Betrachtet: Zwei Halbkolonien

Leila Cheng

Teil 2: Bolivien (Stand Mitte September 2020)

Wie sind die Auswirkungen von Pandemie und Wirtschaftskrise?

  • Vor der Covid19 Pandemie hatte Bolivien (bis auf einen Einbruch 2019) ein konstantes Wirtschaftswachstum von knapp über 4 %. Für dieses Jahr erwartet der IWF einen Einbruch von knapp 5,9%.
  • Durch Corona hat die Arbeitslosigkeit massiv zugenommen (perspektivisch bis zu 8%).
  • Der Sturz von Evo Morales wurde maßgeblich von der US-Bourgeosie vorangetrieben, um uneingeschränkten Zugriff auf bolivianische Ressourcen wie zB. Lithium zu bekommen
  • Aktuell nehmen die ausländischen Investitionen insgesamt ab, nicht zuletzt wegen Verstaatlichungen im Bergbau. Derzeit investiert jedoch vor allem China in bolivianische Infrastrukturprojekte und baut konsequent seinen Einfluss in Südamerika aus
  • Während Umfragen derzeit den MAS-Kandidaten (Movimiento al socialismo) und früheren Wirtschaftsminister Luis Arce in Führung sehen, geht es der Übergangsregierung darum, Zeit zu schinden und länger an der Macht zu bleiben.

Welche Proteste gibt es?

  • Anlass der Proteste: Beschluss des Obersten Wahlgerichts, die Neuwahlen, angeblich wegen der Pandemie ein weiteres Mal zu verschieben (von Mai auf Mitte Oktober).
  • Hauptforderung: Durchführung der Wahl wie ursprünglich vorgesehen am 6. September , Rücktrittsforderung gegen Añez (Präsidentin der Putschregierung).
  • Der Dialog zwischen dem Obersten Wahlgericht und den Gewerkschaften scheiterte.
  • Dutzende Blockaden haben mehrere Städte von der Versorgung abgeschnitten. An einigen Orten geht der Kraftstoff aus, das Trinkwasser wird knapp und die Lebensmittelpreise steigen immer weiter. Die medizinische Versorgung ist an manchen Orten gefährdet. So muss die Armee dringend benötigten Sauerstoff für die Behandlung von Corona-Patienten auf dem Luftweg transportieren.
  • Der vergangene Generalstreik zeigte seine Wirkung und setzte die Regierung zunehmend unter Druck. Rechte und kleinbürgerlich geprägte „Bürgerkomitees“ stellten sich den Bauern und Gewerkschaftern entgegen, um deren Blockaden zu verhindern.
  • Die Putschregierung hat ein härteres Vorgehen angekündigt und mit dem Einsatz „aller Mittel“ gedroht, um die Blockaden aufzulösen.

Wie können sie erfolgreich sein?

  • Ein
    Generalstreik für eine demokratische Wahl Anfang September muss mit
    sozialen Forderungen verbunden werden. Nicht nur die Regierung und
    der US-Imperialismus sind schuld am Elend der Bevölkerung. Das
    Wirtschaftssystem muss als objektive Grundlage für
    Unterdrückung verstanden werden. Statt
    einer bestenfalls reformistische Regierung der MAS (Bewegung zum
    Sozialismus), die durch teilweise Verstaatlichung und Investitionen
    in Gesundheit und Bildungswesen die Lage nur kurzfristig verbessert,
    braucht es eine revolutionäre
    antikapitalistische Bewegung, die auch die inländische Bourgeoisie
    enteignet und sich dem Einfluss des US-Imperialismus widersetzt.

  • Diese
    Errungenschaften müssten langfristig gegen die politischen
    Interventionen und die wirtschaftlichen Sanktionen aus den USA
    verteidigt werden. Die Revolution muss auf
    die umliegenden Länder
    Südamerikas (z.B. nach Chile).

  • Die
    MAS als führende Kraft muss revolutionäre Forderungen aufwerfen
    und die Gewerkschaften unter Druck setzen, sich ihnen anzuschließen,
    statt weiterhin mit der Putschregierung verhandeln.

  • Um
    den Generalstreik konsequent weiterführen zu können, sollten
    „Volxküchen“ und Praxen zur Gewährleistung der Ernährung und
    Gesundheit der Bevölkerung eingerichtet werden.

  • Außerdem
    sollten alle proletarischen Kräfte in Anbetracht der zu erwartenden
    und bereits geschehenden Angriffe des Staates und faschistischer
    Milizen bewaffnete Arbeiter_Innen und Bäuer_Innenmilizen gründen.




Betrachtet: Zwei Halbkolonien

Leila Cheng

Teil 1: Belarus (Stand Mitte September 2020)

Wie sind die Auswirkungen von Pandemie und Wirtschaftskrise?

  • In den letzten Jahren wurden viele arbeiter_Innenfeindliche Maßnahmen und Gesetze beschlossen. Zum Beispiel müssen Arbeitslose Sondersteuern zahlen, unbefristete Verträge in Staatsbetrieben wurden in befristete umgewandelt, Kürzungen in Gesundheits- und Bildungswesen durchgeführt und das Renteneintrittsalter erhöht. So konnten die Kosten der Krise auf die Arbeiter_Innen abgeladen werden.
  • Die diktatorische Einzelherrschaft Lukaschenkows (Präsident) und konsequente Wahlfälschungen stechen Oppositionskanditat_Innen seit jeher aus.
  • Die Coronapandemie wurde von Lukaschenkow als vermeintliche „Psychose“ abgetan. Dabei hatte er selbst Corona und inszenierte sich als Musterpatient für einen unkritischen Krankheitsverlauf.
  • Das Thema spielt aber aufgrund offiziell niedriger Fallzahlen jedoch eine eher untergeordnete Rolle.

Warum ist das so?

  • Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde Belarus im Gegensatz zu vielen anderen ehemaligen Ostblockstaaten nicht neoliberal umgestaltet. Eine Kaste aus ehemaligen Sowjetbürokrat_Innen herrschte deshalb weiter (verwalten jetzt kapitalistische Unternehmen, staatlicher Sektor hat noch 50 Prozent am BiP).
  • Lukaschenkow selbst ist seit 1994 an der Macht und hat schon mehrfach Oppositionelle ermorden lassen.
  • Somit steht Belarus in ständiger Abhängigkeit und in der Konkurrenz zwischen dem russischen und westeuropäischen Imperialismus.
  • Hinzu kommt eine starke Auslandsverschuldung in den letzten Jahren, eine Währungskrise und die Abhängigkeit von russischen Subventionen.

Welche Proteste gibt es?

  • Massendemonstrationen (100.000 Menschen in der Hauptstadt Minsk) im ganzen Land werden gewaltsam unterdrückt. Ebenso fanden große Arbeiter_Innenstreiks z. B. in der Metall -, Autoindustrie sowie in der Metro und in Telekommunikationsunternehmen statt.
  • Hauptforderung ist die Offenlegung der Wahlfälschung. Oppositionskandidatin Swetlana Ziachanouskaja soll die Nachfolge Lukaschenkows antreten. Daneben wird ein Ende der Misshandlung von Gefangenen und der Gewalt gegen friedliche Demonstrant_Innen auf den Straßen gefordert.
  • Lukaschenkow bezeichnet die Bewegung als Farbenrevolution (revolutionäre Bewegung, die von den USA gestützt, finanziert oder sogar unterwandert wird, weil sie deren Interessen dient). Das kann man der Bewegung zwar nicht vorwerfen, jedoch dominieren darin tatsächlich die bürgerlichen, neoliberalen Kräfte die Proteste.
  • Die ins Ausland geflohene Oppositionskandidatin fordert einen nationalen Koordinierungsrat mit allen Kräften der Opposition, um den alten Machtapparat abzulösen

Wie können die Kämpfe erfolgreich sein?

  • Es
    braucht eine revolutionäre Massenbewegung mit proletarischer
    Ausrichtung, die nicht auf die Bürgerlichen vertraut. Mit ihnen
    wird die Bewegung nur zum Ausverkauf des Landes führen. Das wird
    die Klassengegensätze verschärfen, selbst wenn die Abhängigkeit
    vom russischen Imperialismus schwindet, wird sich die Halbkolonie
    dem EU-Imperialismus unterordnen müssen.

  • Doch
    um das zu erreichen, muss sich die Arbeiter_Innenklasse eine Führung
    schaffen, die das Mittel des Streiks bis hin zum Generalstreik
    anwendet, und Massen von Arbeiter_Innen in allen Sektoren
    organisiert. Diese Führung muss jederzeit von den Arbeiter_Innen
    wähl- und abwählbar sein und darf keine wirtschaftlichen
    Privilegien genießen

  • Wichtig
    ist es dafür, sich in den noch aus der Sowjetunion existierenden
    Kolchosen (Genossenschaften), den Betrieben und den
    Arbeiter_Innenvierteln zu organisieren und diese auch gegen Polizei
    und Militär zu bewaffnen. Diese müssen im
    Gegenzug entwaffnet und durch demokratische Arbeiter_Innenmilizen
    ersetzt werden.

  • Darüber
    hinaus fordern wir alle progressiven Kräfte in den umliegenden
    Ländern Osteuropas und weltweit dazu auf, ihre Kämpfe miteinander
    zu verbinden. Gemeinsam mit dem russischen Proletariat kann diese
    Bewegung gegen den imperialistischen Einfluss Russlands und zugleich
    auch gegen die neoliberale Restauration kämpfen. Im
    Sturz des russischen Imperialismus läge die Chance ein
    sozialistisches System in Belarus und in ganz Osteuropa zu schaffen.

Teil 2 morgen: Bolivien




Die 2. Corona-Welle und ihre Leugner_Innen

Sani Maier, Anfang September 2020

Auch wenn mittlerweile in Europa die meisten Lockdown-Maßnahmen aufgehoben wurden, lassen die internationalen Infektionszahlen leider wenig Raum für Hoffnung auf ein Ende der Corona-Pandemie. Die Epizentren sind nun nicht mehr Italien oder China, sondern vor allem die USA, Brasilien, Indien und Russland. Doch auch in Deutschland sind die Infektionszahlen wieder auf einem Höchststand, wie zuletzt im Mai diesen Jahres. Während viele noch über die Wahrscheinlichkeit einer zweiten Welle diskutieren, geht der Ärzteverband Marburger Bund davon aus, dass uns diese bereits erreicht hat, wenn auch mit einem flacheren Anstieg als die erste Welle. Zudem haben die Zahlen aufgrund erhöhter Testvolumen eine andere Aussage als noch im Mai.

Die Schulen und Kitas sind wieder vollständig geöffnet und der Alltag der meisten Menschen in Deutschland verläuft weitestgehend wieder regulär. Dies ist vorrangig aber kein Ergebnis sinkender Infektionszahlen, sondern wesentlich wirtschaftlich motiviert. Da bspw. nun wieder alle Kinder vormittags betreut werden und nicht mehr von zuhause aus lernen, können die Eltern auch wieder regulär zur Arbeit gehen. Da es vor allem in Schulen fast unmöglich ist, in Klassenräumen mit 30 Personen Abstandsregeln einzuhalten, überraschte es wenig, dass bereits nach wenigen Wochen Dutzende Schulen Infektionen verzeichneten.

Was den Impfstoff angeht: Die Suche danach läuft, doch dabei gibt es kaum internationale Zusammenarbeit. Durch den Konkurrenzdruck versucht jedes Land, als erstes einen Impfstoff zu entwickeln, um diesen dann möglichst profitbringend an andere verkaufen zu können. Auch werden immer noch keine flächendeckenden Tests bereitgestellt, sodass auch unter Reiserückkehrer_Innen nicht mal alle diejenigen automatisch kostenlose Tests erhalten, die per Flugzeug einreisen. Einen kostenlosen Test bekommt man nur, wenn man aus einem Risikogebiet (mit sehr hohen Infektionszahlen) mit dem Flugzeug einreist. Wer mit meist günstigeren Alternativen wie Bahn, Bus oder Auto reist, muss sich selbst um einen Test kümmern, welcher normalerweise nur bei bereits vorhandenen Symptomen bereitgestellt wird. Keinen Test zu bekommen heißt zwei Wochen Quarantäne.

Auch alle Teile der Arbeiter_Innenklasse, welche nicht im Home Office arbeiten können und nun wieder zurück in ihre Betriebe müssen, erhalten keinen ausreichenden Schutz vor Infektionen am Arbeitsplatz, wie vor allem die gravierenden Missstände bei Amazon, Tönnies & Co. gezeigt haben.
Und obwohl das alles für die meisten Menschen weitestgehend eine Rückkehr zur Normalität bedeutet, sehen sich manche Teile der Gesellschaft massiv bedroht durch die verbleibenden Maßnahmen wie z.B. die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und Läden. Die sogenannten „Corona-Leugner_Innen“ gingen in Berlin zu Tausenden auf die Straße und auch internationale Regierungschefs wie der brasilianische Präsident Bolsonaro spielen die Existenz des Corona-Virus herunter und leugneten es (und das obwohl Bolsonaro selber Corona hatte) und fordern eine Aufhebung aller Infektionsschutz-Maßnahmen.

Wer sind die „Corona-Leugner_Innen“?

Berlin, 1. August 2020: 20- 30. 000 Menschen aus ganz Deutschland demonstrieren im Rahmen der sogenannten „Tag der Freiheit“-Demonstration gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus und auch am 29. August gingen wieder 40.000 Menschen auf die Straße und versuchten sogar, den Bundestag zu stürmen. Sie stehen der Thematik entweder skeptisch gegenüber oder leugnen sogar die Existenz des Virus.

Die Organisation wurde vor allem von rechen Kräften getragen und unter den Teilnehmer_Innen fanden sich Personen aus den Kreisen der NPD, Identitären Bewegung, Reichsbürger_Innen, aber auch sogenannte Verschwörungstheoretiker_Innen & Impfgegner_Innen. Auch wenn diese Kräfte die Bewegung immer mehr unterwandern, repräsentieren sie nicht die Mehrheit der Teilnehmenden. Diese setzt sich vielmehr aus Skeptiker_Innen und Esoteriker_Innen, die den Einschränkungen ihres Alltags kritisch gegenüberstehen und kleinbürgerlichen Schichten zusammen. Letztere sehen sich vor allem durch die wirtschaftlichen Einbrüche vom Abstieg bedroht und fordern deshalb eine vollständige wirtschaftliche Öffnung, ohne Rücksicht auf die gesundheitlichen Risiken für die arbeitende Bevölkerung. Zu diesem Zwecke verharmlosen sie den Virus als eine Grippewelle oder bezeichnen ihn als bloße Erfindung von „Machteliten“ wie Bill Gates & Co.

DieDass viele Teile der Bevölkerung in Anbetracht einer kommenden Wirtschaftskrise nun um ihre Existenz bangen, ist dabei nicht verwunderlich oder verwerflich. Allerdings muss das Erstarken rechter Theorien in diesem Zuge als Ergebnis des internationalen Rechtsrucks gesehen werden, auf den die Linke nachhaltig keine klare Antwort zu geben weiß. Es wurde versäumt, eine Antikrisenbewegung aufzubauen, die den sozialen Ängsten der Menschen eine antikapitalistische Perspektive aufzeigen kann. Stattdessen haben es rechte, irrationale Verschwörungstheorien geschafft, diese Verunsicherung für sich zu nutzen. Gerade das Kleinbürger_Innentum ist aufgrund seiner wirtschaftlichen Stellung besonders anfällig für einen solchen Irrationalismus. Als Klasse steht es zwischen der Arbeiter_Innenklasse und der Bourgeoisie, befindet sich also nicht in klassischen Lohnarbeitsverhältnissen, besitzt aber auch zu wenige Produktionsmittel und nicht genug Kapital, um dieses gewinnbringend zu reinvestieren und somit zu vermehren. Dadurch ist es ständig bestrebt, in die höhere Klasse aufzusteigen, aber auch gleichzeitig vom sozialen Abstieg in die Arbeiter_Innenklasse bedroht, was zu einem schwankenden Charakter des Bewusstseins führt. Somit suchen Kleinbürger_Innen vor allem in Krisenzeiten nach verkürzten Antworten auf ihre Abstiegsängste, um ihre Position zu erhalten und hetzen z.B. gegen einzelne Monopolkapitalist_Innen wie Gates, da sie sich akut bedroht sehen von ihnen wirtschaftlich zermalmt zu werden.

Welche Perspektive braucht es?

Wir dürfen nicht zulassen, dass eine Mischung aus wissenschaftsfeindlichen Verschwörungstheorien und rechter Hetze die einzige Antwort auf die Angst vor der kommenden Wirtschaftskrise bleibt. Es gibt eine notwendige Kritik an der Bundesregierung und ihren Corona-Maßnahmen. Es ist unsere Aufgabe, eine Antikrisenbewegung aufzubauen, die eine klare antikapitalistische Perspektive gegen Massenentlassungen und soziale Kürzungen eröffnet, ohne dabei das Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung zu vernachlässigen.

Dafür braucht es den Aufbau eines Antikrisenbündnisses, das die Frage aufwirft, wer für die Krise zahlen soll & soziale Kämpfe miteinander verbindet. Dazu zählen vor allem Bewegungen wie Black Lives Matter, Fridays for Future, Enteignungskampagnen für bezahlbaren Wohnraum oder auch die Arbeitskämpfe im Care Sektor, welche vor allem in Pandemiezeiten unverzichtbar sind. In diesem Zuge fordern wir unter anderem den Kampf gegen alle Entlassungen, die Fortzahlung der vollen Löhne und Transferleistungen, die Vergesellschaftung des Gesundheitssystems unter Arbeiter_Innenkontrolle und eine international koordinierte Impfstoffforschung. Um dies durchzusetzen, müssen wir den Druck auf Gewerkschaften und Arbeiter_Innenparteien wie die SPD und Linke erhöhen, ihre Burgfriedenspolitik mit dem Kapital endlich zu beenden und für die Interessen der Arbeiter_Innenklasse einzutreten.

Dabei muss uns auch gleichzeitig die Frage beschäftigen, wie man die Bevölkerung weiterhin effektiv vor Neuinfektionen schützen kann. Dabei ist Arbeiter_Innenkontrolle das entscheidende Stichwort: Sie müssen diejenigen sein, die entscheiden, welche Bereiche der Wirtschaft wirklich systemrelevant sind und welche Betriebe im Falle einer Notwendigkeit eines zweiten Lockdowns geschlossen werden können. Weiterhin müssen die Arbeiter_Innen, die weiterarbeiten, selbst entscheiden können, welche Maßnahmen an ihrem Arbeitsplatz notwendig sind, um für ihre Sicherheit zu garantieren: Bedarf an Schutzkleidung, Desinfektionsmittel, Masken, etc.

Die Krise darf weder auf die Arbeiter_Innenklasse noch auf einfache Kleinbürger_Innen abgewälzt werden! Massive Besteuerung auf die Profite der Banken und Industrien! Enteignung falls Betriebe schließen oder massenhaft entlassen!




Moria: Der Ruß an unseren Händen?

Jaqueline Katherina Singh

12 000 Menschen ohne ein Dach über den Kopf, auf eine Autobahn gepfercht. Essenslieferungen, Getränke, medizinische Versorgung – all das gibt es nur spärlich und wird auch aktiv von der Polizei blockiert. Proteste und Versuche nach Mytilini, die nächste Stadt zu kommen, werden jedoch seitens der Polizei mit Tränengas beantwortet, während nebenbei rechte Bürgerwehren die Menschen angreifen. Was sich nach einem Katastrophenfim anhört ist nur ein paar tausend Kilometer weit weg schmerzhafte Realität seit dem am Mittwoch, dem 9. September ein Feuer auf Lesbos ausbrach und Moria vollkommen zerstörte.

Seit Jahren werden auf den griechischen Inseln Geflüchtete festgehalten und in menschenunwürdigen Zuständen zusammengepfercht. Moria selbstist eherein Gefangenenlager, das in dieser Form auf den EU-Türkei-Deal von 2016 zurückgeht. Es wurde ursprünglich für 2.800 Menschen gebaut, während im regulären Camp mehr als 12 000 Menschen lebten. Dabei ist herauszuheben, dass das Lager nur eines von vielen ist. Es ist also kein einzelner Schandfleck, sondern Teil einer Gesamtkonzeption.

Der Brand raubte den Menschen, die eh nicht viel hatten, ihr letztes bisschen. Man könnte meinen, dass dieses Problem schnell zu lösen wäre. Schließlich wurden ja die gestrandeten Urlauber_Innen beim Anfang der Corona-Krise mehr oder weniger schnell wieder ins Land geholt. Schließlich wurde ja beim Brand der Kuppel des Norte Dame innerhalb weniger Stunden Millionen Euro gesammelt. Doch auch wenn es schnell möglich wäre, diesen Menschen eine Perspektive zu geben, sieht die Realität aktuell anders aus. Aktuell wird gegen den Willen der Geflüchteten ein neues Lager errichtet. Deswegen müssen wir uns fragen: Wie konnte es so weit kommen?

Wer
trägt die Verantwortung? 

Schuld sind nicht nur einzelne Poliker wie Horst Seehofer oder Sebastian Kurz. Die aktuelle Lage ist auch Ausdruck eines internationalen Rechtsrucks, den wir seit 2016 auch in Deutschland zu spüren bekommen. Im Zuge der Krise 2007/08 hat sich die Konkurrenz unter den Kaptialist_Innen verschärft. Viele Unternehmen sind pleite gegangen, gerettet wurden zuerst die Global Players der imperialistischen Staaten. Das führte dazu, dass ein Teil der Kapitalist_Innen (besonders kleinere, nationale Unternehmen und der sog. Mittelstand) vom Abstieg bedroht ist. Getrieben davon fingen sie an laut herumzubrüllen: Protektionismus, Nationalchauvinismus, Standortborniertheit, das sind ihre Argumente um die eigene Stellung zu versuchen zu schützen.Sie wollen vor internationale Konkurrenz geschützt werden – zugleich aber auch am Weltmarkt punkten, wenn sie dazu fähig sind.

Da es an klarer linker Perspektive fehlte, die die Probleme, die durch die Krise entstanden sind abwehrte und da die Gewerkschaften, die Sozialdemokratie und auch große Teile der Europäischen Linksparteien auf Klassenkollaboration, statt auf Klassenkampf setzen, schafften sie es mittels rassistischer Rhetorik nicht nur das KleinbürgerInnentum und Mittelschichten, sondern auch Teile der Arbeiter_Innenklasse anzusprechen und Druck auf die etablierten Parteien auszuüben. Auch wenn sich das erst mal sehr abstrakt liest, ist dies wichtig zu verstehen. Der internationale Rechtsruck beeinflusst das Kräfteverhältnis insgesamt. So sind Seehofer und Kurz wahrscheinlich sehr unangenehme Menschen, aber die Politik, die sie betreiben ist Ausdruck einer konkreten politischen Entwicklung und eines Kräfteverhältnis. Deswegen löst der Rücktritt Einzelner somit das Problem nicht auf.

Shame on you, EU?!

Der Rechtsruck machte auch vor den einzelnen Mitgliedsstaaten nicht halt. Insbesondere die Migrationspolitik verursachte Risse in der angeblichen Solidargemeinschaft. Vielmehr blockierten sich die einzelnen Nationen gegenseitig und das einzige, auf dass sich geeinigt werden konnte war, sich nicht zu einigen und Hilfe zu unterlassen. So fiel nach und nach die Seenotrettung weg, diverse Abkommen wie der EU-Türkei-Deal wurden geschlossen, damit weniger Menschen überhaupt in die Festung Europa kommen.

Doch bei all dem muss man sich fragen, welche Rolle der deutsche Imperialismus dabei spielt. Anfangs schien es so, dass Deutschland eine fortschrittliche Rolle innerhalb Europäischen Union einnahm. Als Angela Merkel 2015eine Abriegelung der Grenzen ablehnte trat, war dies kein Akt jedoch Nächstenliebe.Sie gab weigerte sich zum einen Hunderttausende, die die Grenzen der EU zeitweillig durchbrochen hatten, mit extremen polizeilichen und militärischen Mitteln zu stoppen. Sie gab andererseits auch der Welle der Solidarität nach, die viele in Europa mit den Geflüchteten zum Ausdruck brachten. Hunderttausende empfinden damals Geflüchtete an den Bahnhöfen, vielen wollten sie in ihren Wohnungen auf nehmen, was jedoch staatlicherseits verhindert wurde.

Zudem lage dem Kurs von Merkels auch ein wirtschaftliches Kalkül zugrunde. Der deutsche Imperialismus bezieht seine Stärke nämlich aus Exporten, der Zoll- und kontrollfreie Raum der Europäischen Union ist ein wichtiger Stützpfeiler ohne die nicht die gleiche Wirtschaftsleistung erbracht werden kann. Die „Wir schaffen das Mentalität“ war ebenso nur möglich, da  Deutschland, anders als viele Länder, besser aus der Finanzkrise herausgekommen und hatte somit einen größeren Spielraum den sogenannten „Sozialstaat“ auch für andere teilweise zu öffnen. Gerade letztere Position sorgte in der EU für viel Streit und Uneinigkeit, hielt sich aber nicht lange. Denn der bereits beschriebene Rechtsruck fand auch in Deutschland statt. So wurde aus „Wir schaffen das.“ ein „Genug getan, wir schaffen es Niemanden hier rein zu lassen.“ Das, was in Moria passiert ist, ist somit eine bewusste Entscheidung der deutschen Regierung und bewusst in der Verantwortung der CDU/CSU, sowie der SPD. Man kann auch sagen: Während die AfD hetzte, machte die Große Koalition die Gesetze. Und alle trugen sie mit.

Und nun?

Nun will Niemand mehr unnötige Kosten ausgeben. Denn als nichts anderes werden die Menschen auf den griechischen Inseln gesehen. Kosten, die vermieden werden müssen und so kann man sich auf das einigen, was 2017 noch für eine große Diskussion innerhalb der CDU sorgte: das erste offizielle Auffanglager der EU. Ein anderes Wort dafür ist Gefängnis. So schrieb‘ die SZ in ihrem Artikel „Blaupause für die europäische Migrationspolitik“: „Seehofer hat bereits früher eingeräumt, dass der Aufenthalt in diesen Lagern nicht zwingend ein freiwilliger sein wird. Weiterwanderung Geflüchteter durch Europa, wie sie derzeit üblich ist, soll unbedingt vermieden werden.“ Kurz um: Moria soll das erste gemeinsame Auffanglager werden, wo Menschen gegen ihren Willen festgehalten, wenn sie nicht in ihre Herkunftsländer wieder abgeschoben werden können.Nebenbei werden die Maßnahmen an den Außengrenzen verschärft, ebenso die Asylgesetzgebungen der Mitgliedstaaten. Die Festung Europa rüstet also auf.

Eigentlich geht es aber auch darum, die aktuelle Krise dafür zu nutzen, dass in Zukunft Lager und eine „kontrollierte“ Einreise und Aufnahme von Geflüchteten möglichst schon außerhalb der EU, in der Türkei oder in den Ländern Nord- und Zentralafrikas stattfinden soll. Damit gibt die EU jede Verantwortung für die Unterbringung der Geflüchteten ab, hebelt faktisch das Recht aus Aysl weiter aus und erklärt alle Geflüchteten, die sich nicht außerhalb der EU bei „Migrationszentren“ melden, für illegal.

Was macht die Linke?

Die Antwort ist einfach: hilflos zuschauen. Spontan gingen am Mittwoch Abend im Bundesgebiet mehrere 10 000 Leute auf die Straße. Seit Monaten gibt es mehrere Gemeinden und Kommunen, die sich für die Aufnahme von Geflüchteten aussprechen. All das sind kleine Signale, dass es noch Menschen gibt, die sich gegen den Rechtsruck stellen. Doch diese spontanen Ausbrüche helfen in der Situation nur bedingt weiter. Zwar ist es gut, dass es sie gibt, aber wenn man erfolgreich alle 12 000 Menschen evakuieren möchte, braucht es klare Forderungen und einen Plan, wie man aus der Defensive in der wir uns befinden, herauskommt. Vor allem wenn man längerfristig die Festung Europa einreißen will.

Fehlerhafte
Politik

Was also tun? Auch wenn es Manchen falsch vorkommt, Jene zu kritisieren, die abstrakt für das gleiche Ziel kämpfen, so müssen wir an dieser Stelle offen Kritik üben und gemeinsam diskutieren. Denn dass Menschen verbrannt sind, während andere nun hungern, ist nicht nur die Schuld von Horst Seehofer, sondern auch Ergebnis der Politik Gewerkschaften und reformistischen Parteien. Diese beteiligten sich zwar formal an unterschiedlichen Bündnissen, verweigerten sich aber konsequenter antirassistischer Politik. Statt mit der Großen Koalition zu brechen, setzte die SPD die rassistischen Asylgesetzverschärfungen mit um. Statt dies zu kritisieren, die Geflüchteten in die eigenen Reihen aufzunehmen und gemeinsam für Verbesserungen der gesamten Arbeiter_Innenklasse zu kämpfen, setzten die Gewerkschaften auf leere Phrasen und Standortpolitik. Der Linkspartei hingegen fehlte eine Taktik, diese beiden herauszufordern und offen zu kritisieren und verlor sich stattdessen in eigene Grabenkämpfe und Einzelprojekte. Dies trug maßgeblich damit bei, dass sich die Positionen der AfD in Teilen der Arbeiter_Innenklasse mehr Gehör fanden.

Wir müssen aber auch die Politik der Radikalen Linken kritisch betrachten. Dabei geht es an dieser Stelle weniger um Schuldzuweisungen, sondern mehr darum eine Debatte anzustoßen und aus den Fehlern zu lernen. Nur so können wir perspektivisch erfolgreich sein. Was wurde also gemacht?  Seit 2014 gab es punktuell immer mal wieder große Demonstrationen, es gab bundesweite Bündnisse gegen Rassismus -und zwar mehr als genug. Doch statt sich gemeinsam zu koordinieren und konkret um Forderungen zu kämpfen, blieb es dabei dass jedes Spektrum sein eigene Suppe kocht. Die schmeckt schließlich am besten. Doch was ist aus den Zielen geworden? Aufstehen gegen Rassismus, das wohl größte Bündnis setzte sich zum Ziel „rote Haltelinien“ neu zu ziehen und die Positionen der AfD aus der Gesellschaft zu vertreiben mittels kleiner Multiplikator_Innen, sogenannter Stammtischkämpfer_Innen. Nationalismus ist keine Alternative wollte blockieren, Welcome2Stay hatte vor Strukturen von Supporter_Innen und Geflüchteten zu vernetzen.

Doch was ist geblieben? Nicht viel. Die Asylgesetzverschärfungen sind durchgekommen und die Debatte hat sich verschoben: Statt dafür zu kämpfen, dass Geflüchtete hier arbeiten gehen können, geht’s jetzt darum Abschiebungen zu verhindern und dafür zu kämpfen, dass Menschen in Seenot überhaupt aufgenommen werden können. Was sind also die größten Fehler?

Zusammengefasst hätten sich die bundesweiten Bündnisse koordinieren müssen. Im Zuge der großen Mobilisierungen hätte es Basisarbeit an Orten gebraucht, an denen wir uns alle Bewegung müssen (Schule, Uni, Betrieb) um auch jene zu erreichen, die noch nicht überzeugt sind. Darüber hinaus hätte es Druck gebraucht: auf die Regierung durch Demos, aber auch Streiks und auf einzelne Organisationen der Arbeiter_Innenklasse wie beispielsweise die Gewerkschaften.

Was
braucht es jetzt?

Statt zu hoffen, dass sich was ändert, müssen wir handeln. Auch wenn sich viele in dieser Situation machtlos fühlen, auch wenn es so scheint, dass man nichts mehr ändern kann, selbst wenn man auf Demos geht und mit Freund_Innen diskutiert. Solche Momente in denen sich die Situation krisenhaft zuspitzt, müssen wir nutzen. Unmittelbar gilt es für die sofortige Versorgung vor Ort, sowie die Evakuierung aller Geflüchteten auf Lesbos zu kämpfen und sich nicht mit Kleinstbeträgen abspeisen zu lassen.

Doch wie kann man das durchsetzten? Trotz Corona bedarf es so schnell wie möglich zentraler Aktionstage. In diesem Rahmen darf es dabei nicht nur um die Demonstration an sich gehen. Diese ist vielmehr Anhaltspunkt um vor Ort  in Schule, Uni und Betrieb Aktionskomitees zu gründen, die vor Ort dafür mobilisieren mit Infoveranstaltungen, Vollversammlungen. Dies muss man nutzen, nicht nur die Demonstration zu bewerben, sondern Diskussionen zu starten, wo man bspw. über die Auswirkungen von Rassismus oder auch Corona vor Ort diskutieren kann. Damit das stattfindet, muss man auf Gewerkschaften und Linkspartei auffordern, sich nicht nur an einem Bündnis zu beteiligen, sondern offen und nachvollziehbar alle ihre Mitglieder zu mobilisieren. Besonders Bewegungen wie Fridays for Future oder aber Deutsche Wohnen & Co enteignen! müssten an dieser Stelle klar Stellung beziehen und aktiv Druck ausüben.

Was muss man fordern?

Die sofortige Versorgung, sowie Evakuierung können nur durchgesetzt, wenn wir auch eine gesellschaftliche Perspektive aufzeigen, die über Humanität und Moral hinausgehen. Als Revolutionär_Innen treten wir für offene Grenzen und Staatsbürger_Innenrechte für alle sein. Bewegungsfreiheit darf kein Privileg in imperialistischen Ländern sein, sondern muss ein Recht für die gesamte, internationale Arbeiter_Innenklasse sein. Auch müssen Linke über die Forderung des Bleiberecht hinausgehen.Diese mag auf den ersten Blick fortschrittlich klingen, jedoch sorgt diese dafür, dass Geflüchtet hier lediglich geduldet werden. Staatsbürger_Innenrechte bedeuten jedoch, dass sie die gleichen Recht haben, dass sie auch aktiver Teil der Arbeiter_Innenklasse sein können und hier wählen, arbeiten, sich frei bewegen können.

Darüber hinaus müssen wir in unseren Forderungen bestehende Kämpfe verbinden. Wir sind gegen die Unterbringung in Lagern. Stattdessen bedarf es die Enteignung von leerstehenden Wohnraum, sowie Spekulationsobjekten, die die Mieten in die Höhe treiben. Der zusätzliche Bau von Sozialwohnung sorgt ebenso dafür, dass der überteuerte Wohnraum für alle Vergangenheit wird. Auch müssen wir dafür kämpfen, dass die Geflüchteten in die Gewerkschaften aufgenommen werden und gemeinsam für einen höheren Mindestlohn auf die Straße gehen. Dies kann direkt mit den kommenden Kämpfen gegen Entlassungen kombiniert werden, denn statt arbeitslos zu sein, sollten die individuelle Arbeitszeit bei vollem Lohnausglech reduziert werden. Die Verbindung solcher Fragen schafft es den Rechten den Wind aus den Segeln zu nehmen und bestehende Vorurteile zu beseitigen, da so das Interesse der gesamten Arbeiter_Innenklasse aufgezeigt wird. Um mehr Schlagkraft zu erzeugen, sollte es nicht nur individualisierte Proteste mit unterschiedlichen Forderungen in verschiedenen Ländern geben, sondern ein auf europäischer Ebene organisierter Protest.




Klimabewegung: Weiter machen wie bisher?

Lars Keller

So – es wurde Zeit, Klimabewegung is back in big! Am 25. September ruft Fridays for Future zum globalen Klimastreik auf, Ende Gelände startet im gleichen Zeitraum (23.-28. September) Aktionen im Rheinischen Braunkohlerevier, auch wir sind am Start!

Unsere Ausgangslage ist dabei deutlich beschissener als noch vor rund einem Jahr, als Millionen auf die Straße gingen, um für eine effektive Klimapolitik zu demonstrieren. Praktisch und ein kleiner Trost wär’s gewesen, wenn die Corona-Krise die menschengemachte Erderwärmung zumindest ein kleines Bisschen kühl angehaucht hätte– aber nix davon! Es wird davon ausgegangen, dass 2020 höchstens 7 % weniger CO2 emittiert werden als 2019 (dpa), zu wenig, um irgendetwas gegen den Klimawandel auszurichten.

Und auch sonst sieht’s miese aus. Statt aus der Kohleverstromung auszusteigen, gibt’s mit Datteln IV einen nagelneues Steinkohlekraftwerk. Die Lufthansa wird vom deutschen Staat mit gigantischen Summen gerettet, die selbstinszenierte Klimavorreiterin Deutsche Bahn muss 2 Mrd. Euro allein beim Personal einsparen und zu einem großen Teil mit Datteln-Strom fahren. Die deutsche Autoindustrie kriegt Milliarden in den Arsch geblasen, wer sich ein E-Auto kauft, kriegt fette Zuschüsse für ein Fahrzeug, das überhaupt erst nach 8 Jahren grüner ist als ein Benzinauto…und auch mit Strom aus fossiler Energie fährt.

Corona und die Krise und die Umwelt

Die Rettung der Lufthansa und erhöhte staatliche Förderungen in der Autoindustrie sind unmittelbare Folgen der Coronavirus-Pandemie, welche zu einer massiven Wirtschaftskrise führte. Wäre also ohne Corona wirtschaftlich alles super? Nein, sicher nicht. Corona ist zwar der Auslöser der Krise, ja. Aber genau genommen erleben wir weltweit betrachtet eine durchgehende Krise seit 2008 / 2009. Corona hat diese massiv verschärft, irgendeine Verschärfung war aber sowieso überfällig und wurde seit gut zwei Jahren erwartet von Ökonom_Innen erwartet.

Warum kommt’s eigentlich immer wieder zu Krisen – mit und ohne Virus? Es liegt an der Art und Weise wie der Kapitalismus funktioniert. Er trägt die niemals endende Ausweitung und Intensivierung der Produktion als Zwang in sich. Wer Kapitalist_In ist muss, um auf dem Markt zu überleben, den Großteil seines Gewinns erneut in die Produktion investieren. Genauso wie unsere Erde hat der Markt dabei aber eine Grenze. Irgendwann bietet sich für Kapitalist_Innen keine ausreichend attraktive Möglichkeit mehr, worin sie investieren können. An diesem Punkt befinden wir uns nun schon einige Jahrzehnte. Wenn es im industriellen Bereich kaum noch Möglichkeiten zur Investition gibt, fließt Kapital in unproduktivere Bereiche, es kommt zum Beispiel zu Immobilien- oder Kreditblasen. Hinter den Geldgewinnen steckt hier kein realer Gegenwert mehr. Das bringt den Kapitalismus in eine Schieflage, bis ihn zum Beispiel ein Virus (2020) oder eine Bankenpleite (2009) zum Kippen bringt. Kein Gesetz, keine „Degrowth-Politik“ kann diesen Mechanismus unterbinden, die Konkurrenz selbst verhindert das. „Degrowth-Politik“ eines einzelnen Staates innerhalb des Kapitalismus heißt: wirtschaftlicher Selbstmord.

Was hat das jetzt mit der Krise der Umwelt zu tun? Sehr viel. Auch wenn eine Krise erst mal dafür sorgt, dass z.B. weniger CO2 emittiert wird, weil Fabriken die Produktion drosseln, so ist auf lange Sicht eine Krise ein Brandbeschleuniger für den Planeten. Denn nur weil Krise ist, hört die Konkurrenz zwischen Kapitalist_Innen und ihren Staaten nicht auf – sie wird im Gegenteil viel brutaler und auf Kosten der Umwelt und der breiten Masse der Bevölkerung ausgetragen. Beispiele gibt’s nicht erst seit Corona. China befindet sich seit Jahren im wirtschaftlichen Aufstieg und scheißt dabei großzügig auf Klima- und Umweltpolitik. Die USA sehen sich davon bedroht und kündigten 2017 den Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen an (das selbst ein Witz war).

Nur wer kapiert, dass es eine zugespitzte internationale Konkurrenz gibt, wird verstehen, warum die Bundesregierung die Lufthansa und die Autokonzerne mit Milliarden auffängt. Es geht um die Konkurrenzfähigkeit deutscher Kapitalist_Innen auf der Welt. Der Staat agiert nicht zufällig so, denn er ist selbst ein kapitalistischer Staat und eng verwoben mit den Konzernen und Banken.

Die Konkurrenz selbst gipfelt im Kapitalismus darin, dass die stärksten Mächte immer wieder an den Punkt gedrängt werden um die Neuaufteilung der Welt in Einflussgebiete, Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Produktionsstandorte zu kämpfen – wir sprechen vom Imperialismus. Das geht politisch-diplomatisch, in letzter Instanz aber mit Gewalt, mit Krieg. Dabei versuchen diese Mächte ihre Krise auf drei Arten zu lösen:

– Abwälzung der Krisenkosten auf ihre eigene Bevölkerung, im Wesentlichen die Arbeiter_Innenklasse durch eine verschärfte Ausbeutung

– Abwälzung der Krisenkosten auf die halbkoloniale Welt, also schwächere, wirtschaftlich von großen Mächten abhängige Staaten, hier schlägt die Krise bereits jetzt brutaler zu, z.B. aufgrund miserabler Gesundheitsinfrastruktur

– Abwälzung der Krisenkosten auf andere Weltmächte
Das Ziel ist jeweils im Konkurrenzkampf auf Kosten Anderer zu überleben. Bei all dem kann es sich ein kapitalistischer Staat kaum leisten, auf einen wirklichen, effektiven Schutz der Umwelt zu Wert zu legen. Die Konkurrenz und ewige Produktionsausweitung tragen bereits in sich, dass es das nicht geben kann, eine Krise tritt dabei immer wieder auf und verschärft das.

Als würde das nicht schon reichen, droht noch ein weiterer Brandbeschleuniger. Die Coronakrise hat der politischen Rechten Rückenwind verliehen. So sammelt sich ein ekelhafter Sud aus Nazis, Verschwörungstheoretiker_Innen und Rechtspopulist_Innen bis weit in die bürgerliche Mitte hinein. Die Schnittmenge derer, die sowohl Corona als auch den Klimawandel leugnen, ist wohl groß. Dabei schaffen es Rechte mittlerweile nicht nur in ihren klassischen Hochburgen große Demos auf die Beine zu stellen. Die rechtsoffenen Aktionen von „Querdenken 711“ haben auch in z.B. in Baden-Württemberg Massen auf die Straße gebracht. Schon allein deshalb muss sich eine Klimabewegung ebenso dem Rechtsruck entgegenstellen. Dazu aber später noch mehr.

Und jetzt? Alles nur scheiße?!

Scheint fast so…aber es gibt auch eine Reihe von Chancen für die Umweltbewegung. Aber um diese zu erkennen, müssen wir uns fragen, was die Probleme von Fridays for Future und einem großen Teil der Umweltbewegung waren…schon bevor Corona uns zurückwarf.

Millionen Menschen auf der Straße, Bitten, Flehen, Weinen und Schreien gegenüber der Politik haben was gebracht? – nichts, also fast nichts…es brachte uns einen Joke, einen schlechten Witz, ein Klimapaket, das weder die Namen „Klima“ noch „Paket“ verdient hat. Ist die Regierung einfach nur taub und blöde, dass sie die gesellschaftliche Debatte, die wir anstießen, nicht hörten; unsere Forderungen auf tausenden Pappdeckeln nicht sahen? Nö. Sie macht, was sie als Regierung eines kapitalistischen Staates tun muss – nämlich Politik fürs Kapital. Sie kann nicht anders und will es davon abgesehen auch gar nicht anders. Klimapolitik gibt’s nur, wenn es der deutschen Exportindustrie nutzt. Und wir sollten ja nicht glauben, dass das mit einem Jakob Blasel oder einer Luisa Neubauer von Fridays for Future bzw. den Grünen an der Regierung anders liefe. Wer wie die Grünen den Kapitalismus grün anstreichen will, wird unterm Strich kapitalistische Politik machen…die niemals nie grün sein kann (siehe oben, Konkurrenz und so).

Am Rande bemerkt: Die LINKEN können aus der Klimabewegung gar keinen Erfolg ziehen. Gerade mal 1% der Befragten einer Tagesschau-Umfrage trauen der Linken eine gute Klimapolitik zu. Naja, wer Braunkohletagebaue in der Lausitz (Welzow II) unterstützt und auch sonst nichts gegen die Krise leistet hat’s wohl nicht besser verdient. Die anderen Parteien im übrigen auch nicht, aber die sind wohl besser darin ihre klimaschädliche Realpolitik umweltfreundlich zurechtzubiegen.

Mit den Bitten an die Regierung, RWE, VW und Co. muss das jetzt mal vorbei sein, es gab Zeit genug zu erkennen, dass damit nichts zu erreichen ist, was den Planeten lebenswert hält. Die Strategie muss eine andere sein – eine antikapitalistische.

Was heißt das? Das heißt z.B. VW, RWE und Co nicht zu bitten, mehr fürs Klima zu tun, sondern sie zu enteignen! Kein Profit mit der Zerstörung des Planeten! Und dann? Wer übernimmt die Kraftwerke usw.? Der Staat? Jein. Enteignen heißt zwar erst mal, dass die Betriebe in Staatshand übergehen, aber der Staat besitzt diese erstens sowieso schon teilweise und zweitens kann er sie genauso schmutzig weiterführen. Es ist eine Frage der Kontrolle.

Wir stellen uns vor, dass die Beschäftigten selbst die Produktion kontrollieren sollen, umgestalten sollen, sodass z.B. schnellstmöglich eine Autoproduktion massiv auf Schienenfahrzeuge umgestellt wird. Alles, was damit verbunden ist – Produktionsumbau, Umschulung usw., haben die Kapitalist_Innen zu zahlen!

Aber sind die Arbeiter_Innen denn dafür zu haben? Die haben ja auch Fridays for Future so gut wie nicht unterstützt! Tja, weil sie davon nicht so richtig angesprochen waren. Die Erfahrung ist nämlich, dass sie z.B. in Form einer CO2 Steuer eine unzureichende Klimawende bezahlen. Aber es ist nicht so, dass Arbeiter_Innen grundsätzlich nicht gewinnbar wären. Es gibt einige Chancen:

– die Tarifverhandlungen von Ver.di zum Nahverkehr sind ein wunderbarer Anknüpfungspunkt für uns. Es gilt Druck mit den Arbeiter_Innen zusammen auf Ver.di und die Bosse zu machen und einen kostenlosen, gut ausgebauten Nahverkehr zu fordern, mit höheren Löhnen für Beschäftigte und verkürzter Arbeitszeit, bezahlt durch eine Besteuerung der Profite der Autokonzerne

– die Krise führt zu großen Entlassungen und Kurzarbeit. Dagegen sollten wir fordern: Wir zahlen nicht die Krise der Bosse! Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn und keine Entlassung! Geplante Umstellung der Produktion auf eine wirklich nachhaltige Basis!

– die Coronakrise zeigte die Instabilität unseres Gesundheitssystems. Warum fordert nicht auch Fridays for Future eine kostenlose, gut ausgebaute Gesundheitsversorgung sowie Kommunalisierung der Krankenhäuser?

Hä? Aber die letzte Forderung hat doch gar nichts mit der Umwelt zu tun?!
Erstmal hat alles mit der Umwelt zu tun, z.B. wenn ein Krankenhaus eine Uralt-Heizung verwendet. Zentral ist aber zweitens folgendes: Die Klimabewegung muss es schaffen Kämpfe zu verbinden, dabei eine Antikrisenbewegung aufbauen und sich mit der Arbeiter_Innenklasse insgesamt zu verbünden. Nur sie könnte überhaupt eine Enteignung von VW und Co grün umsetzten.

Kämpfe verbinden heißt auch, eine klar antirassistische Haltung zu beziehen, sich dem Rechtsruck entgegenzustellen. Da reicht es nicht, auf Instagram die Evakuierung Morias zu fordern, sondern offene Grenzen und einen antirassistischen Selbstschutz aufzubauen und genau das überall zu fordern, sei es in Garzweiler oder auf einem Verdi Streik. Die Klimakrise ist der Fluchtgrund Nr. 1.

Wenn wir anfangen, diese Perspektive zu diskutieren und zu fordern, eine antikapitalistische und antirassistische Bewegung gegen die Krisen in Umwelt, Gesundheit, den Betrieben und nicht zuletzt an mörderischen Grenzen aufzubauen, dann kann es möglich sein, dass die Klimabewegung die Initiatorin wird, den Rechtsruck und die Angriffe der Regierung und Konzerne aufzuhalten.

Die Alternative heißt sie weiter anzuflehen und daran zu verzweifeln.




Mali: Massenproteste und der Putsch vom 18. August

Der Putsch in Bamako vom 18. August hat den Blick auf eine Massenbewegung gelenkt, der bis dahin wenig Aufmerksamkeit zukam. Er hat auch Reaktionen der in Mali involvierten ausländischen Interventionsmächte hervorgerufen, die die Anliegen dieser Bewegung bis dahin für nicht beachtenswert gehalten haben.

Dem Putsch vorausgegangen ist seit Anfang Juni eine Massenbewegung, die zehntausende Menschen in der Hauptstadt Bamako auf die Straßen mobilisiert hat. Sie forderte den Rücktritt von „IBK“, dem seit 2013 regierenden Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta, und die Auflösung des Parlaments. Ein Auslöser der Proteste war eine umstrittene Entscheidung des Verfassungsgerichts, das die Parlamentswahlen vom März 2020 in Teilen für ungültig erklärt hatte und dadurch IBKs Partei ermöglicht hatte, ihre Mehrheit auszubauen. Doch die Proteste gründen sich auf eine weit umfassendere Krise. Im Zentrum steht dabei eine Welle reaktionärer ethnischer Gewaltverbrechen durch bewaffnete Gruppen und die Unfähigkeit oder der Unwillen der Regierung, ihre Autorität im Land durchzusetzen. Eine große Rolle spielt auch der neoliberale Niedergang des Landes durch eine Reihe aufgezwungener Reformprogramme seit den 1990er-Jahren, die die Lebensgrundlage eines großen Teils der ländlichen Bevölkerung bedroht oder zerstört hat und mit der Verdrängung der traditionellen Landwirtschaft durch modernes Agrobusiness einhergeht.

Die Macht im Land liegt nun in den Händen eines bis vor kurzem unbekannten Zirkels von Militärs unter der Führung des Offiziers Assimi Goita. Er hat versprochen, internationale Vereinbarungen einzuhalten, besonders mit Hinblick auf die ausländischen Militärinterventionen (derer es drei verschiedene gibt). Dennoch dominiert unter den imperialistischen Mächten die Befürchtung, dass der Putsch deren Kriegsziele und strategische Interessen zurückwerfen wird.

2012: Tuareg-Aufstand und Islamisches Kalifat

Mali umfasst eine Vielzahl verschiedener Ethnien, von denen die meisten wiederum in mehreren Staaten leben. Auf die Interessen der Bevölkerungsgruppen wurde bei der Grenzziehung durch die ehemaligen Kolonialmächte in Westafrika im Einzelnen keine Rücksicht genommen. Daher ist einerseits rassistische und nationale Unterdrückung in diesen heute halbkolonialen Ländern strukturell angelegt und muss andererseits ein destabilisierendes Moment ausüben, das sich den üblichen sozialen Verheerungen, mit denen der globale Kapitalismus dem afrikanischen Kontinent aufwartet, überlagert. Der Tuareg-Aufstand von 2012 bestätigt das. Er brachte die ehemalige „Musterdemokratie“ Mali auf den Weg in den Strudel der „failed states“. Burkina Faso und Niger sind von dieser Entwicklung ebenfalls betroffen.

Die Gemeinschaften der Tuareg, die sich über mehrere Länder im Zentrum der Sahara verteilen, waren mehr als andere Völker der Region im Zuge der Dekolonialisierung marginalisiert worden. Die blutige Niederschlagung des ersten Tuareg-Aufstandes von 1963 hatte viele Tuareg aus ihren Heimatregionen vertrieben. Die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch wirtschaftliche Misere und die Dürren der 1970er und 80er Jahre verstärkten dies und schufen eine entrechtete, transnationale Jugend (Ishumar), die als ArbeitsmigrantInnen umherziehen. Diese waren die hauptsächliche soziale Basis der bewaffneten Rebellionen von 1990-95 und 2007. Die Rebellionen wurden vom malischen Militär mit Unterstützung von ethnischen Hilfstruppen bekämpft und mit Versprechungen von begrenzter Selbstverwaltung und stärkerer Integration der Tuareg in die Sicherheitskräfte beigelegt.

Die Tuareg wurden notwendigerweise Gegenstand regionaler Auseinandersetzungen. Von politischem Interesse waren sie stets nur insoweit, wie sie für spezifische Interessen – insbesondere des libyschen Regimes – von Nutzen sein konnten. So waren sie im „Gastland“ Libyen als Arbeitskräfte und Rekruten in den Repressionsorganen gerade dadurch geschätzt, dass es ihnen an staatsbürgerlichen Rechten mangelte. Außenpolitisch konnten sie Gaddafis pan-afrikanische Ambitionen unterstreichen. Obwohl Gaddafi das Konfliktpotential, das in der ungelösten nationalen Frage der Tuareg liegt, gezielt ausnutzte, konnte er die politischen Ambitionen der Tuareg kanalisieren. Dies zeigte sich etwa 2009 im Tuareg-Aufstand in Niger, wo Gaddafi mit einem Teil der Tuareg-Kräfte eine Vereinbarung aushandelte, die den Aufstand spaltete und beendete. Der Nutzen der Tuareg lag für Gaddafi darin, dass er sich gegenüber dem Ausland als Vermittler anbieten konnte. Es überrascht nicht, dass sein Sturz 2011 nachhaltigen Einfluss auf die Tuareg-Frage genommen hat.

Der Tuareg-Aufstand 2012 resultierte in der Erklärung des kurzlebigen Staates von Azawad. Sein rascher Zerfall war die Folge einer prinzipienlosen Bündnispolitik der MNLA-Führung (frz. Mouvement national de libération de l’Azawad) mit Ansar Dine, lokaler Ableger von AQIM (Al Qaida im Islamischen Maghreb), und der falschen Orientierung der MNLA auf Anerkennung und Unterstützung durch den Imperialismus. Der Aufstand scheiterte vor allem an daran, dass seine von Tuareg dominierte Führung kaum Unterstützung unter den übrigen Volksgruppen in Nordmali gewinnen konnte. Ansar Dine attackierte die MNLA für ihren azawadischen Nationalismus und rekrutierte selbst unter den Tuareg. Zugleich nutzten die Salafisten bestehende rassistische Ressentiments aus und gewann die Unterstützung von Kräften in den Gemeinschaften der Songhai und Fula (frz. Peul), die vormals an der Seite der Regierung standen. Diese Allianz unter Führung von Salafisten brach mit der MNLA und konnte im Sommer 2012 ihre alleinige Kontrolle über Nord-Mali errichten. Der rasche Kontrollverlust der Regierung in Bamako triggert außerdem am 21. März 2012 einen Putsch.

Der Putsch von 2012 mit linker Rückendeckung

Der Putsch von 2012 gegen Präsident „ATT“ (Amadou Toumani Touré) bekam es mit Gegenwind zu tun. Die „Verweigerungsfront“ (frz. Front du Réfus), bestehend aus etwa 100 gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen und 50 Parteien, beharrte auf einer zivilen und demokratisch legitimierten Regierung und weigerte sich, die Junta anzuerkennen oder mit ihr zusammenzuarbeiten. Bezeichnenderweise war die reform-stalinistische SADI-Partei die einzige parlamentarische Kraft, die sich zu einer Zusammenarbeit mit der Junta bereit erklärte. Trotz dieser verbreiteten Ablehnung des Putsches kam es zu keiner Massenmobilisierung, die der Herrschaft des Militärs etwas hätte entgegensetzen können. Die Junta-GegnerInnen bildeten einen prinzipienlosen Block mit nationalistischen, bürgerlichen Kräften, die auch UnterstützerInnen des gestürzten Präsidenten umfasste. Zugleich stellte sich ein anderer Flügel der Gewerkschaftsbewegung hinter die Militärjunta.

Etliche linke Intellektuelle bezogen sogar eine durch und durch chauvinistische Position. Beispielhaft hierfür steht das „Forum für ein anderes Mali“ (Forum pour un Autre Mali, FORAM), das über Verbindungen zur Sozialforenbewegung verfügt und u.a. von der malischen Linken Aminata Traoré unterstützt wird. Sie argumentierten 2012, dass der Tuareg-Aufstand Teil einer planmäßigen Neuaufteilung Westafrikas durch die imperialistischen Mächte sei. Daher sei die Herrschaft des Militärs das kleinere Übel gegenüber des drohenden Verlusts der „territorialen Einheit“. Natürlich zeigte sich schnell, dass das Militär und die korrupten Eliten im Interesse ihres eigenen Machterhalts den imperialistischen Interventionen bereitwillig zustimmen würden. Die vollkommene Preisgabe einer linken Programmatik hat die politische Orientierungslosigkeit dieser malischen und westafrikanischen Linken verschärft und dazu beigetragen, dass sie oftmals als linke Flankendeckung für reaktionäre despotische Regime und deren Politik agieren – ganz zu schweigen davon, dass sie mit der „territorialen Einheit“ genau die postkoloniale, d.h. imperialistische Ordnung verteidigen, als deren GegnerInnen sie sich präsentieren. Die Linke kann im westafrikanischen Nationalitätenmosaik keine progressive und anti-imperialistische Perspektive vertreten, ohne das Selbstbestimmungsrecht der Völker bedingungslos anzuerkennen. Die nationale Frage muss mit dem Kampf gegen die herrschenden Eliten verknüpft werden, die die postkolonialen Staaten ausplündern und deren Macht und internationale Anerkennung die Verteidigung der bestehenden staatlichen Ordnung zur Voraussetzung hat.

Konflikt in Zentralmali

Angesichts der Etablierung der militanten salafistischen Kräfte hat die Regierung und das Militär auf ethnische Milizen gesetzt. Beispielhaft hierfür steht die Miliz Dan Na Ambassaou, deren Mitglieder aus den Dogon-Gemeinschaften kommen. Sie wurde von der Regierung zu Beginn des Konflikts als nützliches Gegengewicht betrachtet und hat sich mittlerweile selbst als Machtfaktor etabliert. Sie ist bekannt für reaktionäre Verbrechen gegenüber den Fula, die den Charakter von ethnischen Säuberungen annehmen, wie das Ogossagou-Massaker vom 23. März 2019 mit 160 Todesopfern. Die rassistische Grundstimmung, die Fula als angebliche UnterstützerInnen von Ansar Dine stigmatisiert, ist eine Begleiterscheinung des „Kriegs gegen den Terror“.

Ethnische Konflikte sind zugleich Vorraussetzung und Folge der imperialistischen Interventionspolitik. Die Imperialisten versuchen, durch militärische „Hilfestellung“, Ausbildung etc. das malische Militär zum kompetenten Ordnungsfaktor aufzubauen. Angesichts dessen, dass das Militär seit der Unabhängigkeit immer die letztendlich entscheidende Rolle im Land gespielt hat, liegt diese Strategie auf der Hand. Die Massenbewegung der vergangenen Wochen hat gezeigt, dass dieses System gestürzt werden kann, aber um die Krise in progressiver Weise zu lösen, ist eine politische Strategie notwendig. Die Führung der M5-RFP (Mouvement du 5 Juin 2020, Rassemblement des Forces Patriotiques) hat die Militärjunta anerkannt. Assimi Goita hat angekündigt, dass seine Junta während einer „Übergangsperiode“ von 3 Jahren regieren wird. Ein großer Teil der malischen Linken scheint die Fehler von 2012 zu wiederholen, indem sie die „nationale Einheit“ als ein den unmittelbaren Interessen der Massen übergeordnetes Ziel vertritt.

Natürlich wird die Militärjunta keines der elementaren Probleme des Landes lösen können. Sie wird wie jede andere bürgerliche Regierung vom Wohlwollen des französischen Imperialismus und der sog. „internationalen Gemeinschaft“ abhängig sein. Der bis vor kurzem im Zentrum der M5-RFP stehende salafistische Prediger Mahmoud Dicko gibt sich als „Brückenbauer“ zwischen Nationalisten und Islamisten. Er gehörte 2013 zu den UnterstützerInnen der imperialistischen Intervention und bis 2017 zum Lager von IBK. Assimi Goita selbst kommt aus den malischen Spezialkräften, die seit 2013 von imperialistischen Mächten für den Anti-Terror-Krieg trainiert werden. Die Militärjunta repräsentiert keine grundsätzlich andere Politik, sondern einfach jenen Teil der nationalen Elite, der für einen etwas inklusiveren Umgang mit dem islamistischen Aufstand eintritt.

Die Krise in Mali beruht auf dem Erbe des Kolonialismus und auf ungelösten nationalen Fragen, auf der Landfrage und dem Verlust der Lebensgrundlage von SubsistenzbäuerInnen durch neoliberale Reformpolitik und Klimawandel, und allgemein auf der ungelösten demokratischen Frage. Um diese Krise im Sinne der unterdrückten Massen zu lösen, ist ein Programm nötig, das sich zentral auf die ArbeiterInnenklasse bezieht und diese Fragen mit der Mobilisierung und Bewaffnung der Massen verbindet.

Der Militärjunta muss eine verfassungsgebende Versammlung entgegengestellt werden, die von Massenversammlungen der ArbeiterInnen, BäuerInnen und Armen organisiert wird, und in der die Klassenfrage politisch offen zutage treten kann. Dies stellt natürlich unmittelbar die Macht der Militärjunta in Frage, was den Kampf innerhalb des Militärs für das Recht auf politische Organisierung und Agitation für SoldatInnen, für das Recht auf Befehlsverweigerung und letztlich für die Zersetzung der Macht der Junta von innen heraus auf die Tagesordnung setzt.

Die reaktionäre ethnische Gewalt erfordert die Bewaffnung der Massen und die Bildung von Selbstverteidigungseinheiten, die von den Massen kontrolliert werden und diese vor Angriffen der Islamisten, des Militärs oder anderer Gruppen schützen.

In Anbetracht der nationalen Frage müssen Linke unbedingt für ein Programm eintreten, das die politischen und sozialen/wirtschaftlichen Gegensätze zwischen den Nationalitäten überwindet und jegliche Formen von Diskriminierung bekämpft. Dies muss nicht die Lostrennung des Nordens beinhalten, aber das unbedingte Recht auf diese, falls die Bevölkerung dies dort mehrheitlich wünscht. Die nationale Frage muss auch verbunden werden mit dem Kampf gegen alle imperialistischen Interventionen und für den Abzug aller ausländischer Truppen.




Kein Vergessen! Beteiligt Euch an den Demonstrationen im Gedenken an die Ermordeten von Hanau!

Aufruf von Gruppe ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION

Gerade sechs Monate liegen die rassistischen Morde vom 19. Februar 
zurück. Die Erinnerung an den barbarischen Anschlag eines
rechtsextremen, völkischen und neo-nazistischen Terroristen erschüttert
bis heute.

Wie viele andere Antirassist_Innen und Antifaschist_Innen rufen wir zur Teilnahme an den Aktionen am 19. August und an der bundesweiten Demonstration am 22. August in Hanau auf. Wir wollen damit den Familien, den Angehörigen und Freund_Innen der Getöteten unsere Anteilnahme, unser Mitgefühl zeigen, sie in ihrem Schmerz, ihrer Wut, ihrer Verzweiflung nicht alleine lassen. Wir wollen damit ein Zeichen der Solidarität mit allen Opfern rassistischer und faschistischer Anschläge, Angriffe und Morde setzen, ein Zeichen der Solidarität mit allen Abgeschobenen, mit den Opfern der mörderischen EU-Grenzpolitik sowie allen Formen staatlicher und institutioneller rassistischer Gewalt, Diskriminierung und Unterdrückung.

Damit aus Wut und Trauer, Zorn und Angst Widerstand gegen den
rassistischen Terror und Rechtsextremismus wird, müssen wir uns bemühen,
die Ursachen, die sozialen Wurzeln der barbarischen Morde zu verstehen.

Rechtsruck

Der Todesschütze von Hanau war darauf aus, möglichst viele migrantische Menschen zu töten. 9 riss er in den Tod. Über seine Motive besteht kein Zweifel. Seine Bekennerschreiben und Videos lesen sich wie Manifeste neo-faschistischer und völkischer Barbarei, sind Aufrufe zum Pogrom, zur Vernichtung „bestimmter Völker“! War sein Hass auch mit obskuren Verschwörungstheorien verbunden, so richtete er sich vor allem gegen Migrant_Innen aus der Türkei und arabischen Ländern.

Er reiht sich damit in eine ganze Serie erschreckender rassistischer Morde und Anschläge der letzten 30 Jahre ein. Seit 1990 sind Untersuchungen der Amadeu Antonio Stiftung zufolge über 200 Menschen Opfer rechter, rassistischer und faschistischer Gewalt geworden. Menschen, die aus der Türkei und arabischen Ländern stammen oder als Muslim_Innen wahrgenommen werden, stehen besonders stark im Visier dieser Angriffe, die von Schlägertrupps bis zu organisierten terroristischen Zellen wie NSU reichen.

Die Zunahme rechter Anschläge wie die Bildung terroristischer
Gruppierungen, Zellen und Netzwerke stellt den zugespitzten Ausdruck
eines internationalen wie bundesdeutschen Rechtsrucks dar. Dieser
umfasst den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien wie der AfD,
faschistischer Organisationen wie der „Identitären Bewegung“ und
klandestiner Terroreinheiten. Tobias R., der Killer von Hanau, erinnert
unmittelbar an den Attentäter von Christchurch oder an den norwegischen
Massenmörder Breivik.

Rassistischer Wahn

Die faschistischen, neo-faschistischen, aber auch zahlreiche rechtspopulistische Organisationen stellen ein irrationales völkisches Wahngebilde zunehmend ins Zentrum  ihrer Ideologie, eine Mischung aus Verschwörungstheorie, Rassismus, Antisemitismus und allen möglichen Formen reaktionären Gedankenguts wie z. B. des Antifeminismus. So bizarr und wirklichkeitsfremd, ja die Realität auf den Kopf stellend diese Ergüsse auch wirken (und sind), knüpfen sie doch an die Vorstellungswelt eines viel breiteren rechten Spektrums an, das bis tief in bürgerliche und kleinbürgerlich-reaktionäre Schichten  reicht (und natürlich auch unter politisch rückständigen Arbeiter_Innen Gehör finden kann.

Und diese Gefahr sollten wir nicht unterschätzen. Der zunehmende individuelle Terrorismus auf Seiten der Rechten signalisiert einen grundsätzlichen Stimmungsumschwung unter weiten Teilen des Kleinbürger_Innentums und der Mittelschichten (samt demoralisierter ArbeiterInnen). Das drückt sich auch in der Herkunft vieler Attentäter_Innen aus. Tobias R. war, den Informationen der Medien zufolge, ein „gebildeter Mensch“, veröffentlichte seine Gesinnung auf Deutsch und Englisch, studierte Betriebswirtschaftslehre.

Viele andere rechte Terrorist_Innen entpuppten sich als Menschen mit klassischen kleinbürgerlichen Karrieren, besonders häufig im Polizei- und Sicherheitsapparat. Über alle jeweiligen biographischen Besonderheiten hinweg verdeutlicht die Gemeinsamkeit der sozialen Herkunft, dass sich die gegenwärtige Krise im Kleinbürger_Innentum, in den Mittelschichten ideologisch nicht nur als Angst vor Deklassierung, sondern auch als zunehmendes Misstrauen und Ablehnung gegenüber der traditionellen bürgerlichen Führung und dem Staat manifestiert. Es bedarf eines rechten Aufstandes, einer Pseudorevolution, der Entlarvung von „Verschwörungen, eines Pogroms an den „fremden Rassen“ und „Volksverräter_Innen“, was im individuellen terroristischen Akt, im Mord an möglichst vielen schon exemplarisch vorgeführt wird.

Wie bekämpfen?

Wie der Mord am Regierungspräsidenten Lübcke gezeigt hat, kann sich der rechte Terrorismus auch gegen Repräsentant_Innen des bürgerlichen Staats und Parlamentarismus richten. Die Masse seiner Opfer findet er jedoch – und darin gleicht er dem Terror faschistischer Massenbewegungen – unter der Arbeiter_Innenklasse, Migrant_Innen, rassistisch Unterdrückten, linken AktivistInnen oder dem Subproletariat (z. B. Obdachlose). Darüber hinaus drückt sich die reaktionäre Radikalität dieser Form des Terrorismus auch darin aus, dass ihre Anschläge den eigenen Tod mit einkalkulieren, ihn als ein Fanal inszenieren.

So wichtig es daher ist, rechte terroristische Zellen und Einzeltäter_Innen schon im Vorfeld zu stoppen, so zeigt die Erfahrung jedoch auch zweierlei: Erstens können wir uns dabei – wie im Kampf gegen den Faschismus insgesamt – nicht auf den bürgerlichen Staat und seine Polizei verlassen. Auch die Forderung nach verschärfter Repression und Überwachung geht dabei nicht nur ins Leere, sondern letztlich in eine falsche Richtung, weil sie einem bürgerlichen, repressiven, rassistischen Staatsapparat mehr Machtmittel in die Hand gibt, die in der Regel gegen uns eingesetzt werden.

Zweitens können aber auch der Selbstschutz, der Aufbau von
Selbstverteidigungseinheiten, antifaschistische Recherche – so wichtig
sie im Einzelnen auch sind – gegen klandestine Terrorzellen oder
Individuen nur begrenzt Schutz bieten.

Das Hauptgewicht des Kampfes muss daher auf dem gegen die gesellschaftlichen Wurzeln liegen, und zwar nicht nur, indem der Kapitalismus als Ursache von Faschismus, zunehmender Reaktion, Rechtsruck, Krise identifiziert und benannt wird. Es kommt vor allem darauf an, dass die Arbeiter_Innenklasse als jene soziale Kraft in Erscheinung tritt, die einen fortschrittlichen Ausweg aus der aktuellen gesellschaftlichen Krise zu weisen vermag. Der Zustrom zur AfD, die Mobilisierungskraft von Corona-Leugner_Innen und Verschwörungstheoretiker_Innen, also der gesellschaftliche Rechtsruck und Irrationalismus, stellen keine unvermeidliche, automatische Reaktion auf eine Krisensituation dar.

Dass der Rechtspopulismus zu einer Massenkraft geworden ist und in seinem Schlepptau auch faschistische Organisationen und Terrorismus verstärkt ihr Unwesen treiben, resultiert auch, ja vor allem daher, dass sich die reformistische Arbeiter_Innenbewegung nicht als anti-kapitalistische Kraft, sondern als bessere Systemverwalterin zu profilieren versucht. SPD und die Gewerkschaften machen auf Bundesebene der Großen Koalition die Mauer und üben den nationalen Schulterschluss mit dem Kapital. Die Linkspartei, wie immer hoffnungsfroh, setzt abwechselnd auf die „Einheit der Demokrat_Innen“ (bis hin zu CDU und FDP, wenn es gegen die AfD geht) und auf eine „Reformkoalition“ mit SPD und Grünen.

In Wirklichkeit frustrieren die Spitzen von SPD, Gewerkschaften und
auch der Linkspartei mit ihrer Politik der Klassenzusammenarbeit nicht
nur die eigene Basis, diese stößt auch jene Lohnabhängigen, die sie in
den letzten Jahren verloren haben, weiter ab. Die größte ökonomische
Krise seit fast einem Jahrhundert, die sich vor unseren Augen entfaltet,
wird nicht durch die „gemeinsamen Anstrengungen“ aller Klassen, nicht
durch eine imaginäre „gerechte Verteilung“ der Kosten der Krise
überwunden werden können. Das ist auf Grundlage des Kapitalismus, von
Marktwirtschaft und Privateigentum an Produktionsmitteln, unmöglich.

Faschismus, Rassismus und Rechtspopulismus können geschlagen werden. Aber dazu braucht es einen politischen Kurswechsel, ein Programm, eine Strategie, die die Mobilisierung gegen diese Kräfte als Teil des Klassenkampfes versteht. Nur so kann dem Rechtsruck sein Nährboden entzogen werden. Nicht Einheit über alle Klassengrenzen hinweg, sondern Einheit der Arbeiter_Innenbewegung, der Linken, der Migrant_Innen gegen rechten Terror, Populismus und Rechtsruck ist das Gebot der Stunde.

Lasst uns unsere Wut, Trauer, Zorn und Solidarität in den nächsten Tagen auf die Straße tragen! Schaffen wir eine breite Aktionseinheit der Arbeiter_Innenbewegung, der Linken, der migrantischen, antirassistischen und antifaschistischen Organisationen! Lasst uns den Kampf gegen Rassismus und Faschismus mit dem Aufbau einer Anti-Krisenbewegung verbinden!

Bundesweite Aktionen und Demonstration

Gedenken am 19. August: Übersicht über Demonstrationen, Kundgebungen, Aktionen: Initiative 19. Februar Hanau

Samstag, 22. August 2020, 13.00, Kurt-Schumacher Platz: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen. Bundesweite Demonstration in Hanau




Libanon – die Revolution hat begonnen

Dilara Lorin, Martin Suchanek, zuerst erschienen auf arbeiterinnenmacht.de, 10. August 2020

Die Explosion im Hafen von Beirut hinterlässt ein schier
unglaubliches Ausmaß an Zerstörung im ohnedies krisengeschüttelten,
faktisch vor dem Staatsbankrott stehenden Libanon.

Am 4. August detonierten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut. 154 Menschen wurden getötet, über 5.000 verletzt, geschätzte 300.000  – über 10 % der Einwohner_Innen der Hauptstadt des Landes – sind seither obdachlos.

Die verheerende Katastrophe löste aber auch eine andere, für die
Zukunft des Landes noch weit tiefer gehende soziale und politische
Explosion aus, eine wahre politische Detonation.

Die Krise des Landes schlägt in eine revolutionäre um. Die verhasste
politische Elite, praktisch alle staatlichen und offiziellen
Institutionen – ob Präsident, Parlament, Bürokratie, etablierte
Parteien, Polizei und Gerichte –, hat ihren letzten, ohnedies kaum noch
vorhandenen Kredit bei der Bevölkerung verspielt.

Deren Verzweiflung schlug innerhalb kürzester Zeit in eine neue Welle
des Massenprotests um, der Züge eines Aufstandes anzunehmen beginnt.
Schon in den letzten Jahren richteten sich riesige Mobilisierungen gegen
die Regierungen, so 2015 die Kampagne „Ihr stinkt“, die sich gegen die
fehlende Müllentsorgung Beiruts richtete. Zuletzt drohte der Regierung
im Herbst 2019 eine „Revolution“ der Bevölkerung. Damals hatte eine
beabsichtigte Besteuerung von Messenger-Diensten und damit verbundener
Online-Telefonie Hunderttausende, wenn nicht Millionen, auf die Straße
gebracht und das öffentliche Leben lahmgelegt.

Nun richtet sich der Zorn gegen die gesamte „Elite“ des Landes, gegen
Regierung, Staatsapparat und eine kleine Schicht von reichen
Geschäftsleuten und deren Anhang, die das Land seit Jahren mehr oder
minder gemeinschaftlich ausplündern.

Die Tragödie im Hafen ließ Trauer, Wut und Hass der Bevölkerung in
Aktion umschlagen. Die Bewegung eint in diesem Stadium vor allem eine
Forderung – die gesamte „Elite“, das Establishment muss gehen. Parolen
wie „Revolution, Revolution“ und „Das Volk will den Sturz der Regierung“
ertönen seit Tagen auf den Straßen der Hauptstadt.

Die Verhängung eines 14-tägigen Ausnahmezustandes durch die Regierung
bewirkte – wie bei vielen mit Urgewalt ausbrechenden, spontanen
Massenbewegungen – das Gegenteil dessen, was die Herrschenden
beabsichtigt hatten. Ein Ausnahmezustand, der nirgendwo durchsetzbar
ist, offenbart die Machtlosigkeit der Regierung, eine fundamentale, wenn
auch zeitlich begrenzte Verschiebung des Kräfteverhältnisses. Ein
solcher Ausnahmezustand trägt eher zur Steigerung der Entschlossenheit
der revolutionären Massen bei – und die Ankündigung von Neuwahlen, die
offenkundig als reine Beruhigungspille wirken sollen, wird
wahrscheinlich eine ähnliche Wirkung haben.

Wie die täglichen Massendemonstrationen und die Auseinandersetzungen mit der Polizei offenbaren, lässt sich die Bevölkerung nicht mehr einschüchtern. Am 8. August erstürmten die Demonstrant_Innen Regierungsgebäude, darunter 4 Ministerien und das World Trade Centre. Anscheinend führten ehemalige Offiziere der Armee die Erstürmungen an – andererseits war es auch die Armee, die die Besetzungen wieder beendete und räumte.

Die Lage im Land nimmt Züge eines revolutionären Umsturzes, der ersten Phase einer Revolution an. Die libanesische herrschende Klasse und ihre Regierung sind offenbar nicht mehr Herr_Innen der Lage.

Hinzu kommt die extreme ökonomische und soziale Krise, der
eigentliche Unterbau einer revolutionären Welle, die sich vor allem an
Fragen der Demokratie, der politischen Unterdrückung, der Entrechtung
und der Korruption, also der Plünderung des Landes durch die Elite
entzündet hat.

Faktisch steht der Libanon schon lange vor dem Staatsbankrott. Schon im März 2020 konnte das Land eine fällige Anleihe in der Höhe von 1,2 Milliarden US-Dollar nicht bedienen. Hinzu kommt, dass die Währungspolitik der Regierung, die über Jahre die Lira im Interesse von Finanzspekulant_Innen in Beirut an den US-Dollar band, in Trümmern liegt. Die 1997 eingeführt Bindung an den Dollar musste aufgegeben werden. Seit Beginn 2020 wird das Land von einer Hyperinflation mit monatlichen Abwertungen der Lira von rund 50 % heimgesucht.

Der am 4. August zerstörte Hafen war die wichtigste verbliebene
Einnahmequelle des Landes und darüber hinaus essentieller Umschlagplatz
für Waren aller Art. Die humanitäre Katastrophe verschärft also die
wirtschaftliche Lage zusätzlich.

Imperialistische Helfer_Innen?

Angesichts der politischen Krise versuchen sich die imperialistischen Mächte, allen vor die einstige Kolonialmacht Frankreich, als Rettung in der Not zu inszenieren. Demagogisch präsentierte sich Macron bei seinem Besuch in Beirut als Kritiker der Elite des Landes, die jetzt „transparent“ und „demokratisch“ handeln müsse. Demagogisch griff er dabei das berechtigte Misstrauen gegen Regierung und Staatsapparat auf, indem er einen nicht näher definierten Mechanismus zur direkten Verteilung von Medizin, Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern an die Bevölkerung versprach – ein Versprechen, das im schlimmsten Fall durch eine „humanitäre“ Mission der Armee oder der Fremdenlegion eingelöst werden könnte. Auch Länder wie Russland, China oder selbst die BRD oder die USA unter Trump präsentieren sich jetzt als selbstlose Helfer_Innen.

In Wirklichkeit verfolgen diese Mächte dabei zwei Ziele. Erstens wollen sie das Land befrieden. Eine Revolution, die das politische System hinwegfegen und darüber hinaus auch als Inspiration für den gesamten Nahen Osten wirken könnte, wollen alle Groß- und Regionalmächte unbedingt verhindern. Indem sie sich als „Freund_Innen des Volkes“ präsentieren, versuchen sie letztlich, die Massenbewegung zu beschwichtigen und ins Leere laufen zu lassen. Doch die Bevölkerung sollte nicht vergessen, dass diese Mächte für die Lage selbst eine Hauptverantwortung tragen. Das nach religiösen Gemeinschaften aufgeteilte System des Libanon, das mit Sektierertum und Korruption untrennbar verbunden ist, entsprang nicht zuletzt den Interessen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. Die Großmächte und das globale Finanzkapital – nicht bloß, ja nicht einmal in erster Linie die einheimlichen Eliten – plündern das Volk seit Jahrzehnten aus. Nicht zuletzt erweisen sich der Hebel der drückenden Staatsverschuldung des Landes und die Einbindung des Libanon in die internationalen Finanzströme als überaus wirksame Machtinstrumente und als Fessel jeder eigenständigen wirtschaftlichen Entwicklung.

Wenn Mächte wie Frankreich jetzt scheinbar selbstlose Hilfe
versprechen, so haben sie ihre längerfristigen Geschäftsinteressen
ebenso im Blick wie ihre geostrategischen Ziele im Kampf um die
Neuordnung des Nahen Ostens. Hier befindet sich der französische
Imperialismus und mit ihm die EU in einem erbitterten Kampf mit den USA,
China, Russland und verschiedenen Regionalmächten.

Ökonomische Lage

Diese Staaten sind an der sozialen verzweifelten Lage der Bevölkerung
eindeutig mitschuldig – und sie haben auch keine Absicht, diese
grundlegend zu verbessern.

Die Krise hat schon vor der Corona-Pandemie zu einer extremen Verelendung geführt. Rund die Hälfte der Bevölkerung lebt heute unter der Armutsgrenze. Besonders betroffen sind davon Millionen Geflüchtete. Das betrifft erstens die mindestens eine halbe Million zählenden Palästinenser_Innen, denen vom Zionismus und Imperialismus seit Jahrzehnten das Rückkehrrecht verweigert wird, die aber auch von der libanesischen Regierung massiv diskriminiert werden (Verweigerung der Staatsbürger_Innenschaft; menschenunwürdige Lager, Ausschluss von zahlreichen Berufen). Zweitens flohen seit Beginn des Bürgerkriegs rund 1,5 Millionen Menschen aus Syrien in den Libanon, darunter etwas die Hälfte Kinder und Jugendliche.

Zugleich hat sich in den letzten Jahren auch die Sozialstruktur des Landes – insbesondere Beiruts, wo rund ein Drittel der Bevölkerung lebt – verändert. Lange war die Stadt davon geprägt, dass die religiöse Zugehörigkeit mit dem sozialen Status korrelierte. Die Kapitalist_Innenklasse und die bürgerlichen Stadtteile waren wesentlich von der christlichen Bevölkerungsgruppe geprägt. Die Schiit_Innen bewohnten vorwiegend die ärmeren und verarmten Viertel. In den letzten Jahren hat sich das ein Stück weit verändert. Der Anteil der Schiit_Innen und Sunnit_Innen an der ökonomischen Elite des Landes, z. B. an den 100 Reichsten des Landes, nahm zu. Sicherlich ist das auch eine Folge der Integration der Hisbollah in die Staatsführung im Zuge des „Friedensprozesses“ – und damit einer Verbreiterung der herrschenden Schichten. Die Hisbollah entwickelte sich in den letzten Jahren zu einem integralen Bestandteil der Elite des Landes, wie sich auch an ihrer strategischen Allianz mit dem Präsidenten Aoun erkennen lässt.

Die andere Seite dieser veränderten Zusammensetzung der Elite und des Herrschaftssystems besteht darin, dass es auch zu einer gewissen Angleichung der Lebenslagen der muslimischen, christlichen, drusischen Arbeiter_Innen kam.

Vom Kampf gegen die Elite zur Revolution!

Die Forderung nach einem Rücktritt der gesamten politischen Elite des Landes, aller Parteien, Regierungsmitglieder, des Präsidenten, aber auch von Beamt_Innen, Richter_Innen, … – also zentraler Teile des Staatsapparates – kann angesichts der Pseudo-Demokratie, religiös-sektiererischer Aufteilung von Ämtern und Einfluss, der weit verbreiteten Vetternwirtschaft und jahrelangen Ausplünderungen durch das Finanzkapital nicht weiter wundern. Sie erinnert stark an die ersten Phasen praktisch aller Bewegungen der Arabischen Revolutionen.

Zugleich zeigt die Entwicklung auch, wie eng demokratische Fragen –
nicht nur im Libanon – mit den sozialen und Klassenfragen
zusammenhängen.

Wir wollen das im Folgenden kurz verdeutlichen. Die am 4. August explodierten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat lagerten schon seit 6 Jahren im Hafen. Wie Recherchen von Al Jazeera zeigen, waren diese jedoch nicht einfach „vergessen“ worden. Mindestens sechs Mal wandten sich Zollbeamt_Innen schriftlich an die libanesische Justiz und forderten ein Einschreiten, ebenso oft wurden ihre Eingaben ignoriert. All das verdeutlicht, dass nicht nur einzelnen Gerichten, sondern dem gesamten Staatsapparat die Lebensinteressen der Bevölkerung völlig egal sind, dass er vielmehr als Mittel zur eigenen Bereicherung und als Beute verstanden wird, um dessen Aufteilung die verschiedenen bürgerlichen Parteien und Führer_Innen der religiös-politischen Gruppierungen streiten.

Je mehr das Land in eine ökonomische und soziale Krise schlitterte,
umso prekärer, entwürdigender und nutzloser musste sich dieses System
für die Masse der Bevölkerung darstellen. Vom Standpunkt der Eliten,
ihrer Parteien und  Klientel stellt sich jede Verwendung von staatlichen
Mitteln für das Gemeinwohl wie z. B. Gesundheitsversorgung,
Infrastruktur, Müllentsorgung, Kommunikation, Arbeitslosenunterstützung
usw. als Abzug von Pfründen dar, die ihnen zufallen sollten. Daher gibt
es in Krisenperioden, wenn also die Staatseinnahmen sinken, erst recht
nichts zu verteilen für die Masse der Bevölkerung, die verarmt und
eigentlich dringend staatliche Unterstützung brauchen würde.

Dies hat nun – wie schon auf geringerem Niveau 2019 – zur Explosion, zur Erhebung der Arbeiter_Innenklasse, der städtischen Armut wie auch des Kleinbürger_Innentums und der Mittelschichten geführt. Die Not, die Unfähigkeit und Unwilligkeit des Staates, irgendeine nennenswerte reale Hilfe zu leisten, hat außerdem die Bevölkerung dazu gezwungen, selbstorganisierte Strukturen aufzubauen, um Verletzten, obdachlos gewordenen oder hungernden Menschen zu helfen und elementare Formen des täglichen Lebens überhaupt aufrechtzuerhalten. Auch wenn diese Strukturen aus der Not geboren wurden, so stellen sie auch embryonale Organe der Gegenmacht, alternative Machtzentren zum bestehenden Staatsapparat dar.

Dass ehemalige Offiziere die Besetzung von Regierungsgebäuden
angeführt haben dürften, deutet darauf hin, dass auch die Kontrolle der
Regierung über den Repressionsapparat bröckelt. All das sind untrügliche
Zeichen einer beginnenden revolutionären Entwicklung.

Doch wie schon die Arabischen Revolutionen steht auch der Libanon vor
einem extremen Problem – der Revolution fehlt eine politische Führung,
eine Strategie, ein Programm zur Reorganisation der Gesellschaft, um
deren dringendste Probleme zu lösen.

Die Bewegung wirft zwar die Machtfrage auf, in dem sie den Rücktritt
oder die Absetzung der gesamten „Elite“, ein Ende von deren Korruption,
Bereicherung und faktischer Straffreiheit fordert – aber sie hat keine
Vorstellung, wodurch sie zu ersetzen wäre, welches politische und
soziale System an die Stelle des bestehenden treten soll. Logischerweise
bleiben damit auch die Ziele einer „Revolution“ unklar.

An diesem Problem scheiterten praktisch alle Arabischen Revolutionen des letzten Jahrzehnts. Die Massen der Arbeiter_Innen, Bauern/Bäuerinnen, städtischen Armen oder kleinen Selbstständigen verloren die Initiative, obwohl sie den Großteil der Erhebungen getragen hatten, mussten ohnmächtig mit ansehen, wie sich verschiedene Kräfte der Konterrevolution ihrer Bewegung bemächtigten oder diese zerschlugen. Dies droht auch im Libanon.

Programm

Daher besteht die Aufgabe sozialistischer, kommunistischer Kräfte darin, die Bewegung vorzutreiben, deren beste Kämpfer_Innen zu organisieren. Doch das erfordert selbst, sich Klarheit über die Aufgaben und das Programm der Revolution zu verschaffen. Wir können ein solches an dieser Stelle nicht detailliert vorlegen, wohl aber einige Schlüsselforderungen.

  • Offenlegung aller Dokumente zur Explosion des Hafens; Bildung von Untersuchungsausschüssen; Aburteilung der Verantwortlichen durch von der Bevölkerung gewählte, öffentliche Tribunale; Entschädigung der Angehörigen aller Getöteten, der Verwundeten und der Menschen, die ihre Wohnungen verloren haben!
  • Sicherung des Überlebens der Bevölkerung durch Beschlagnahme der großen Vermögen und Unternehmen! Verteilung der Hilfslieferungen, von Nahrungsmitteln und Medizin unter Kontrolle von Komitees und Räten in Stadtteilen, Betrieben, auf dem Land! Diese Aufgabe darf nicht der Regierung und ihrem Apparat oder imperialistischen Staaten überlassen werden. Helfer_Innen humanitärer Organisationen sollen unter Kontrolle solcher Komitees und Räte agieren.
  • Aufstellen eines Notplans zur Versorgung der Bevölkerung, Sicherung von kostenloser Zuteilung lebensnotwendiger Güter an die Bedürftigen. Das erfordert u. a. die Streichung der Auslandsschulden, die entschädigungslose Eineignung aller Banken, Finanzinstitutionen, Großbetriebe libanesischer wie ausländischer Kapitalist_Innen sowie der Privatvermögen der Superreichen unter Arbeiter_Innenkontrolle, die Zusammenfassung der Finanzinstitutionen zu einer Zentralbank zur Stabilisierung der Lira, die Festlegung von Mindestlöhnen und Renten, die die Lebenshaltungskosten decken.
  • Rücknahme des Ausnahmezustandes und von Sonderbefugnissen der Armeeführung, Freilassung aller Gefangenen und Festgenommenen! Bildung von Selbstverteidigungskomitees der Bewegung und von Arbeiter_Innenmilizen in den Stadtteilen und Betrieben! Die Soldat_Innen müssen aufgerufen werden, auf die Seite der Bewegung überzugehen, Soldat_Innenräte zu bilden, Arbeiter_Innen- und Selbstverteidigungsmilizen zu bewaffnen und diese als Ausbilder_Innen zu unterstützen!
  • Abschaffung aller religiösen, sektiererischen Gesetze und politischen Restriktionen! Volle Einbeziehung der Frauen sowie der syrischen und palästinensischen Flüchtlinge in die Bewegung und den Kampf für die libanesische Revolution, einschließlich voller Wahl- und Staatsbürger_Innenrechte für die Flüchtlinge!
  • Bildung von Räten und Aktionsausschüssen in allen Betrieben, Wohnvierteln, in Stadt und Land, um die Bewegung zu führen, über deren Aktionen und Ausrichtung zu entscheiden! Diese Organe sollen von den Einwohner_Innen der Wohnviertel oder den Beschäftigten in den Betrieben gewählt, diesen rechenschaftspflichtig und von ihnen abwählbar sein. Sie müssen auf städtischer, regionaler und landesweiter Ebene zu einem Rätekongress zusammengefasst werden, der provisorisch die Regierungsgewalt übernimmt.
  • Nieder mit Regierung und Präsident! Nein zu Neuwahlen unter Kontrolle des Staatsapparates! Nein zu jeder imperialistischen militärischen oder polizeilichen „Hilfs“intervention unter französischer oder sonstiger Führung!
  • Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung unter Kontrolle der Massenbewegung, von Stadtteil- und Betriebskomitees, die den Wahlprozess, die Zulassung der Kandidat_Innen, den Zugang zu den Medien usw. kontrollieren!
  • Eine solche Versammlung muss die großen demokratischen, politischen und gesellschaftlichen Fragen der Neuorganisation des Landes debattieren. Gerade weil der Wunsch nach Demokratie eine solche wichtige Frage darstellt, können und müssen die Versammlung, ihre Einberufung und Kontrolle zu einem Mittel werden, die Massen davon zu überzeugen, dass eine erfolgreiche, konsequente Revolution die Macht in die Hände einer Räteregierung legen muss, die sich auf direkt demokratische Räte der Arbeiter_Innen und Bauern/Bäuerinnen, der städtischen Armut und der unteren Schichten des Kleinbürger_Innentums stützt.
  • Eine solche Regierung muss, um die Aufgaben der Revolution zu erfüllen, den korrupten, bürgerlichen Staatsapparat hinwegfegen und durch Räte, betriebliche und kommunale Selbstverwaltungs- und Machtorgane sowie durch Soldat_Innenräte und Arbeiter_Innenmilizen ersetzen! Sie muss die herrschende Klasse und die imperialistischen Konzerne und Anleger_Innen enteignen und die Wirtschaft auf Basis demokratischer Planung reorganisieren.

Um ein solches Programm von Übergangsforderungen zu verbreiten und dafür die Arbeiter_Innenklasse und unterdrückten Massen zu gewinnen, bedarf es einer politischen Kraft, einer revolutionären, kommunistischen Arbeiter_Innenpartei. Eine solche Kampforganisation zu schaffen, ist das Gebot der Stunde aller proletarischen RevolutionärInnen!

Die Revolution im Libanon und alle Revolutionär_Innen im Land bedürfen dabei der Solidarität der internationalen Arbeiter_Innenklasse und der Linken auf allen Ebenen – von der Organisierung von Hilfe für die Bevölkerung, politischen Solidaritätskampagnen für die Streichung der Schulden im Kampf darum, dass Hilfslieferungen ohne politische und wirtschaftliche Bedingungen erfolgen. Vor allem aber braucht es auch die möglichst enge Verbindung mit allen Kräften, die im Libanon und in den Ländern des Nahen Ostens aktiv am Aufbau einer revolutionären Bewegung beteiligt sind, die Schaffung einer Solidaritätsbewegung und einer neuen, Fünften Internationale, die im Libanon, im Nahen Osten, weltweit für die sozialistische Revolution kämpft!




Zweite Welle der Corona-„SkeptikerInnen“?

Wilhelm Schulz, 3. August 2020
Zuerst veröffentlicht unter
https://arbeiterinnenmacht.de/2020/08/03/zweite-welle-der-corona-skeptikerinnen/

Es war ein unheimlicher Aufmarsch. 20.000 bis 30.000 Corona-„SkeptikerInnen“ oder direkte LeugnerInnen der Pandemie demonstrierten am 1. August in Berlin. Aus dem gesamten Bundesgebiet mobilisierten die OrganisatorInnen der sogenannten Hygienedemonstrationen.

Sie feierten gemeinsam das angebliche Ende der Corona-Pandemie. Dabei sind die Zahlen täglicher Neuinfektionen weltweit höher denn je – von der Dunkelziffer vor allem in der halbkolonialen Welt ganz zu schweigen, die u. a. auf fehlende Testsysteme und darauf zurückzuführen sind, dass als Todesursachen andere Krankheiten und Mangelerscheinungen ausgewiesen werden.

Auch in Deutschland steigen bekanntlich die Zahlen. Die Öffnung der Wirtschaft und die Arbeitsbedingungen in den Betrieben stellen auch hier ein Gesundheitsrisiko dar, das Kapital und auch Corona-SkeptikerInnen billigend in Kauf nehmen. Kostenlose Testverfahren werden selbst in Deutschland nur wenigen angeboten – oft nur im Zusammenhang mit einem Flugticket.

Wir werden an dieser Stelle nicht weiter auf die Ideologie und den Irrationalismus dieser kleinbürgerlichen „Bewegung“ eingehen. Wir haben uns damit schon an anderer Stelle, z. B. im Artikel „Das Querfront-Virus“ , auseinandergesetzt.

In den letzten Wochen schien es freilich so, dass die rechte Mobilisierung durch mehrere Faktoren an Zulauf verloren hatte. Erstens hatte die Regierung mit der vollständigen Öffnung der Betriebe, von Schulen, Geschäften, Gaststätten – also mit der Aufhebung aller realen Einschränkungen der Gewerbefreiheit – eine, wenn nicht die zentrale Forderung der Bewegung erfüllt. Zweitens schien sich der obskur faschistische Teil der Bewegung stärker zu isolieren. Drittens hatten sie Gegenmobilisierungen wie in Berlin, vor allem aber die Massendemonstrationen in Solidarität mit Black Lives Matter in den Hintergrund gerückt.

Die Demonstration vom 1. August verdeutlicht freilich, dass es sich dabei nur um eine Momentaufnahme handelte und die Gefahr der Bildung einer reaktionären kleinbürgerlichen Massenbewegung keineswegs verschwunden ist. Und sie wird auch nicht verschwinden, wenn die organisierte ArbeiterInnenbewegung, allen voran die Gewerkschaften und SPD, aber letztlich auch die Linkspartei den nationalen Schulterschluss mit „ihrer“ Regierung suchen, während Millionen in Kurzarbeit einen Vorgeschmack auf Entlassung und massive, dauerhafte Einkommenseinbußen erhalten. Das erleichtert, ja ermöglicht es erst radikalisierten, reaktionären UnternehmerInnen und KleinbürgerInnen wie auch den organisierten Nazis, RassistInnen und VerschwörungstheoretikerInnen, sich als aktive, pseudo-systemoppositionelle Kraft zu präsentieren.

Solcherart stellt die rechte Mobilisierung nicht nur ein Warnsignal an die Linke, an die ArbeiterInnenbewegung dar. Sie unterstreicht auch die Notwendigkeit einer Antikrisenbewegung, die klare klassenpolitische Forderungen aufstellt, sich nicht den Programmen der Großen Koalition und des Kapitals unterwirft und gleichzeitig die Gefahr der Pandemie nicht außer Acht lässt. Dies ist die Aufgabe der Stunde für alle anti-kapitalistischen, internationalistischen und proletarischen Kräfte.

Tag der Freiheit?

Der unheimliche Aufmarsch lief unter dem Motto „Ende der Pandemie – Tag der Freiheit“ durch die Straßen Berlins. Die Parole enthält nicht nur die absurde, allen Fakten widersprechende These vom Ende der Pandemie. Sie bringt nicht nur ein Synonym für den zur individuellen Rücksichtslosigkeit gewordenen bürgerlichen Freiheitsbegriff zum Ausdruck – die Freiheit, alle anstecken zu dürfen.

Der Titel enthält eine weitere Doppeldeutigkeit. Schon in den letzten Monaten waren antisemitische und rassistische Tendenz bei den Mobilisierungen immer deutlicher zu erkennen. Mit Attila Hildmann haben wir den Prototyp eines zum Faschismus tendierenden maroden Kleinbürgers, der, wie seine versuchten Hetzjagden auf „Hooligans gegen Satzbau“ und „Anonymus Deutschland“ zeigten, näher an organisierte FaschistInnen angebunden ist, als er es denkt oder darstellt.

Und ja, „Tag der Freiheit“ ist kein neuer Titel. 1935 wurde der Film Leni Riefenstahls „Tag der Freiheit! – Unsere Wehrmacht“ im Auftrag der NSDAP veröffentlicht. Es war der Abschluss ihres filmischen Dreiteilers an Propaganda für Parteitage der FaschistInnen. Doch selbst wenn die Wahl des Mottos purer Zufall wäre – was angesichts der einschlägig rechten OrganisatorInnen kaum glaubhaft ist –, so wäre die Demonstration weiterhin hoch problematisch und es würde an ihrem zutiefst reaktionären Charakter nichts ändern.

Wer nahm teil?

Doch woher kommen die Kräfte politisch? Veranstaltet wurde die Aktion von Initiative Querdenken 711, die den Protest in Stuttgart organisieren, und der Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand (KDW) rund um Anselm Lenz, die die Mobilisierungen am Berliner Rosa Luxemburg Platz initiierten. Daneben nahmen auch VertreterInnen von NPD, Drittem Weg, Identitärer Bewegung, des Compact-Magazins Jürgen Elsässers, AnhängerInnen des QAnon-Mythos, ReichsbürgerInnen, Teile der Pegida-Bewegung und weitere neurechte bis faschistische Kräfte teil.

Sie stellten mit Sicherheit nicht die alleinige Führung und auch nicht die Mehrheit der sich Versammelten dar, aber sie prägen die Bewegung unzweifelhaft. Darüber hinaus waren auch etliche VertreterInnen der AfD vor Ort erkennbar. Die Mehrheit der sich Versammelnden rekrutierte sich vermutlich aus einem breiten Spektrum, welches von esoterischen ImpfgegnerInnen über SkeptikerInnen, die die Maßnahmen für überzogen halten, bis zu vor dem wirtschaftlichen Ruin stehenden KleinunternehmerInnen und ihren Angestellten reicht.

Während die zweite Gruppe vermutlich mehr Menschen bei einem Großevent auf die Straße bringen kann, so haben wir es bei der ersten mit Neurechten und StrategInnen zu tun, die die bunte Bandbreite von wirren Restbeständen der Friedensbewegung bis zu AnhängerInnen des Deutschen Kaiserreiches ausnutzen, um Heterogenität und Pluralismus vorzugaukeln. Deren wahrer Charakter offenbart sich darin, dass sich FaschistInnen in ihrem Fahrwasser aufbauen können. Das reale „Spannungsfeld“ der Bewegung zeigt sich letztlich darin, dass der kleinbürgerlich-unternehmerische Flügel auf ein  Programm der wirtschaftlichen und „kulturellen“ Öffnung pocht, das jedwede Rücksicht auf die gesundheitlichen Risiken für die Bevölkerung ablehnt und damit ganz nebenbei die Lockerungsmaßnahmen der Regierung stützt. Andererseits erleben wir hier eine Bewegung, die die Gefahr des Aufstiegs reaktionärer Kräfte in dieser Krisensituation aufzeigt.

Dass auch vereinzelt „linke“ Kräfte präsent waren, die aus dem Spektrum der Friedensbewegung zu kommen scheinen, macht die Sache nicht harmloser, sondern nur umso bedenklicher. Sie bilden schließlich kein Gegengewicht zu den Rechten, sondern entpuppen sich als deren nützliche IdiotInnen. Waren Formate wie Rubikon und NachDenkSeiten inhaltlich bereits vor Corona an einigen Punkten problematisch, so beschleunigt sich ihr politischer Verfall massiv, während die „Rote Fahne“-Gruppe zunehmend als bewusste Querfrontlerin in Erscheinung tritt.

Dieser Zusammenschluss bildet eine gefährliche Mischung, die tatsächlich lieber im Giftschrank hätte bleiben sollen. Es zeigt uns, unter welchem politischen Vorzeichen wir in diese Krisenperiode gerutscht sind, unter dem eines gesellschaftlichen Rechtsrucks als Folge der Niederlagen des Arabischen Frühlings und der Bewegung in Griechenland, des Aufstiegs des Nationalismus und der Krise der EU sowie der zugespitzten imperialistischen Konkurrenz – bei gleichzeitigem politischen Bankrott der Linken.

Im August 2020 erleben wir das Zusammengehen von Pegida und der Anti-Hygienebewegung, einen Schulterschluss unter Zwillingen. Eine repräsentiert den Rechtsruck des letzten Jahrzehnts in Deutschland, die andere das Gefahrenpotential der aktuellen Periode des Klassenkampfes, wenn die ArbeiterInnenbewegung keine klassenkämpferische Antwort für die Massen zu geben vermag.

Wer und wie viele?

Das genau zu beantworten, ist fast unmöglich. Zwar gab es Ortsschilder, die auf der Versammlung in die Luft gehalten wurden. Aber um wirklich abschätzen zu können, wie viele der sich versammelnden aus dem rechten Spektrum kommen, wie viele durch die Anti-Hygienedemonstrationen politisiert wurden, dafür wäre eine ausführlichere Recherche nötig. Laut Junger Welt kam ein großer Teil der sich Versammelnden aus Baden-Württemberg und Sachsen.

Die Zahlen der TeilnehmerInnen gehen weit auseinander, von 17.500 bis zu reichlich phantastischen 1,5 Millionen. Hierzu muss einiges gesagt werden, aber es ist mit Sicherheit nicht die Hauptfrage, die die Linke beschäftigen sollte. Selbst wenn es „nur“ 17.500 Menschen waren, so ist das die größte Berliner Mobilisierung von rechts in diesem Jahr. Was die Hauptstadt betrifft, so ist sie vergleichbar mit der Black-Lives-Matter-Kundgebung im Juni am Berliner Alexanderplatz, bei der mindestens 20.000, wahrscheinlich sogar über 30.000 Menschen protestierten.

Ein Artikel vom Volksverpetzer vom 2. August kalkuliert eher mit 17.000 Menschen, ähnlich den Polizeiangaben. Dabei legt er die Grundfläche der Abschlusskundgebung den Berechnungen zugrunde und geht von einer durchschnittlichen Mensch-Flächen-Dichte von einer Person pro Quadratmeter aus, was 17.000 Menschen ergibt. Für seine Berechnungen zieht er außerdem Vergleiche mit den Bildern der Loveparade von 1999, bei der 1,4 Millionen Menschen auf der Straße des 17. Juni waren.

Hiermit zeigt er eindrucksvoll, wie viel größer die letztere Veranstaltung war. Persönlich war der Autor bei keiner der beiden vor Ort, hält jedoch das Verhältnis von einer Person pro Quadratmeter für etwas viel Platz über die gesamte Strecke, aber selbst bei 0,75 oder 0,5 Quadratmeter pro Menschen wären es lediglich knapp 23.000 beziehungsweise 34.000 TeilnehmerInnen.

Für die Teilnehmenden und ihre Chatgruppen wird die Zahlendebatte irrelevant, halten sie doch jedwede Berichterstattung gegen sie für gleichgeschaltet. Das zeigen auch die Einschüchterungsversuche gegenüber der Presse vor Ort. Mehrere Fernsehteams sahen sich gezwungen, ihre Berichterstattung abzubrechen. Die VeranstalterInnen forderten von jeder teilnehmenden ReporterIn eine Voranmeldung, in der diese unterzeichneten, dass sie stets „wahrheitsgemäß, unparteiisch und vollständig berichten“ – worunter sie ihre eigene „Wahrheit“ verstehen. Wie schon bei den rechten Demonstrationen in Stuttgart wollen diese selbsternannten VerteidigerInnen der Meinungsfreiheit missliebigen JournalistInnen einen Maulkorb verpassen, diese zensieren.

Rücksichtslosigkeit als Programm

Die Darstellung des Corona-Virus schwankt in der Bewegung zwischen der Beschreibung als regulärer Grippewelle und einer bloßen Fiktion einer „globalen, homogenen Elite“ von MultimilliardärInnen wie Bill Gates und der Pharmaindustrie, die die Politik und die Medien gleichgeschaltet hätten. Auch wenn die Einschätzungen auseinandergehen, so finden sie doch ihren gemeinsamen Punkt in der Ablehnung jedweder Einschränkung aufgrund von SARS-CoV-2, seien sie noch so geringfügig wie das Tragen von Mund-Nasen-Masken im öffentlichen (Eng-)Raum.

Die Freiheit, die sie meinen, entpuppt sich als Rücksichtslosigkeit, als blanker Egoismus. Diese Doppelbödigkeit ist der Freiheit im Kapitalismus selbst nicht fremd. Schließlich beinhaltet die Freiheit des Privateigentums, die diesem System zugrunde liegt, die Freiheit der einen, uneingeschränkt wirtschaften zu können, das Elend und die Eigentumslosigkeit anderer auszunutzen – ob im Ausbeutungsverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital oder in der Unterordnung von Gesundheit und Umwelt unter die privaten Profitinteressen. Wir sagen es offen: Diese falsche Freiheit brauchen wir nicht zu verteidigen. Wir tragen MN-Masken, damit die Einschränkung des Virus möglichst erfolgreich sein kann. Auch wenn es uns individuell um ein Quantum unseres üblichen Alltagsverhaltens einschränkt, so ist dies doch notwendige gegenseitige Rücksicht unter den gegebenen Bedingungen (fehlender Impfschutz, keine flächendeckenden Tests auf Infektion und Immunität).

Andererseits dürfen wir nicht dem Trugschluss auf den Leim gehen, dass sich die Existenz von Corona dadurch bestätigt oder falsifiziert, nur weil auf der einen oder anderen öffentlich stattfindenden Massenveranstaltung (k)eine Infizierung stattfindet. Auch auf Demonstrationen und Aktionen treten wir wie alle anderen Linken, die die Gesundheitsfrage – und damit die Lebensinteressen der Bevölkerung – ernst nehmen, dafür ein, Masken zu tragen. Zugleich lehnen wir aber jede politische Einschränkung des Demonstrationsrechts durch die Regierungen ab, weil wir für notwendigen Schutz gegen Gesundheitsgefährdung und die Abwälzung der Krisenkosten auf die ArbeiterInnenklasse alle Mittel des politischen und gewerkschaftlichen Kampfes brauchen werden – ansonsten drohen Massenentlassungen, Verelendung, Wohnungsräumungen etc.

Während sich die Corona-SkeptikerInnen als Opfer der Repression und der Unterdrückung wegen ihres Verstoßes gegen die Hygiene-Vorschriften hinstellen, offenbart das brutale Vorgehen der Berliner Polizei gegen eine Solidaritätsdemonstration mit der/dem von der Räumung bedrohten linken Kneipe/Treffpunkt Syndikat, wo der Staat den/die wirkliche/n GegnerIn ausmacht. Dutzenden TeilnehmerInnen dieser linken Demo gegen Räumung und Gentrifizierung wurden von der Straße geknüppelt, niedergerannt und zum Teil schwer verletzt – und das obwohl sie Masken trugen und auf die Gesundheitsvorschriften achteten. Wenn es um Repression von Protest für fortschrittliche soziale oder politische Anliegen geht, pfeift nicht nur die Berliner Polizei freilich auf Hygiene-Schutz und wird zum doppelten Gesundheitsrisiko.

Natürlich versuchen auch die Corona-SkeptikerInnen, für ihre Mobilisierung solche und andere reale Missstände mit auszunutzen – freilich nur, um sie in eine reaktionäre Gesamtkonzeption einzupassen. Wir werden diese demagogischen Tricks freilich nicht bloß durch Argumente abwehren können. Die ArbeiterInnenbewegung und die Linke müssen ihrerseits die Maßnahmen der Regierung einschließlich ihrer Widersprüche anprangern.

So will die GroKo für UrlauberInnen an Flughäfen verpflichtende Tests einführen. Zwar halten wir das prinzipiell für gerechtfertigt, jedoch stellen sich hier einige Fragen wie: Wer zahlt die Tests? Wer zahlt für mögliche Quarantäneschritte? Ist das dann unbezahlter Urlaub? Kommt das Unternehmen dafür auf? Wieso erhält die Reiseindustrie solche Hilfsmittel, aber der gesamte Pflegebereich nicht? Ein weiteres Beispiel ist der drohende Missbrauch mit notwendigen Einschränkungen des Alltags. So wurden von der Polizei in den letzten Wochen in bereits vier Bundesländern die Anwesenheitslisten von öffentlichen Gaststätten für „Ermittlungen“ missbraucht.

Das zeigt, dass wir niemals blindes Vertrauen in die Einschränkung demokratischer Rechte durch einen bürgerlichen Klassenstaates setzen dürfen. Wir müssen eine unabhängige Perspektive aufzeigen, die sich nicht der Ideologie des notwendigen Übels an allen Ecken und Enden anschließt. Deshalb lehnen wir die Zusammenarbeit der Gewerkschaftsführungen mit den Maßnahmenpaketen der GroKo im Schulterschluss mit den UnternehmerInnenverbänden kategorisch ab. Die selbstauferlegte Friedenspflicht der ArbeiterInnenbürokratie muss politisch bekämpft werden. Die Passivität von Oppositionsparteien wie der Linkspartei darf nicht unkommentiert bleiben. Es ist auch ihr Stillschweigen, das das Erstarken dieser neurechten Bewegung ermöglicht.

Was brauchen wir?

Wir brauchen also eine Bewegung, die Widerstand gegen die Maßnahmen von Staat und Kapital organisiert und gleichzeitig das gesundheitliche Wohl durch von der ArbeiterInnenklasse kontrollierte Hygienemaßnahmen durchsetzt. Eine solche Bewegung muss die falsche Opposition von Querdenken 711, Widerstand 2020 und KDW, die in braunen Gewässern fischen und gefischt werden, ablehnen. Wo nötig, muss sie sich ihnen entgegenstellen. Vor allem müssen wir eine breite Anti-Krisenbewegung aufbauen, die eine klassenpolitische Antwort auf die Krise gibt.

Wir brauchen eine Zusammenführung der verschiedenen sozialen Kämpfe der letzten Monate, z. B. der beeindruckenden Mobilisierungen von BLM und von Kampagnenorganisationen wie Migrantifa oder der Fridays-for-Future-Bewegung, die im September wieder einen internationalen Streik organisieren möchte. Wir müssen betriebliche Aktionen wie gegen die Entlassungen bei Galeria Karstadt Kaufhof miteinander ebenso verbinden wie mit dem Kampf für das Mietmoratorium, die Enteignung der Immobilienkonzerne oder die #LeaveNoOneBehind-Kampagne gegen das Sterben im Mittelmeer.

Die Aufgabe dieser Bewegungen und Kämpfe ist es, gemeinsame Antikrisenbündnisse aufzubauen und eine Großdemonstration im Herbst unter dem Motto „Wir zahlen weder für Krise noch Virus“ zu organisieren. Sie müssen den Druck auf die Gewerkschaften und bürgerlichen ArbeiterInnenparteien erhöhen, mit Koalitionspolitik und SozialpartnerInnenschaft zu brechen. In den vergangenen Monaten haben diese bewiesen, dass sie nicht willens sind, selbstständig solche Bewegungen aufzubauen – wir müssen sie dazu zwingen! Nur so kann der ArbeiterInnenklasse, aber auch auch Teilen des verängstigten KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten gezeigt werden, dass der Widerstand gegen die Rettungspakete fürs Kapital, während ein Großteil der Bevölkerung mit Brotkrumen abgefertigt wird, möglich ist und mit dem Kampf gegen die Gesundheitsgefahr verbunden werden kann und muss.

Wir werden versuchen, nach unseren Möglichkeiten, eine solche Bewegung aufzubauen und fordern alle Organisationen und Parteien, die diese Einschätzung teilen, auf, ihr beizutreten, das Notwendige zur Wirklichkeit werden zu lassen.




Was ist eigentlich die Polizei?

Jonathan Frühling

Der Mord an George Floyd erschütterte die Welt und führte zu einem Aufwallen von Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt, überall fanden Demonstrationen in Solidarität mit den rassistisch Unterdrückten in den USA statt, jedoch verbanden die Protestierenden ihre Forderungen auch mit lokalen Themen. Insbesondere ist der Kampf gegen Polizeigewalt im Fokus. So gingen beispielsweise in Kenia tausende Menschen auf die Straße, um gegen die willkürliche Gewalt zu demonstrieren, die die Polizei dort zur Durchsetzung der nächtlichen Ausgangssperren einsetze. 15 Menschen wurden von ihr dort während des Lockdowns ermordet.

Daher
wollen wir hier untersuchen, was genau die Polizei eigentlich ist und
welche Funktion sie in unserer Gesellschaft erfüllt und was ihre
Interessen bestimmt.

Die Funktion der Polizei

Geschichtlich
ist die Polizei als eine Institution bezahlter Beamt_Innen
zur Aufrechterhaltung des staatlichen Gewaltmonopols in Europa und
den USA in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert entstanden. Sie
wurde durch die zunehmende soziale Komplexität im Zuge der
Industrialisierung und des Bevölkerungswachstums notwendig.

Die
Aufgabe der Polizei wurde in Deutschland mit dem sogenannten
Kreuzbergurteil von 1882 eindeutig als die Aufrechterhaltung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung definiert. Die Polizei ist also
die institutionalisierte und monopolisierte Gewalt des Staates.
Soweit so gut. Doch welche Interessen vertritt der Staat? Dies zu
klären ist leicht, wenn man sich anschaut, was die Regierungen
machen. So wurden z.B. in
Deutschland durch die Agenda 2010 Kündigungsschutz gelockert,
Arbeitslosengeld gesenkt und schlecht bezahlte und befristete Jobs
zum Standard in Deutschland. Eindrucksvoll kann man das auch bei der
Rettung der Lufthansa sehen, wo 9 Mrd. in den Konzern gepumpt werden
und trotzdem 26.000 Menschen entlassen werden sollen. Der Staat
agiert also nicht neutral und für alle Menschen, sondern im
Interesse der Kapitalist_Innen, deren Interessen unserem direkt
entgegengesetzt sind. Mit „Aufrechterhaltung der Ordnung“ ist
letztlich nur die Aufrechterhaltung des Privatbesitz an
Produktionsmitteln und die Ausbeutung der Arbeiter_Innenklasse
gemeint.

Die
Polizei weiß ganz genau, wer die bürgerliche „Ordnung“ am
meisten gefährdet. Dies sind besonders arme Menschen,
Drogenabhängige, Wohnungslose, Prostituierte, linke politische
Aktivist_Innen, People of Colour (PoC); sprich gesellschaftliche
Gruppen, die eine besondere Unterdrückung im Kapitalismus erfahren,
von ihm regelmäßig zerkaut und an den Rand der Gesellschaft
gespuckt werden. Deshalb tritt die Polizei dem großen Teil der
Bevölkerung auch nicht als Helferin, sondern als erbitterte Feindin
gegenüber.

Die soziale Stellung der Polizei

Um
die Interessen und damit das Handeln einer Bevölkerungsgruppe zu
erfassen, ist es wichtig, ihre soziale und ökonomische Stellung zu
ergründen. Die Polizei wird direkt vom Staat bezahlt, weshalb ihre
Existenz mit dem bürgerlichen Staat und damit mit der gesamten
bürgerlichen Gesellschaft steht und fällt. Anders als
beispielsweise Lehrer_Innen
oder vom Staat bezahlte Sozialarbeiter_Innen würde ihre Rolle in der
Gesellschaft im Sozialismus mit dem Staat verschwinden. Grund
dafür ist, dass dort die gesellschaftlich notwendigen
Aufgaben, die die Polizei jetzt inne hat wie bspw. das
Aufklären von Morden, von Komitees oder Milizen der
Arbeiter_Innenklasse ausgeführt würden. Sie haben also ein direktes
ökonomisches Interesse den bürgerlichen Staat und damit den
Kapitalismus aufrechtzuerhalten. Die kapitalistische Gesellschaft
definiert sich durch die Herrschaft der Kapitalist_Innenklasse. Also
wollen sie um jeden Preis die Herrschaft dieser Klasse manifestieren.

Zudem
hat die Polizei stets ein Interesse daran ihre eigenen Strukturen zu
erhalten und zu erweitern. Deshalb kann sie auch an einer
tatsächlichen Senkung der Kriminalität kein Interesse haben. Mehr
Straftaten können auch mehr Befugnisse oder mehr Personal
legitimieren. So werden z.B. Terroranschläge von den
Repressionsorganen dankend aufgenommen, um ihre Macht auszubauen. Die
Tendenz des Machtausbaus bringt die Polizei automatisch in die Nähe
politisch rechter Gruppierungen, die sich einen größeren
Repressionsapparat wünschen.

Um
ihre Interessen gegenüber der Gesellschaft und vor allem gegenüber
dem restlichen Staat durchzusetzen, betreibt die Polizei
Lobbyorganisationen, die sich z.B. für lockerere Gesetze und mehr
Waffen für die Polizei einsetzen oder angeklagte Bullen vor Gericht
unterstützt. Verwirrenderweise werden diese Organisationen
Polizeigewerkschaften genannte, obwohl sie den Interesse der
Arbeiter_Innenklasse entgegenstehen und mit Gewerkschaften rein gar
nichts zu tun haben.

Es
ist außerdem wichtig festzustellen, dass die Polizei ihren Apparat
selbst erneuert. Keine Person, die direkt zum Polizeiapparat gehört,
wird demokratisch gewählt. Deshalb werden sie von politischen
Machtwechseln auch kaum berührt und entziehen sich jeder
demokratischen Kontrolle. Das gilt übrigens für Richter und
Staatsanwälte gleichermaßen.

Bewusstsein der Polizei

Bei
den Handlungen der Polizei sind reine Verhaftungsquoten sicherlich
nicht der entscheidende Beweggrund für ihr Handeln. Dann könnte sie
weiße Jugendliche auf Studipartys genauso nach Kleinstmengen
Cannabis durchsuchen, wie migrantische Jugendliche in Parks. Trotzdem
sind die Letzteren viel mehr von Polizeikontrollen betroffen. Warum?

Seit Marx wissen wir, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein
eines Menschen prägt. Es wird also durch die sozialer Stellung und
die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gebildet. Man muss sich also
anschauen, was die/der einzelne Polizist_In auf der Straße tut, um
zu ergründen was sich in ihrem/seinen Bewusstsein widerspiegelt.
Damit ist auch gemeint, wie genau Gesetze ausgelegt, bzw. inwiefern
sie bewusst überschritten werden, wen sie kontrolliert oder wie sie
z.B. People of Colour behandelt. Wieso die Polizei linke
Vorstellungen ablehnt und bekämpft sollte durch den Abschnitt
„Funktion der Polizei“ klar geworden sein. Stattdessen soll sich
hier vor allem auf die Frage bezogen werden, wieso die Polizei ein
überdurchschnittliches rassistisches Bewusstsein prägt.

In
unserer heutigen Gesellschaft herrscht eine rassistische Ideologie
vor. Grundlage dafür ist der Wille des Kapitals die Bevölkerung
anhand von ethnischen, religiösen und nationalen Unterschieden zu
spalten, um so ihre eigene Herrschaft zu sichern und Ausbeutung zu
legitimieren. Die tatsächlich Teilung der Gesellschaft auf Grundlage
von ökonomischen Klassen wird somit verschleiert.

In
diesem Sinn sind auch z.B. die Aushebelung des Asylrechts und die
rassistische Hetze durch alle bürgerlichen Parteien zu verstehen.
Mit der rassistischen Lüge, dass mit den Geflüchteten auch ohne
Ende Terrorist_Innen nach Deutschland kommen, lassen sich mehr
Überwachung und Polizeibefugnisse rechtfertigen.

Die
Polizei setzt die rassistische Regierungspolitik in die Tat um. Sie
schließt die Grenzen, greift „illegale“ Migrant_Innen auf und
führt Abschiebungen durch. Sie ist also direkt mit der Aufgabe
betraut gegen den deklarierten ausländischen Feind vorzugehen. Die
Polizei ist deshalb in ihrer Funktion, ihrem Denken und Handeln einer
der extremsten Ausdrücke dieser Politik. Das rassistische
Bewusstsein materialisiert sich so bei der Polizei in einer
verschärften Form. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass
auch in Deutschland Racial Profiling zum
Standardverfahren gehört.

Ältere
und hochrangigere Polizist_Innen
haben eine viel bessere und bewusstere Einsicht in die allgemeine
Politik und ihre eigene gesellschaftliche Stellung und sind über
Innenministerien eng mit den Regierungen verbunden. Sie verkörpern
deshalb das Bewusstsein der Polizei in einer höheren Form. Durch
ihre Polizeitaktiken, Einsatzkonzepte oder Prügelbefehle
durchdringen ihre Vorstellung und ihr Bewusstsein den gesamten
Apparat. Dieser Effekt findet auf allen Ebenen der Hierarchie statt.
Die Polizei ist unter anderem deshalb nicht die Summe der
Vorstellungen der Individuen. Vielmehr ist sie eine gigantische und
streng hierarchisch aufgebaute Organisation, die unterdrückerisches
Bewusstsein reproduziert. Der damit verbundene Korpsgeist zieht
vermehrt Rechte an, da sich diese mit der Praxis und dem Bewusstsein
der Polizei besonders identifizieren können.

Die
Anwendung von Gewalt wird über
ihrer Arbeit dem/der einzelnen Beamt_In zur Normalität und in
das Sein integriert. Zukünftige Situationen werden deshalb eher mit
der Anwendung von Gewalt gelöst werden. Wie sehr die Arbeit auf der
Straße das Bewusstsein der Polizist_Innen prägt zeigt eine Studie
aus den USA, die beweist, dass Polizist_Innen 2 bis
4 mal häufiger zu häuslicher Gewalt neigen, als durchschnittliche
Menschen.

Handlungs(spiel)räume im polizeilichen Handeln

Besonders
auf der niedrigsten Ebene (dem gewöhnlichen Streifendienst) hat die
Polizei einen großen Interpretationsspielraum, was ihre eigenen
Rechte und die explizite Situation anbelangt. Wann z.B. eine
Notwehrsituation eintritt, entscheidet der/die handelnde Polizist_In
immer selbst. Richter_Innen
und Staatsänwalt_Innen
decken deren Interpretation in der Regel. Sie tun dies, um ihrer
Aufgabe gerecht zu werden das Gewaltmonopol des Staates
aufrechtzuerhalten. Falsche Zeugenaussagen gehören ebenso zu diesem
System, wie politisch geführte Prozesse, bzw. Schauprozesse [1].

Des
Weiteren werden Gesetze absichtlich so geschrieben, dass sie
weitreichende Interpretationen ermöglichen. Begriffe, wie
„Gefahrenabwehr“, „Aufrechterhaltung der öffentlichen
Sicherheit“, sowie der 2018 eingeführte Begriff der „drohenden
Gefahr“ und des/der „Gefährders/Gefährderin“ sollen hier als
eindrückliche Beispiele dienen. So kann in Bayern beispielsweise
eine gefährdende Person zwei Monate ohne Prozess hinter Gitter
gebracht werden. Dabei kann dies eine Person sein, die nachweisbar
plante einen Terroranschlag durchzuführen, es kann aber auch eine
Person sein, die auf eine Demo wollte, aus der möglicherweise eine
Flasche geworfen wird. Diese Art der Rechtsauslegung versucht die
Polizei beständig auszuweiten, was in Deutschland seit 2018 mit
alarmierender Geschwindigkeit passiert.

Durch
die Einführung dieser Begriffe als auch durch die nunmehr erlaubten
Austausch von Informationen zwischen Polizei und Geheimdiensten wird
die Trennung von Polizei und Geheimdienst weiter verwässert. Dies
ist ein Prozess, der mit den verdachtsunabhängigen Kontrollen in den
80er Jahren begann, wo die Polizei erstmals präventiv handeln
durfte. Diese Trennung wurde von den amerikanischen
Besatzungsbehörden eingeführt, um eine allmächtige Institution,
wie die geheime Staatspolizei der Nazis zu verhindern.

Auch
wird die Polizei durch die neuen Polizeigesetze z.B. mit
Handgranaten, Elektroschockern und Maschinenpistolen ausgerüstet,
was eine massive Militarisierung der Polizei bedeutet. Dies erweitert
natürlich wieder den praktischen Handlungsraum der Polizei, den
diese in Zukunft sicherlich auch nutzen wird.

Gesetze
sollen als Mittel dienen das polizeiliche Handeln zumindest
juristisch einzuhegen und zu kontrollieren. Die Aufrechterhaltung der
kapitalistischen „Ordnung“ ist jedoch als Aufgabe den Gesetzen
übergeordnet. Bei der Aufrechterhaltung der kapitalistischen
Gesellschaft hat die Polizei deshalb eine starke Tendenz die
rechtlichen Grenzen ihrer Arbeit immer wieder massiv zu
überschreiten. So wird z.B. gegen Fußballfans regelmäßig
exzessive Gewalt eingesetzt, friedliche Demonstrant_Innen
mit Schlagstock und Pfefferspray attackiert oder gezielt People of
Colour kontrolliert und erniedrigt.

Die Polizei agiert politisch nicht neutral

Es
wird an dem Agieren der Polizei immer wieder deutlich, dass sie mit
ihrem Handeln auch politische Ziele durchsetzt und dabei auch offen
rechtliche Rahmenbedingungen missachtet.
Das ist aus ihrer
Sicht nicht weiter bedrohlich, da der staatliche Justizapparat oft
genug zu Gunsten der Polizei entscheidet, mit ihr verbunden ist und
so die in der Schule uns hoch gepriesene Gewaltenteilung lächerlich
macht.

Besonders
drastischer waren bspw. die Ausschreitungen des bürgerlichen
Repressionsapparates gegen die Proteste gegen den G20 Gipfel in
Hamburg. In weiten Teilen der Stadt wurden theoretisch geltende
Grundrechte, wie z.B. die Versammlungsfreiheit vollständig und
offiziell außer Kraft gesetzt (Stichwort „Blaue Zone“). Die
Auftaktdemo am Donnerstag wurde durch Schlagstockgewitter und
massiven Einsatz von zwei Wasserwerfern nach 30m zerschlagen. Zudem
zielten die Bullen mit ihren Schlagstöcken während der gesamten
Protestwoche gezielt auf Köpfe und verursachten so unzählige
Platzwunden. Alle diese Maßnahmen waren durch bürgerliches Recht
nicht gedeckt.

Interessant
ist dagegen, wie die Polizei rechte Demos hofiert. So sorgte sie z.B.
dafür, dass bei den Einheitsfeierlichkeiten in Dresden die Rechten
bis auf Rufweite an die Regierungsspitze herankam. Auch die rechten
Demos gegen die Coronamaßnahmen der Regierung wurden von der Polizei
mit tausenden Teilnehmer_Innen geduldet. Ein Grund dabei war
sicherlich, dass diese Demonstrationen das Interesse des kleinen und
großen Kapitals vertraten, dem die Polizei letztlich dient. Der zur
gleichen Zeit von Linken organisierte 1.
Mai dagegen wurde von der Polizei mit massiver Repression getroffen.

Wieso
der Polizeiapparat die Rechten unterstützt und Linke bekämpft ist
einfach aus deren Politik abzuleiten. Die Linke kämpft für mehr
Freiheit der großen Masse der Bevölkerung. Dazu gehören z.B.
weniger Überwachung, durchlässigere oder offene Grenzen, mehr
Versammlungsfreiheit. Kurzum, alles Maßnahmen, die die
Unterdrückungsaufgaben, die die Polizei ausführt, überflüssig
macht.

Die
Rechte dagegen tritt für das Gegenteil ein. Sie will die Grenzen
dicht machen, Minderheiten unterdrücken, Meinungs- und
Versammlungsfreiheit massiv beschneiden, (Klein)kriminalität stärker
verfolgen usw. Dafür ist jedoch ein größerer und mächtigerer
Polizeiapparat notwendig. Deshalb wirbt die AfD auch damit die
Repressionsorgane aufzurüsten und macht sich damit viele
Freund_Innen in der Polizei.

Unser Recht, unsere Ordnung…

Was
ist Recht?

Marx
und Engels schrieben in ihrem kommunistischen Manifest,
dass die momentan geltenden Gesetze keine naturgegebenen und
immer gültigen Rechtsvorstellungen sind. Sie sind im Gegenteil
ausschließlich von den Bedürfnissen der herrschenden Klasse
geprägt. Freie Konkurrenz und das Recht auf Privateigentum an
Produktionsmitteln zeichnen die bürgerliche Gesellschaft aus und
sind deshalb im Gesetz festgeschrieben. Wenn es der herrschenden
Klasse nützt werden die Gesetze jedoch vom Staat gebrochen. So kann
in einem Kriegsfall aus einem: „Du sollst nicht töten.“ schnell
mal ein „Du sollst töten.“ werden. Eine sozialistische
Gesellschaft dagegen basiert auf dem gemeinschaftlichen Besitz der
Produktionsmittel, was sich auch in Gesetzesform niederschlagen
würde.

Lenin
vereinfacht die Aussage von Marx und Engels und bezieht sie auf die
Klasse der Lohnabhängigen: „Recht ist was der proletarischen
Klasse nützt.“ So finden wir es z.B. legitim Waffentransporte in
den Jemen zu verhindern, wobei wir damit in Konflikt mit dem
bürgerlichen Recht kommen.

Ordnung
im Sozialismus

Klar
ist, dass wir die staatlichen und nicht-staatlichen
Repressionsorgane, wie das Militär, die Polizei, die Geheimdienste,
private Sicherheitsfirmen oder faschistische Milizen zerschlagen
müssen. Doch was setzen wir an deren Stelle, um unserer Interessen
und unsere Vorstellung von Recht umzusetzen?

Für
den Übergang von einer kapitalistischen zu einer kommunistischen
Gesellschaft wird es zwar noch einen Staat geben, dieser wird sich
jedoch anders als heute auf die überwiegende Mehrheit der
Gesellschaft stützen und deshalb geneigt sein deren Programm
umzusetzen. Statt nationaler Abschottung und institutionalisierten
Rassismus wären eine Verteidigung offener Grenzen und praktischer
Internationalismus zu erwarten.

Bei
der Durchsetzung dieses Programms wird sich der Staat auf die breite
Mehrheit der Bevölkerung stützen. Heute werden Polizei und Justiz
von einer kleinen Gruppe privilegierter Menschen kontrolliert, die
ihrer Aufgaben im Sinne einer reaktionären
Gesellschaft umsetzen. Wir stellen uns vielmehr vor, dass alle
Menschen an Aufgaben, wie z.B. der Kriminalitätsbekämpfung
beteiligt sind. Natürlich muss es immer noch Spezialist_Innen geben,
die sich mit Spurenaufklärung o.Ä. auskennen. Jedoch sollen in den
Vierteln, der Schule oder dem Betrieb die dort verkehrenden Menschen
befähigt werden z.B. Rassismus zu erkennen und ihm entgegenzutreten.
In den Nachbarschaften militant organisierte Frauenschutzkomitees
sollen häuslicher Gewalt bekämpfen.

Überall
dort, wo Gerichtsverhandlungen zu Klärung der Umstände nötig sind,
sollen diese durch Menschen der Unterdrückten – durch
Arbeiter_Innentribunale organisiert werden. Diese sollen am Ende auch
das Urteil sprechen. Die Urteile fallen somit natürlich vom
Standpunkt der lohnabhängigen Bevölkerung.

Forderungen im Kampf gegen die Polizei

Im
Kampf gegen das rassistische Repressionsorgan Polizei stellen wir
folgende Forderungen auf:

  • Defund the
    police! Keine Finanzierung der Polizei. Das Geld brauchen wir für
    Sozialleistungen, Bildung oder sozialen Wohnungsbau!
  • Polizei aus
    dem DGB schmeißen! Bullen gehören nicht zur Arbeiter_Innenklasse,
    sondern sind die Schlägertruppe des Kapitals!
  • Kein
    Massenüberwachung z.B. durch, Vorratsdatenspeicherung,
    Bundestrojaner, Videoüberwachung usw.!
  • Kein Racial
    Profiling und ein hartes
    Aburteilen von Bullen, die Racial Profiling anwenden!
  • Polizist_Innen, die gewalttätig werdem, sollen vor Volksgerichte
    gestellt und diese bei Bedarf abgeurteilt werden! Dafür müssen sie
    durch ein individuelles Erkennungszeichen identifizierbar sein!

  • Kein
    Militarisierung der Polizei. Sofortige Entwaffnung der Polizei, vor
    allem, was Taser, Maschinenpistolen, Knarren und Handgranaten
    angeht!
  • Schlussendlich: Organisiert militanten Selbstschutz. Vor den
    Angriffen von Sexist_Innen, Faschos, der Mafia (und der Polizei)
    müssen wir uns selbst verteidigen! Für Arbeiter_Innenmilizen
    anstelle der Polizei! Für die Zerschlagung der Polizei durch eine
    solche Miliz!

[1]
Politisch geführte Prozesse sind Prozesse, bei denen das Urteil dem
Kampf gegen linke Politik dient und um Vorhinein schon feststeht. Der
Prozess dient dann nur noch der (meistens offensichtlich falschen)
Legitimation solcher Urteile.