Auf einmal mitten in einer Bewegung – Massenproteste gegen Fahrpreiserhöhung in Brasilien

Ich bin kaum einen Monat in Sao Paulo und schon mitten in einer Bewegung gegen die Fahrpreiserhöhung des öffentlichen Verkehrs in Sao Paulo. Die Bewegung ist richtig gut, ich bin begeistert – aber zugleich empört über die Repression und die Berichterstattung in den Medien. Deshalb habe ich mich entschieden, diesen Bericht über die heutige Demonstration zu schreiben.

Es war heute, am 14. Juni, die dritte Demonstration, an der ich teilgenommen habe. Die Bewegung gefällt mir – und sie wächst. Das erste Mal, als ich teilnahm, kamen vielleicht 2.000 Leute. Das zweite Mal, letzten Dienstag, 8.000 und heute 15.000. Ich denke, die Bewegung hat eine gute Chance, die Rücknahme der Erhöhung zu erreichen, denn die regierende PT (Partido dos Trabalhadores, Arbeiterpartei) in Sao Paulo bekommt Probleme damit. Sie hat die Bewegung unterstützt, als sie noch in der Opposition war. Heute stellt sie den Bürgermeister und hat die Preiserhöhung selbst durchgesetzt. Diese Woche hat die Jugend der PT dazu aufgerufen, an den Demonstrationen teilzunehmen – gegen den eigenen Bürgermeister? Die PT hat sich beeilt zu erklären, dass Mitglieder der Partei als „Einzelpersonen“ teilnehmen könnten.

Heute waren zwei Fahnen der PT in der Demo zu sehen. Die DemonstrantInnen antworteten darauf mit: „Raus mit der PT!“ und „Hey, PT, fick dich!“ Außer der PT nahmen auch fast alle anderen bekannten linken Parteien und Gruppen an der Demo teil.

Beginn der Protestwelle

Die Demo begann um 17.00 Uhr im Zentrum von Sao Paulo, vor dem Teatro Municipal. Als ich ankam, war der Platz bereits brechend voll. Die Stimmung war super, kämpferisch, entschieden, aber auch diszipliniert. Ich war begeistert. Nach über einer Stunde „aufwärmen“ – Sprechchöre rufen und singen – ging die Demo los in Richtung Praca República, auch im Zentrum von Sao Paulo gelegen. Alle waren gut drauf, die Leute winkten aus den Fenstern der Büros und der Wohnungen. Das ist schon nicht mehr nur eine Demo der Linken, das ist schon eine Bewegung. Es geht auch nicht mehr nur um 20 Centavos (der Fahrpreis wurde von 3 Reais auf 3,20 Reais erhöht; ein Euro = 2,6 Reais). Später habe ich mit einem Demonstranten gesprochen. Er meinte zu mir, die 20 Centavos sind „der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“ So ist es bei vielen Bewegungen, sei es bei S21, dem Arabischen Frühling oder jetzt in der Türkei. Es gibt viele Gründe, aber den Anlass kennt man vorher nicht.

Handverletzung durch GummigeschossIch rannte an die Spitze der Demo, um sie von vorn zu sehen. Ein tolles Bild. Als die Demo an der Kreuzung zur großen Straße „Consolação“ kam, war es super voll. Vielleicht sogar mehr als 15000. Die Demo machte an der Kreuzung halt, hielt eine Weile inne und rief Sprechchöre. Dann machte sie sich auf den Weg in die „Consolação“.

Der Gouverneur des Bundesstaates Sao Paulo, Alckmin (von der rechten Partei PSDB), hatte bereits angekündigt, dass die Demonstration unterdrückt werden würde. In den Zeitungen war zu lesen, dass die Polizei „hart durchgreifen“ werde. Als ich die Demo und die Masse sah, dachte ich noch, die Polizei wird sich das nicht trauen. Aber weit gefehlt.

Ich habe schon viele Demos erlebt, in mehreren Ländern. Aber das heute waren Szenen, wie ich sie aus dem Fernsehen aus Kriegen kenne. Als wir ein Stück gegangen waren, hörte ich die ersten Bomben (die Polizei wirft Bomben, um die Menschen zu erschrecken). Ich dachte, dass wäre eine Warnung. Aber direkt danach kam schon die Polizei von vorn und begann, Tränengas zu verschießen.

Die Polizei hatte den Befehl, die Demonstration zu unterdrücken – und sie machte ernst damit. Die Mehrheit der Demo floh von der Straße zu einer Tankstelle an der Seite. Die Polizei beließ es nicht dabei und attackierte sie auch dort noch mit Tränengas. Ein Teil, unter anderem ich, wollten zurück auf die Straße, um die Demo fortzusetzen. Wir kehrten zurück und riefen Slogans. Die Mehrheit musste von der Tankstelle fliehen und rannte zum nahegelegenen Platz, der „Praça Roosevelt“. Dann kam die Polizei auch von hinten und attackierte weiter. Ich war noch auf der Straße, und das Gas begann zu brennen. Ich wollte in die andere Richtung fliehen, als ich sah, dass die Polizei auch von dort kam. Jetzt schossen sie Tränengas von allen Richtungen. Ich drehte mich um und blickte auf die Straße. Die Leute rannten in alle Richtungen, zwischen dem Rauch konnte ich die Menge auf der anderen Seite der sehr breiten Straße erkennen. Ich blickte nach rechts: Polizei; nach links: Polizei. Ich dachte: Was jetzt? Der einzige Ausweg war der Platz auf der anderen Straßenseite. Ich begann zu rennen. Ich konnte kaum noch etwas sehen, meine Augen tränten, der Mund brannte, ich konnte kaum atmen. Ich musste unbedingt auf die andere Seite – koste es, was es wolle. Also rannte ich.

Doch die Polizei war auch schon auf diesem Platz. Tausende Menschen waren nun dort zusammengepfercht, es gab keinen Ausweg mehr – und die Polizei schoss weiter Tränengas – und inzwischen auch Gummigeschosse.

Plötzlich spürte ich etwas an meiner Hand. Ein irrer Schmerz. Nun erst merkte ich, dass es ein Gummigeschoss gewesen war. Ich sah einen blutigen Abdruck und fühlte meine Hand taub werden. Zum Glück hatte ich Wasser für mein Gesicht mit, das immer noch brannte. Viel Wasser. Welche Erleichterung! Ich schrie: „Verdammt, ist die Regierung hier von der Arbeiterpartei oder von einer faschistischen Partei?“ Ich bekam die Antwort, dass die Regierung von der PT ist, was ich natürlich wusste.

Wir schafften es, auf die andere Seite des Platzes zu fliehen, die Polizei verfolgte uns. Doch mir passierte (außer einer Kontrolle auf dem Heimweg) weiter nichts. Ich ging weiter mit ein paar anderen Leuten und zeigte meine Hand einigen schockierten PassantInnen mit dem Hinweis, dass diese Bilder nicht in der Zeitung kommen. Aber bald verließ mich der Mut, noch weiter zu gehen, meine Hand schmerzte. Den Rest des Abends verbrachte ich in einer Bar, wo im Fernsehen die restlichen „Kriegs-Szenen“ – live vom Helikopter gefilmt – gezeigt wurden.

Vorbereitete Repression

Die Medien und die Politik hatten diese Repression wohl vorbereitet. Während der Demo letzten Dienstag war ich direkt vor einem der Busse, die angeblich von den DemonstrantInnen angezündet worden waren. Doch ich glaube das nicht. Wir liefen auf der Straße, als da plötzlich dieser einsame Bus stand: verlassen, kein Fahrer, kein anderes Auto, nichts. Plötzlich fing der Bus Feuer. Alle um mich herum waren schockiert und wir machten, dass wir Abstand gewannen. Sofort war die Presse zur Stelle und lieferte die entsprechenden Bilder.

Heute passierte solch ein Vorfall noch einmal. Als ich vor der Polizei floh, sah ich wieder einen Bus, der brannte. Plötzlich sah ich Rauch vom Bus aufsteigen. Doch – der Rauch kam von innen. Es war niemand im Bus, der das in diesem Moment gemacht haben könnte. Das waren nicht wir. Das war vorher vorbereitet, das war die Polizei selbst.

Mittwoch brachten alle Zeitungen, dass die Demo am Dienstag super gewalttätig gewesen sei, dass sogar ein Bus angezündet und Polizisten angegriffen worden waren. Das Bild des brennenden Busses war groß in allen Zeitungen. Am Donnerstag kündigte der Gouverneur Alckmin dann an, dass diese Demos nicht mehr unter die Meinungsfreiheit fielen, sondern „Vandalismus“ seien, und dass er das nicht weiter zulassen werde. Der Bürgermeister Haddad (PT) widersprach dem nicht und bestätigte, dass die Polizei „angemessen“ gehandelt habe.

Ich habe keinen Zweifel daran, dass auch Leute an der Demo teilnehmen, die sauer sind und Sachen kaputt schlagen, die ihren Frust raus lassen. Aber einen Bus anzünden, bei einer Demo gegen die Erhöhung der Fahrpreise des öffentlichen Verkehrs? Welchen Sinn sollte das denn für Demonstranten, ja selbst für den verrücktesten Abenteurer machen? Ich sah aus nächster Nähe, wie die Busse Feuer fingen – zwei Mal, ich habe an der Bewegung teilgenommen, ich sah die Reaktion in den Medien, des Gouverneurs, und ich war heute dort.

Die Regierung, sowohl der Stadt (PT) als auch des Staates (PSDB), wollen diese Bewegung unterdrücken, bevor sie zu einem Problem wird. Aber sie haben sich mit dieser Taktik heftig verzockt. Das Fass ist übergelaufen. Es geht längst nicht mehr nur um die 20 Centavos.

 Ein Artikel von Rico Rodriguez, REVOLUTION-Stuttgart




Türkischer Frühling – Taksim den Arbeiter_innen, Nieder mit Erdogan!

Seit fast einer Woche wird die Türkei von den größten Massenprotesten seit mehr als einem Jahrzehnt erschüttert. Was am vergangenen Freitag als friedlicher Protest gegen den Bau eines Hotels am Taksim-Platz begann, ist mittlerweile zu einer landesweiten Revolte gegen den Ministerpräsidenten Erdogan und die regierende AKP geworden. Mehr als das: die aktuellen Massenproteste in der Türkei schlagen Wellen weit über die Türkei hinaus.

Vom Protest am Gezi-Park …

turkey-gezip#2Als in der Nacht vom Sonntag, dem 26. Mai, die Bulldozer am Taksim-Platz rollen, um im nahegelegenen Gezi-Park Bäume zu roden, formiert sich der erste Protest. Der Park, der in Istanbuls Innenstadt liegt, soll einem Neubau weichen. Er soll Platz für ein Hotel und ein Einkaufszentrum schaffen, ein Symbol der AKP-Politik. Bereits jetzt wird prognostiziert, dass mehr als 11 Einkaufszentren in Istanbul Fehlbauten sind. Trotzdem sollen allein in den nächsten Jahren weitere 110 große Einkaufzentren errichtet werden, davon insgesamt 80 in Istanbul und der Hauptstadt Ankara.

Für die Herrschenden sind sie ein Zeichen der „Modernisierung“ und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Für die arbeitende Klasse und viele Arme sind sie ein Ausdruck der neoliberalen Politik der konservativ-islamischen AKP-Regierung unter Erdogan, von dem viele behaupten, er wolle sich „Denkmäler“ mit diesen Bauten schaffen. Doch der Kompromiss der herrschenden Klasse mit Teilen des Kleinbürgertums und der Arbeiterklasse, der Wirtschaftswachstum im Gegenzug für politische Ruhe versprach, scheint nicht länger zu halten.

Der Krieg gegen die KurdInnen, das brutale Vorgehen gegen die Arbeiterbewegung bei Streiks wie vor kurzem in der Tabakindustrie sowie der immer schärfere Abbau von Pressefreiheit und demokratischen Rechten war der Boden, auf dem sich türkisches und ausländisches Kapital bereichern. Bereits im vergangenen Jahr gab es immer wieder vereinzelte Proteste – auch in nicht-kurdischen Gebieten – gegen diese Umstände.

Der Kampf um den Gezi-Park, der eine der wenigen Grünflächen Istanbuls und darüber hinaus ein wichtiger Bezugspunkt für die Arbeiterbewegung im türkischen Staat darstellt, war daher Auslöser, nicht Grund für aktuellen Massenproteste.

… zur landesweiten Revolte

Die ganze Woche über gibt es immer wieder Auseinandersetzungen mit der Polizei, die die Abholzung des Gezi-Parks mit allen Mitteln durchsetzen will. Sie benutzt Pfefferspray, nutzt Knüppel und brennt Zelte nieder. Nach kurzer Zeit kommen die DemonstrantInnen jedoch immer wieder zurück – mit mehr TeilnehmerInnen als zuvor. Zwischenzeitig sah es so aus, als könne das Vorhaben, den Gezi-Park zu roden, gestoppt werden, nachdem Parlamentarier der BDP, einer kurdischen Partei und der CHP, der nationalistisch-kemalistischen Oppositionspartei, nach der Baugenehmigung fragten.

turkey-gezip#1Doch der Schein trügt. Am Freitag, als sich bereits über 5.000 AktivistInnen, v.a. Jugendliche, im Park versammelt haben, greift die Polizei an. Die Gewalt ist derart massiv, dass nach Aussagen der AktivistInnen Menschen sterben. Die Polizei verschießt gezielt Tränengas – so dass die Projektile die Köpfe und Unterleiber der DemonstrantInnen treffen. Wasserwerfer, die mit Pfefferspray versetzt sind, werden eingesetzt. Doch der Rubikon ist überschritten. Die Gewalt, die vom Erdogan-Regime ausgeht, um den Park zu räumen, ist wie Öl im Feuer – es kommt zur sozialen Explosion.

Der Solidarisierungseffekt ist gewaltig. Innerhalb kürzester Zeit drängen Massen von Menschen aus den Arbeitervierteln Istanbuls auf die Straßen, insbesondere Jugendliche und Frauen sind in den ersten Reihen der Kämpfe zu sehen. Auch Teile des Kleinbürgertums solidarisieren sich. Clubs bleiben geschlossen, kleine Händler und AnwohnerInnen öffnen ihre Türen, um den Verwundeten zu helfen – selbst ein bekannter Fernsehmoderator lässt seine Sendung ausfallen und ruft offen zum Protest auf.

In stundenlangen Straßenschlachten, die von der Polizei mit unglaublicher Härte geführt werden, versuchen die DemonstrantInnen, den Park zu erobern und die verhasste Polizei zu vertreiben. So ist es ihnen am Samstag möglich, den Taksim-Platz zurückzuerobern. Mittlerweile hat sich der Protest auf rund 70 Städte ausgeweitet. Auch die Forderungen sind radikaler geworden. Immer öfter hört man Slogans, die den Sturz der Regierung fordern.

Doch auch die Gewalt seitens der Regierung nimmt zu. Auch wenn die Polizei vom Taksim-Platz fliehen muss, verlagert sie den Kampf in andere Stadtviertel. Hunderte werden verhaftet, viele sind schwer verletzt. Erdogans Ansprache war eine weitere Provokation, die klar machte, dass er keinen Kompromiss schließen will, sondern ein offenes Kräftemessen mit der Arbeiterklasse provoziert.

„Marodeure, Terroristen und Extremisten“ nennt er die Menschen auf den Straßen. Er hingegen sei ein „Diener des Volkes“. Kurz bevor er seine Auslandsreise antritt, lässt er zwar verlauten, dass untersucht werde, ob die Gewalt der Polizei „unverhältnismäßig“ sei, für die politischen Forderungen hat er allerdings nur Hohn übrig. Zu den Protesten am Gezi-Park sagt er folgendes: „Ihr wollt Bäume? Ihr könnt Bäume haben. Vielleicht können wir sogar welche in eure Gärten pflanzen.“ An dem Bau des Projektes will er aber auch nach tagelangen Emeuten nicht rütteln. Zugute kommt ihm zwar die Pressezensur und die Regierungstreue der meisten großen Medien, aber bei dem Ausmaß, dass die Proteste zu diesem Zeitpunkt angenommen haben, lässt sich nur noch wenig verheimlichen.

Falsche Freunde

Das liegt vor allem an der unglaublichen Solidarisierung mit dem Widerstand, der um sich greift. Auch den Informationsfluss kann Erdogan nur begrenzt stoppen, will er nicht das gesamte Internet lahmlegen, ein Schritt, der eine „Alles oder Nichts“-Situation provozieren könnte.

Das wollen auch Andere nicht – allen voran die heuchlerischen PolitikerInnen der USA und der EU. Nach Tagen blutiger Auseinandersetzungen beginnen sie anzumerken, dass die Gewalt „beunruhigend sei“, dass die „Verhältnismäßigkeit eingehalten“ werden müsste. So ließ die deutsche Bundesregierung über die Menschenrechtsbeauftragte Löning verkünden, dass sie „die Entwicklungen in Istanbul und anderen Städten in der Türkei mit Sorge“ verfolge. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit seien in einer Demokratie „zentrale Grundrechte, die es zu wahren und zu schützen gelte. Besonnenheit und Deeskalation auf allen Seiten“ seien das Gebot der Stunde.

Vor allem sehen sie die Gefahr einer Destabilisierung der Regierung, die auch und besonders im Interesse der zentralen Imperialisten innerhalb der EU-Privatisierungen und der neoliberalen Politik durchgesetzt werden. Nicht die Gewalt des Staates an sich wird verurteilt. Sondern die Unverhältnismäßigkeit, die zu massivem Widerstand geführt hat, werden mit Sorge betrachtet. Doch Ähnliches passierte auch in Deutschland bei den Protesten in Frankfurt, wo mit massiver Polizeigewalt das Versammlungsrecht aufgehoben wurde.

Aber auch innerhalb der Bewegung gibt es falsche Freunde, namentlich die kemalistische Partei CHP. Sie mag zwar mit ihrem sekulären Anspruch als progressive Alternative gegenüber der AKP und Erdogan erscheinen, sozial gesehen ist diese Partei aber eine mindestens genauso große Bedrohung für die Bewegung, wie die aktuelle Regierung. Denn die CHP ist konsequente Verfechterin des Krieges gegen die kurdische Bevölkerung. Auch gegen die Privatisierungen und die Politik der AKP im Namen des türkischen Kapitals hat sie nichts einzuwenden, sie will sie nur auf anderem Wege erreichen – kurz: sie will selbst die Politik für das Kapital machen, anstatt dies der AKP zu überlassen.

Doch es gibt durchaus einen nicht unbedeutenden Fakt, der die CHP und die AKP unterscheidet. Die CHP hat durchaus starke Verbindungen in das Militär und die Generalität, die von der Beschneidung ihrer Befugnisse durch das Erodgan-Regime sicher nicht erfreut ist. So lange sich der Protest also gegen die AKP richtet, versucht sich die CHP als Opposition zu profilieren. Sollte es allerdings zum Sturz der Regierung kommen, würde sich die CHP unmittelbar, an der Seite des Militärs an die Spitze des Staates drängen – zumindest, wenn die Arbeiterklasse nicht selbst eine Alternative anzubieten und zu erkämpfen vermag.

Ein anderer falscher Freund ist der türkische Präsident Gül. Während Erdogan die Polizei gegen die DemonstrantInnen brutal vorgehen lässt, diese verhöhnt und jeden Kompromiss ablehnt, gibt sich Gül als der volksnahe Präsident. Er kritisiert die Polizei, fordert zum „Überdenken“ von Regierungsmaßnahmen auf und verklärt sich zum Verteidiger der „Demokratie“. Davon sollte sich niemand täuschen lassen. Gül kommt nicht nur aus derselben Partei wie Erdogan. Auch die Rollenteilung – hier der „harte“ und „böse“ Erdogan, dort der „verständnisvolle“ Gül – wurde in den letzten Jahren immer wieder geübt, um Protest gegen Regierungsmaßnahmen zu unterlaufen, indem durch Gül Kompromissbereitschaft signalisiert, die Maßnahmen der Regierung in der Substanz aber trotzdem umgesetzt wurden.

Für einen Türkischen Frühling der ArbeiterInnen
und der Jugend!

Momentan ist die Bewegung in der Offensive, sie ist im Wachsen und erobert Positionen. Doch schon bald wird sie an ihre Grenzen stoßen, wenn sie nicht eine klare Perspektive und eine organisierte Gegenmacht aufzeigen kann, die nicht nur Protest gegen die Polizeigewalt und die AKP darstellt, sondern beide auch ersetzen kann. Beides ist nicht mit Parteien wie der CHP, noch mit den „UnterstützerInnen aus dem demokratischen Westen“ möglich.

turkey-gezip#3Auch wenn die Arbeiterbewegung sowohl organisatorisch, als auch politisch stark zersplittert ist, so bietet die aktuelle Situation eine historische Gelegenheit, diese Schwäche zu überwinden.

So befinden sich seit Mittwoch, dem 5. Juni, etliche Gewerkschaften im Streik und haben zu Demonstrationen aufgerufen. Es ist aber unbedingt erforderlich, dass diese Streiks zu einem umfassenden und unbefristeten Generalstreik ausgedehnt werden. Dass auch viele Gewerkschaftsbürokraten das nicht wollen, ist nicht verwunderlich, aber kann gebrochen werden, sollte die türkische Linke unmittelbar für Versammlungen in den Betrieben und innerhalb der Streiks aufrufen, die Streikleitungen wählen, die der Basis verpflichtet sind.

Das gleiche ist unbedingt in den Stadtbezirken notwendig. Die Bewegung muss sich Organe schaffen, die sowohl dazu in der Lage sind, ihre Viertel gegen die Übergriffe der Polizei zu verteidigen, als auch Diskussionen zu führen und den weiteren Widerstand politisch zu organisieren. Ebenso unerlässlich ist es auch für die Arbeiterbewegung, unter den einfachen Soldaten Propaganda gegen das Regime zu betreiben, sie aufzufordern, sich nicht für Repression einsetzen zu lassen, und für Forderungen einzutreten, die einen Keil zwischen sie und die Generalität treiben, sowie mit den sozialen und politischen Forderungen der Arbeiterklasse verbinden.

Damit die Bewegung eine Perspektive hat, braucht sie klare politische Forderungen, die über jene nach Rückzug der Polizei und demokratische Reformen hinausgehen. Die mehr und mehr erhobene Forderung nach dem Sturz Erdogans muss auch mit politischem Inhalt gefüllt werden – nämlich mit der Frage, wer denn Erdogan ersetzen soll und mit welchem Programm. Eine CHP-Regierung würde nur bedeuten, vom Regen in die Traufe zu kommen.

Ein politischer Generalstreik, um die Polizeigewalt zu stoppen, die Bildung von Räte-ähnlichen Organen in den Stadtteilen und die Schaffung von Selbstverteidigungseinheiten, wären eine wichtige Basis für die Bildung einer Arbeiter- und Bauernregierung, die sich auf diese Organe stützen würde, denn eine Verschärfung des Kampfes und ein politischer Generalstreik würden die entscheidende Frage aufwerfen, wer herrscht – die türkische Bourgeoise oder die Arbeiterklasse. Die Beendigung des Krieges gegen die KurdInnen, der Privatisierungswellen und der sozialen Angriffe auf die Arbeiterklasse und die Mittelschichten sind auch mit einer noch so demokratischen kapitalistischen Türkei unvereinbar. Auch die Macht des Militärs lässt sich wohl unmöglich ohne revolutionäre Umwälzung brechen.

Sollte dies gelingen, sollte die Arbeiterklasse in der Türkei dazu in der Lage sein, sich auf Grundlage eines revolutionären Programms zu einer Partei zu formieren, dann würde das nicht nur die türkische Bourgeoisie hinwegfegen und unterdrückten Völkern wie den KurdInnen die Freiheit schenken. Es wäre auch ein mächtiges Leuchtfeuer für den Kampf in Europa – insbesondere in Griechenland – gegen die Krise. Im Nahen Osten wäre es ein Vorbild dafür, wie die Macht einer herrschenden Clique gebrochen werden kann.

Beteiligt Euch an den Solidaritätsdemonstrationen und Kundgebungen und Protestaktionen vor den türkischen Botschaften und Konsulaten! Die Massenrebellion in der Türkei braucht unsere Solidarität!

Ein Artikel von Georg Ismael, REVOLUTION-Berlin




Unruhen in Stockholm – Eine Reaktion auf Verelendung, Rassismus und Polizeigewalt

Boulevardzeitungen, TV-Shows und politische Kommentatoren in Schweden konzentrierten sich voll auf die Unruhen in den Vororten Ende Mai. Sorgfältig wurde über jedes ausgebrannte Auto oder Kämpfe mit der Polizei berichtet. Die einwöchigen nächtlichen Ausschreitungen verbreiteten sich schließlich in mehreren Vororten Stockholms, v.a. in jenen mit hohem Migrantenanteil und in geringerem Ausmaß in einigen anderen schwedischen Städten.

Hinrichtung eines Rentners

stockholm-riot#2Am Montag, dem 13. Mai, hatten bewaffnete Polizisten einen 68jährigen Mann, der ein Messer hatte, im Stockholmer Vorort Husby erschossen. Sie gaben an, in Notwehr gehandelt zu haben, und reichten einen Bericht ein, nach welchem das Opfer in einem Krankenwagen starb. Dass dies eine Lüge war, sickerte jedoch schnell durch. Es kam kein Krankenwagen, sondern die Leiche wurde tatsächlich erst mehrere Stunden später mitgenommen.

Mitglieder von „Megafonen“, einer radikalen Stockholmer Organisation der Jugend aus den Vorstädten, waren bei dieser Situation vor Ort und berichteten schnell von den Ungereimtheiten in dieser Polizei-Version der Ereignisse. Schließlich war die Polizei gezwungen zuzugeben, dass ihr Bericht falsch war. Die Berichte von Megafonen hatten Recht. Die Polizei entschuldigte sich mit Nachlässigkeit und menschlichem Versagen, aber ihre bereits geringe Glaubwürdigkeit erhielt einen weiteren Schlag.

Megafonen nannte die tödlichen Schüsse eine Hinrichtung und fordert eine unabhängige Untersuchung. Sie organisierten einen Protest vor der Polizeiwache in Tensta ein paar Tage nach den tödlichen Schüssen, aber die Polizei hat lediglich angekündigt, die übliche interne Untersuchung durchzuführen. Es gibt wenig Grund, nicht zu glauben, dass das Ergebnis bereits feststeht.

In der Nacht von Sonntag, dem 19. Mai, wurde die Polizei noch einmal nach Husby gerufen. Diesmal, sagten sie, wurden sie von Steine werfenden Jugendlichen empfangen und sie wären gezwungen gewesen, Verstärkung anzufordern, um die Ordnung wiederherzustellen.

Und wieder schildern die Bewohner von Husby ein komplett anderes Bild. Nach ihren Berichten startete die Polizei ihren Einsatz, nachdem anfangs ein paar Steine von örtlichen Jugendlichen geworfen worden waren, durch Angriffe auf umstehende Personen mit abfälligen Worten, darunter auch rassistischen Beleidigungen, mit Schlagstöcken und Hunden. Eine Mutter, die ihren Sohn überreden wollte, nach Hause zu kommen, wurde von einem Polizeihund gebissen.

Sprecher von Megafonen, die zu Beginn versucht hatten zu vermitteln und die Kämpfe auf friedliche Weise zu lösen, berichten, dass auch sie von der Polizei angegriffen wurden.

Erst eine Weile später, nachdem die Polizei völlig die Kontrolle über die Ereignisse verloren hatte, ließ sie die Gewalt eine Weile ruhen und begann einen Dialog mit den BewohnerInnen.

Natürlich waren die jüngsten tödlichen Schüsse nur der Funke im Pulverfass. Die von MigrantInnen dominierten Vororte haben eine lange Erfahrung mit Polizeipräsenz, die, wie in Husby an diesem Sonntagabend, alles andere als vernünftig und sensibel ist.

Es ist üblich, dass schon bei geringfügigen Verstößen mit Gewalt reagiert wird. Selbst bevor etwas passiert ist, verhält sich die Polizei oft abfällig und rassistisch. Dazu kommt natürlich, dass die Ungleichheit in der Gesellschaft steigt und z.B. Jugendtreffs dichtgemacht werden, dass Arbeitslosigkeit, Kürzungen von Leistungen und sozialer Verfall zunehmen. 38% der 20 bis 25jährigen in Husby haben weder Arbeit noch eine Bildungsmöglichkeit. „Illegale“ ImmigrantInnen werden deportiert.

All das liefert das Szenario für eine Situation, in der die Wut sich wahllos auf jede Vertretung des repressiven Staatsapparats richten kann und das auch tut.

Eine weitere Bedrohung kommt in Form der „Buy-to-let“-Gentrifizierung, der Art von „Stadtsanierung“, die nicht die Lebensbedingungen für die dort lebenden Menschen, sondern – aus Sicht der neuen Hausbesitzer – die Mieter „verbessern“ will. Es sollen wohlhabendere Bewohner gefunden werden, die die Mietsteigerungen verkraften können und denen bestenfalls egal ist, dass die „Kräfte des Marktes“ die ursprünglichen Bewohner vertreiben.

Eine zweite Variante mit ebenso negativen Folgen ist, dass private Vermieter, die absolut nichts zum Unterhalt oder zur Verbesserung der Wohnqualität tun, versuchen, so lange wie möglich Geld aus der Gegend zu ziehen, indem sie die Kosten auf ein Minimum drücken.

Die Unruhen in Husby sollten daher insgesamt als eine Reaktion gegen rassistische Polizei, Lügen, Gewalt, Armut und Perspektivlosigkeit gesehen werden. Die Frage ist nicht, warum die Wut ausgebrochen ist, sondern warum diese Ereignisse nicht häufiger auftreten.

Der Gegenschlag der Rechten

Die Antwort von der rechten Seite war, wie vorherzusehen, böse. Während SozialdemokratInnen und alle links davon sich zumindest verpflichtet gefühlt haben, auch wenn sie Gewalt und Zerstörung verurteilten, auf die soziale Basis der Unruhen hinzuweisen, so geht es den Liberalen und allen rechts davon nur um gewalttätige und kriminelle Individuen.

„Hört auf, die Schuld der Gesellschaft zu geben!“, ist bei ihnen ein gängiges Muster. Einige haben die Vertreibung der Familien derer gefordert, die beschuldigt werden, an Ausschreitungen beteiligt gewesen zu sein – obwohl diese Position immer noch zu unpopulär für die „respektablen“ bürgerlichen Politiker ist. Rassisten und Reaktionäre haben sich in den sozialen Medien ausgetobt, mit Aufrufen, die Polizei solle jeden Ungehorsamen als Zielscheibe benutzen, und offen rassistischen „Erklärungen“ für Gewalt. Von den etablierten Parteien, gingen die Schwedischen Demokraten, wie vorherzusehen war, am weitesten mit der Forderung nach mehr Befugnissen für die Polizei, einschließlich der Ausrufung des Ausnahmezustand – und „natürlich“ sind die Einwanderer schuld.

Inzwischen haben die faschistischen Gruppen ihre Chance für die Anstiftung zum „Krieg der Rassen“ erkannt. In den vergangenen Nächten haben sie einen „Bürgerwehr“ genannten Mob organisiert, um in einigen Vororten auf Jagd nach „Randalierern“ zu gehen. In der Tat haben sie natürlich versucht, einfach alle Einwanderer, die sie finden konnten, anzugreifen. Glücklicherweise ist die schwedische Nazi-Bewegung nicht mehr das, was sie vor 5-10 Jahren einmal war, so dass es scheint, dass sie jeweils nur maximal 60 Leute auf einmal zusammenbekamen – aber das ist natürlich schlimm genug. Sie haben mehrere Leute verprügelt, einige ziemlich schwer. In Reaktion darauf haben die Jugendlichen in einigen Vororten sich klug vorbereitet, um ihre Gebiete zu verteidigen und Antifaschisten haben sich organisiert, um die Nazis zu vertreiben.

Unsere Antwort

stockholm-riot#1

Kundgebung gegen Polizeigewalt und Vandalismus.

Wir wollen auf ein paar Dinge hinweisen. Erstens: Die Unruhen sind im Grunde eine Reaktion gegen polizeiliche Belästigung, Rassismus und Mangel an Perspektiven. Kommentatoren haben behauptet, dass viele der Randalierer gerade auf der Suche nach einem Abenteuer waren. Das mag sein – wenn eine solche Einstellung auch mit der Entfremdung von der Gesellschaft steigt. Unruhen ziehen immer Menschen aus verschiedenen Gründen an, die nicht alle bewusst politisch sind. Das widerspricht in keiner Weise dem Fakt, dass es in der Tat rechte Politik war, die sich verschlechternden sozialen Bedingungen und der Rassismus, die die Unruhen herbeigeführt haben.

Wenn die schwedische Arbeiterbewegung, die Sozialdemokraten, die Linke Partei und die Gewerkschaften tatsächlich für wirkliche Verbesserungen der Lebensqualität, für Arbeitsplätze und den „Sozialstaat“ kämpfen würden, die Jugend aus den Vorstädten ihre Kampfbereitschaft anders demonstrieren könnte.

Auch wenn die Wut der Jugendlichen auf den Staat berechtigt war, haben die Ausbrüche natürlich negative Folgen. Viele Menschen in den betroffenen Vorstädten haben entweder gegen die Gewalt und die Zerstörung von Eigentum protestiert oder zumindest versucht, diese zu begrenzen. Viele Bewohner, vermutlich genauso Arme und Unterdrückte sehen die Zerstörung des kommunalen und privaten Eigentums in ihren Gebieten als sinnlos an, die ihre Situation nur noch verschlimmert. Es ist daher auch notwendig, nicht alles zu romantisieren nach dem Motto: Je mehr, desto besser. Auch Steinwürfe auf Feuerwehr und Ambulanz stoßen nicht unbedingt auf Verständnis und Zustimmung in der eigenen Klasse.

Wir weisen aber jede „moralische“ Kritik zurück. Der Widerstand gegen Polizeirepression wird nicht ohne Schäden und Gewalt abgehen. Natürlich wollen wir, dass Rebellion so organisiert wie möglich stattfindet, dass Schäden am Eigentum von Arbeiterinnen gering gehalten werden, aber wir stehen eindeutig auf der Seite der Opfer von rechten Regierungen, der Polizei und den Medien und für das Recht auf Rebellion.

In der Tat brauchen wir mehr und nicht weniger Widerstand! Am besten sind Selbstverteidigungsteams der ArbeiterInnen und Jugendlichen aus den Vororten, die sich
der Polizeibrutalität widersetzen und die Knüppelbullen zum Abzug zwingen können. Damit könnten die ständigen Übergriffe auf die Bevölkerung eingeschränkt werden.

Mit der Einhaltung von Gesetzen und Regeln ist nichts zu erreichen. Friedliche Proteste und gelegentliche Stimmabgabe bei Wahlen – was haben sie uns gebracht? Einen zertrümmerten Wohlfahrtsstaat, unsichere und schlechtere Arbeitsverhältnisse, Vertreibungen und eine Nazi-Partei (die Schweden-Demokraten) im Parlament.

Die Leute aus den Vororten haben – wie alle Arbeitslosen und Prekären, die Arbeiterklasse insgesamt und alle unterdrückten Schichten – das Recht, ihre Wut auszudrücken. Entscheidend ist, dass die berechtigte Rebellion solche Formen wählt, die es ihr erlauben, nicht nur die deklassierten Vororte zu vereinen, sondern sich mit allen Ausgebeuteten und Unterdrückten zu verbinden. Hier ist es auch die Aufgabe der Linken und der Arbeiterbewegung, sich an die Seite der MigrantInnen-Jugend zu stellen, die überausgebeutet und mehrfach unterdrückt ist. So kann die Wut der Jugend zu einer wirklichen Änderung führen.

Die Reichen und diejenigen, die von den Missständen profitieren, müssen zahlen. Die Schuld liegt bei den bürgerlichen Politikern, den Kapitalisten und den rassistischen Polizeieinheiten. Die Arbeiterbewegung und die Linke sollten Solidaritäts-Demonstrationen mit folgenden Forderungen organisieren:

  • Bereitschaftspolizei raus aus Husby und den anderen Vororten! Für organisierte Selbstverteidigung gegen Polizei, faschistische und rassistische Banden.
  • Für eine unabhängige öffentliche Untersuchung und Anklage gegen die Mörder des 68jährigen Mannes.
  • Für eine Kampagne für Arbeit, Wohnungen, Bildung und Sozialeinrichtungen.
  • Enteignung aller Hausbesitzer, die Mieten erhöhen, Sanierung der Häuser mit öffentlichen Mitteln unter Kontrolle der BewohnerInnen und örtlichen Arbeiterschaft.

Ein Gastartikel von Jens-Hugo Nyberg, Arbetarmakt, Schwedische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale




Zanon: Die Fabrik ohne Chefs

Zanon#1Die Arbeiter_innen der argentinischen Keramikfabrik Zanon wurden inmitten der Wirtschaftskrise von 2001 von der Schließung ihrer Fabrik bedroht. Gegen die Angriffe von Seiten des Staates und der Kapitalist_innen besetzten sie die Fabrik und führen seit inzwischen über 10 Jahren die Produktion unter Arbeiter_innenkontrolle weiter. Seither werden alle Entscheidungen in Versammlungen der gesamten Belegschaft beschlossen. 2009 wurde die Fabrik endgültig unter Arbeiter_innenkontrolle verstaatlicht. Von Beginn an haben die Kolleg_innen ihren Kampf nicht isoliert betrachtet, sondern Zanon zu einem Motor des Klassenkampfes gemacht. Denn „wenn wir eine Fabrik betreiben können, können wir auch ein Land betreiben“.

Raúl Godoy war einer der führenden Köpfe dieses Kampfes und Generalsekretär der Gewerkschaft der KeramikarbeiterInnen und -angestellten von Neuquén (SOECN). Heute teilt er den Parlamentssitz, den die Front der Linken und ArbeiterInnen (FIT) im Abgeordnetenhaus der Provinz Neuquén gewonnen hat. Am 25. Mai kommt er nach Berlin.

Die Reise von Raúl Godoy findet in einer Zeit statt, in der die Angriffe der herrschenden Klasse verschiedener europäischer Länder auf die lohnabhängige Bevölkerung immer schärfer werden. Aus dem Widerstand gegen diese Angriffe sind inzwischen verschiedene Erfahrungen von Selbstverwaltung und Produktion unter Arbeiter_innenkontrolle erwachsen. Die Tatsache, dass sich ähnliche Erfahrungen wie die von Zanon in den am meisten von der Krise betroffenen Ländern Europas zu entwickeln beginnen, zeigt, dass diese Erfahrung aufgearbeitet und verbreitet werden muss.

Aus diesem Grund befindet sich Raúl Godoy auf einer zweiwöchigen Reise durch Europa, wo er Paris, Barcelona, Athen, Thessaloniki und Berlin besuchen wird, um sich mit kämpferischen Sektoren der Arbeiter_innenklasse und der Jugend auszutauschen. Besonders hervorzuheben sind dabei die verschiedenen Erfahrungen der Selbstverwaltung von Fabriken, die von Schließungen oder Entlassungen bedroht waren, wie zum Beispiel die Metallfabrik Vio.me in Thessaloniki. Auch in Deutschland können und müssen wir davon lernen.

Wir von REVOLUTION untersützen diese Initiative und laden gemeinsam mit der Gruppe Arbeitermacht, den Interbrigadas, der Marxistischen Initiative, Red Brain, der Revolutionären Internationalistischen Organisation, der Sozialistischen Arbeiterstimme, der Sozialistischen Initiative Berlin und Waffen der Kritik zu der Veranstaltung ein.

Samstag, 25. Mai ab 18.00 Uhr im IG-Metall-Haus in Berlin in der Alten Jakobstraße 149 (U-Bhf. Hallesches Tor)




Venezuela nach Chávez

Am 5. März 2013 ist Hugo Chávez, Präsident von Venezuela seit 1999, als Folge seiner Krebserkrankung verstorben. Am 14. April fanden Neuwahlen statt, zu denen der designierte Nachfolger von Chávez, Nicolas Maduro, antrat. Als rechter Gegenkandidat stand, wie bereits bei der letzten Wahl im November 2012, Henrique Capriles zur Wahl, die äußerst knapp ausfiel. Wohin geht also Venezuela?

Wer war Chávez?

Hugo Chavez#1

Der ehemalige – unter Linken umstrittene – Präsident Venezuelas, Hugo Chavez

Chávez ist im Laufe der letzten 10 Jahre zum unumstrittenen Führer der venezolanischen Linken aufgestiegen. Er kommt aus einfachen Verhältnissen und wurde Offizier in der venezolanischen Armee. Dort wurde er mit zu links-nationalistischen Ideen bekannt, die v.a. Venezuelas Unabhängigkeit vom US-Imperialismus betonten. Politisch entwickelte er sich besonders in den Protesten gegen die neoliberale Politik der damaligen Regierung.

1989 hatte ihr Plan, die Preise für den öffentlichen Nahverkehr in der Hauptstadt Venezuelas, Caracas, drastisch zu erhöhen, zu einem tagelangen Aufstand geführt, dem „Caracazo“. Der Aufstand wurde von der Regierung mit Hilfe von Polizei und Armee blutig nieder geschlagen. Das führte zu einer starken Opposition gegen die Regierung innerhalb der Armee, gestützt auf jüngere Offiziere. Chávez gelang es, diese Opposition hinter sich zu scharen. 1992 versuchte er, gegen die Regierung zu putschen. Der Putsch scheiterte jedoch und Chávez wurde verhaftet.

Doch der Moment war damals günstig. Chávez erlangte landesweite Bekanntheit für seinen Mut. Er erklärte öffentlich, dass sein Vorhaben „noch nicht“ gelungen sei. Das ließ viele Venezolaner_innen, die sich eine politische Alternative wünschten, aufhorchen. Chávez begann daraufhin mit Erfolg, eine politische Partei aufzubauen, die „Movimiento Quinta Republica“ (MVR, Bewegung für eine Fünfte Republik). 1998 gelang es ihm – damals überraschend – die Präsidentenwahlen zu gewinnen.

Chávez – ein Revolutionär?

Chávez hat sich im Laufe seiner Regierung einige Jahre lang nach links entwickelt. 1999 wurde eine neue Verfassung per Referendum angenommen und 2000 alle politischen Ämter neu gewählt. Chávez ging als Sieger und gestärkt hervor. Danach verfolgte er eine staatlich orientierte Wirtschaftspolitik und wollte v.a. den Erdölsektor – der mit Abstand wichtigste Wirtschaftszweig in Venezuela – unter staatliche Kontrolle bringen. Diese Politik stieß auf den offenen Widerstand der alten Eliten aus Wirtschaft, Politik und auch Gewerkschaften. Insgesamt hat diese Opposition während der Jahre 2002/03 dreimal versucht, Chávez zu stürzen: durch einen Putsch, einen „Unternehmer“-Generalstreik und ein Referendum zur Amtsenthebung.

Chávez ging aus diesen Versuchen jedoch immer als Sieger hervor, weil er sich stark auf Massenmobilisierungen der Arbeiter_innen und der Armen stützen konnte. Nach den Putschversuchen begann er öffentlich davon zu sprechen, den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ aufbauen zu wollen.

Aufgrund seiner Rhetorik und der Massenmobilisierungen in Venezuela unterstützt ein Großteil der Linken Chávez vollkommen kritiklos. Wir begehen diesen Fehler nicht! Wir begrüßen es, dass Chávez den Sozialismus wieder international zum Thema gemacht hat und wir verteidigen die Regierung gegen alle Angriffe von Seiten der rechten Opposition, gestützt v.a. durch die USA. Wir verteidigen auch alle fortschrittlichen Maßnahmen der Regierung und würden jederzeit Seite an Seite mit den „Chavistas“ gegen die Reaktion kämpfen!

Aber darüber verlieren wir nicht völlig den Verstand in Heldenverehrung für den „Commandante“, den großen „Führer“. Entscheidend ist vielmehr, dass wir den Klassencharakter seines Regimes verstehen, dass wir verstehen, auf welche sozialen Gruppierungen es sich stützt und welche Eigentumsverhältnisse es letztlich verteidigt.

Die PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas, von Chávez 2007 gegründet) sowie die MVR, waren von Anfang an Volksfrontparteien, also Parteien, die sich auf gegensätzliche soziale Klassen stützen – einerseits auf die ArbeiterInnen und die Armen, große Teile des Kleinbürgertums, aber auch Teile der Kapitalistenklasse – jene Teile der venezolanischen Bourgeoisie, die ebenfalls mit dem Imperialismus in Konflikt stehen.

Wir bezeichnen die Regierung Chávez deswegen als bonapartistische Regierung (zur Erklärung siehe frühere Artikel auf unserer Internetseite). Deswegen geht seine „Version“ des „Sozialismus“ auch nicht über eine „mixed economy“ (gemischte Wirtschaft) mit einem etwas größeren Staatsanteil hinaus. Trotz aller Reformen blieb Venezuela ein kapitalistischer Staat.

Die Wahl am 14. April

Chávez war die zentrale Führungsfigur in der „bolivarischen“ Bewegung und in der Regierung. Sein Tod hatte und hat deswegen weitreichende Folgen. Vor seinem Tod hatte er Nicolas Maduro, bedingungsloser Chávez-Anhänger und zuvor Außenminister, zu seinem Nachfolger erkoren. Dieser versucht jetzt, das Bündnis zwischen Arbeiterklasse, Kleinbürgertum, Staats- und Ölbürokratie und Teilen der Bourgeoisie zusammenzuhalten. Das wird nicht einfach werden, wie das Ergebnis der Wahlen am 14. April zeigt. Maduro erhielt ca. 7,5 Mio. Stimmen (50,8%), der rechte Gegenkandidat Capriles ca. 7,3 Mio (49%). Das ist ein sehr kleiner Unterschied! Maduro verlor fast 1 Million Stimmen, verglichen mit den Wahlen vom Oktober, als noch Chávez selbst antrat.

Bei Maduro war, wie bei der gesamten „bolivarischen Bewegung“, seit dem Tod von Chávez ein sehr problematischer Hang zur Heldenverehrung zu beobachten, die religiöse Ausmaße annimmt. Maduro hat öffentlich geäußert, dass Chávez im Himmel die Wahl zum Papst beeinflusst hätte und dass er ihm beim Beten in Form eines Vogels erschienen sei.

Viele Venezolaner_innen sind bestimmt sehr religiös, aber so dumm sind sie nicht. Die Stimmen für Capriles, der natürlich alles andere als eine Option für fortschrittlichen Menschen, ist erklären sich z.T. aus den wachsenden Probleme der chavistischen Regierung, ihre vermittelnde Position zwischen den Klassen zu halten.

Es gibt in Venezuela reale Probleme, z.B. die hohe Inflation (über 20%), grassierende Arbeitslosigkeit und eine hohe Kriminalität. Die Regierung konnte sie bisher nicht lösen – nicht zuletzt, weil sie selbst an der Aufrechterhaltung des Kapitalismus interessiert ist und mit einem bürokratischen und korrupten bürgerlichen Staatsapparates verbunden ist. Das treibt Teile des Kleinbürgertums, aber selbst Teile der Arbeiterklasse ins rechte Lager zu Capriles.

Dieser hat nun das Wahlergebnis angefochten und verlangt eine Neuauszählung der Stimmen. Angesichts der Demonstrationen seiner Anhänger_innen, die teilweise in Gewalt umschlugen, spricht Maduro von einer Putschgefahr und einer „faschistischen Offensive“.

Zweifellos wittert die Rechte in Venezuela eine Chance. Die US-Regierung u.a. imperialistische Staaten wie Spanien weigern sich, das Wahlergebnis anzuerkennen, obwohl es unter weitaus demokratischeren Bedingungen stattfand, als viele andere Wahlen auf der Welt (nicht zuletzt jene in den USA). Selbst Organisationen wie die Stiftung des ehemaligen US-Präsidenten Carter, die jeder Sympathie für den Chavismus unverdächtig sind, haben nicht behauptet, dass es Unregelmäßigkeiten gegeben hätte.

Selbst wenn ein unmittelbarer Putsch eher unwahrscheinlich ist, so ist eine weitere Zuspitzung der Lage in der kommenden Periode fast unvermeidlich, weil die inneren Widersprüche des Chavismus stärker hervortreten werden und die soziale Lage schwieriger wird.

Bei jedem Versuch von rechts, die Regierung Maduro zu stürzen, würden wir natürlich an vorderster Front mit den Chavistas gegen die Reaktion kämpfen. Doch um die Revolution durchzuführen, muss die Arbeiterklasse ihre eigene politische Kraft aufbauen – unabhängig von der nationalen Bourgeoisie. Nur durch die Durchführung einer echten sozialistischen Revolution, die Übernahme der Betriebe durch die Arbeiter_innen, die Schaffung einer demokratischen Planwirtschaft, die Ersetzung des bürokratischen Staatsapparates durch Arbeiterräte und Milizen können die Erfolge der Revolution gesichert, ausgeweitet und die aktuellen Probleme gelöst werden.

Ein Artikel von Rico Rodriguez, REVOLUTION-Stuttgart




Alter Summit – Untersützt die Resolution des Widerstands

Anfang nächsten Monats findet vom 7. bis 8. Juni der so genannte Alter Summit, eine „Konferenz der sozialen Bewegungen Europas“, statt. Doch schon jetzt sieht es so aus, als würden die gleichen Reformisten und Gewerkschaftsbürokraten, die den Widerstand ebendieser sozialen Bewegungen im Kampf gegen die Krise in den letzten Jahren ausverkauft haben, den Alter Summit als Alibi-Veranstaltung zu nutzen, um sich gegenseitig auf die nächste Runde der Sozialpartnerschaft und des Klassenverrats einzuschwören. Wir wollen dem entgegentreten. Wir können zwar verstehen, dass viele Jugendliche sich nicht für Konferenzen interessieren, auf denen Bürokraten und Sozialdemokraten langweilige Debatten führen, die bereits im Vorhinein abgekartet wurden. Aber diese Konferenzen sind eben deshalb so, weil sie möglichst keine Beschlüsse für den Klassenkampf fällen sollen. Gerade wir Jugendlichen werden durch die Gestaltung dieser Konferenzen und die reformistische Kontrolle in ihrer Vorbereitung bewusst ausgeschlossen. Deshalb haben wir den folgenden Brief und eine Resolution verfasst, die wir auf den Alter Summit nach Athen tragen wollen. Wir fordern alle jugendlichen Aktivist_innen und Organisationen auf, die für einen europaweit koordinierten Widerstand gegen die Krise sind, sich mit uns in Verbindung zu setzen, unsere Resolution zu unterzeichnen und gemeinsam mit uns für ihre Inhalte zu kämpfen. Kontakt könnt ihr mit uns über germany@onesolutionrevolution.de aufnehmen.

Europa in der Krise

Europa befindet sich, wie die gesamte internationale Wirtschaft, nun schon seit Jahren in einer Krise. Das der „Wirtschaftsaufschwung“ 2010 und 2011 nun wieder zu Ende zu gehen scheint, zeigt das historische Ausmaß der aktuellen Krise. Doch selbst dieser kurze wirtschaftliche Aufschwung fiel vor allem zugunsten der Kapitalist*innen in den imperialistischen Zentren Europas (z.B. Deutschland, Frankreich, Großbritannien) aus. Die Profite der Herrschenden sind in immer größerem Umfang nur noch durch riesige soziale Angriffe zu erhalten. Es sind Angriffe, die in weiten Teilen Europas jegliche sozialen und demokratischen Errungenschaften der Arbeiter*innenbewegung in Frage stellen. Wo das fortbestehen ganzer Nationalökonomien auf dem Spiel steht, kann auch die Gesellschaft, wie die jüngere Generation sie bisher kannte, nicht weiter existieren. Zypern zeigt aufs neue, wie die breite Masse der Bevölkerung die Kosten dieser Krise bezahlen soll. In Ländern wie Griechenland, Spanien oder Portugal wurde innerhalb von drei Jahren die bürgerliche Demokratie an den Abgrund getrieben. Die kapitalistische Diktatur entblößt ihr Gesicht immer mehr durch Notstandsgesetze und die Verelendung der Massen bis hin zur faschistischen Reaktion.

Kämpfe der Jugend

Wir Jugendlichen haben ein besonderes Interesse die „Krisenlösung“ der bürgerlichen Regierungen und der Kapitalist*innen in Frage zu stellen. Wir waren nicht nur die Ersten, die von den sozialen Angriffen betroffen waren. Wir waren auch die Ersten, die dagegen auf die Straße gingen. Ob bei den Platzbesetzungen der Indignados in Spanien, den Studentenprotesten in Großbritannien oder den Generalstreiks in ganz Europa, wir Jugendlichen standen in den vordersten Reihen unserer Bewegung. Unsere Ideen gingen oft weiter als die Ideen vieler unserer älteren Mitstreiter*innen, von denen sich doch viele von unserem Mut und unserem Kampfeswillen inspirieren ließen. Doch nur sehr selten spiegelte sich unsere Kraft auf der Straße auch in der Politik der Führung unserer Bewegungen wieder. Viel zu oft gelang es den reformistischen Bürokrat*innen der Gewerkschaftsspitzen und der sozialdemokratischen Parteien uns unser Mitspracherecht zu nehmen. Sie fürchten zurecht, dass wir Schluss mit den Privilegien machen würden, die sie innerhalb unserer Bewegung oder gar in den Regierungen und Parlamenten genießen. Deshalb glauben wir, dass wir uns innerhalb als auch außerhalb der bestehenden Organisationen unserer Bewegung unabhängig organisieren müssen. Mit Unabhängigkeit wollen wir nicht ausdrücken, dass wir unabhängig von den Kämpfen der Arbeiter*innen, der einfachen Gewerkschafter*innen und der gesamten Bewegung wären. Wir wollen uns unabhängig machen von der Politik manch selbsternannter reformistischer Führer*innen, die unsere Bewegung nun schon oft genug in die Sackgasse geführt haben.

Auf nach Athen: „Ein Europa, Ein Widerstand“

Wir kämpfen für ein Europa jenseits von Krise, Sozialabbau und Entdemokratisierung, ja! Ist solch ein Europa vereinbar mit den Interessen der Kapitalist*innen und der aktuell Regierenden? Nein! Es kann nur durch gemeinsame Massenaktion errungen werden. Alternative Politik bedeutet Politik der Jugendlichen, der Arbeiter*innen und verarmten Bevölkerung. Die Generalstreiks und Massenbewegungen seit 2008 waren Ausdruck dieses Bedürfnisses, doch sie blieben national begrenzt. Der Flügel unserer Bewegung, der sich damit zufrieden ist, der Flügel unserer Bewegung, der sich auf Kompromisse, Stillhalten und Sozialpartnerschaft beruft, ist nicht unangefochten, aber er wurde nicht auf europäischer Ebene herausgefordert. Wir Jugendlichen haben allen Grund ihn herauszufordern. Die Politik des Widerstandes muss zur Politik Europas werden. Wir stellen die Massen auf den Straßen. Wir tragen den Willen zur radikalen Veränderung in uns – all das wollen wir auf dem Alter Summit in Athen in die Waagschale werfen. Unsere Solidarität existiert in der Tat, nicht nur im Wort. Wir wollen ein demokratisches Europa? Dann müssen wir für die Demokratie unserer Bewegung eintreten. Verbindlichkeit der Beschlüsse, Kontrolle unserer Gewerkschaften, der Mobilisierungen und Streiks durch die Basis selbst, das ist Demokratie. Die europäischen Arbeiter*innenparteien und die Gewerkschaften organisieren Millionen von Mitgliedern. Diese Mitglieder zu mobilisieren, Mehrheiten auf der Straße zu schaffen, wo kapitalistische Regierungen den Generalangriff organisieren, das ist Demokratie. Konferenzen auf denen „nur“ Erfahrungen ausgetauscht und Solidaritätserklärungen abgegeben wurden, gab es genug. Aus Athen kann und darf nur ein Zeichen ausgehen: „Ein Europa, Ein Widerstand!“

Zukunft erkämpfen, heißt Jugend organisieren!

Wollen wir das erreichen, so müssen wir Jugendlichen uns eine eigene Plattform schaffen. Wir fordern die gesamte Bewegung auf, unsere Vorschläge aufzugreifen. Wir werden aber nicht auf jene warten, die unwillens sind zu kämpfen. Um das zu gewährleisten brauchen wir eine unabhängige Versammlung aller anwesenden Jugendlichen beim Alter Summit. Dort können wir gemeinsam die brennenden Fragen der europäischen Jugend diskutieren. Das Ziel: Verbindliche Absprachen und eine Resolution des europäischen Widerstandes, das wir dem gesamten Alter Summit zur Annahme vorschlagen. Der folgende Text ist unser Vorschlag für eine solche Resolution. Lasst uns diese Resolution gemeinsam auf das Alter Summit nach Athen tragen, in unseren eigenen Ländern die Diskussion über eine europaweite Vernetzung der Jugend und die Politik, die wir brauchen, um die Angriffe der Kapitalist*innen zurückzuschlagen, voranbringen.

Resolution  zum Alter Summit

Wir müssen die Sparprogramme aufhalten. Das geht aber nur, wenn wir ihnen unsere eigenen Forderungen entgegenstellen und eine Offensive gegen die kapitalistische Krise – anstatt einer defensiven Mitverwaltung der Krise – beginnen.

  • Für die Profite der Kapitalist_innen werden wir nicht unsere sozialen Errungenschaften opfern. Rücknahme und Stopp aller Sparmaßnahmen der Staaten bei Bildung, Renten, Gesundheit, Arbeitslosengeldern und bei Arbeiter_innen im öffentlichen Dienst. Für die einseitige Streichung der Schulden bei den großen Gläubigern und eine progressive Besteuerung von Kapital und Eigentum!
  • In den letzten Jahren wurden die Banken mit hunderten von Milliarden unserer Steuergelder gerettet. Das diente nicht zum Schutz „der“ Wirtschaft. Es diente dem Schutz der kapitalistischen Gewinne. Die Banken müssen ihrer Kontrolle entzogen werden. Für die Verstaatlichung der Banken und der großen Versicherungsunternehmen!
  • Rücknahme und Stopp aller Privatisierung – Für die entschädigungslose Verstaatlichung der großen Industrien von Verkehr, Wasser und Energieerzeugung, sowie der großen Immobilienkonzerne, um die Grundbedürfnisse der breiten Massen zu befriedigen. Den Behörden des Staates kann nicht getraut werden, sie bei nächster Gelegenheit wieder zu privatisieren! Daher müssen diese Industrien unter die demokratische Krontrolle der Konsument_innen und Arbeiter_innen gebracht werden.
  • EU, IWF und EZB stürzen nicht nur die Massen ins Elend, sondern auch Regierungen vom Hinterzimmer aus, um ihre Sparpakete durch Technokraten-Regime zu sichern. Wir wehren uns daher gegen alle neuen „Sicherheitsgesetze“, gegen die Angriffe auf politische, demokratische und gewerkschaftliche Rechte.
  • Ihre Versuche, Profit zu steigern und Konkurrent_innen vom Markt zu werfen äußern sich nicht nur in Krise und Verarmung der Massen – sondern auch in der Zerstörung unserer konkreten Lebensgrundlagen, unserer natürlichen Umwelt. Durch EU-Gesetzgebung und Interventionskäufe werden jedes Jahr Tausende Tonnen Lebensmittel vernichtet, durch Kartellmacht der Ausbau erneuerbarer Energien verunmöglicht während die Atomenergie-Industrie fröhliche Zustände feiert – auf Kosten unser aller Gesundheit! Es ist offensichtlich, dass es dem Kapitalismus nicht gelingt, seine systematische Zerstörung des Planeten auch nur zu verlangsamen. Wir fordern daher eine Verstaatlichung aller Unternehmen, die sich als unfähig erweisen Umweltauflagen zu erfüllen, Schluss damit, dass Umweltgesetzgebung von Lobbyist_innen
    geschrieben wird und für Masseninterventionen dort, wo die Umweltzerstörung weitergetrieben wird!

Die Verarmung muss aufgehalten werden. Arbeit gibt es genug zu verrichten. Der europäische Kontinent bietet genug, um alle Bedürfnisse zu befriedigen. Daher kämpfen wir außerdem für:

  • Eine 30-Stunden Arbeitswoche
  • Mindestlöhne in jedem Land, festgelegt durch die Gewerkschaften
  • Eine gleitende Skala der Löhne gegen die fortschreitende Inflation
  • Die Aufteilung der Arbeit auf alle Hände, ohne Lohnverluste
  • Ein europaweites Programm zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit. Ausbau des Nahverkehrs, des Gesundheits- und Bildungssystems und der kulturellen Infrastruktur – bezahlt durch Besteuerung und Enteignung der großen Kapitale

All das lässt sich nicht erbitten. Es muss erkämpft werden. Das erste was getan werden muss, ist verbindliche Absprachen zu treffen. Der politische Massenstreik, europaweit koordiniert steht auf der Tagesordnung.

  • Wenn es Massenstreiks in anderen Ländern Europas gibt, müssen sie von den Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung anderer Länder durch eigene Demonstrationen und Versammlungen unterstützt werden.
  • Sollen die Generalstreiks tatsächlich etwas bezwecken, müssen sie unbefristet sein. Lassen sich die Sparpakete nur mit dem Fall der Regierung aufhalten, dürfen wir davor nicht zurückschrecken, sie zu stürzen.
  • Schon jetzt wissen die Regierungen, die in Griechenland, Bulgarien, Italien und Spanien die Angriffe des Kapitals auf die breite Masse der Bevölkerung durchführen, dass ihre Politik auf Gegenwehr stößt. Wir beobachten in vielen Ländern eine massive Aufrüstung der Polizei und des Heeres, die mit immer größerer Brutalität Streiks und Demonstrationen niederschlagen. In Griechenland baut sich als letzter Ausweg des Kapitalismus mit Chrysi Avgi zudem noch der organisierte Faschismus am Horizont auf. Dem müssen die Organisationen der Arbeiter_Innenklasse und der fortschrittlichen Jugend die organisierte Selbstverteidigung gegen Staatsgewalt und Faschismus entgegen stellen!
  • Europaweite Solidarität entsteht nur durch die gemeinsame Tat, nicht nur durch das Wort. Für einen europaweiten Generalstreik am 14. November 2013, der auch Länder wie Frankreich, Deutschland und Großbritannien erfassen muss.

 

Resolution des „RIC – Revolutionary International Council“ von REVOLUTION

Weitere Unterstützer_innen: Solid´Fulda




Erster Mai in Israel – Ein Land ohne Arbeiterbewegung?

Zu den nationalen Festlichkeiten, die ich während meines einjährigen Aufenthalts in Israel als Freiwilliger erleben durfte zählte, neben dem HaJom Shoa (dem Holokaustgedenktag), dem Memorialday und dem Independenceday, auch der Tag der Arbeit, an dem ich mich anfang diesen Monats beteiligte.

Israel#2Das Demonstrationsangebot war eher mager und beschränkte sich, ausgenommen einiger unbedeutender Minidemos, auf eine Großdemonstration durch das Zentrum Tel Avivs. Das erste, was meinen Blick kurz nach meiner Ankunft am Startpunkt der Demonstration, dem Kikar Rabin, fesselte, waren die aus dem bunten Haufen aus Arabern, Hippies und FDJ-ähnlich gekleideten Jugendgruppen herausstechenden Nordkoreaflaggen. Nachdem deren Träger anfangs mit lautem Gegröle und wildem Fahnenschwenken nach Aufmerksamkeit zu suchen schienen, waren diese mit dem Start des Demonstrationszuges jedoch vorläufig verschwunden und tauchten erst zur Abschlusskundgebung wieder auf.

Mir wurde später erzählt, dass es sich um die Provokation einer neoliberalen Studentengruppe gehandelt habe. Sich aufstellen durfte dem äußeren Anschein nach also jede Gruppe, in deren Name oder Programm irgendwie die Begriffe Sozialismus, Kommunismus oder Arbeiterklasse fallen.

So machten einen Großteil der Demonstration die Ultras des Fußballclubs Hapoel Tel Aviv (= Arbeiter Tel Avivs) aus, welche den Ursprung ihres Vereins in der israelischen Gewerkschaft Histadrut sehen und unter denen sich den Che Guevara Fahnen zu Folge auch einige versteckte Antiimperialisten zu tummeln scheinen. Gleich dahinter stellte sich die zahlenmäßig gut vertretene Hadaschpartei auf. Die 1977 gegründete jüdisch-arabische Partei bezeichnet sich selbst als kommunistisch und setzt sich für Arbeiterrechte, als auch die Beendigung der Besatzung von Gaza und Westbank, inklusive der Räumung aller jüdischen Siedlungen ein. Daneben war zwischen vielen kleinen schwer zu überblickenden und sich ziemlich ähnlich sehenden kleinen Gruppierungen und nicht organisierten Teilnehmern, noch ein anarcho-synikalistischer Block vorzufinden, dessen Teilnehmer klassisch Schwarz gekleidet und mit rotem Halstuch vermummt waren.

Israel#1Angeführt und organisiert wurde die 1. Mai-Demo von einer uniformiert marschierenden, trommelnden, singenden, tanzenden Jugendbewegung mit dem Namen Hanoar Haoved Vehalomed, was so viel wie “Nationale Organisation der lernenden und arbeitenden Jugend” bedeutet. Ihr großes Aufgebot und auch die Tatsache, dass sie die einzige Jugendbewegung zu sein schienen interessierten mich, weshalb ich einem Mitglied mit dem Namen Scharon ein paar Fragen stellte. Zuerst wollte ich etwas von ihr über ihre Organisation wissen.

Ihre auf mich teilweise ein wenig konfus wirkenden Antworten lassen sich folgender Massen zusammen fassen: Hanoar Haoved Vehalomed ist eine vor 90 Jahren gegründete zionistisch-sozialistische Jugendbewegung, in welcher man bis zum Eintritt in die Armee Mitglied sein und sich dort sozial aber auch in Diskussionsrunden und Seminaren organisieren könne.

Auf meine Frage hin, was die Ziele seien, für die ihre Bewegung kämpfe, antwortete sie selbstbewusst mit: “Für eine gerechte Gesellschaft! Das Ideal unserer Bewegung ist die Gleichheit.” . Ich fragte sie, wie sie dieses Ideal mit der rassistischen Ideologie des Zionismus in Einklang bringen würde und sie räumte ein, dass das ein Dilemma wäre, in dem sie persönlich stecke. Jedoch beziehe sich der Zionismus ihrer Bewegung nicht auf den rassistischen und kapitalistischen Status Quo, sondern auf die “guten alten sozialistischen” Theoretiker wie zum Beispiel Theodor Herzl oder Ben Gurion. Beide verfolgten ihrer Meinung ebenso wie die Hanoar Haoved Vehalomed das Ziel einer friedlichen Koexistenz der Völker, wobei Israel lediglich ein sicherer Zufluchtsort für Juden aus aller Welt sein solle.

Israelischer Geschichtsunterricht scheint also ziemlich einseitig zu sein, denn die kolonialistischen Ideen Herzls und Gurions fanden in ihren Ausführungen keine Erwähnung. Das zionistische Prinzip der “Eroberung durch Arbeit” zum Beispiel, welches von Herzl einst formuliert und von Gurion praktisch realisiert wurde. Herzl schrieb dazu in seinem Tagebuch: “Den Privatbesitz der angewiesenen Ländereien müssen wir sachte exportieren. Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem Lande jederlei Arbeit verweigern.”(1) Ein Ausspruch, welcher eine Ideenwelt vermuten lässt, die ich nicht unbedingt einem Kommunisten zuordnen würde.

Das gleiche gilt für Gurion, dem ersten Premierminister Israels. Er war zwar innerhalb der Arbeiterbewegung aktiv und einer der Gründer der israelischen Arbeiterpartei. Allerdings war er wohl so sehr Sozialist, wie es Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder waren. Anstatt mit der internationalen Arbierklasse für die Revolution zu kämpfen, arbeitete er immer wieder offen mit unterschiedlichen imperialistischen Mächten – erst mit dem osmanischen Reich, später mit dem Britischen Empire – zusammen, um seine zionistischen Ideen um jeden Preis umzusetzen. Ausdruck genug ist ein Auszug aus einem Brief von 1938 an die Jewish Agency, in der er schrieb:„Ich bin für Zwangsumsiedlung (der Palästinenser); darin sehe ich nichts Unmoralisches.“

Ich fragte sie daraufhin, ob sie Leo Trotzki kenne, worauf sie antwortete “Ja, der Name sagt mir was. Ich glaube ich habe mal in einem Seminar was zu ihm gehört und es hat mir gefallen, wenn ich mich richtig erinnere.”

Zum Schluss wollte ich von ihr als Mitveranstalterin der Demo wissen, was der 1. Mai eigentlich für eine Bedeutung in Israel habe, ob er in irgendeiner Weise Bezug zur internationalen Arbeiterbewegung nehme und was die israelische Arbeiterklasse für zentrale Forderungen stelle. Ihrer Meinung nach handle es sich hier ganz schlicht um die “Israeli version” des 1. Mais. Es gäbe keine Verbindung zu anderen Arbeiterbewegungen oder Ähnlichem, vielmehr sei es ein Datum an dem die linken Kräfte der israelischen Gesellschaft lautstark und fröhlich auf die Straße gingen.

Diese Antwort überrascht kaum, wenn man sich einmal die israelische Klassensituation anguckt. Die großen Arbeiterparteien halten immer noch an derselben Ideologie fest, der sie im frühen 20. Jahrhundert entsprungen sind. Ihr zionistisches Erbe führt zur täglichen Verneinung der proletarischen Klasseninteressen im Namen der nationalen Einheit, wie auch israelische Historiker wie Zeev Sternhell eingestehen (2). So ist es nicht verwunderlich, dass die Arbeiterbewegung vielen als “Ad-hoc Erfindung zur Erreichung der Unabhängigkeit” (3) erscheint.

Klar ist aber, dass die zionistische und reformistische Politik in der Arbeiterbewegung keine Alternative zur starken israelischen Rechten, geschweige denn im Kampf für eine sozialistische Gesellschaft, darstellt. Eine Tatsache, die sich auch in den vergangenen Wahlen zeigte. Das Problem wird noch dadurch verstärkt, dass die Arbeiterklasse in der Region durch die chauvinistische Migrationspolitik der israelischen Kapitalist_innen stark gespalten ist. Jüdische Arbeiter_innen werden durch billigere palästinensische Arbeiter_innen; palästinensische Arbeiter_innen durch billigere und politisch besser unter Kontrolle zu haltende afrikanische oder thailändische Arbeiter_innen ersetzt.

Der Bruch mit der zionistischen Ideologie ist also eine gurndlegende Voraussetzung für eine revolutionäre und internationalistische Arbeiterbewegung in der Region. Und nur durch eine gemeinsame Bewegung der arabischen und jüdischen Arbeiterklasse gegen die Ausbeutung durch die israelischen Kapitalist_innen, gegen die rassistische Siedlungspolitik und den Krieg in den besetzten Gebieten, kann dem anhaltenden Leid ein Ende bereitet werden. Natürlich haben auch die politischen Ideen der palästinensischen Bourgeoisie unter Fatah und Hamas nichts zu suchen. Das (antideutscher) Argument vieler Linker in Europa, dass die Voraussetzung für Widerstand gegen den Zionismus sei, dass es keine reaktionären Ideen in den palästinensischen Gebieten mehr gäbe, ist falsch. Das gleiche Argument würde ja auch bedeuten, dass man so lange für einen Krieg in Afghanistan oder dem Irak sein müsste, nur weil der Widerstand gegen die Besatzer nicht revolutionär ist.

Natürlich ist es aber richtig, dass die Positionen von Fatah und Hamas einem politischen Klassenkampfs der Arbeiter_innen absolut feindlich gegenüberstehen und bekämpft werden müssen. Denn der Kapitalismus beweist immer mehr, dass er nicht einmal die grundlegendsten demokratischen Rechte, geschweige denn eine wirtschaftliche Grundlage bieten kann, auf der ein friedliches Zusammenleben im Nahen Osten möglich ist. Das Interesse der Arbeiter_innen kann daher nur eine revolutionäre Bewegung sein, deren Ziel ein multiethnisches sozialistisches Palästina und eine sozialistische Revolution im Nahen Osten ist,
in dem ethnische Minderheiten geschützt, der Staat sekulär, aber das Recht auf Religionsfreiheit durchgesetzt ist.

Bericht von Marvin Schutt, REVOLUTION

#(1) Schnieper, Marlene: Nakba. Die offene Wunde. Die Vertreibung der Palaestinenser 1948 und die Folgen, 2012 Rotpunktverlag, Zuerich

(2) Sternhell, Zeev: Le Monde diplomatique Nr. 9062 vom 11.12.2009

(3)# Schnieper, Marlene: Nakba. Die offene Wunde. Die Vertreibung der Palaestinenser 1948 und die Folgen, 2012 Rotpunktverlag, Zuerich




Weltsozialforum: Erklärung der linken Kräfte zur syrischen Revolution

Die Welt blickte interessiert auf die Revolutionen, die in der arabischen Region ausgehend von Tunesien ausbrachen. Aber die Situation ist konfuser geworden, seit die Revolution Syrien erreicht hat. Es hat sich ein starkes Unverständnis gezeigt, das von einer im Kalten Krieg und der Teilung der Welt in zwei „Blöcke“ ausgehenden alten Doktrin getragen wird. Deshalb erklären wir, die unten genannten Unterzeichner:

1. Was sich in Syrien abspielt, ist eine Revolution in jedem Sinn des Begriffs. Sie ist Ergebnis des wirtschaftlichen Zusammenbruchs in Syrien im Laufe des letzten Jahrzehnts, der Strukturkrise, die zur Verarmung und Prekarisierung breiter Schichten der Bevölkerung und zur Konzentration des Reichtums in den Händen einer auf die Diktatur gestützten mafiösen Minderheit von Familien geführt hat. Das Ziel der Revolution ist also, Freiheiten und Demokratie zu erlangen; es besteht auch darin, das wirtschaftliche System im Interesse der  unteren Klassen zu verändern und einen säkularen demokratischen Staat zu errichten, der alle Angehörigen des syrischen Volks gleichstellt, einschließlich der Kurd_innen und aller anderen Bevölkerungsteile.

2. Wir erklären unsere Unterstützung für die Revolution. Wir sind der Auffassung, dass sie unterstützt werden muss, damit ihr Sieg Perspektiven großer sozialer und politischer Veränderungen auftut, den Weg zur Fortsetzung der Revolution in andere Länder – vom Marokko bis Saudi-Arabien –, vor dem internationalen Hintergrund der Krise des Kapitalismus, die breite Bewegungen in zahlreichen Ländern der Welt erwarten lässt.

3. Jede Logik des Aufrufs zu ausländischer (US-amerikanischer oder europäischer) Intervention ist abzulehnen, das betrifft auch die Intervention von Russland, Iran und China. Abzulehnen sind auch jede konfessionelle Logik oder Versuche, der Revolution einen religiösen Charakter aufzudrücken; es ist die Revolution eines Volks, und es ist keine konfessionelle oder religiöse Erhebung und wird es auch nicht werden. Die Politik der Opposition, die die Revolution auf ihre eigene liberale Forderungen herabstufen will, mit denen nicht die Probleme des Volks, sondern nur die von Individuen auf der Suche nach Macht gelöst werden, ist anzuprangern.

4. Wir unterstreichen, dass die syrische Staatsmacht sich auf einer neoliberalen und mafiösen Grundlage entwickelt hat, nicht auf einer antiimperialistischen. Sie hat sich stets dem zionistischen Staat untergeordnet, indem sie Kriege gegen die palästinensische Revolution und das palästinensische Volk geführt und weitgehende Stabilität an seinen Grenzen hergestellt hat, ohne dass sie jemals versucht hätte, den besetzten Golan wiederzuerlangen.

5. Die brutale Repression der Staatsmacht gegen das Volk, die ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellt, ist zu verurteilen. Auch die Sabotage der Golfländer an der Revolution ist anzuprangern, die im Fall Saudi-Arabien darauf abzielt, sie scheitern zu lassen, und im Fall von Qatar, für die Hegemonie der Moslembrüder zu sorgen. Auch der Export des „Djihad“ nach Syrien ist als ein Element des konterrevolutionären Prozesses zu verurteilen.

6. Die syrische Linke, die sich an der Revolution beteiligt, muss politisch, medial und materiell unterstützt werden. Diese Unterstützung sollte Teil einer Initiative zur Koordinierung der Aktivitäten aller Kräfte der Linken sein, die auf die Revolutionen hinarbeiten, um deren Entwicklung und deren Umwandlung in siegreiche Volksrevolutionen zu befördern.

7. Wir müssen internationale Medienaktivitäten koordinieren, um die Kontrolle der imperialistischen Medien vom Golf zu durchbrechen, die die Revolution entstellen und ein falsches Bild vermitteln. Deswegen bemühen wir uns um Informationsaustausch und die Verbreitung der Analysen der syrischen Linken über die Revolution.

8. Der Charakter der syrischen Revolution muss klargestellt werden. Wir wollen versuchen, die Position derjenigen zu verändern, die unter dem Vorwand, es sei „antiimperialistisch“, ein mafiöses und verbrecherisches Regime unterstützen. Die Linke muss eine wirklich revolutionäre Position zur Unterstützung der syrischen Revolution als integralem Bestandteil der Revolutionen in den arabischen Ländern einnehmen. So kann ein Ausgangspunkt für eine Zuspitzung des Klassenkampfs und ein Auslösen von neuen Revolutionen in Europa, Asien und vielleicht der übrigen Teile der Welt unter den Auswirkungen der kapitalistischen Krise geschaffen werden. Folglich müssen wir eine Kampagne zur Unterstützung der syrischen Revolution führen; wir müssen daran arbeiten, ihre Bedingungen, ihre Schwierigkeiten und ihren im wesentlichen revolutionären Charakter gegen die mafiösen Regimes und gegen den Kapitalismus klarzustellen, dessen Überwindung wir anstreben. In diesem Sinne können wir mit einem Tag der Solidarität mit der syrischen Revolution beginnen, der in der ersten Woche des Mai 2013 von den Kräften der Linken in jedem einzelnen unserer Länder organisiert wird. Ein Vorbereitungskomitee wird hier in Tunis einen Kongress zur Unterstützung der syrischen Revolution durch die internationale Linke organisieren, wahrscheinlich im Juni 2013. Ein ständiges Koordinationskomitee, das aus dem Kongress hervorgeht, wird dafür sorgen, dass die Unterstützung für die syrische Linke und die Linkskräfte weitergeht und das Verständnis der Revolution seitens der internationalen Linken vertieft wird.

Tunesien, 31. März 2013

Liste der aktuell unterstützenden Organisationen (Stand, 24.04.2013):

Bündnis der Syrischen Linke

Komitee der Syrischen Kommunisten

Demokratische Kurdische Partei, PYD (Syrien)

Strömung der Revolutionären Linken (Syrien)

Ligue de la Gauche Ouvrière (Tunesien)

Parti des Travailleurs (Tunesien)

Front Populaire Unioniste (Tunesien)

Parti Patriote Démocrate Uni (Tunesien)

Lucha Internacionalista, LI (Spanischer Staat)

Arbeiterfront (Türkei)

Unidad Internacional de los Trabajadorrs – IV International, UIT-CI

solidaritéS (Schweiz)

Mouvement Pour le Socialisme, MPS (Schweiz)

Sozialistisches Forum – Muntada Ishtaraki (Libanon)

Comité de Solidaridad con la Causa Árabe (Spanischer Staat)

Nouveau Parti Anticapitaliste, NPA (Frankreich)

Marea Socialista (Venezuela)

Izquierda Anticapitalista, IA (Spanischer Staat)

Partido Socialismo y Libertad, PSL (Venezuela)

Izquierda Socialista, IS (Argentinien)

Movimiento Socialista de los Trabajadores, MST (Chile)

La Protesta (Bolivien)

Unidos en la Lucha (Peru)

Corrente Socialista de los Trabalhadores, CST – Strömung der PSOL (Brasilien)

Proposición Socialista (Panama)

Sodepau (Katalonien)

Rivoluzionesiriana.org (Italien)

Movimento Esquerda Socialista, MES – interne Strömung der PSOL (Brasilien)

Liga für die Fünfte Internationale, LFI

REVOLUTION – internationale kommunistische Jugendorganisation




Bangladesch: Einweg-Arbeiterinnen oder der wahre Preis der Sweatshoparbeit

bangladesh#1Mehr als drei Tage, nachdem ein achtstöckiges Gebäude in der Industriezone Savar einstürzte, in dem fünf Textilfabriken untergebracht waren, bargen Rettungsteams an Rande von Dhaka immer noch lebende Arbeiter_innen aus den Trümmern. Tragischerweise starben mehr als 400 Arbeiter_innen, weitere 1.000 wurden ernsthaft verletzt. Eine unbekannte Zahl wird immer noch vermisst, darunter Kinder, die in einer Kinderkrippe auf dem Obergeschoss des Komplexes waren, als er zusammenbrach.

Was noch entsetzlicher ist: die Arbeiter_innen hatten am Tag zuvor von Rissen im Mauerwerk berichtet und eine Evakuierungsanordnung wurde ausgestellt. Doch die Betriebsbesitzer ignorierten diese Vorsichtsmaßnahme und zwangen die 3.000 Arbeiter_innen dazu, unter diesen unsicheren Bedingungen weiter zu arbeiten. Der Tod der Arbeiter_innen war kein Unfall, er war offensichtlicher Mord.

Statt nun aber die Inhaber einzusperren und die Betriebsstätten zu sperren, griff die Polizei die in der Stadt protestierenden hunderttausenden Arbeiter_innen mit Gummigeschossen, Tränengas und Schlagstöcken an. Sie waren aus ihren Fabriken am Stadtrand von Dhaka gekommen. Auch in der südöstlichen Stadt Chittagong gingen sie in Solidarität mit ihren toten Kolleg_innen auf die Straßen.

Zurzeit sind nur zwei Manager von „New Wave“, der größten Fabrik im Rana-Plaza-Komplex, festgenommen worden – wegen „fahrlässiger Tötung“ . Die anderen Manager verstecken sich, einschließlich Sohel Ranas, Eigentümer des Gebäudes und Leiter der lokalen Jubo-Liga (dem Jugendflügel der regierenden Awami-Liga).

Die Fabriken belieferten Unternehmen wie Primark in Großbritannien oder Spaniens Mango. Davor waren Matalan und C&A ihre Auftraggeber.

Dies ist nicht die erste Katastrophe, welche die Textilindustrie in Bangladesch trifft. Vor nur fünf Monaten starben mehr als 100 TextilarbeiterInnen bei zwei Fabrikbränden in Dhaka. Der Unfall wurde damals als „der tödlichste Brand in Bangladeschs Geschichte“ beschrieben. Zeugen berichteten, dass viele ArbeiterInnen außerstande gewesen waren zu entkommen, weil die Ausgänge blockiert waren. Schon 2010 kamen bei einem Brand in einer Textilfabrik in Dhaka 124 ArbeiterInnen um, weil die Ausgänge abgeschlossen waren. Um angeblichen Diebstahl zu verhindern, wurden sie im Inferno gefangen gehalten zurückgelassen. Auch diese Woche starben erneut 6 Menschen bei einem Brand in einer Textilfabrik.

Das Rennen am Abgrund

Mehr als 3,6 Millionen Menschen, 80% davon Frauen, arbeiten in der Textilindustrie in Bangladesch – für nur 38 Dollar pro Monat (1,27 Dollar pro Tag). Der Arbeitstag dauert oft bis zu 15 Stunden. Sie haben ofiziell kein Recht, eine Gewerkschaft zu bilden, um für sichere Arbeitsplätze, verbesserte Arbeitsbedingungen und besseren Lohn einzutreten. Viele sind sexueller Belästigung und physischer Gewalt ausgesetzt. Dies ist Sklavenarbeit.

Das rasend schnelle Wachstum der Textilindustrie in Bangladesch seit den 1990ern, deren Produkte nun 80 Prozent der aktuellen Exporte des Landes im Wert von 24 Milliarden Dollar pro Jahr ausmachen, ist auf der Überausbeutung dieser Arbeiter_innen aufgebaut. Bangladesch ist nach China der zweitgrößte Textilproduzent geworden, weil es internationalen Investoren und ihren lokalen Tochtergesellschaften und Lieferanten freie Hand gab. Zahlreiche Politiker und Militärs haben sich persönlich durch den Bau und den Besitz von Textilfabriken bereichert.

Sicherheitsbestimmungen sind praktisch nicht existent und auf Arbeitsrechte wird gepfiffen. Bangladeschs Arbeitsministerium beschäftigt nur 18 Inspektoren, um die Bedingungen in mehr als 4.000 Fabriken zu überwachen.

Aktivist_innen der Arbeiterbewegung, die sich über armselige Sicherheitsstandards beklagt haben, sagen, dass sie routinemäßig belästigt und manchmal sogar gefoltert werden. Ein Organisator einer gewerkschaftlichen Organisierungskampagne, Aminul-Islam, wurde im April brutal ermordet. Die Sicherheitskräfte sollen an dem Verbrechen beteiligt gewesen sein.

Textilarbeiter_innen in Bangladesch zählen zu den am niedrigsten bezahlten in der Welt. Doch wetteifern auch andere Länder wie Pakistan, Sri Lanka, Mexiko und Jordanien um diese Position. Die Folgen sind auffallend ähnlich: Am 11. September 2012 wurden z.B. 315 Arbeiter_innen bei Bränden in Textilfabriken in den pakistanischen Städten Karatschi und Lahore getötet und mehr als 250 schwer verletzt.

Die meisten Menschen verbinden Sweatshop-Arbeit mit Preisbrecherketten wie Walmart und Primark. Aber in Wirklichkeit ist praktisch jede globale Marke, einschließlich Nike, GAP, Benetton, Monsuns, Adidas, Esprits, Disneys und Hugo Boss in die Sweatshoparbeit verwickelt.

Es ist quasi unmöglich, auch nur ein Unternehmen zu finden, das seine Produktion nicht in Sonderwirtschaftszonen, Freihandelszonen o.a. exportorientierte Regionen verlagert hat, um jedwede Arbeits- oder Umweltbeschränkungen zu umgehen. In diesen Zonen sind die Arbeiter_innen gerade so kurzlebig und wegwerfbar wie die Kleidung, die sie herstellen.

Wirtschafts- und Medienexperten haben versucht, die Forderung der Verbraucher_innen aus dem Westen nach immer niedrigeren Preisen für die Zunahme von Sweatshop-Fabriken verantwortlich zu machen. Natürlich sind während einer Wirtschaftskrise viele Arbeiter_innen dazu gezwungen, billigere Kleidung zu suchen. Aber sie sind nicht für diesen globalen Trend verantwortlich.

Auch in den Aufschwungzeiten versuchen Firmen, Superprofite auf dem Rücken der überausgebeuteten Arbeiter_innen zu erzielen. Dies zeigt sich an der massiven Zunahme der Anzahl von Sweatshop-Fabriken in den 1990ern und 2000ern. Die  Welthandelsorganisation (WTO) ermöglichte es, Märkte durch eine Anzahl von Freihandelsabkommen (FTA) zu erschließen. Aber in Rezessionszeiten wie jetzt tun große multinationale Gesellschaften alles, um ihre Lieferanten auszuquetschen. Das führt wiederum zu noch niedrigeren Löhne, längeren Arbeitszeiten, schlechteren Bedingungen und dem Verbot von Gewerkschaften.

Es ist aufschlussreich, dass Matalan in seiner Erklärung sagte, dass es „New Wave“ seit dem Februar nicht mehr brauche, als es aus kommerziellen Gründen das Produkt gewechselt hatte.  Mit anderen Worten: nicht wegen der entsetzlichen Bedingungen bei „NewWave“, sondern weil es eine andere, noch günstigere Fabrik gefunden hatte, wird nun woanders produziert.

Viele globale Marken versuchen, ihren Ruf zu schützen, indem sie die Schuld für diese Zustände auf die Subunternehmer und die Regierungen der Länder schieben, wo sie produzieren. Andere versuchen, ihre Marke durch das Sich-Verstecken hinter rechtlich unverbindlichen „Verhaltenskodizes“ reinzuwaschen. Die Verantwortung liegt aber eindeutig bei diesen Unternehmen. Sie sind es, die sowohl die Betriebsinhaber der Gegend ausquetschen, als auch die Arbeiter_innen durch die Forderung, die Preise zu senken.

Wir fordern unabhängige Arbeiter-Inspektionen von Arbeitsbedingungen und Gebäuden mit unmittelbaren Schließungen jener, die nicht den Bedingungen entsprechen und vollständigem Lohnausgleich für die Beschäftigten, bezahlt von den Unternehmen – den Multis wie den Subunternehmen!

Schluss mit der Sweatshop-Arbeit!

Millionen von Arbeiter_innen, hauptsächlich Frauen, mühen sich in Zehntausenden von Sweatshops weltweit ab. Anti-Sweatshop-Organisationen schätzen, dass 85% der Sweatshop-Arbeiterinnen junge Frauen im Alter zwischen 15 und 25 sind.

Einige Kommentatoren sagen, dass die massive Expansion der Textilindustrie die Unabhängigkeit und den Status von Frauen gesteigert habe. Aber es hat auch ihre Ausbeutung bedeutend gesteigert.

Sweatshop-Arbeiter_innen arbeiten meist 60-80 Stunden pro Woche – ohne Überstundenzulage. Sie haben keine Leistungen wie eine Versicherung oder Lohnfortzahlung bei Krankheit, akzeptable Arbeitsbedingungen oder einen Mindestlohn, um die Kosten des Grundbedarfs wie Nahrung, Unterkunft und Gesundheitsversorgung zu decken. Arbeiter_innen werden belästigt, eingeschüchtert und dazu gebracht, in gefährlicher und ungesunder Umgebung zu arbeiten, sogar während sie krank sind. Die Arbeiter_nnen benutzen toxische chemische Farben, Lösungsmittel und Klebstoffe mit ihren bloßen Händen.

Viele Frauen werden gezwungen, sich spritzen zu lassen, um Schwangerschaft zu verhüten, so dass die Unternehmen keinen Mutterschaftsurlaub bezahlen müssen. Wenn eine Frau schwanger wird oder sich weigert, sich erzwungener Empfängnisverhütung zu beugen, kann sie entlassen werden.

Frauen werden oft bevorzugt gegenüber Männern eingestellt, weil ihnen weniger bezahlt werden kann; sie werden als unterwürfiger und belastbarer betrachtet. Für viele ist es ihr erster Arbeitsplatz in einer Stadt, und ihr Hauptziel ist, so viel Geld wie möglich nach Hause an ihre Familien auf dem Land zu schicken.

Aber die reale Brutalität und Ungerechtigkeit spornt sie dazu an, sich zu wehren und zu revoltieren, und ihre große Zahl ermächtigt sie schließlich dazu, das zu tun. Ihre Lösung für diese schreienden Probleme ist der Kampf darum, ihre Arbeitsbedingungen massiv zu verbessern, um nicht nach Hause und ins Dorf zurückkehren zu müssen.

Viele im Westen und in den NGO’s befürworten Verbraucherboykotte von Firmen wie Primark, die Sweatshops benutzen. Sicher können Verbraucherkampagnen für eine kurze Periode berechtigt und ein Mittel sein, Forderungen zu unterstützen, damit diese Gesellschaften aus
dem Westen sicherstellen, dass Grundarbeitsrechte und die Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen in den Fabriken, von denen sie kaufen, gewährleistet werden.

Bei „Wiederholungstätern“ sollten deren Marken von Streikposten von ihren auffälligen Megashops mit Flyern und graphischer Propaganda „kontaminiert“ werden, die Lohnniveau und Arbeitsbedingungen ihrer Arbeiter_innen aufdecken. Jedoch sollten wir nicht fordern, dass Unternehmen aufhören, von Betrieben in Bangladesch als eine Art „Bestrafung“ dieser großen Marken zu kaufen. Dies führt nur dazu, dass die ärmsten und unterprivilegiertesten Arbeiter_innen ihre Arbeitsplätze verlieren. Allzu leicht begünstigt eine solche Vorgehensweise, die Arbeitsbedingungen in den Metropolen schönzureden – so gibt es Sweatshops auch am Ostende von London. Falsch sind natürlich auch nationalistische Kampagnen wie „Kauft deutsche Produkte!“

Globale Kampagne

Um ein Ende der Sweatshops voranzubringen, brauchen wir eine globale Kampagne. Wird das nur in einem Lande allein durchgeführt, werden die großen Gesellschaften lediglich Lieferanten mit noch niedrigerem Lohn und schlechteren Bedingungen woanders suchen.

Wir müssen die Arbeiter_innen in allen Textilzentren verbinden, die Länder in Süd- und Südostasien und China mit den Arbeiter_innen in den Hauptmärkten für ihre Produkte. Aktivist_innen, Gewerkschafter_innen, Sozialist_innen, Feminist_innen und NGOs haben verschiedene Versuche dazu unternommen, dieses zu tun, und haben Chartas von Rechten entwickelt. Die Ereignisse in Bangladesch zeigen aber, dass wir unsere Anstrengungen verdoppeln müssen.

Die Gewerkschaften hierzulande und progressive NGO sollten eine Kampagne Hand in Hand mit Sweatshop-Arbeiter_innen und ihren Gewerkschaften in jedem Land machen, wo Sweatshops existieren, um die großen Ketten und Markenfirmen zu zwingen, Gesetze und Standards zu verlangen. Aber letztlich ist dies eine Klassen- und eine politische Frage.

Arbeiter_innen in Bangladesh u.a. Sweatshop-Ländern brauchen eine eigene politische Partei, die kämpfen kann, um die Straflosigkeit der Eigentümer und die Korruption zu beenden, die weit verbreitet ist, und die Sweatshop-Bosse mit den herrschenden politischen Parteien verbindet und auch oft Gewerkschaften korrumpiert.

Klassenunabhängigkeit und Entschlossenheit sind der Schlüssel, um kapitalistische Parasiten – sowohl die lokalen als auch die multinationalen – zu bekämpfen, die Überausbeutung zu beenden und eine massive Entschädigung für die Opfer ihrer Verbrechen zu erreichen.

Arbeiterinnen im Bekleidungs- und Textilsektor haben immer wieder eine entscheidende Rolle in revolutionären Bewegungen gespielt. So z.B. 1905 die Textilarbeiterinnen von Ivanovo in Russland, welche die ersten Sowjets bildeten. Auch in Ägypten gab es in den letzten Jahren mehrfach große militante Streiks der Textilarbeiter_innen. Deshalb sollten Gewerkschafter_innen und Sozialist_innen nichts nur alles tun, um den Arbeiter_innen von Bangladesch zu helfen – sie sollten auch deren Kämpfe studieren und von ihnen lernen.

Ein Artikel von Joy Macready, Workers Power (britische Sektion der „Liga für die Fünfte Internationale“)




Spanische Krise: Wie organisiert sich der Widerstand?

spain resistance#1Die Lage in Spanien wird für einen Großteil der Bevölkerung immer aussichtsloser. Die Zahl der Arbeitslosen steigt weiter, nach jüngsten Zahlen hat sie jetzt den Stand von 27,2 % erreicht. Das entspricht 6.202.700 Arbeiter_innen ohne Arbeit. 2008 lag die Arbeitslosigkeit noch bei 8 %! Die Jugendarbeitslosigkeit steigt ebenfalls weiter und liegt jetzt sogar bei unglaublichen 57 % oder etwa einer Million arbeitsloser Jugendlicher. Gleichzeitig stieg die Neuverschuldung Spaniens letztes Jahr durch Rettung der Banken von 7 auf 10 % des BIP!

Und es ist keine Besserung in Sicht. Der IWF schätzt, dass selbst bei günstigem Verlauf der Krise die Arbeitslosigkeit 2018 immer noch bei 23 % liegen wird. Die kapitalistische Krise hat Spanien vollkommen im Griff, und es ist klar: das kapitalistische System bietet vor allem den Jugendlichen keine Perspektive mehr!

Gegen die Politik der Regierung, getrieben von der Troika aus EU, IWF und EZB unter Führung der deutschen Regierung, regt sich aber Widerstand. Die spanische Arbeiterklasse lässt sich nicht alles gefallen. Vorläufiger Höhepunkt war der Generalstreik am 14. November letzten Jahres. Damals hatte sogar der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) zu einem „europäischen“ Streik aufgerufen. Richtig stattgefunden hat dieser allerdings nur in Spanien und im Nachbarland Portugal, wo die Lage noch aussichtsloser ist.

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Streikposten von Gewerkschafter*innen in Madrid

Dennoch war das ein wichtiger Schritt vorwärts. In Spanien legten Millionen Beschäftigte, vor allem aus dem öffentlichen Dienst, die Arbeit nieder. Es wurden Straßen blockiert und Demonstrationen organisiert, der öffentliche Verkehr wurde lahm gelegt. Doch seitdem hat sich wenig getan. Statt diesen ersten Versuch eines länderübergreifenden Streiks zu einem Startschuss des europäischen Widerstands zu machen, hat sich die Gewerkschaftsbürokratie zurückgezogen und hofft, an den Verhandlungstisch zurückkehren zu können.

Doch die Erkenntnis an der Basis der Gewerkschaften, dass sich an diesem Kurs etwas ändern muss, wächst. Es wird versucht, von der Basis ohne die Gewerkschaftsspitzen zu mobilisieren. Das wird auch der einzige Weg sein. In Madrid hat sich z.B. eine „Koordination der Arbeiter_innen des öffentlichen Dienstes“ gegründet, an der mehrere Betriebskommissionen teilnehmen und, die Widerstand gegen die Kürzungen im öffentlichen Dienst organisieren wollen. Am 9. Mai findet ein Generalstreik im Bildungswesen statt. Aufgerufen haben die Studierendengewerkschaft („Sindicato de Estudiantes“), sowie Gewerkschaften der Professor_innen und Organisationen der Eltern. Studieren kostet in Spanien heute schon mindestens um die 3000 € Gebühren, und mit der geplanten Reform des super-rechten Bildungsministers José Ignacio Wert werden diese nochmal steigen.

Und da ist auch noch die „15M-Bewegung“ der „Indignados“ (die Empörten), beziehungsweise der Ausläufer davon. Viele Jugendliche fühlen sich von der verrotteten Politik der Gewerkschaften und der Parteien zu Recht nicht mehr repräsentiert und suchen nach Alternativen. Die Plattform „En Pie!“ („Auf die Beine!“) hat am 25.April zu einem zweiten (gescheiterten) Versuch der Umzingelung des Parlaments in Madrid aufgerufen. Besonders erwähnenswert ist allerdings die Bewegung gegen die Häuserräumungen („desahucios“), organisiert vor allem um die „Plataforma de los Afectados de los Hipotecas“ (PAH, Plattform der von Hypotheken Betroffenen). Seit Ausbruch der Krise können Tausende Arbeiter_innen ihre Immobilienkredite (Hypotheken) bei den Banken nicht mehr bezahlen, die in einer riesengroßen Immobilienspekulation ausgegeben wurden. Deshalb lassen die Banken die Menschen raus schmeißen. Davon waren bisher über 100.000 Familien betroffen!

Die PAH und andere angeschlossene Organisationen, wie z.B. Stadtteilkomitees, organisieren Widerstand dagegen und versuchen die Räumungen zu verhindern. Sie organisieren auch Demonstrationen bei Auftritten von verantwortlichen Politiker_innen, oder suchen diese zu Hause auf, um sie ihrer Verantwortung bewusst zu machen. Diese Aktionen nennen sich „escrache“.

Ganz offenkundig gibt es Spanien also vielversprechende Ansätze gegen den Ausverkauf des Landes an die Banken und die Diktate der Troika Widerstand zu leisten. Doch genauso offenkundig leidet dieser Widerstand bisher an einer Vereinheitlichung und einem politischen Ziel. Die Wut der Massen muss zu einem koordinierten Widerstand gegen das kapitalistische System mit einem sozialistischen Programm zusammengefasst werden. Dann kann Spanien zum Ausgangspunkt eines neuen, eines sozialistischen Europa werden!

 

Ein Korrespondenzartikel aus Spanien von Rico Rodriuguez, REVOLUTION-Stuttgart