russell ebenfalls als Femizide bezeichnet werden.

Ein dem Femizid ähnliches Phänomen ist die
gezielte Abtreibung von Mädchen, welche vor allem in Südchina und Indien
Anwendung findet. Es wird dabei weiblichen Menschen grundsätzlich das Recht auf
Leben verwehrt. Da die pränatale Geschlechtsbestimmung für viele arme Familien
nicht zugänglich ist, werden viele weibliche Säuglinge direkt nach der Geburt
ermordet. In diesem Fall kann ganz klar von einem Femizid gesprochen werden.

Situation in
Lateinamerika

Unter den 25 Ländern mit der höchsten Femizidrate
befinden sich 14 lateinamerikanische. Jeden Tag werden dort 12 Frauen Opfer von
Femiziden. Besonders schlimm ist die Lage in Mittelamerika. Die Folge davon war
nach öffentlichem Druck die Einführung der rechtlichen Kategorie des Mordes mit
geschlechterspezifischen Gründen.

Sieben Länder mit der höchsten Femizidrate
befinden sich in Europa, drei in Asien und nur eins in Afrika. Das beweist,
dass Frauenmorde auch in der sogenannten westlichen Welt ein weitverbreitetes
Problem darstellen. In Europa wird jedes Jahr jede 250.000 Frau Opfer eines
Femizids.

Situation in Deutschland
und Österreich

Deutschland hat die Definition von Femiziden der
WHO nicht übernommen und kennt den Femizid als Straftatbestand nicht. In
Deutschland gab es von 2012–2017 laut polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) 849
Morde von Frauen in (Ex-)Partnerschaften und 1212 versuchte Tötungen. Die
Statistiken über Gewalt gegen Frauen sind allerdings unzureichend. Ob es sich
dabei wirklich um Femizide handelt, ist z. B. unbekannt, da die Tatmotive
nicht erfasst werden. Deutschland hat bisher auch die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt
gegen Frauen und häuslicher Gewalt),
die Staaten europaweit zum Kampf gegen Gewalt gegen Frauen verpflichtet, nicht
unterzeichnet, sondern 2017 lediglich ratifiziert. Diese Konvention forderte
unter anderem, eine Kommission einzurichten, die Daten zur Gewalt gegen Frauen
zu erfassen, zu bewerten und zu verbreiten.

Österreich hat europaweit die höchste Rate von
Femiziden (41 in 2018). Ein Grund dafür könnte in der massiven Bagatellisierung
der Gewalt gegen Frauen durch die Justiz liegen. Einschüchterung, Misshandlung,
Bedrohung und sexuelle Gewalt gehen dem Femizid meistens voraus. Die Täter
planen zumeist ihre Tat und sprechen Morddrohungen aus. Wird dies nicht ernst
und werden die potentiellen Täter nicht in Untersuchungshaft genommen, sondern
z. B. nach einer Trennung auf freien Fuß gesetzt, besteht für Frauen eine
enorme Gefahr. Wie schlimm die Lage ist, zeigt sich auch daran, dass nur
10 % der gewalttätigen Männer nach der Anzeige durch eine Frau verurteilt
werden.

Die Bewegung „Ni Una
Menos“

Als Reaktion auf einen Femizid in Argentinien
wurde 2015 das Kollektiv „Ni Una Menos“ (Nicht eine weniger), bestehend aus
Journalistinnen, Künstlerinnen und Aktivist_Innen, gegründet. Unter dieser
Parole sind am 3. Juni 2015 Hunderttausende gegen Femizide auf die Straße
gegangen. Die Bewegung wurde in der Folgezeit in einer Vielzahl von Ländern
adoptiert, vor allem in Lateinamerika (z. B. Chile, Peru, Mexiko), aber
auch in Spanien oder Italien. Wie mächtig diese Bewegung ist, zeigt z. B.,
dass die „Ni Una Menos“-Demonstration in Peru am 13. August 2016 die größte in
der Geschichte dieses Landes war. Am 19. Oktober 2016 gab es den ersten
massenhaften Frauenstreik, der 8 Länder Lateinamerikas umfasste. Die Bewegung
sprengt schaffte es also, nationale Grenzen zu sprengen.

Am 20. Dezember 2019 beteiligten sich in 200
Städten über die ganze Welt verteilt vor allem Frauen an Flashmobs und
Demonstrationen gegen Frauenmorde und sogenannte „Rapeculture“.1
Besonders brisant ist dabei, dass die Proteste maßgeblich von Chile ausgehen,
wo die Frauenkampfbewegung im Rahmen mächtiger Proteste gegen die neoliberale
Regierung stattfindet. Es kann dort eindrucksvoll beobachtet werden, wie sich
verschiedene Bewegungen z. B. gegen Sexismus, Umweltzerstörung und
Neoliberalismus zu einer Bewegung für eine bessere Gesellschaft vereinen.

Perspektive im Kampf
gegen Femizide

Wie die mächtigen Frauenkampfbewegungen in Spanien
und Lateinamerika gezeigt haben, ist es möglich, Fortschritte zu erkämpfen. So
hat z. B. Spanien 2010 damit begonnen, Statistiken zu Femiziden zu führen,
was das Bewusstsein für das Problem gesteigert hat. In 16 lateinamerikanischen
Ländern wurde der Femizid als Straftatbestand oder als strafverschärfendes
Merkmal aufgenommen, was auch zu einer Erfassung der Aburteilungsquote führte.

Prävention und direkte Hilfe müssen natürlich
massiv ausgebaut werden. Eine feministische Bewegung muss gegen den eklatanten
Mangel an Frauenhausplätzen ankämpfen. In Deutschland müssten laut der
Istanbuler-Konvention 21.400 Betten in Frauenhäusern verfügbar sein. Momentan
gibt es nur 6.800, weswegen Frauen oft wieder zu ihren gewalttätigen Partnern
geschickt werden. Auch eine ordentliche gesundheitliche und psychische
Betreuung, Vermittlung in Jobs, ein höheres Arbeitslosengeld oder die
konsequentere Eintreibung von Unterhaltszahlungen sind wichtige Forderungen.
Sie können Frauen helfen und motivieren sich von einem gewalttätigen Partner zu
trennen.

Dies kann natürlich im Kampf gegen Femizide nur
der Anfang sein. Letztlich müssen vor allem die Macho-Kultur und das Patriarchat
angegriffen werden, um der Unterdrückung der Frauen als Ganzes zu begegnen. Die
„Ni Una Menos“-Bewegung in Lateinamerika oder der heroische Kampf der
argentinischen Frauen für bessere Abtreibungsrechte können als glänzende
Beispiele dienen. Diese Bewegungen müssen verstetigt und ausgeweitet werden,
wenn sie dauerhaft eine Wirkung haben wollen. Entscheidend ist aber auch, dass
sie sich mit den Bewegungen der landlosen Bauern und Bäuerinnen oder der
Arbeiter_Innenklasse verbinden. Was wir brauchen, ist eine vereinte Bewegung
gegen den Kapitalismus. Die bürgerliche Gesellschaft basiert nämlich auf der
Familie und diese wiederum auf der Ausbeutung und Unterdrückung der Frau. Nur
wenn der bürgerlichen Familie ihre kapitalistische Grundlage entzogen wird, kann
eine Bewegung gegen Femizide erfolgreich sein.

Für Marxist_Innen stellen Femizide nur die Spitze
des Eisbergs der Frauenunterdrückung dar. Der „Wille“ der Frauenmörder und
–vergewaltiger basiert also auf den Jahrtausende alten gesellschaftlichen Mechanismen,
die wir an anderer Stelle in dieser Zeitung charakterisiert haben. Nur der
Umsturz der Klassengesellschaft und die Errichtung einer klassenlosen können
den Rahmen für das Ausrotten dieser Umtriebe bilden.

Ein Programm dafür kann sich nicht auf bürgerliche
Polizei, Justiz und Staat verlassen. Die Familie muss in einer höheren Form des
sozialen reproduktiven Zusammenlebens aufgehoben werden. Deshalb fordern wir
die Sozialisierung der Reproduktionssphäre, beginnend mit der unbezahlten Haus-
und Sorgearbeit. Dafür brauchen wir eine neue revolutionäre 5.
ArbeiterInneninternationale und eine kommunistische als Bestandteil einer
allgemeinen proletarischen Frauenbewegung. Die Bewegung in Lateinamerika wirft
diese Frage auf, stellt ein ideales Terrain dar, auf dem dieses Programm
fruchtbar werden kann. Eine reine Vernetzung, ein Zusammentreffen mit anderen
sozialen Bewegungen löst sie aber nicht von allein, solange die Unterdrückten
noch von einem nichtkommunistischen Bewusstsein geprägt bleiben.

In der Logik der Sozialisierung der Hausarbeit
liegen Forderungen wie nach Unterhaltszahlungen durch den Staat statt durch die
Expartner, die oft genug eine andere Familie unterhalten müssen, was für
Lohnabhängige unmöglich macht, auch noch ihre ehemalige finanziell zu
versorgen. Diese müssen mit einer Progressivsteuer auf Besitz, Vermögen und
Erbschaften verknüpft werden, die die Reichen zur Kasse für die Finanzierung
dieser gesellschaftlichen statt familiär-privaten Aufgabe – wie im Kapitalismus
– bittet. Das Gleiche trifft auf Frauenhäuser zu. Diese sollten zudem unter
Kontrolle der Nutzerinnen und der Arbeiter_Innenbewegung gestellt werden. Zum
Schutz gegen gewalttätige Übergriffe muss letztere sich für staatlich
finanzierte Selbstverteidigungskurse für Frauen einsetzen.

In diese Übergangslogik, die die Hand auf den
Reichtum der Herrschenden legt und die Klasse zur Kontrolle des sozialen
Geschehens und zur Selbstverteidigung auffordert, können solche Teilforderungen
eingereiht zum Sprungbrett für den Kampf um Sozialismus und Arbeiter_Innenmacht
geraten und kann damit der Anfang vom Ende des männlichen Chauvinismus
eingeleitet werden.

1 Mit dem Begriffe „Rapeculture“ wird kritisch
darauf hingewiesen, dass Vergewaltigungen faktisch überall auf der Welt
grausame Normalität sind (und fast immer straffrei bleiben).

https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/040/1904059.pdf

http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/100/1910062.pdf

http://www.oas.org/es/mesecvi/docs/DeclaracionFemicidio-EN.pdf

https://www.ohchr.org/Documents/Issues/Women/WRGS/OnePagers/Gender_motivated_killings.pdf

https://www.tagesschau.de/inland/frauenhaeuser-103.html

https://www.aljazeera.com/news/2019/12/chile-rapist-path-chant-hits-200-cities-map-191220200017666.html




Buchbesprechung: Feminismus für die 99 %

Urte March, Red Flag Großbritannien, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Feminismus für die 99 %: Ein Manifest von Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser (Verso Books; Deutsch: Matthes & Seitz, Berlin 2019)

Frauenbewegungen auf der ganzen Welt sind auf dem Vormarsch.
Seit 2017 haben Frauenstreiks Millionen auf die Straße gebracht, um eine
gleichberechtigte Gesellschaft zu fordern und die geschlechtsspezifischen
Auswirkungen des Neoliberalismus und der Austerität aufzuzeigen.

Während konservative und populistische Regime von Indien bis
zu den Vereinigten Staaten hart erkämpfte soziale und reproduktive Freiheiten
als Teil eines globalen Wandels hin zu konservativem Nationalismus attackieren,
greifen feministische Bewegungen zunehmend nach systemischen Erklärungen für
die Unterdrückung von Frauen.

Dies ist die historische Konjunktur, für die der „Feminismus
für die 99 % – Ein Manifest“ geschrieben worden ist. Cinzia Arruza, Tithi
Bhattacharya und Nancy Fraser, drei in den USA ansässige Akademikerinnen, die
in der Frauenstreikbewegung einflussreich und als feministische
Theoretikerinnen sehr etabliert sind, stellen sich die Aufgabe, „eine neue,
antikapitalistische Vorstellung von Geschlechtergerechtigkeit“ zu „entwickeln –
eine, die über die aktuelle Krise hinaus – und in eine neue Gesellschaft
führt“. (S. 12)

Antikapitalismus und Internationalismus

„Feminismus für die 99 %“ wurde in über 20 Sprachen
veröffentlicht und international weit verbreitet, so dass es sich lohnt, die
Bedeutung der Popularität der Broschüre zu bewerten, bevor man die im Manifest
dargelegten Perspektiven hinterfragt.

Die Autorinnen beginnen damit, dass sie den liberalen oder „korporativen“
Feminismus – beschrieben als den Wunsch nach einem besseren Gleichgewicht der
Geschlechter innerhalb der ausbeuterischen Strukturen der Gesellschaft – als
völlig unzureichend für die Lösung der drängenden sozialen Probleme der
heutigen Welt abtun. Auf den ersten Seiten nennen sie den Kapitalismus, jenes „System,
das den Chef hervorbringt, nationale Grenzen produziert und die Drohnen
herstellt, die diese Grenzen überwachen“, als den Feind, der besiegt werden
muss, um die Befreiung der Frauen zu erreichen. (S. 10 f.)

Die Autorinnen beschreiben die Unterdrückung der Frauen als
wesentlich für das Funktionieren des Kapitalismus und betonen, dass die
Befreiung der Frauen ein Kampf zwischen widerstreitenden Kräften in der
Gesellschaft ist und nicht das langsame Wachstum der Chancengleichheit. Die
Broschüre kehrt häufig zu der Idee der „Transformation des zugrunde liegenden
„Gesellschaftssystems“ zurück, das die Unterdrückung der Geschlechter diktiert.
In der Erkenntnis, dass der Kapitalismus ein globales System ist, bekräftigen
sie die zentrale Bedeutung der Frauenstreiks für einen neuen globalen Widerstand
und erkennen die Notwendigkeit internationalen Handelns an, indem sie erklären,
dass der Feminismus für die 99 Prozent „entschieden internationalistisch ist“.
(S. 27)

Hier gibt es viel, dem man zustimmen kann. Die rhetorische
Betonung von Antikapitalismus und Internationalismus in der Broschüre, wie vage
oder falsch sie auch immer definiert sein mag, zeigt ein wachsendes Bewusstsein
in der Frauenbewegung für die Beziehung zwischen kapitalistischen sozialen
Verhältnissen und Frauenunterdrückung auf. Gleichzeitig enthüllen die Mängel in
der Herangehensweise der Autorinnen den anhaltenden Einfluss der
Identitätspolitik und des postmodernen Akademismus auf die
Frauenstreikbewegung.

Für den Erfolg einer weltweiten antikapitalistischen
Bewegung wird es nicht ausreichen, die destruktiven und unterdrückerischen
Tendenzen des Kapitalismus anzuerkennen – es muss die richtige Strategie für
seinen Sturz und seine Ersetzung durch ein neues System vorangetrieben werden.

Soziale Reproduktion

Im Nachwort der Broschüre identifizieren sich die Autorinnen
als soziale Reproduktionstheoretikerinnen, und der Inhalt, den sie dieser
Identifikation geben, definiert ihre Methode und ihre Schlussfolgerungen. Wie
andere TheoretikerInnen der sozialen Reproduktion argumentieren sie, dass die
marxistische Tradition fehlerhaft ist, weil ihre Erklärung der Rolle der
gebärenden, erziehenden und anderen unbezahlten sozialen Arbeit im Gesamtzyklus
der Produktion unvollständig ist. Die zentrale Aussage ihrer besonderen
Variante der Theorie der sozialen Reproduktion ist, dass „die kapitalistische
Gesellschaft aus zwei untrennbar miteinander verwobenen und doch sich
wechselseitig ausschließenden Imperativen besteht“ – der Notwendigkeit, Profit
zu schaffen (Produktion), und der Notwendigkeit, dass die Menschen sich selbst
erhalten müssen (soziale Reproduktion), und dass diese Spaltung auf eine tief
sitzende „Spannung im Herzen der kapitalistischen Gesellschaft“ hinweist. (S.
87, 91)

Die praktische Bedeutung dieses Ansatzes wird in erster Linie
durch den Kontrast zum „traditionellen“ marxistischen Denken gefördert, dem die
Autorinnen vorwerfen, den Kapitalismus als „lediglich ein Wirtschaftssystem“
vorzustellen und nicht anzuerkennen, dass der Kapitalismus „eine institutionalisierte
Gesellschaftsordnung“ ist, „zu der auch jene scheinbar ,außerwirtschaftlichen‘ Verhältnisse
und Praktiken gehören, von denen die offizielle Ökonomie getragen wird“. (S.
82) Diese Aussage für sich genommen ist einfach eine eigennützige
Vulgarisierung des Marxismus, der in der Tat immer erkannt hat, dass die
Produktionsverhältnisse den Überbau der Ideologie, den Staat und eine Vielzahl
anderer sozialer Institutionen, darunter die Familie, hervorbringen. Ebenso
würde keinE MarxistIn der Aussage widersprechen, dass es „die entlohnte Arbeit
des Plusmachens [ … ] ohne die (überwiegend) nicht entlohnte Arbeit des
Menschenmachens nicht geben“ könnte. (S. 89 f.)

Die Autorinnen argumentieren ferner, dass MarxistInnen die
Produktionssphäre fälschlicherweise als dominant über die Reproduktionssphäre
betrachten und die „traditionelle ArbeiterInnenbewegung“ dazu bringen, den
wirtschaftlichen Kampf um bessere Löhne gegenüber sozialen Kämpfen zu
privilegieren, auf Kosten der Interessen der Frauen. Hier gibt es eine echte
Meinungsverschiedenheit. Für MarxistInnen, wie Engels erklärt, geht „die
materialistische Anschauung der Geschichte [ … ] von dem Satz aus, daß die
Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die
Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist“.1

In diesem Sinne ist es die Sphäre der Produktion, die die
Sphäre der Reproduktion beherrscht und formt. MarxistInnen sehen die Gewinnung
von Profit und die Akkumulation von Kapital als treibende Kraft und
bestimmendes Merkmal des kapitalistischen Systems. Es war die Entwicklung der
Klassengesellschaft, die zur Entstehung der Familie als einer für die
herrschende Klasse wesentlichen Institution führte. Der Übergang zum
Kapitalismus konsolidierte die Kernfamilie als die effizienteste Art und Weise
der Verwaltung der sozialen Reproduktion.

Dies bedeutet nicht, dass die Familie nicht ein Ort der
Unterdrückung ist oder soziale und politische Forderungen zweitrangig sind. Der
revolutionäre Marxismus versucht, den Kampf der ArbeiterInnenklasse nicht nur
für bessere Arbeitsbedingungen, sondern für die Abschaffung des gesamten
sozialen Systems, das die ArbeiterInnen unterdrückt und ausbeutet, anzuführen.
Der politische Kampf über jede Manifestation der aus dem kapitalistischen
System resultierenden Ungerechtigkeiten, einschließlich der sozialen
Unterdrückung der Frauen und der Aneignung ihrer unbezahlten Arbeit durch das
Kapital, ist wesentlich für die Bildung von Klassenbewusstsein und den
Zusammenhalt einer sozialistischen Bewegung.

In der Tat geht es in Lenins Schlüsselwerk „Was tun?“ fast ausschließlich darum, dieses Argument vorzubringen:

„Daher ist es begreiflich, dass die Sozialdemokraten sich nicht nur nicht auf den ökonomischen Kampf beschränken können [ … ] Es ist notwendig, jede konkrete Erscheinung dieser Unterdrückung auszunutzen [ … ] auf den verschiedensten Lebens- und Tätigkeitsgebieten, dem beruflichen, dem allgemein-bürgerlichen, dem persönlichen, dem der Familie, dem religiösen, dem wissenschaftlichen usw.“2

Wo die Autorinnen „altmodische Verständnisse“ des
Kapitalismus kritisieren, denen gemäß sie sich die ArbeiterInnenklasse
„ausschließlich aus denen zusammensetze, die für Löhne in Fabriken oder
Bergwerken arbeiten“, antworten sie nicht auf die marxistische Tradition,
sondern auf die stalinistischen und reformistischen Entstellungen des
Marxismus. Die Tendenz zum Ökonomismus ist nicht ein Merkmal revolutionärer,
sondern einer im Wesentlichen bürgerlichen Politik, die sich darauf beschränkt,
bessere Bedingungen für die ArbeiterInnen innerhalb der Grenzen des
Kapitalismus zu suchen.

Die wirtschaftlichen Auseinandersetzungen durch den Kampf um
die soziale Reproduktion zu ersetzen, ohne eine revolutionäre Strategie
voranzutreiben, das kann diesen Fehler nicht überwinden, sondern verlagert ihn
lediglich auf ein anderes Terrain von Teilreformen.

Kapitalismus und Krise

Die Ablehnung des „Feminismus für die 99 %“ dessen, was
das Manifest als den ökonomischen Determinismus der marxistischen Tradition
bezeichnet, führt dazu, dass es den Begriff der kapitalistischen Krise neu
theoretisiert und lässt die Autorinnen einer sinnvollen Definition des
Kapitalismus beraubt bleiben. Sie behaupten, dass die allgemeine Krise
historisch gesehen bedeutende Möglichkeiten für eine gesellschaftliche
Transformation geboten hat und dass die Existenz von Krisenbedingungen den
Imperativ für FeministInnen und Radikale schafft, darauf zu reagieren und den
Prozess zu „lenken“. Die Autorinnen stellen ihr Manifest als Strategie zur
„Lösung“ der allgemeinen Krise vor, die wir heute durchleben.

Obwohl die Autorinnen sagen, dass sie auf eine „Krise des
Kapitalismus“ reagieren, bestehen sie darauf, dass sie „diese Begriffe nicht im
üblichen Sinn“ (S. 82) verstehen, und zeigen mit dem Finger auf die
marxistische Konzeption der inneren Widersprüche des Kapitals. Stattdessen
erkennen sie „als Feministinnen“ an, dass der Kapitalismus auch „weitere,
außerökonomische Widersprüche und Krisentendenzen“ (S. 83) beherbergt, was
bedeutet, dass die kapitalistische Krise „nicht nur eine wirtschaftliche,
sondern auch eine ökologische, politische und auf die gesellschaftliche
Reproduktion bezogene“ ist. (S. 84) Für sie besteht die Wurzel all dieser
Krisen im Bestreben des Kapitals, freie Ressourcen aus verschiedenen Quellen
(Frauen, Umwelt, ärmere Länder) zu extrahieren und sie in den Prozess der
Akkumulation einzubringen, der auf lange Sicht nicht nachhaltig ist und Krisen
in jeder dieser parallelen sozialen Sphären verursacht.

MarxistInnen würden zustimmen, dass die Tendenz zur Krise in
die Natur des kapitalistischen Systems selbst eingebettet ist und die
Überausbeutung „freier“ Arbeit und Ressourcen ein Merkmal des Kapitalismus ist.
Aber die Marx’sche Theorie hat eine viel spezifischere Definition von Krise. Sie
behauptet, dass die Quelle der Krise der innere Widerspruch des Kapitals selbst
ist, definiert durch die Ausbeutung der lebendigen Arbeit. In ihrer ständigen
Suche nach Mehrwert werden die KapitalistInnen dazu getrieben, die
Arbeitsproduktivität zu erhöhen, indem sie das Niveau der in der Produktion
eingesetzten Technologie erhöhen.

Dabei sinkt der Anteil des Kapitals, der in die
Arbeitskosten fließt, im Vergleich zu dem, der in Maschinen und Rohstoffe eingeht.
Da es aber nur  ArbeiterInnen aus Fleisch
und Blut sind, die einen Mehrwert schaffen, bedeutet dies im Laufe der Zeit
einen Rückgang der Rentabilität des Kapitals – die Profitrate sinkt tendenziell.
Wenn die Profitrate sinkt, kann das Kapital kein ausreichendes
Rentabilitätsniveau aufrechterhalten, und eine Krise bricht aus. Die Symptome
dieser Wirtschaftskrise – Kapitalabzug, Zins- und Preiserhöhungen – sind das
Ergebnis des verzweifelten Versuchs des Kapitals, seine Rentabilität
aufrechtzuerhalten, was für die ArbeiterInnen verheerende Auswirkungen in Form
von Arbeitslosigkeit und sinkenden Lebensstandards mit sich bringt und in
soziale und politische Unruhen übergreift.

Für MarxistInnen ist das, was der „Feminismus für die 99 %“
als „Krise der sozialen Reproduktion“ beschreibt – wenn „eine Gesellschaft der
gesellschaftlichen Reproduktion die öffentliche Unterstützung“ entzieht und „zugleich
diejenigen, die das Gros der Reproduktionsarbeit leisten, für anstrengende,
aber niedrig bezahlte Arbeit, die zudem noch mit langen Arbeitstagen
einhergeht“ (S. 93 f.), rekrutiert – ein untrennbarer Teil der Krise des
Kapitals. Das Kapital versucht, sinkende Gewinnraten auszugleichen, indem es
den Mehrwert auf Kosten der ArbeiterInnen zurückgewinnt, sowohl die
tatsächlichen Löhne als auch den Soziallohn kürzt (einschließlich kostenloser
oder subventionierter Kinderbetreuung, staatlicher Bereitstellung von
Sozialleistungen usw.). Dies hat den beschriebenen Effekt, dass die Belastung
durch unbezahlte soziale Reproduktionsarbeit zunimmt und überwiegend auf Frauen
entfällt. Daher sind die Kämpfe gegen die Schließung öffentlicher Dienste, für
die Sozialisierung der Kinderbetreuung usw. kein gesonderter feministischer
Imperativ, sondern Teil des Klassenkampfes insgesamt.

Im „Feminismus für die 99 %“ hingegen liegt die
Notwendigkeit eines antikapitalistischen Ansatzes nicht in einer Antwort auf
die Gesetze des Kapitalismus begründet, sondern in einer allgemeinen sozialen
Krise, die sich aus einer Vielzahl von Krisen in verschiedenen Bereichen der
Gesellschaft zusammensetzt und sich zu einer „gesamtgesellschaftlichen Krise“ (S.
27) summiert. Obwohl sie argumentieren, dass FeministInnen in jeder dieser
Arenen kämpfen müssen und es für alle diese Kämpfe wesentlich ist, sich
miteinander zu verbinden, sehen sie jede dieser Auseinandersetzungen in einer
eigenen und separaten Sphäre stattfinden. Als Feministinnen sind sie am meisten
damit beschäftigt, in der Krise der sozialen Reproduktion eine Führungsrolle zu
übernehmen und die Führung von Kämpfen in parallelen Bereichen wie
Antirassismus oder Umweltschutz anderen zu überlassen.

Aber wenn jeder Kampf in einer separaten Sphäre stattfinden
kann, um eine bestimmte Krise zu lösen, dann ist jeder soziale Kampf
gleichermaßen wichtig für die „Überwindung“ des Kapitalismus, und der Erfolg
der „sozialen Transformation“ erfordert nur eine bessere Koordination zwischen
den verschiedenen Bewegungen, nicht aber eine bewusste Strategie zur
Entmachtung der herrschenden Klasse. Die Frage, was die Bewegungen wirklich tun
müssen, um zu einer „nichtkapitalistischen Gesellschaft“ zu gelangen, wird
weiter dadurch verdunkelt, dass die Broschüre den Kapitalismus nie wirklich
definiert. Obwohl die Arbeitswerttheorie zusammengefasst wird, erscheint der
Kapitalismus im gesamten Buch vor allem unter dem Deckmantel seiner Symptome,
einer Ansammlung schrecklicher sozialer Folgen, gegen die verschiedene
Bewegungen sich aufzustellen ermutigt werden.

Wo in der Broschüre vom Kapitalismus als System gesprochen
wird, tritt er als eines in Erscheinung, das aus miteinander verbundenen,
konstitutiven Teilen besteht, und nicht als eines, das als ein einziges nach
den Gesetzen der kapitalistischen politischen Ökonomie funktioniert. Wenn sie
ihre Erklärung dafür, warum sich der Kapitalismus in einer so tiefen Krise
befindet, ausarbeiten, beziehen sie sich manchmal auf den Neoliberalismus, das
Finanzkapital oder den Imperialismus. Aber diese Begriffe werden nicht klar
definiert oder mit politischem Inhalt versehen – Neoliberalismus wird nur als
eine „besonders räuberische Form des Kapitalismus“ (S. 27) und Imperialismus
als wirtschaftlich ausbeuterische Beziehungen zwischen Ländern definiert, die
durch Rassismus bedingt sind.

Dies zeigt, dass – trotz der ständigen Betonung ihrer „antikapitalistischen“
Ausrichtung – der Ausgangspunkt der Autorinnen eine Ablehnung des historischen
Materialismus und der Kapitalkritik von Marx ist. Da diese Konzepte am Ende den
revolutionären Charakter und die Aufgaben des Subjekts in Gestalt der
ArbeiterInnenklasse innerhalb des Kapitalismus umreißen, folgt daraus
natürlich, dass die Autorinnen die ArbeiterInnenklasse als geschichtliche
Trägerin des gesellschaftlichen Wandels ablehnen. Keine Passage fasst dies
besser zusammen, als die, wo die Autorinnen, nachdem sie anerkannt haben, dass
ihr Manifest auf den Schultern von Marx und Engels steht, ihre Anerkennung
sofort einschränken: „Da wir uns heute einer gespalteneren und heterogeneren
politischen Landschaft gegenüber sehen, ist es für uns nicht so einfach, uns
eine weltweit geeinte revolutionäre Kraft vorzustellen.“ (S. 78)

Populismus

Nachdem er so die Zentralität der Klasse im Kampf gegen den
Kapitalismus beseitigt hat, ersetzt „Feminismus für die 99 %“ diese durch
„einen Universalismus, der seine Form und seinen Inhalt aus der Vielzahl der
Kämpfe von unten erhält“. Konkret wird dies durch eine aggregierte Masse von
sozialen Bewegungen verkörpert, die die „99 %“ repräsentieren. Die
Autorinnen skizzieren die Konturen ihrer Allianz, indem sie sagen „Wir lehnen
nicht nur den reaktionären Populismus ab, sondern auch den fortschrittlichen
Neoliberalismus. Tatsächlich beabsichtigen wir unsere Bewegung genau dadurch
aufzubauen, dass wir das Bündnis mit diesen beiden aufkündigen“. (S. 72) Die
Schreiberinnen berufen sich auf einen progressiven oder „antikapitalistischen“
Populismus, die politische Ideologie der Mittelschichten.

Ihr erklärtes Ziel ist es, die Frauenstreiks zu verstärken
und Sympathie und Unterstützung zwischen der Frauenbewegung und anderen
sozialen Kämpfen aufzubauen, um „sich jeder Bewegung anzuschließen, die für die
99 % kämpft“. Da die Autorinnen ihre antikapitalistische Strategie als ein
Bündnis von sozialen Bewegungen definiert haben, die in verschiedenen Bereichen
kämpfen, steht es ihnen frei, die Tugenden der verschiedenen Bewegungen
nacheinander zu preisen, wobei sie der Frage ausweichen, wie sich die
Bewegungen zueinander verhalten sollen, und sich stattdessen auf die Aufgaben
von FeministInnen im Kampf um die soziale Reproduktion konzentrieren.

In der gesamten Broschüre gibt es eine Spannung zwischen dem
Wunsch der Schreiberinnen, FeministInnen als FührerInnen dieser
antikapitalistischen Allianz zu positionieren, und ihrer Neigung zu einem
diffusen Horizontalismus. Manchmal wird die Frage „Werden dann Feministinnen an
vorderster Front beteiligt sein?“ (S. 31) als entscheidend für den Erfolg ihres
antikapitalistischen Aufstandes gestellt. Doch im gesamten Buch bleibt die
Frage unbeantwortet, wer die kollektiven Aufgaben ihres so genannten „antikapitalistischen
Aufstands“ festlegen oder leiten wird, und es gibt keine Diskussion über die
Organisationsformen, die notwendig sind, um ein Bündnis so unterschiedlicher
Bewegungen aufrechtzuerhalten. Das Zusammentreffen der Vielzahl von Bewegungen
wird als eine spontane Annäherung von Subjekten vorgestellt: „Nur durch
bewusste Bemühungen, Solidarität aufzubauen, durch den Kampf in und durch
unsere Vielfalt, können wir die kombinierte Kraft erreichen, die wir brauchen,
um die Gesellschaft zu transformieren“.

Obwohl wir  mit
„Feminismus für die 99 %“ darin übereinstimmen, dass es wichtig ist,
Solidarität zwischen den verschiedenen Bewegungen aufzubauen, ist unser Endziel
nicht nur, die Vielfalt zu feiern und voneinander zu lernen, sondern unsere
Unterschiede zu überwinden und die große Vielfalt spontaner und
themenspezifischer Bewegungen zu einer einzigen, facettenreichen Bewegung zu
vereinen, die sich ihres gemeinsamen Ziels bewusst wird. Das Ziel muss der
Sturz des Kapitalismus sein, der notwendig sein wird, um eine dauerhafte
Befreiung aller Ausgebeuteten und Unterdrückten zu erreichen, einschließlich
derer, die auf der Grundlage von Geschlecht, Gender und Sexualität unterdrückt
werden. Es ist gerade die politische Führung, die durch die Zusammenführung der
verschiedenen Elemente unter einem gemeinsamen Programm die politischen Ziele
der verschiedenen Bewegungen erhöhen und sie auf den Sozialismus ausrichten
kann.

Hier ist die Frage der Handlungsfähigkeit von größter
Bedeutung. Welche Gruppe kann sich vereinen und eine globale
antikapitalistische Bewegung anführen? Die Antwort, die der Marxismus gibt, ist
die ArbeiterInnenklasse – sowohl Frauen als auch Männer, die aus allen
Nationalitäten und Rassen stammen. Ihr revolutionäres Potenzial ergibt sich aus
ihrer Rolle in der Produktion, durch die die Klasse die kollektiven Fähigkeiten
und das Ethos erwirbt, um sich gegen ihre AusbeuterInnen zu vereinigen. Der
familiäre Rahmen spaltet und atomisiert, anstatt die Klasse zu vereinen, wenn er
vom Arbeitsplatz und der Gemeinschaft der ArbeiterInnenklasse getrennt ist.

Aber die Notwendigkeit unbezahlter und bezahlter Arbeit für
die KapitalistInnen gibt den ArbeiterInnen und ihren Familien – als Klasse und
nicht nur als Belegschaft – die Macht, sich zu wehren. Die ArbeiterInnenklasse
hat gezeigt, dass sie wie keine andere Klasse ihre eigenen Organisationen
aufbauen kann, und sie ist die einzige soziale Gruppierung, die eine
sozialistische Revolution erfolgreich geführt hat. Kein heterogenes „Volk“,
keine „Bewegung von Bewegungen“, die von Klassenunterschieden und Antagonismen
zerrissen ist, kann diese ersetzen und die Agentur eines wirklich
antikapitalistischen Projekts sein.

Indem sie die ArbeiterInnenklasse als universelles Subjekt
innerhalb des Klassenkampfes ablehnen, weisen die Autorinnen das Ziel des
Sozialismus zurück, d. h. die Übernahme der Staatsmacht durch die
ArbeiterInnenklasse und die demokratische Planung der Wirtschaft. Da sie sowohl
den bürgerlichen Feminismus als auch den Marxismus ablehnen, ist ihre Ideologie
letztlich eine solche des kleinbürgerlichen Feminismus, der Klasse nur als eine
von vielen Identitäten mit überlappenden und konkurrierenden Interessen sieht
und daher unfähig ist, eine Einheit im Kampf zu schmieden. Ihr Machtanspruch
kann nur ein allgemeiner „antisystemischer“ Linkspopulismus sein, in dem den 99 %
– d. h. allen Bevölkerungsklassen, die durch die sozialen Bewegungen
vertreten werden mit Ausnahme der MilliardärInnen – die zentrale Rolle
zugeschrieben wird, aber notwendigerweise ohne ein gemeinsames Ziel, geschweige
denn eine Strategie zur Erreichung dessen. Und genau hier, in der Frage der
Taktik und Strategie, zeigt sich die eklatanteste Schwäche des Buches.

Frauenstreiks

„Feminismus für die 99 %“ stellt die Frauenstreiks als
eine wesentliche Taktik für den Aufbau einer „neuen, nichtkapitalistischen
Gesellschaftsform“ dar und argumentiert, dass sie die Vorstellung der Menschen
von Streiks auf der ganzen Welt neu beleben können. In Übereinstimmung mit der
eklektischen Methode der Autorinnen bleibt im Buch unklar, ob die Frauenstreiks
als eine Protestbewegung aufgebaut werden sollten, um den halbautonomen Kampf
für Reformen im Bereich der sozialen Reproduktion voranzutreiben, oder ob sie
ein bewusster Versuch sind, den Kapitalismus zu schwächen.

Für MarxistInnen hat ein Streik eine spezifische Funktion
als direkte Konfrontation zwischen ArbeiterInnen und Kapital. Durch den Streik
berauben die ArbeiterInnen die Bosse ihrer Profite und versuchen durch die
Androhung weiterer Störungen einige Zugeständnisse seitens der KapitalistInnen
zu erreichen. Wenn ein Streik zu einer Massenstreikbewegung verallgemeinert
wird, stellt sich die Frage, wer in der Gesellschaft die Macht. Unter den
richtigen Bedingungen und unter der richtigen Führung kann sie der Auslöser für
einen revolutionären Aufstand sein. Streiks am Arbeitsplatz haben diese
störende Wirkung, weil der Rückzug der produktiven Arbeit die Produktion von
Mehrwert behindert, der das Wesen des Kapitalkreislaufs ausmacht. Unbezahlte
Arbeit im Haushalt bringt per Definition keinen Profit, daher ist ihre
Niederlegung kein direkter Schlag gegen das Kapital.

„Feminismus für die 99 %“ scheint diese Prämisse zu
akzeptieren, wenn es sagt, dass die Rolle der Frauenstreiks darin besteht, „die
unverzichtbare Rolle“ sichtbar zu machen, „die geschlechtsspezifische,
unbezahlte Arbeit in kapitalistischen Gesellschaften spielt“ (S. 17). In
Wirklichkeit werden die Frauenstreiks als eine Protestbewegung dargestellt und
nicht als ein bewusster Versuch, Kapazitäten zur Störung der kapitalistischen
Wirtschaft aufzubauen. Aber da „Feminismus für die 99 %“ keine Vorstellung
von den Gesetzen und Grenzen des Kapitals hat, sondern nur „ehrgeizige Projekte
der sozialen Transformation“, behauptet es, dass ein solcher Protest immer noch
ein transformativer Akt sein kann, „vor allem durch eine Erweiterung der
Vorstellung dessen, was überhaupt als Arbeit zählt“. (ebd.)

Obwohl der Marxismus beschuldigt wird, eine künstliche
Aufteilung der Bewegung in den wirtschaftlichen und sozialen Kampf als
getrennte Sphären aufrechtzuerhalten, begeht „Feminismus für die 99 %“ in
Wirklichkeit den gleichen Fehler in umgekehrter Richtung, indem es versucht,
den sozialen reproduktiven Kämpfen Vorrang einzuräumen. Die Autorinnen
übertreiben zwar die Fähigkeit des Entzugs von sozialer reproduktiver Arbeit,
den Kapitalismus zu stören, untergraben aber gleichzeitig das tatsächliche
politische Potenzial der Frauenstreiks, indem sie ihre Funktion künstlich auf
die einer Protestbewegung zur Hebung des feministischen Bewusstseins
beschränken. Selbst die grundlegendsten politischen Forderungen, die auf eine
Verbesserung der materiellen Position der Frauen in der Gesellschaft abzielen
wie allgemeine kostenlose Kinderbetreuung und gleiche Bezahlung, fehlen
auffallend außer in ihrer negativen Form, als Beispiele für Dinge, die der Gesellschaft
derzeit fehlen.

Tatsächlich kann die Nutzung der Rolle der Frauen in der
kapitalistischen Wirtschaft als Lohnarbeiterinnen
zur Organisation von Frauenstreiks die Grundlage einer Strategie zur Ausweitung
der Bewegung sein, die eine größere Zahl von ArbeiterInnen – einschließlich
Männern – in die Streiks hineinzieht. Einige der erfolgreichsten Frauenstreiks
haben in Ländern stattgefunden, in denen sie von großen Gewerkschaften
unterstützt wurden wie in Spanien und der Schweiz. Die Frauen hörten nicht nur
mit der Hausarbeit auf, sondern verließen ihre Arbeit auf der Grundlage
sozialer und wirtschaftlicher Forderungen: gleiche Bezahlung, soziale
Absicherung der Kinderbetreuung, Beendigung der Schikanen am Arbeitsplatz und
der häuslichen Gewalt.

Die Verbindung von sozialen und wirtschaftlichen Forderungen
verleiht der Bewegung einen politischen Charakter und stellt Frauen an die
Spitze eines Kampfes, der die Frage aufwirft, welches Sozialsystem all diese
Forderungen gleichzeitig erfüllen und die Errungenschaften dauerhaft machen
könnte. Wenn sich die Streiks am Arbeitsplatz ausbreiten, wird die
Unterstützung von arbeitslosen Frauen, die zu Hause arbeiten, die Umwandlung
der Bewegung in einen allgemeinen politischen Konflikt beschleunigen.

Wenn eine solche Bewegung erfolgreich wäre, würde sie
zweifellos auf den Widerstand des bürgerlichen Staates stoßen. Dieser Punkt
wäre ein entscheidender. Die Bewegung müsste sich entweder auf die
Machtübernahme oder auf eine Niederlage vorbereiten. Auch über das Wesen des
Staates schweigt „Feminismus für die 99 %“. Das Beste, was man daraus
schließen kann, ist, dass der Staat irgendwie obsolet wird, wenn verschiedene
soziale Bewegungen eine bestimmte Schwelle des Radikalismus und der
Zusammenarbeit überschreiten.

Schlussfolgerungen

„Feminismus für die 99 %“ beginnt mit der Behauptung:
„Die Organisatorinnen des huelga feminista [Frauenstreiks] bestehen darauf, dem
Kapitalismus ein Ende zu setzen“ (S. 10). Doch trotz ihrer Rhetorik ist der
Antikapitalismus der Autorinnen eher ein utopischer Anspruch als eine
revolutionäre Strategie.

Wie soll der Kapitalismus beendet werden? Kein Streik –
weder ein Streik, der die Produktion stoppt, noch einer, der in erster Linie
eine Massendemonstration ist – kann dies allein erreichen.
Massendemonstrationen von Frauen als Hausfrauen wie auch als Lohnarbeiterinnen
sind als Beweis unserer potenziellen Macht von unschätzbarem Wert. Aber wenn
diese wirklich auf der Beendigung des Kapitalismus „bestehen“ sollen, müssen
sie sich zunächst in politische Streiks verwandeln, die bewusst eine Regierung
und den Staat zur Kapitulation zwingen wollen und dann in einen Aufstand, eine
Revolution.

Wenn der Streik wirklich ein wesentliches Element der
Vorbereitung und ein potenzieller Katalysator für eine antikapitalistische
Revolution ist – und tatsächlich ist er das –, dann muss die
ArbeiterInnenklasse die zentrale oder führende Kraft darin sein. Sicherlich
wird sie Verbündete aus anderen unterdrückten und ausgebeuteten Klassen
brauchen, aber die ArbeiterInnenklasse muss die hegemoniale Klasse sein, weil
der Kapitalismus historisch gesehen nicht ohne sie auskommt, während die
ArbeiterInnenklasse auf den Kapitalismus verzichten kann.

Nur die ArbeiterInnenklasse kann die Massenproduktion und -verteilung und damit auch die Reproduktion sozialisieren, die Frauen von der Hausarbeit im individuellen Familienhaushalt befreien und die jahrhundertealte Unterdrückung der Frauen beenden. Seit den Tagen von Marx und Engels haben die RevolutionärInnen erkannt, dass diese Ziele untrennbar miteinander verbunden sind:

„Mit dem Übergang der Produktionsmittel in Gemeineigentum hört die Einzelfamilie auf, wirtschaftliche Einheit der Gesellschaft zu sein. Die Privathaushaltung verwandelt sich in eine gesellschaftliche Industrie. Die Pflege und Erziehung der Kinder wird öffentliche Angelegenheit; die Gesellschaft sorgt für alle Kinder gleichmäßig, seien sie eheliche oder uneheliche“.3

Demzufolge müssen die revolutionären Ziele von Anfang an
anerkannt und hervorgehoben werden und dürfen nicht hinter verwirrender
populistischer Rhetorik oder in der Rede von Bündnissen unterdrückter Schichten
oder „Identitäten“ versteckt werden, von denen jede über ihre eigenen, nicht
miteinander verbundenen Ideologien, Tagesordnungen und bereits bestehende
Führungen und Organisationen verfügt. Für antikapitalistische Frauen muss der
Ausgangspunkt die proletarische Frauenbewegung sein, an der Frauen sowohl als
Produktionsarbeiterinnen wie auch als Dienstleisterinnen im Haushalt
teilnehmen. Als die Hauptorganisatorinnen im Bereich des Konsums, der
Kinderbetreuung und der Bildung spüren Frauen die Auswirkungen der
kapitalistischen Krise am unmittelbarsten. Es ist kein Zufall, dass sich in
jedem großen Klassenkampf, der die engen Grenzen eines Tarifstreits
überschreitet, Frauen organisiert haben.

Der Zweck der proletarischen, im Gegensatz zu einer
kleinbürgerlichen Frauenbewegung, liegt darin, Frauen in den Kampf für den
Sturz des Kapitalismus zu ziehen, basierend auf einer Strategie für die revolutionäre
Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse. Ihre Aufgabe ist es, politische
Forderungen zur Beseitigung der materiellen Basis der Frauenunterdrückung zu
formulieren, die in jedem gesellschaftlichen Kampf auftauchen, der nach dem
Prinzip handelt: kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung, keine Frauenbefreiung
ohne Sozialismus!

Endnoten:

1 Engels, Friedrich: Die Entwicklung des
Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, Berlin/O. 1974, S. 210

2 Lenin, W. I.: Was tun? Brennende Fragen unserer
Bewegung, LW 5, Berlin/O. 1955, S. 413

3 Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des
Privateigentums und des Staats, MEW 21, Berlin/O. 1975, S. 77