Der deutsche Staat auf Kriegskurs

auf Basis eines Artikels von Martin Suchanek, Oktober 2023, zuerst veröffentlicht in der Infomail der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Einstimmig beschloss der deutsche Bundestag am 12. Oktober den von SPD, Grünen, FPD und CDU/CSU vorgelegten Antrag zur Lage in Israel. Davor erklärte Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung: „Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“

Auch die Fraktionen von AfD und DIE LINKE applaudierten und stimmten dem Antrag zu. Wenn es um die Staatsräson des deutschen Imperialismus geht, will im Bundestag offenkundig niemand beiseitestehen.

Bedingungslose Solidarität mit Israel …

Dabei läuft der Beschluss auf nichts weniger hinaus als eine Unterstützung der Bombardierung Gazas und der bevorstehenden Bodeninvasion durch die israelische Armee. Die Absicht der israelischen Regierung und des neu ernannten Notstandskabinetts, Gaza faktisch dem Erdboden gleichzumachen und keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, ficht den deutschen Bundestag nicht an. Für die Toten der Bombardements durch die israelische Luftwaffe und durch Bodentruppen wird einfach die Hamas als verantwortlich erklärt.

Und diesmal sollen, so Regierung und Opposition in seltener Einmütigkeit, den Worten auch Taten folgen. Zivile Tote in Gaza seien, so erklärt Außenministerin Baerbock, leider unvermeidlich – und zwar aufgrund der „perfiden“ Taktik der Hamas, ihre Kämpfer_Innen nicht auf offenem Feld zum Abschuss aufzustellen, sondern sich zu verschanzen. Geflissentlich ignoriert sie dabei das Offenkundige, dass in jedem Krieg besonders die verteidigende oder die militärisch unterlegende Seite im Schutz der eigenen Bevölkerung agiert.

Das hat auch seinen Grund. Der Bundestag, die Regierung, die gesamte Opposition und sämtliche „etablierten“ Medien missbrauchen die Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Ausbruchs der von Hamas geführten palästinensischen Kräfte aus Gaza zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines brutalen Krieges gegen die dortige Bevölkerung. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen.

… bedingungslose Unterstützung des Krieges gegen Palästina

Parallel zur Debatte im Bundestag untermauert das Verteidigungsministerium die deutsche Solidarität mit Israel. So will Deutschland Munition für Kriegsschiffe liefern, Drohnen zur Verfügung stellen und Schutzausrüstung für die IDF schicken. Israel, so heißt es in der Entschließung, sei im Krieg „jedwede Unterstützung zu gewähren.“ Dass die Regierung, die Unionsparteien, die AfD zustimmen, verwundert niemanden. Doch auch sämtliche anwesenden Abgeordneten, alle Flügel der „Friedenspartei“ DIE LINKE wollen sich an diesem Tag der Staatsräson nicht entziehen und stimmen für einen Krieg im Nahen Osten, der „Frieden“ durch die Vernichtung jedweden Widerstandspotentials der Palästinenser_Innen bringen soll.

„Jedes Hamas-Mitglied ist ein toter Mann“, verkündet Netanjahu. Die neu geformte israelische Notstandsregierung verwendet dabei Hamas als Codewort für alle Palästinenser_Innen, die Widerstand gegen die Besatzung und Vertreibung leisten und weiter leisten wollen.

Daher zielt die israelische Strategie auf die Säuberung und Vertreibung der gesamten Bevölkerung von Gaza-Stadt. Innerhalb von 24 Stunden sollen diese den Norden Gazas verlassen oder es drohen „verheerende humanitäre Konsequenzen“ – eine unverhohlene Drohung mit dem Mord an Tausenden und Abertausenden.

Mit den Stimmen der Linkspartei verdreht der Bundestag einmal mehr die Ursachen des sog. „Nahostkonflikts“, indem die führende Rolle der reaktionären islamistischen Hamas in Gaza zur Ursache des „Konflikts“ uminterpretiert, so getan wird, als bestünde das zentrale Hindernis für „Frieden“ im „Terrorismus“ der Hamas, des Islamischen Dschihad, von PFLP und DFLP oder anderen palästinensischen Gruppierungen. Würden diese vernichtet, wäre alles wieder gut und die israelische „Demokratie“ müsste nur auf die Palästinenser_Innen ausgedehnt werden, die dann – jedenfalls in der Traumwelt des Bundestages – sogar einen eigenen Staat kriegen könnten, auf dem Gebiet, das noch nicht von Israel übernommen und annektiert ist.

In Wirklichkeit bildet die Ideologie der Hamas eben nicht den Kern des Problems. Als Revolutionär_Innen haben wir diese immer abgelehnt und treten wir für ein Programm der permanenten Revolution ein, für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina, der Palästinenser_Innen wie Jüd_Innen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser_Innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zur regeln.

Der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser_Innen basiert, ist mit einer solchen Lösung jedoch unvereinbar. Solange dieser Palästina kontrolliert, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden geben. Letztlich wird das Gebiet auch nicht von der Hamas beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist_Innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas und ihres Regimes in Gaza. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von Zivilist_Innen ab. Diese erleichtert es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza als „Selbstverteidigung“ hinzustellen. Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist_Innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker_Innen und aller, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehören leider auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter_Innenklasse. Der Ausbruch der Palästinenser_Innen am 7. Oktober war ein verzweifelter Aufstandsversuch Gazas nach Jahrzehnten der Isolierung, Aushungerung, Entrechtung, von Bombardements und Vertreibung und damit Teil des palästinensischen Widerstands.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands wie auch der Kampf gegen politisch falsche und kontraproduktive Aktionsformen darf daher keineswegs zu einer Abwendung von dem gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker_Innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter_Innenklasse den Kampf um nationale Befreiung auch gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.




Der Höhenflug der AfD

Von Vladlen Uljanow, Oktober 2023, Revolution Zeitung September 2023

Erstmals besetzt ein Politiker der AfD das Amt des Landrats in Thüringen, in Sachsen-Anhalt stellt sie einen Oberbürgermeister und auch in den Wahlprognosen nimmt die AfD wieder ordentlich Schwung auf. Betrachten wir die Entwicklung der AfD in den letzten Wochen und Monaten so scheint es erschreckend. Doch woran liegt das?

Der Kapitalismus, die bürgerliche Demokratie sowie die politische Linke stecken in einer tiefen Krise und die AfD weiß es, sich diese Faktoren zu eigen zu machen und darauf rechtspopulistische Antworten zu liefern. Diese stellen aber nicht eine Lösung für die Probleme dar, verschärfen sie viel mehr. Doch sie können den Unmut für ihre eigene Agenda umlenken und für Wahlstimmen und Proteste mobilisieren. Damit treiben sie die gesamte politische Landschaft nach rechts und werden dabei selbst immer rechter! Dagegen brauchen wir standfesten linken Widerstand!
Doch der Reihe nach: Was ist eigentlich gerade die Situation?

Die ökonomische Krise:

Schon die Pandemie hat die noch immer anhaltenden Auswirkungen der Finanzkrise von 2008 weiter verschärft. Doch spätestens die Inflation, die sich vor allem für die Lohnabhängigen und ärmere Zwischenklassen wie kleine Ladenbesitzer_Innen oder selbstständige Handwerker_Innen stark bemerkbar machen, führen zu der Angst, den aktuellen Lebensstandard nicht mehr halten zu können. Steigende Kreditunsicherheit erhöht das Risiko von Verarmung, Verschuldung und Insolvenz und auch die gestiegenen Energiepreise lösen bei einem großen Teil der Bevölkerung die reale Angst vor sozialem Abstieg aus, welche das Vertrauen in eine rosige Zukunft weiter schrumpfen lässt. Zeitgleich dazu stagnieren die Löhne und damit haben Lohnabhängige effektiv weniger Geld. Wenn es mal zu irgendwelchen Unterstützungen seitens des Staates kommt, werden vorrangig die Unternehmen gerettet. Die Suche nach Lösungen in Form eines politischen Richtungswechsels wachsen also immer weiter.

Die Krise der parlamentarischen Demokratie:

Unabhängig vom finanziellen Aspekt, sinkt auch das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie immer weiter. Durch die neoliberale Ideologie der kapitalistischen „Alternativlosigkeit“, die dazu führt, dass in der Regierung alle Parteien mehr oder weniger die gleiche Politik fahren, fällt es schwer, noch Hoffnung in eine Veränderung zu stecken.

Es findet auch gerade im Zuge der Krisen eine starke politische Verrohung statt. Der Hass auf Arme, Migrant_Innen sowie queere Menschen trifft auf immer mehr Anklang vor Allem bei denen, die Angst vor sozialem Abstieg haben. Auf diese Gruppen werden die Abstiegsängste projiziert und sie werden als Nutzlose, Schmarotzer oder Bedrohung beschimpft. Diese Sichtweise hat zwar eine reale Grundlage in dem ungerechten System des Kapitalismus‘, aber die Lesart wird trotzdem bewusst geschürt von der alltäglichen Propaganda, bei der alle bürgerlichen Parteien auf ihre Art und Weise mitmachen.

Krise der Linken

Die dritte Krise ist die Krise der Linken, vor allem aber des Linksreformismus‘. Dieser hat es verpasst, Antworten auf diese verschiedenen Krisen zu geben und sich als wirkliche und wirksame Opposition zu zeigen, anstatt sich an die bürgerlichen und konservativen Parteien anzubiedern oder sich in Schweigen zu hüllen. Das befeuert den Höhenflug der AfD noch weiter, da sie sich als einzige Alternative darstellen können und mit ihrem populistischen Gerede durchkommen.

Es braucht revolutionäre Antworten auf diese verschiedenen Krisen, die den Klassenwiderspruch, also den Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital aufdecken und die herrschende Klasse für diese verschiedenen Krisen verantwortlich macht, anstatt einer Politik, die den Arbeiter*innen nur minimale Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus‘ verspricht und es nicht mal schafft, diese in Regierungsverantwortung umzusetzen. Hierdurch versinkt die gesellschaftliche Linke momentan in Ziellosigkeit und Verwirrung und kommt nicht in die Position, Siege zu erringen.

Wie nutzt die AfD diese Situation aus?

Die AfD hingegen bespielt sehr erfolgreich die Rolle der Opposition. Sie lehnen vermeintlich alles ab, wofür die anderen Parteien stehen, und hat es im Zuge dessen auch in gewisser Weise geschafft, einen Anti-Establishment-Kurs populär zu machen, der sich aber nicht gegen die herrschende Klasse richtet, sondern gegen die herrschende Politik wettert und auf eine „falsche Repräsentanz“ pocht, also gewissermaßen nur Establishment austauschen will. Die AfD verfolgt hier die Strategie der Neuen Rechten: Um aus der Isolation zu kommen, werden Begriffe verbreitet und Themen besetzt, um die Gesellschaft und die politische Landschaft nach rechts zu treiben. Gleichzeitig will man sich als nur etwas aufmüpfigen Teil der bürgerlichen Politik darstellen. Hier ähnelt die AfD all den anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa, die schon seit Jahren immer wieder in Regierungen gelangen. Man sieht dort, was uns bald blühen könnte: Angriffe auf das Sozialsystem, Entrechtung von Minderheiten und Linken, autoritäre Law-And-Order-Politik.

Doch was können wir tun?

Der wichtigste Schritt ist es, klassenbewussten Widerstand aufzubauen, der also zum einen im Gegensatz zur AfD wirklich für die Interessen aller Arbeiter_Innen kämpft und nicht die verschiedenen Gruppen gegeneinander ausspielt, um am Ende eigentlich Politik für die herrschende Klasse zu machen. Zum anderen muss der Widerstand entschlossen und geeint gegen die Bedrohung von rechts stehen!

Im letzten Jahr sind während der Tarifrunden mehrere Tausend Menschen den Gewerkschaften beigetreten und haben sich aktiv am Kampf für faire Löhne und bessere Bedingungen eingesetzt. Es bilden sich neue, kampfbereite Teile der Klasse aus, denen zwar die Gewerkschaftsbürokratie unter Druck der Kapitalist_Innenklasse Steine in den Weg legt und dementsprechend wieder frustriert wurden. Aber auch eine Radikalisierung in Teilen der sozialen Bewegungen wie der Umweltbewegung lässt sich erkennen.

Nur weil bürgerliche Parteien wie die LINKE es nicht schaffen, die Dynamik aufzugreifen, heißt das noch lange nicht, der Kampf gegen die AfD sei verloren.

Um die reaktionäre Politik der AfD zu bekämpfen, müssen wir eine Antwort auf die realen sozialen Probleme bieten. Nur eine Bewegung, die kompromisslos und damit revolutionär-antikapitalistisch für die sozialen Interessen der Lohnabhängigen, Krisengebeutelten und Unterdrückten kämpft, kann den Aufstieg der AfD nicht nur zeitweise ausbremsen. Im Hinblick auf die weitere Zuspitzung weltumspannender Krisen und drohender Kriege zeigt sich die Bedeutung einer internationalen und solidarischen Organisierung. Diese Diskussion müssen wir einerseits mit den Gewerkschafter_Innen und sozialen Bewegungen führen, um diese davon zu überzeugen, dass wir mit den Mitteln des Klassenkampfes gegen die Angriffe der Regierung, des Kapitals und der Rechten angehen sollten. Andererseits geht es darum, eine strategische Diskussion, um eine revolutionäre politische und programmatische Alternative zu führen, um so die Grundlagen für eine revolutionäre Partei und Internationale zu legen.




Gabun: Der nächste Putsch in Afrika

von Jona Everdeen, September 2023

Nachdem der Putsch in Niger auch über Afrika hinaus Wellen geschlagen hatte und die Situation dort noch immer angespannt ist, kam es jetzt zu einem weiteren Militärputsch auf dem afrikanischen Kontinent, wieder in einer ehemals französischen Kolonie: Gabun.

Wirtschaftliche und politische Lage in Gabun

Während es sich bei Niger um eines der ärmsten Länder der Welt handelt, ist es bei Gabun genau andersherum, zumindest auf dem Papier: das Land hat eines der höchsten BIPs pro Kopf des afrikanischen Kontinents. Diese Zahlen sind jedoch, so wie das BIP generell, sehr missverständlich. So bedeuten sie nicht, dass die ungefähr 2 Millionen Einwohner_Innen Gabuns ein wohlhabendes Leben führen, sie sind im Gegenteil zum großen Teil ähnlich arm wie die Menschen in den meisten anderen afrikanischen Ländern. Was passiert dann aber mit dem Reichtum Gabuns, vor allem entstanden aus dessen Ölreserven, die es sogar zu einem der OPEC Länder machen?

Das gleiche, was in vielen halbkolonialen Ländern passiert: Die Einnahmen aus dem Ressourcenverkauf, das was überhaupt im Gabun blieb und nicht direkt an die zumeist französischen Ölkonzerne ging, wanderten in die Taschen einer winzig kleinen herrschenden Klasse, angeführt von der Bongo-Familie.

Die Bongo-Familie, zunächst durch Omar Bongo, inzwischen durch seinen Sohn Ali, stellt seit nun 56 Jahren den Präsidenten von Gabun. Zumindest bis zum 29.August, als das Militär putschte und Ali Bongo entmachtete.

Dem Putsch vorrausgegangen waren Wahlen, bei denen Ali Bongo mit 64% der Stimmen für seine dritte Amtszeit als Präsident wiedergewählt wurde. Daran wie demokratisch dieses Wahlergebnis ist, kann gezweifelt werden. So war zuvor das Internet abgeschaltet und jegliche ausländische Wahlbeobachtung verunmöglicht worden. Das Militär, das dann putschte, berief sich eben darauf, dass diese Wahl nicht demokratisch gewesen sei und das Land endlich von der Herrschaft der Bongos befreit werden müsse. Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass sich eine Familiedynastie, die vor allem damit auffiel, sich den Ölreichtum des Landes in die eigene Tasche zu stopfen und lediglich eine leicht zu durchschauende Demokratiefassade aufrechterhielt, solange an der Macht halten konnte? Die Antwort auf diese Frage ist wieder einmal einfach und kompliziert zugleich: Imperialismus, um genauer zu sein, der französische.

Eine der wichtigsten Halbkolonien Frankreichs

Die Bongo-Dynastie erfüllt eine bestimmte Funktion für den französischen Staat: Als de facto Statthalter des französischen Imperialismus in Gabun.

So sorgten Omar und Ali Bongo dafür, dass die Interessen Frankreichs immer gewahrt blieben und erhielten im Gegenzug dafür Rückendeckung durch den französischen Staat dabei, sich undemokratisch an der Macht zu halten. Die Bongos treten teilweise gar als Teil der französischen Bourgeoisie auf, besitzen mehrere Dutzend Immobilien in Frankreich und unterstützten in der Vergangenheit immer wieder ihnen genehme politische Kandidat_Innen mit hohen Spenden.

So sorgten sie für eine besonders enge Bindung Gabuns an seine ehemalige koloniale Unterdrückungsmacht, wodurch Gabun zu einer zentralen Halbkolonie Frankreichs wurde.

Für französische Ölkonzerne spielt der Ölreichtum Gabuns eine wichtige Rolle und auch militärisch ist Gabun für Frankreich extrem relevant. So ist dort die Fremdenlegion, eine Art in die französischen Streitkräfte integrierte Söldnertruppe, stationiert, um in der gesamten Region eingesetzt zu werden.

Der Putsch droht nun diese extrem gute Ausbeutungsbedingung für Frankreich zu beenden, wobei bislang noch unklar ist wie die Außenpolitik der neuen Regierung aussehen wird.

Außenpolitische Perspektive: Unklarer als in Niger

Während in Niger sowie zuvor in Mali und Burkina Faso von Anfang an klar war, dass das Hauptanliegen der Putschist_Innen ein Bruch mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich und stattdessen eine Zuwendung zu Russland und möglicherweise perspektivisch auch China ist, sieht es in Gabun etwas anders aus.

So ist es durchaus möglich, dass die Putschregierung, dessen neuer Regierungschef Brice Oligui Nguema selber Teil der winzig kleinen aber extrem reichen Bourgeoisie Gabuns ist, bereit ist, die Zusammenarbeit mit Frankreich unter für die nationale Bourgeoisie etwas besseren Bedingungen fortzusetzen. Der Grund für den Putsch war eher, dass die Person Ali Bongo für die herrschende Klasse innenpolitisch nicht mehr tragbar war.

Gleichzeitig ist es jedoch sicherlich auch möglich, dass sich Gabun in Zukunft stärker China zuwenden könnte, das bereits Investments in die Infrastruktur des Landes tätigte und auch an dem Öl und anderen Ressourcen interessiert sein dürfte.

Entsprechend verhalten fiel auch die Reaktion des Westens bisher aus. Zwar wurde der Putsch pro forma verurteilt, jedoch blieben Sanktionen und militärische Drohungen aus und es meldeten sich sogar Stimmen zu Wort, die Verständnis zeigten für den Putsch gegen den korrupten Diktator Bongo. Dies könnte auch als Angebot verstanden werden, dass man die neue Regierung unter Oligui Nguema akzeptiere, solange diese ebenfalls die eigenen Interessen verwirkliche.

Krise des französischen Imperialismus

Selbst wenn ein großes Fiasko wie in Niger ausbleibt, schwächt der Putsch in Gabun die Stellung des französischen Imperialismus weiter.

Aus Francafrique, dem direkt aus dem kolonialen Imperiums Frankreichs entstandene halbkoloniale Imperium, bricht ein Land nach dem anderen heraus. Nachdem die Zentralafrikanische Republik bereits etwas länger an Russland verloren wurde, wandten sich mit Mali, Burkina Faso, Guinea und nun Niger gleich vier Staaten von Frankreich ab und anderen Mächten zu.

Die Zeit, in der Frankreichs Konzerne große Teile Afrikas als ihren Privatbesitz betrachten und nach Belieben ausbeuten können, scheint sich dem Ende zuzuneigen.

Für den französischen Imperialismus stellt dies eine enorme Bedrohung dar, die seine Position in der Welt mittelfristig massiv gefährdet. So ist der enorme internationale Einfluss Frankreichs im postkolonialen Weltsystem, und dazu gehören eben vor allem seine afrikanischen Halbkolonien, auch ein Trumpf gegenüber dem wirtschaftlich deutlich mächtigeren Deutschland innerhalb der europäischen Union. Dies könnte auch dafür sorgen, dass Frankreich sich gezwungen sieht, für die Verteidigung seiner Halbkolonien verstärkt auf die Hilfe seiner europäischen und möglicherweise auch US-amerikanischen Verbündeten zu setzen, wobei auch das sich gerade hochrüstende Deutschland ins Spiel käme. So etwas wäre nicht gänzlich neu. Die Bundeswehr unterstützte Frankreichs militärischen Imperialismus bereits in Mali, bevor der dortige antiwestliche Putsch der Militärintervention ein Ende setzte und die Sicherung der Regierungsgewalt stattdessen in die Hände Wagners legte.

Wie die weitere Entwicklung verlaufen und was die französische Regierung unter Macron tun wird, um zu versuchen, ihren Einfluss in Afrika doch noch zu retten, bleibt schwer vorhersehbar.

Fakt ist aber, dass die derzeitige Entwicklung in Westafrika sehr zu Ungunsten Frankreichs verläuft und die französische Bourgeoisie immer stärker unter Zugzwang gerät, die durch eine gestärkte proletarische Massenbewegung sowie massive Proteste der migrantischen Bevölkerung gegen rassistische Polizeigewalt auch im Inland ohnehin unter Druck steht.

Perspektive vor Ort

Für die Menschen in Gabun selber dürfte sich durch den Putsch wenig ändern. Sie werden nach wie vor von einer reichen herrschenden Klasse unterdrückt, die auch in Zukunft die Öleinnahmen in ihre Tasche wirtschaften und die Ressourcen des Landes im Bündnis mit einer imperialistischen Macht ausbeuten wird, während die Arbeiter_Innen und Bäuer_Innen des Landes weiter in Armut leben werden.

Nicht ein Putsch, sondern nur eine Revolution von unten kann diesen Zustand der doppelten Ausbeutung durch nationale Bourgeoisie und Imperialmacht beenden.

Nur wenn die Arbeiter_Innen und Bäuer_Innen Gabuns gemeinsam im Bündnis mit den einfachen Soldat_Innen aufbegehren, Bongo, Nguema und Co. verjagen und die Rohstoffe sowie deren Fördermittel unter Kontrolle einer Regierung aus Arbeiter_Innen- und Bäuer_Innen-Räten verstaatlichen, ist es möglich, dass in Zukunft die Menschen des Landes von ihrem Ressourcenreichtum profitieren und nicht mehr internationale Großkonzerne und eine für sie arbeitende Herrschaftsclique.

Für uns als Arbeiter_Innen und Jugendliche in den imperialistischen Zentren, in Deutschland und in Frankreich, ist es nötig für die Streichung der Schulden aller halbkolonialen Länder sowie gegen jede militärische Intervention und Sanktion einzutreten. Die Niederlage, der Machtverlust „unseres“ Imperialismus ist für uns nichts Schlechtes, sondern etwas Gutes! Dieselben Konzerne, die in Gabun und Niger die Arbeiter_Innen ausbeuten, tun das auch mit den Arbeiter_Innen aus Paris und Lyon, die Deutsche Bank ist genauso Feind der Menschen in Afrika wie in Europa und so wie sich die Menschen in den Halbkolonien nur durch Revolution und Errichtung einer Räteregierung von Ausbeutung und Unterdrückung befreien können, können auch wir in Europa nur auf diese Art für uns ein Leben ohne Ausbeutung, ohne Unterdrückung und ohne Diskriminierung erkämpfen!




Wie Christian Lindner uns Jugendliche in die Armut stürzt

von Clay Ikarus, September 2023

Heute ist Weltkindertag, doch die Zukunft von Kindern und Jugendlichen wird von den massiven Krisen bedroht. Unsere Lebensgrundlage wird durch die systemgemachte Umweltkrise zerstört, die Bildungskrise erhöht immer mehr den Druck auf uns, wir haben schlechte Aussichten auf einen gut bezahlten Job und viele von uns sind von Gewalt zuhause oder in der Schule betroffen. Viele leben in Armut, sind auf der Flucht, haben psychische und physische Krankheiten, einige werden von der Gesellschaft in den Tod getrieben. All das ist nichts neues und selbst die bürgerliche Presse berichtet mittlerweile ständig darüber, da es sich aber immer mehr zuspitzt. Die Ampel hat große Versprechungen gemacht, dass sie sich für die Kinder und Jugendlichen einsetzen will. Aber das Gegenteil ist der Fall!

Kürzen, Kürzen, Kürzen

Christian Lindner, Vorsitzender der FDP und stets bemühter Liebling der Jugendlichen, bestimmt derzeit über den Bundeshaushalt. Im Juli 2023 stellte er den Bundeshaushaltsplan für 2024 vor und kündigte massive Sparmaßnahmen an. Für Kinder- und Jugendhilfe, im Kinder- und Jugendplan sowie in Freiwilligendiensten sieht er massive Kürzungen vor.

44,6 Mio. Euro sollen gekürzt werden. Doch bereits jetzt werden weniger Gelder ausgegeben als noch vor der Krise, Pandemie und Krieg. Und diese haben vorher schon zu einer Unterfinanzierung der Jugendhilfe geführt. Es werden gerade mal 195 Mio. Euro eingeplant. Wer jemals auf die Jugendhilfe angewiesen war, weiß, wie dramatisch die Situation dort ist: Es gibt kaum Einrichtungen, der Personalmangel ist immens und Gelder für Freizeitaktivitäten war vorher schon knapp. Aber hey! Wenigstens wurde 2021 das Kindergeld um 15 Euro erhöht.

Darauf ist Herr Lindner auch sehr stolz, wenn er uns erklärt, dass jetzt auch wieder gespart werden kann. Das verkauft er sogar als große Wohltat für die zukünftigen Generationen, weil die Schulden dann geringer seien, aber die Wahrheit ist, dass das nur ein Vorwand ist, um ständig weiter den Sozialstaat abzubauen und gerade bei allem, was notwendig ist, kürzen zu können. Das scheue Reh Kapital darf schließlich nicht mit Steuererhöhungen verschreckt werden, sodass die Lasten immer weiter nach unten verlagert werden, nämlich zu jenen, die ohne gerade massiv unter Druck stehen.

So sollen auch bei den Jugendmigrationsdiensten auch 30 Mio. Euro gespart werden. Dadurch werden migrantische Jugendliche nochmal mehr abgehängt. Auch die Streichung des Garantiefond Hochschule (Beratung von studierwilligen migrantischen Jugendlichen) sorgt dafür, dass rassistisch unterdrückte Menschen weniger Chancen auf einen besseren Abschluss haben und damit die Ungerechtigkeiten in der Bildung noch größer werden.

Dazu sollen immer mehr Jugendclubs geschlossen werden. Orte für Jugendliche zum Ausprobieren und Leben gibt es kaum noch. Freizeitangebote werden immer teurer, während unsere Eltern immer weniger verdienen und wir, wenn wir Arbeit finden, nicht mal Recht auf den Mindestlohn haben.

In den Schulen und der Bildung herrscht das absolute Chaos, aber auch da wird massiv gekürzt. Statt den Personalmangel anzugehen, sollen die Klassen noch größer werden und eine Lehrkraft mehrere Klassen gleichzeitig unterrichten. Die Gebäude sind marode und gefährden unsere Gesundheit. Zudem findet auf Kosten von Kindern und Jugendlichen eine zunehmende Privatisierung in Bereichen unseres Lebens statt. Wer mit Kindern und Jugendlichen Profite machen möchte, hat kein Interesse an einem Guten Leben für diese!

Widerstand aufbauen!

Gerade wenn wir uns anschauen, dass mal eben 100 Milliarden für Aufrüstung ausgegeben werden konnten, 7 Milliarden zur Rettung der Lufthansa und vieles mehr, ist klar: Die Regierung hat kein Interesse daran, dass wir als Kinder und Jugendliche ein sicheres Zuhause, eine bedarfsorientierte Bildung und lebenswürdige Zukunft haben. Für unsere Interessen müssen wir selbst kämpfen und dürfen uns nicht auf die Regierung oder das kapitalistische System verlassen. Der Kapitalismus braucht viele billige Arbeitskräfte, gerade in Krisenzeiten, daher ist es gut, wenn wir so schnell wie möglich den Bildungsweg durchrasen und dann auf den Arbeitsmarkt kommen. Wenn wir nicht zum Kanonenfutter der herrschenden Klasse werden wollen, wenn wir verhindern wollen, dass die Krise auf unserem Rücken abgewälzt wird, müssen wir uns gemeinsam organisieren an den Schulen und Unis. Es braucht auch für uns eine demokratisch organisierte Gewerkschaft, um für unsere Interessen zu kämpfen.

Treten wir gemeinsam ein für unsere Forderungen!

  • Für massive Investitionen in unsere Bildung! Für kleinere Klassen und eine gemeinsame Schule für alle ohne Diskriminierung, Entmündigung und Druck!
  • Für selbstverwaltete Freiräume und Jugendzentren! Kostenloser Zugang zu Freizeitangeboten!
  • Für den Ausbau der Einrichtungen der Jugendhilfe! Für ein Ende der ökonomischen Abhängigkeit!



Grundlagen des Marxismus: Was ist eigentlich Faschismus?

Von Felix Ruga, September 2023, REVOLUTION Zeitung September 2023

Immer wieder werden recht unterschiedliche Kräfte als „faschistisch“ bezeichnet: Rechte Hools und sonstige Nazi-Banden, der Flügel um Höcke bis hin zur gesamten AfD oder auch einige Staaten wie Russland oder die Türkei. Phasenweise entsteht der Eindruck, dass „Faschismus“ einfach ein Synonym für „völkische Reaktionäre“ sei. Dies ist auch ein Stück weit verständlich, denn der Faschismusbegriff ist mit der Erfahrung der vernichtenden Politik der Nazis extrem aufgeladen und damit mobilisierend für den Kampf gegen Rechts.

Doch benötigt dieser Kampf auch Klarheit, denn verschiedene Formen von Reaktionären verlangen verschiedene Taktiken im Widerstand gegen sie. Der Kampf gegen Nationalliberale, Nationalkonservative, Rechtspopulist_Innen oder Faschos kann nicht gleich aussehen, weil diese auch jeweils unterschiedliche Klassenbasen und Taktiken haben. Als Grundlage unserer Faschismusanalyse verwenden wir jene von Trotzki, da diese den Klassenhintergrund mit der historischen Funktion des Faschismus verbindet. Die Analyse lässt sich in 5 Thesen zusammenfassen.

1. Der Faschismus erstarkt besonders in Phasen von gesellschaftlichen Krisen.

Ursprünglich ist der Faschismus (Fasci = Bünde) als Bewegung im Italien nach dem Ersten Weltkrieg entstanden. Die Situation war katastrophal: Die Bereicherung der einen und Verarmung der anderen, Tot und Vertreibung vom Lande und Zurückspülen der Soldaten aus dem Krieg, versteckte Deserteure in den Dörfern, zerrissene Familien, ein Ende vieler tradierten Arbeitsteilungen bei gleichzeitigen Wellen von Streiks und Besetzungen durch die Arbeiter_Innenbewegung mischten die Gesellschaft heftig durcheinander und sorgte insgesamt für einen unübersichtlichen und chaotischen gesellschaftlichen Gang, für den die liberal dominierte herrschende Klasse zunächst keine Antwort wusste. Die sozialistischen Parteien waren zwar stark und groß, konnten jedoch nur Reformen erkämpfen. Die Faschist_Innen haben hierbei einen „Dritten Weg“ versprochen. Diese Situation ähnelt Deutschland um 1930 in der Wirtschaftskrise.

2. Um eine starke Massenbewegung der Arbeiter_Innen zu zerschlagen, ist eine reaktionäre Massenbewegung notwendig.

Denn in einer zugespitzten Situation im Klassenkampf verschiebt sich die Macht von den gelähmten Parlamenten auf die Straße und in die Betriebe. Die Arbeiter_Inneklasse ist organisiert und erkennt im Kampf immer mehr, dass sie eine Klasse ist. Ihr Bewusstsein als Gesellschaftsklasse wächst an. Die Herrschaft der besitzenden Klasse könnte dadurch ins Wanken geraten, sodass Mittel zur Zerschlagung dessen angewendet werden. Hierbei können zwar Angriffe durch den bürgerlichen Staat in Form von Polizeigewalt Wirkung erzielen, aber Notlösung für die bürgerliche Herrschaft kann eine reaktionäre Massenbewegung sein, die selbst große Menschenmengen in Bewegung bringt. So wird der Macht der Arbeiter_Innenbewegung auf der Straße mit Kleinkriegen und roher Gewalt begegnet, die nur allzu oft von der staatlichen Bestrafung verschont bleiben. Das ist ein wesentliches Merkmal des Faschismus‘ vor der staatlichen Machtergreifung: Er stützt sich auf eine Massenbewegung von unmittelbarer Gewalt. Dies unterscheidet ihn von den meisten reaktionären Strömungen, die eher innerhalb der bürgerlichen Parlamente und Institutionen ihre Machtbasis sehen.

3. Diese Bewegung muss kleinbürgerlich sein und eine nationalistische und antikapitalistische Rhetorik mit größter Feindschaft gegen die Arbeiter_Innenbewegung verbinden.

Zunächst waren rein statistisch in den Anfangsstadien des Faschismus die kleinbürgerlichen Schichten gegenüber den proletarischen überrepräsentiert. Das ist aber hierbei nicht das Entscheidende. Der Klassencharakter drückt sich eher in der Ideologie und der Funktion aus: Zerschlagung der bedrohlichen Arbeiter_Innenbewegung und kompromisslose Herstellung einer stabilen kapitalistischen Ordnung, bei gleichzeitiger Anti-Establishement-Rhetorik und sozialstaatlicher Versprechungen. Indem alle im reinen Volkskörper aufgehen, sollen die Klassenwidersprüche als Ganzes versteckt werden. Besonderen Ausdruck findet dies im Antisemitismus, bei dem die Faschos zwar einen „antikapitalistischen“ Kampf inszenieren, ohne jedoch den Kapitalismus als System angreifen, indem sie die Missstände des Kapitalismus‘ auf die Jüd_Innen projizieren. Das Vertragen dieser Gegensätze drückt gerade das widersprüchliche Klasseninteresse der kleinbürgerlichen Schichten aus, die sowohl Angst vor der großkapitalistischen Konkurrenz als auch vor der fordernden Arbeiter_Innenbewegung haben.

4. Der Machtergreifung geht ein verschärfter Klassenkampf voraus, in der die proletarischen Kräfte eine Niederlage erleiden.

Damit sich nämlich größere Teile des Proletariats dem Faschismus anschließen, müssen ihre eigentlichen führenden Kräfte enttäuschen. In Deutschland waren das die SPD, die sich durch die Verteidigung und Verwaltung der bürgerlichen Verhältnisse die Hände mit Verrat schmutzig gemacht hat, und die KPD, die unter anderem mit der Sozialfaschismusthese keinen taktischen Hebel gefunden hat, um die Arbeiter_Innenklasse für revolutionäre Politik zu gewinnen. In diese Enttäuschung konnten dann die Nazis treten, die sich als radikale und dynamische Kraft präsentieren, während die Arbeiter_Innenbewegung vor dieser hergetrieben bis letztendlich zerschlagen wurde.

5. Einmal an der Staatsmacht wird die kleinbürgerliche Massenbewegung abgestreift und eine Diktatur im Interesse des Großkapitals errichtet.

Das heißt, dass die kleinen Kampfeinheiten wie die Fasci oder die SA aufgelöst oder institutionalisiert werden und allzu „antikapitalistische“ Kräfte innerhalb der Partei entmachtet werden. Der Faschismus baut die Kontrolle über die Gesellschaft aus und bürokratisiert sich, indem Partei und Staat miteinander verschmelzen. Die erste Aufgabe im Interesse des Großkapital ist dabei die Niederhaltung der Arbeiter_Innenbewegung mittels roher Gewalt und ideologischer Verblendung. Vorher geschürte Hoffnungen auf soziale Verbesserungen werden fallengelassen und mit Nationalismus verdeckt. Soziale Errungenschaften werden abgebaut und damit die Ausbeutung erhöht. Hiermit soll auch das nationale Kapital auf dem Weltmarkt gestärkt werden. Der extreme Nationalismus, die völkische Ideologie und die enthemmte Gewalt führen zu Krieg und letztendlich zur Vernichtung der ausgemachten „Feinde des Volkes“. Letztendlich wird die Arbeiter_Innenklasse komplett lahm gelegt.

Das ist natürlich erstmal eine historische Betrachtung und die Gesellschaft wie auch die extreme Rechte haben sich weiterentwickelt. Aber wir können daraus einiges für heute ziehen. Zum einen, welche Funktion der Faschismus in der brutalen Aufrechterhaltung der bürgerlichen Herschafft gegen eine Arbeiter_Innenbewegung einnimmt, zum anderen aber auch, wie man mit dem Faschismusbegriff umgehen sollte. Man kann den Begriff mit Bezug auf einzelne Personen mit faschistischer Einstellung oder generell faschistische Denkmuster etwas offener verwenden, aber gerade wenn es um die Einschätzung von Organisationen oder Bewegungen geht, müssen wir als Linke auf Klarheit setzen, um effektive Taktiken im Widerstand dagegen zu entwickeln. Zentral sind hierbei die Fragen, ob rechte Organisationen eine Strategie verfolgen, die auf einen faschistischen Umsturz hinauslaufen, indem sie sich auf eine paramilitärische Bewegung stützen (wollen), sich als pseudorevolutionär oder -antikapitalistisch darstellen, sie linke Bewegungen gewaltsam vernichten wollen und letztendlich ein kleinbürgerliches Klasseninteresse ausdrücken.

Was bedeutet das für unseren Widerstand? Auf der einen Seite müssen wir hierbei der unmittelbaren Gewalt begegnen, indem wir gegen faschistische Aufmärsche mobilisieren, uns antifaschistisch organisieren und antifaschistischen Selbstschutz aufbauen. Das bedeutet auch, dass wir heute schon auf faschistische Verbindungen und Tendenzen z.B. innerhalb der AfD aufmerksam machen. Auf den bürgerlichen Staat ist kein Verlass im Kampf gegen den Faschismus oder faschistische Tendenzen. Aber wir müssen auch eine klare, proletarische und antikapitalistische Perspektive gegen den Faschismus aufzeigen, indem wir konsequent für soziale, antirassistische und antisexistische Gerechtigkeit und gegen die kapitalistische Krise ankämpfen. So schaffen wir es, dem Kapitalismus den Nährboden zu entziehen. Hierfür müssen wir auch Bündnisse zwischen den Organisationen der Arbeiter_Innenklasse aufbauen, die letztendlich auf eine Einheitsfront gegen den Faschismus hinauslaufen. Gemeinsam können wir nicht geschlagen werden! In diesen Bündnissen müssen Revolutionäre jedoch immer offen für ihre Position eintreten und klar machen: Die faschistische Gefahr ist erst gebannt, wenn der Kapitalismus Geschichte ist!




#WirFahrenZusammen: Vom Bahnstreik zum Verkehrswendestreik

Von Lia Malinovski, August 2023

In wenigen Monaten beginnt die Tarifrunde im Öffentlichen Nahverkehr (TVN). Die Beschäftigten kämpfen dort für bessere Arbeitsbedingungen, unter Anderem höhere Löhne, längere Pausen- und Umschlagszeiten[1]. Beteiligte Gewerkschaften sind die ver.di und die EVG, führend dabei ist jedoch in den meisten Betrieben die ver.di. Alle Bundesländer dürfen im nächsten Jahr streiken, bis auf Bayern. In diesem Artikel wollen wir uns angucken, wie wir von dem kommenden Streik in einen politischen Streik für die Verkehrswende kommen.

Schon im März 2023 ist die Kampagne „#WirFahrenZusammen“ (WFZ) mit Beschäftigten im ÖPNV auf die globalen Fridays for Future (FFF)-Demonstrationen gegangen. Ver.di hatte den Streiktag im Öffentlichen Dienst auf den Tag von der globalen Demonstration gelegt, sodass die Beschäftigten ihren Kampf in den Kampf von FFF tragen konnten. Die Kampagne ist noch sehr neu und in der Findungsphase, weshalb es nicht einfach ist, verlässliche Infos zu bekommen. Die Informationen, auf denen ich den Artikel basiere, stammen aus Recherche in den Strukturen der Kampagne, aus einem Interview mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und von Genoss_Innen, die selber in der Kampagne aktiv sind oder bei der Deutschen Bahn arbeiten. Es gibt bis auf den FFF-Streik im März bisher keine aktive Außenwirkung der Kampagne, wobei sie zur IAA in München mobilisieren wollen und dort einen Block in der Demo stellen wollen.

WFZ versucht einen Schulterschluss aus linken Teilen der Klimabewegung, die die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit der Arbeiter_Innenklasse erkannt haben, und ÖPNV-Beschäftigten herzustellen. So haben sie es bspw. In Köln geschafft, Forderungen bei den ÖPNV-Beschäftigten populär zu machen, indem sie ihre Forderungen mit Unterschriftensammlungen unterstützten und so das Vertrauen der Arbeiter_Innen gewinnen konnten. Teile der Gewerkschaftsapparate von ver.di und der EVG unterstützen die Kampagne, vermutlich allerdings in erster Linie, um politische Forderungen aus dem Tarifkampf auszugliedern. Denn sie wissen von der Notwendigkeit, politisch zu kämpfen, wollen aber auch nicht aufs Spiel setzen, gute Sozialpartner_Innen (für die Konzerne) zu sein. WFZ bietet für sie die Möglichkeit, zu zeigen „hey, wir haben doch auch politische Forderungen“, ohne für diese tatsächlich kämpfen zu müssen. WFZ selbst versucht diese Masche der Gewerkschaften aber nicht zu problematisieren oder gar zu ändern, da sie fürchten, das Bündnis zu verlieren. Verständlicherweise, denn es gibt kaum unabhängige Strukturen in den Belegschaften, die nicht von der Gewerkschaftsbürokratie (privilegierte Führung) abhängig sind. Damit aber der Schulterschluss aus Arbeiter_Innen und Klimabewegung möglich ist, ohne abhängig von der Bürokratie zu sein, braucht es genau diese Kräfte.

Von der Straße auf die Schiene!

„Wir Fahren zusammen“ kann also kaum die Bürokratie kritisieren. Dabei müssten sie genau dies tun, um oppositionelle Kräfte innerhalb der Belegschaften und Gewerkschaften zu stärken. Das führt dazu, dass sie sich der Bürokratie unterordnen und einen in erster Linie ökonomischen Kampf der Gewerkschaften unterstützen, die politische Perspektive dabei aber schrittweise aufgeben. Für die Verkehrswende ist es aber unerlässlich, ökonomische Kämpfe mit politischen zu verbinden: Wir stehen vor der Herausforderung, dass die Anforderungen an den Schienenverkehr stetig wachsen. Es braucht einen massiven Ausbau der Schieneninfrastruktur, um diese zum Kern der zukünftigen Verkehrsweise zu machen. Dafür reicht es aber nicht, einfach nur mehr Lohn zu fordern. Es braucht neben längeren Umschlagszeiten auch mehr Personal, mehr Geld und geringere Anforderungen für die Bahn. Auch die zunehmende Privatisierung und drohende Zerschlagung der Bahn erfordern politische Antworten.

Wir möchten, bevor wir thematisieren, wie wir zum politischen Streik kommen, darauf eingehen was eigentlich im ÖPNV notwendig ist für die Verkehrswende. Denn nur mit einer Vorstellung davon, was Ausbau bedeutet und wie der Verkehr aussehen muss, können wir für diesen Kämpfen. Die aktuelle Situation ist, dass große Streckenabschnitte in ganz Deutschland, insbesondere aber in Ostdeutschland, stillgelegt und zugunsten des Autos abgebaut wurden. Während man mit dem Auto problemlos von A nach B kommt (wenn man nicht gerade in einer Großstadt lebt), braucht die Bahn häufig doppelt so lang oder länger, man kann sich nicht darauf verlassen, dass sie pünktlich kommt oder dass sie überhaupt fährt. Jeder dritte Zug war im letzten Jahr zu spät – von denen die überhaupt gefahren sind. Das liegt nicht nur daran, dass viele Strecken zurückgebaut wurden, sondern auch daran, dass die verbliebenen Strecken völlig überlastet sind (Beispielsweise Hamburg-Hannover mit 126% Auslastung). Neben dem kulturellen Aspekt, dass ein neues, hübsches Auto als Statussymbol gilt, macht auch das den Autoverkehr attraktiver und es ist also nicht verwunderlich, dass die Neuzulassungen von PKWs in manchen Jahren kaum relevant zurückgehen und in anderen sogar zunehmen (2022 wurde ein Anstieg von 1,1% verzeichnet).

Dabei ist das Rad-Schiene-System mit Abstand das effizienteste, da wenig Reibung entsteht und es meistens von Außen mit Strom betrieben wird. Nicht nur kann ein Zug auf ausgebauten Strecken deutlich schneller fahren, er fährt auch viele Hundert bis Tausend Menschen mehr von A nach B als ein Auto. Aber was heißt Ausbau genau und wie kommen wir dahin? Es müssen selbst die kleinsten Ortschaften an das öffentliche Schienensystem angeschlossen werden. Das bedeutet, dort wo es einen Nutzen für schon wenige tausend Menschen hat, müssen Schienen gebaut werden (wenn es möglich ist). Tramkonzepte, kleine Bahnen und Schnellfahrstrecken müssen den Kern des neuen Verkehrs bilden. Dort wo es nicht möglich ist oder schlicht mehr Ressourcen binden würde, Schienen zu bauen, sollten Car-Sharing-Konzepte oder Oberleitung-betriebene Busse die Anbindung an den nächstgelegenen Bahnhof ermöglichen. Gleiches gilt auch für den Gütertransport: Bis auf die letzten Kilometer sollte alles über die Schiene fahren, die letzten Kilometer möglichst ebenfalls über Oberleitung. Grundlegend ist außerdem, dass das Schienennetz 100% strombetrieben läuft.

Vom Bahnstreik zum Verkehrswendestreik…

Obwohl das nur einen kleinen Ausschnitt darstellt, sehen wir schon hier die Grenzen von rein ökonomischen Streiks und Forderungen. Der Ausbau auf 100% strombetriebene Gleise lässt sich nicht mit mehr Lohn und längeren Umschlagzeiten ermöglichen. Letztendlich muss der Verkehrssektor enteignet und unter Arbeiter_Innenkontrolle gestellt werden, um nicht mehr für Profit, sondern den Schutz von Mensch & Umwelt zu produzieren. Wie kommen wir jetzt also zum politischen Verkehrswendestreik?

Die Kampagne „Wir Fahren Zusammen“ geht einen wichtigen ersten Schritt: Die Verbindung zwischen Klimabewegung und Arbeiter_Innenklasse ist essentiell, um zum Einen höhere Schlagkraft zu haben, andererseits auch, um nicht Klimaschutz und direkte Nöte der Arbeitenden gegeneinander ausspielen zu können. Dabei darf die Kampagne aber nicht vor Kritik an der Bürokratie zurückschrecken, die sich mit aller Kraft gegen politische Streiks wehren wird. WFZ sollte oppositionelle und klassenkämpferische Kräfte in den Gewerkschaften unterstützen in ihrem Kampf für Basisorganisierung, Rechenschaftspflicht und jederzeitige Abwählbarkeit aller Posten in den Gewerkschaften. Als Revolutionäre müssen wir in WFZ also aufzeigen, wieso es notwendig ist, sich nicht unter die Gewerkschaftsbürokratie unterzuordnen. Wir müssen den Widerspruch, den die Bürokratie selbst geschaffen hat, weiter vertiefen und alles daran setzen, dass die Beschäftigten und die Basis der Gewerkschaften ihre ökonomischen Forderungen mit politischen ergänzt. Hier müssen auch Kampagnen wie WFZ auf die Beschäftigten zugehen und mit ihnen gemeinsame Forderungen entwickeln. Wer die Notwendigkeit der Forderungen erkennt, wird nicht aufhören dafür zu kämpfen, wenn ein undemokratischer Apparat Nein sagt.


[1] Umschlagszeit ist die Zeit, in der eine Bahn, die am Zielbahnhof angekommen ist, stehen bleibt, bevor sie in die andere Richtung zurück fährt




Die Rolle der Pharmaindustrie im Kampf um sexuelle Selbstbestimmung

von Erik Likedeeler, Juli 2023

Erst vor kurzem wurde in Italien beschlossen, dass Verhütungspillen in Zukunft kostenlos an Menschen aller Altersgruppen ausgegeben werden sollen. Auch in Frankreich bekommen unter 26-Jährige seit diesem Jahr Kondome und Notfallverhütung gratis in Apotheken. England geht einen Schritt weiter: Dort sind sämtliche Verhütungsmittel für alle kostenfrei zugänglich.

In diesem Artikel wollen wir uns anschauen, wie die Lage diesbezüglich in Deutschland aussieht und was getan werden muss, um die Situation zu verbessern. Denn obwohl das Thema den meisten Jugendlichen aus dem Sexualkundeunterricht bekannt sein dürfte, ist das gesellschaftliche Bewusstsein gering, wenn es um Verhütung als Klassenfrage und die Rolle der Pharmakonzerne geht.

Die Einführung der Pille in der BRD und DDR

Um den Stellenwert der Verhütung in Deutschland nachzuvollziehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. In der DDR wurden die ersten Verhütungspillen ab 1965 vom Unternehmen Jenapharm produziert. Innerhalb der Sozialversicherung wurden sie ab 1972 kostenlos angeboten. Obwohl sich mit dem Namen „Wunschkindpille“ um ein positives Image bemüht wurde, wurden Stimmen laut, die vor einer „gesteigerten Wollust der Weiber“ warnten.

In der BRD wurde das erste hormonelle Verhütungsmittel ab 1961 von der Schering AG herausgegeben, einem Vorgänger-Unternehmen des deutschen Pharmakonzerns Bayer. Zunächst wurde die Pille als Mittel gegen Menstruationsschmerzen vermarktet. Auf die empfängnisverhütende Wirkung wurde nur am Rand hingewiesen, da eine negative Reaktion der Bevölkerung befürchtet wurde.

Als der eigentliche Zweck des Medikaments bekannt wurde, wurde tatsächlich vermehrt die Befürchtung geäußert, hormonelle Verhütung würde zum „Aussterben der Deutschen“ führen.

Jahrelang wurde die Pille nur mit Einverständnis des Ehemannes an verheiratete Frauen verschrieben. Zudem wurden Frauenärzt_Innen gebeten, das Mittel nur an Frauen mit mindestens zwei Kindern herauszugeben. Hier zeigten sich bereits Versuche, durch hormonelle Verhütung die Bevölkerungsentwicklung zu kontrollieren, denn Kinder sind für den Kapitalismus vor allem zukünftige Arbeitskräfte.

Der historische Vergleich von BRD und DDR zeigt, dass es in der BRD nach der Einführung der Verhütungspille tatsächlich einen Rückgang von Geburten gab. Dieser sogenannte „Pillenknick“ blieb in der DDR aus. Daraus können wir schließen, dass die Geburtenrate nicht als isolierter Faktor betrachtet werden sollte, sondern dass auch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben müssen.

Vielmehr lässt sich der „Pillenknick“ damit erklären, dass die Lebensmodelle der Frauen in der BRD im Wandel waren; immer mehr gingen studieren und arbeiten. Weil die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kaum gewährleistet war, fiel die Geburtenrate ab.

In der DDR hingegen wurden zeitgleich mit der Einführung der Pille Kinderkrippen und Wohnungen für Familien bereitgestellt, sowie bezahlte Elternzeiten angeboten. Durch die erhöhte Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurden in der DDR auch mehr Kinder geboren, wobei natürlich auch diese demographische Entwicklung mit einer zusätzlichen Belastung der Frauen durch Lohn- und Reproduktionsarbeit erkauft wurde.

Bayer und die Pille: Ein weiterer Grund zur Enteignung

Viele von uns kennen es: Schon beim ersten Besuch bei der Frauenärztin wird uns die Pille verschrieben, ohne dass eine sorgfältige Aufklärung über die Nebenwirkung stattgefunden hat. 8 Euro bekommen Frauenärzt_Innen für jede Person, die sie über Verhütung beraten – meist bleiben für die Aufklärung weniger als 10 Minuten Zeit.

Durch die 68er-Bewegung wurde die Verhütungspille in der BRD zu einem Symbol der Freiheit und Emanzipation. Dennoch ist nicht abzustreiten, dass sie auch heute noch massive Nebenwirkungen mit sich bringt, wie zum Beispiel Thrombosen, Lungenembolien und Herzinfarkte.

Viele Nebenwirkungen sind nicht genau erforscht, wie der Zusammenhang zu Depressionen und Suizidgefährdung. Zusätzlich wird vermutet, dass auch die Lernfähigkeit, die Konzentration und das Erinnerungsvermögen durch die Anwendung der Pille leiden.

In Deutschland werden jährlich Verhütungspillen im Wert von 580 Millionen Euro herausgegeben; seit Jahrzehnten ist Bayer der unangefochtene Marktführer. Bis 2019 sind mehr als 100 Menschen durch die Bayer-Pillen Yaz und Yasmin ums Leben gekommen. Zehntausende haben Herz-, Gallenblasen- und Bluterkrankungen bekommen.

Mittlerweile musste Bayer rund 2 Milliarden Euro Schadensersatz an die Betroffenen und Hinterbliebenen zahlen – doch die Produkte sind immer noch auf dem Markt.

Seit mehr Erfahrungsberichte an die Öffentlichkeit geraten, sind viele Anwender_Innen von der Pille desillusioniert. Doch auch gegen die viel beschworene „Pillenmüdigkeit“ haben die Pharmakonzerne ein Rezept: Hormonringe, welche mehrere Wochen lang im Körper verbleiben.

Dabei hält sich hartnäckig der Mythos, Hormonringe würden nur „lokal“ wirken. Doch synthetische Hormone wirken niemals nur lokal. Damit sie Signale im Gehirn auslösen, müssen die Wirkstoffe auch dorthin transportiert werden. Die Nebenwirkungen sind auch hier folgenreich: Hormonringe können jahrelange Nierenbeckenentzündungen zur Folge haben.

Entzugsblutung? Was soll das denn sein?

Zusätzlich zu all diesen Nebenwirkungen ist die Entzugsblutung ein wichtiger Faktor. Wer die Pille anwendet, weiß vermutlich, dass ein Pillenzyklus aus 21 Tabletten mit Hormonpräparaten und 7 Placebos besteht. Durch die einwöchige Pause wird die sogenannte Entzugsblutung herbeigeführt. Von medizinischer Seite aus wird meist vermittelt, dabei würde es sich dabei um die Menstruation handeln.

In Wirklichkeit hat diese Blutung keinen medizinischen Nutzen und kann sogar schädlich sein. Eine Entzugsblutung als Menstruation zu bezeichnen, spricht Menschen das Recht ab, über die Funktionen ihres eigenen Körpers Bescheid zu wissen.

Es stellt sich die Frage: Warum wurde diese Placebo-Woche überhaupt eingeführt, wenn man die Pille auch bequem durchgehend einnehmen und auf die Blutung verzichten könnte? Der ausschlaggebende Grund dafür war die Besänftigung der katholischen Kirche, welche sich in den 1960er Jahren gegen die Einführung der Pille wehrte. Allerdings stellt sie sich auch heute noch gegen jegliche Art der Verhütung, daher war die gesamte Aktion hinfällig, und Millionen von Menschen bluten jeden Monat ohne ihr Wissen völlig sinnlos.

Immer noch keine Smarties: Die Pille Danach

Sollte einmal die Pille versagen oder das Kondom reißen, gibt es immer noch die Pille Danach. Dabei handelt es sich um ein Medikament, welches den Eisprung verhindert, und damit auch eine Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle sowie die Einnistung in die Gebärmutter. Deshalb zählt sie als Verhütungsmittel, nicht als Abtreibungsmittel, obwohl sie nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen wird.

Dabei ist wichtig zu wissen, dass die Unterscheidung zwischen Verhütung und Abtreibung eine relativ neue Grenze ist, die nicht immer eine so große Rolle gespielt hat wie heute. Dass ausgerechnet die Einnistung in die Gebärmutter als der Beginn des Lebens definiert wird, ist keine biologische Gegebenheit, sondern eine kulturelle Entscheidung.

Seit 2015 ist die Pille Danach rezeptfrei in der Apotheke erhältlich. Zuvor musste man mit seinem Anliegen in die Notaufnahme, wenn am Wochenende die Arztpraxen geschlossen hatten. Allerdings sind viele deutsche Krankenhäuser katholisch und verschreiben die Pille Danach nicht. Deshalb war die Aufhebung der Rezeptpflicht ein entscheidender Schritt.

Damit wurde jedoch zeitgleich ein „Werbeverbot“ für die Pille Danach eingeführt. Frauenärzt_Innen dürfen diese Option nicht ansprechen oder darüber informieren. Das führt zu gravierenden Wissenslücken: Nur 50% der Frauen ist klar, dass die Pille Danach rezeptfrei erhältlich ist, mehr als jede vierte Frau kennt sie noch nicht einmal.

Wer in der Apotheke nach der Pille Danach fragt, wird meist zu einem belehrenden Aufklärungsgespräch in ein Hinterzimmer geführt. Dabei kommt es häufig zu Vorwürfen, Bloßstellungen und wertenden Äußerungen. Immer wieder kommt es vor, dass Minderjährigen der Verkauf verweigert wird.

 „Die Pille Danach ist kein Smartie!“, formulierte es der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn und sprach damit Frauen und Mädchen ab, eine unabhängige und informierte Entscheidung über ihren eigenen Körper zu treffen. Gleichzeitig wird durch solche Äußerungen der Stereotyp junger, sexuell aktiver Frauen gezeichnet, welche scheinbar sorglos und leichtfertig ungeschützten Sex haben, weil sie danach ja einfach die Pille Danach nehmen könnten. Das entspricht einerseits weder der Realität, produziert sexistische Klischees und verstärkt andrerseits die Auffassung, Verhütung sei einzig und allein Verantwortung der Frau. An solchen Debatten zeigt sich immer wieder, wie der Kapitalismus versucht, weibliche Sexualität zu limitieren und auf das Ziel der Familiengründung auszurichten, da sie innerhalb der Familie unbezahlte Reproduktionsarbeit leisten und zukünftige Arbeitskräfte bereitstellen.

Keine Hormone, keine Probleme? Die Kupferspirale

Wer sich als junge, kinderlose Frau ohne sichtbare Behinderung eine Kupferspirale einsetzen lassen will, bekommt von Frauenärzt_Innen oft zu hören, dass der Uterus einer kinderlosen Frau zu klein für eine Spirale sei. Dabei empfiehlt die WHO Spiralen für Frauen und Mädchen jedes Alters, und in anderen Ländern scheint es kein Problem mit der Uterus-Größe zu geben. Was also ist der Grund dafür?

Eine Ursache liegt in der Regelung, dass deutsche Krankenkassen die Finanzierung der Spirale bis zum 22. Lebensjahr übernehmen, dafür aber nur einen Minimalbetrag an Ärzt_Innen zahlen. Eine von der Kasse bezahle Spirale erwirtschaftet für die ärztliche Praxis also viel weniger Gewinn als eine, die ab dem 23. Lebensjahr privat gezahlt wird.

Eine Option, die noch weniger Menschen bekannt sein dürfte, ist die Kupferspirale Danach. Denn eine Kupferspirale kann ebenfalls zur Notfallverhütung genutzt und sogar bis zu 5 Tage nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr eingesetzt werden. Sie beeinträchtigt die Beweglichkeit der Spermien und verhindert die Einnistung einer befruchteten Eizelle in die Gebärmutter. Obwohl sie deutlich zuverlässiger ist als die Pille Danach, wird sie in Deutschland fast nie genutzt. Die Kosten dafür sind für viele Menschen zu hoch, um sie spontan aufzubringen.

Problematisch ist auch, dass es noch viele Forschungslücken gibt, was die Verhütung mit Kupfer angeht: Es ist nicht bekannt, wie oft die Spirale unbemerkt ausgeschieden wird oder wie stark sie das Risiko für Eileiterschwangerschaften erhöht. Das Budget für aussagekräftige Langzeitstudien haben nur die großen Pharmakonzerne – und die haben kein Interesse daran, dass weitere unerwünschte Nebenwirkungen aufgedeckt werden.

Immer wieder wird von mangelhaften Spiralen und gebrochenen Kunststoffarmen berichtet, die lose in der Gebärmutter herumschwimmen und von Frauenärzt_Innen herausgefischt werden müssen, meist ohne Narkose. Erst 2018 kam ans Licht, dass zig Tausende Europäerinnen eine brüchige Spirale des Herstellers Eurogine eingelegt bekommen hatten, welches dringend entfernt werden musste. Die meisten Betroffenen wurden darüber nicht in Kenntnis gesetzt.

Mental Load und Verhütungsverantwortung

Selten wird darüber gesprochen, dass Verhütung mit einem dauerhaften Mental Load verbunden ist. Der Begriff Mental Load bezeichnet die geistige Arbeit, ständig an etwas denken zu müssen oder etwas organisieren zu müssen, damit die Funktionalität des täglichen Lebens gewährleistet ist.

In diesem Fall heißt das, die Verhütungsmethode auszuwählen, sich mit ihrer Funktionsweise auseinanderzusetzen, sie fortlaufend korrekt durchzuführen und ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Das kann bedeuten, ärztliche Beratung einzuholen, die Temperatur zu messen, um den Eisprung zu bestimmen, Pillenrezepte zu holen, Kondome einzukaufen, Schwangerschaftstests zu machen, sowie vor dem Sex ein Gespräch über das Thema zu beginnen. Auch körperlich ist Verhütung in den meisten Fällen eine Belastung.

In den meisten Fällen sind es Frauen und Mädchen, die sich diesen Strapazen aussetzen. Dass Frauen mehr Verhütungsverantwortung übernehmen, liegt nicht nur daran, dass die meisten Verhütungsmittel für ihre Körper entwickelt wurden – auch vor der Erfindung der hormonellen Verhütung war das bereits der Fall.

Vielmehr liegt es daran, dass Männer und Jungen weniger Konsequenzen zu befürchten haben, falls es zu einer ungewollten Schwangerschaft kommen sollte. Einerseits, weil sie ihren Körper nicht der Belastung einer ungewollten Schwangerschaft aussetzen müssen, andererseits, weil gesellschaftlich von Müttern viel mehr elterliches Engagement verlangt wird als von Vätern.

Häufig haben Männer und Jungen Wissenslücken, oder ihnen fehlt die Bereitschaft, sich an der Verantwortung zu beteiligen. Beispielsweise ist die häufigste Ursache für gerissene Kondome, dass Männer sich zu wenig mit verschiedenen Größen, Formen und Materialien auseinandersetzen. Dadurch kaufen bis zu 80% der Kunden das falsche Größenmodell.

Vielen Männern scheint nicht klar zu sein, dass jemand anders für sie die Verhütungsarbeit übernimmt, die ihnen zu unangenehm, unpraktisch oder lästig erscheint. Sie neigen dazu, die Verantwortung als gleichberechtigt aufgeteilt wahrzunehmen, auch wenn das nicht der Fall ist.

Und was ist mit der Pille „für den Mann“?

Trotz dieser Ungerechtigkeiten haben 25 internationale Studien und Umfragen der letzten Jahrzehnte gezeigt, dass die meisten Männer verhüten wollen. Doch der gute Wille allein ist nicht genug, und immer wieder wird die berechtigte Frage aufgeworfen: Warum gibt es noch keine Pille „für den Mann“? Wann wird die Verantwortung endlich gerecht aufgeteilt? Denn Kondom und Sterilisation reichen als Optionen nicht und dieser Mangel ist eine Verletzung von reproduktiven Rechten. Gibt es denn keine Alternative?

Aktuell sind der Wissenschaft über 100 Methoden bekannt, mit denen man für die Verhütung an Penis und Hoden ansetzen könnte. Diese Möglichkeiten ergeben sich aus allen Stadien der Spermienproduktion: Man könnte sie am Wachsen hindern, ihnen die Beweglichkeit nehmen oder ihnen den Durchgang versperren.

Eine tatsächliche Pille ist nach dem aktuellen Stand der Forschung unwahrscheinlich, weil Testosteron im Magen zu schnell abgebaut wird. Eine vielversprechendere Methode wäre zum Beispiel ein Gel, welches die Samenleiter vorübergehend verschließt.

Auch die wärmebasierte Verhütung hat sich bereits als effektiv erwiesen: Beim Verhütungsring handelt es sich um einen einfachen Silikonring, mit dem die Hoden zurück in den Körper gedrückt werden. Durch die Körpertemperatur wird die Spermienproduktion außer Kraft gesetzt. Diese Methode ist günstig, nebenwirkungsarm und umweltschonend.

In Frankreich kommt der Verhütungsring schon seit Jahren zur Anwendung, wurde jedoch nie offiziell zugelassen. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Erstens ist der Ring technisch so einfach gehalten, dass die Industrie sich nicht für ihn interessiert. Zweitens gibt es noch große Forschungslücken beim Thema Spermienproduktion: Die Andrologie, der medizinische Fachbereich für Männergesundheit, ist bis heute ein unterfinanziertes Randgebiet. Auch im Medizinstudium wird das Thema wärmebasierte Verhütung nicht behandelt.

Damit neue Verhütungstechnologien sich durchsetzen können, bedarf es jedoch einer kompletten Umstrukturierung des Gesundheitswesens: Die Ausbildung unzähliger Fachleute, das Errichten von Gesundheits- und Forschungszentren, das Durchführen von Langzeitstudien, das Drucken neuer Medizinlehrbücher, die Durchführung von Aufklärungskampagnen samt Plakaten, Filmen und Werbeanzeigen. Es braucht ein über Jahre aufgebautes Netzwerk aus ärztlichen Praxen, Apotheken und Privatpersonen, die das Mittel kennen, bewerben und verschreiben, sowie aufklären und beraten.

Nur wenige Konzerne hätten genug Kapital, um so ein Projekt durchzuführen. Aber warum sollte ein Konzern im Privatbesitz auf gut Glück in irgendeine unerforschte Technologie investieren, wenn das bisherige Modell blendend funktioniert und so viel Gewinn abwirft? Warum neue Vertriebswege aufmachen, wenn das gesellschaftliche Einverständnis für die bestehenden Produkte seit Jahrzehnten gegeben ist?

Kein Luxus, sondern Grundbedürfnis

Verhütung ist nicht nur eine körperliche, sondern auch eine finanzielle Belastung. Eine Pillenpackung für 3 Monate kostet zwischen 20 und 60€, eine Kupferspirale ca. 200€. Den Anspruch auf die finanzielle Übernahme durch die gesetzliche Krankenkasse haben nur Menschen unter 22, und selbst dann kann es im Einzelfall schwierig sein, den Anspruch durchzusetzen.

Bei Hartz-4-Empfänger_Innen sind ca. 15€ pro Monat für die Gesundheit vorgesehen und damit auch für die Verhütung. Es können zwar Anträge für die Kostenübernahme von Pille oder Spirale gestellt werden, ein grundsätzliches Recht darauf gibt es aber nicht.

Aufgrund dieser prekären Situation werden von einzelnen Städten Finanzierungsprogramme organisiert, z.B. durch Pro Familia. Doch von diesem Angebot wissen nur die wenigsten. Das führt dazu, dass die Geldsummen ungenutzt liegen bleiben.

Für Jugendliche ohne finanzielle Mittel bleiben meist Hormone die einzige Option. Denn Kondome können nicht von der Krankenkasse übernommen werden, weil sie nicht rezeptpflichtig sind. Und viele Frauenärzt_Innen weigern sich, jungen Menschen eine Kupferspirale einzusetzen.

Wie drastisch die Lage ist, stellte eine Studie im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fest: ein Drittel der Studienteilnehmer_Innen verhüten aus finanziellen Gründen gar nicht. Weil mit der Inflation der Preis für die Verhütungsmittel angestiegen ist, hat sich die Lage weiter verschärft. Als Folge ist die Zahl der ungewollten Schwangerschaften bei Sozialleistungsbezieher_Innen dreimal so hoch wie bei Nichtbezieher_Innen.

All diese Zahlen zeigen, dass Verhütung eine Klassenfrage ist und dass die Barrieren für die Kostenübernahme viel zu hoch sind.

Forderungen

Eine befreite Gesellschaft kann es nicht ohne befreite Sexualität geben. Kein Konzern darf seine Profite über unsere reproduktive Gesundheit stellen. Dafür stellen wir folgende Forderungen auf:

  • Die Reformierung des Sexualkundeunterrichts, Information über alle Verhütungs- und Abtreibungsmethoden, auch über unbekannte Optionen wie die Spirale Danach.
  • Keine Verschreibung von Verhütungsmitteln ohne ärztliche Aufklärung über die Nebenwirkungen. Information auch darüber, dass die Entzugsblutung optional ist. Schluss mit der Moralisierung und Beschämung bei der Pille Danach.
  • Die vollständige finanzielle Übernahme für alle Verhütungsmittel und Abtreibungen durch den Staat, unabhängig von Alter, Aufenthaltsstatus, Versicherung oder ärztlicher Verschreibung.
  • Die Finanzierung von Langzeitstudien, um sichere Verhütungsmittel zu gewährleisten. Die Entwicklung von nebenwirkungsarmen Verhütungsmitteln für alle Geschlechter, gemeinsam mit dem Ausbau der Andrologie.
  • Den Ausbau von Kinderbetreuung, Elternzeit und sozialem Wohnungsbau, damit bei der Familienplanung tatsächlich eine freie Entscheidung gewährleistet ist.
  • Enteignung der Pharmakonzerne! Der Kampf gegen die Frauenunterdrückung muss mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verknüpft werden. Dafür brauchen wir ein Gesundheitssystem unter Arbeiter_Innenkontrolle, welches sich an unseren Bedürfnissen orientiert.



Nein zur Kündiguung von Inés: Gewerkschaftlich gegen Union Busting organisieren!

Inés ist Sozialarbeiterin an einer Berliner Schule und aktives Mitglied der GEW und jungen GEW. Am 10.07.2023 wurde sie seitens ihres Trägers Technische Jugendfreizeit- und Bildungsgesellschaft (tjfbg) außerordentlich und fristlos gekündigt. Grund dafür war die Tatsache, dass sie ihre Kolleg_innen über eine Kundgebung gegen die geplanten Sparmaßnahmen im Neuköllner Sozialetat informiert hat.

Mit der rechtlich absolut haltlosen Kündigung versucht der Träger gewerkschaftliches und politisches Engagement im Betrieb zu verhindern und an Inés ein Exempel zu statuieren. Kolleg_innen sollen eingeschüchtert werden. Der Träger will uns zeigen, was uns droht, wenn wir den Mund aufmachen. Getroffen hat es Inés, aber gemeint sind wir alle, die sich unseren Betrieben, Schulen und Unis für bessere Arbeitsbedingungen und gegen sozialen Kahlschlag einsetzen. #WirsindInés

Umso wichtiger ist es nun, dass diese Gewerkschaftsfeinde nicht mit ihrer miesen Nummer durchkommen. Wir solidarisieren uns mit Inés und fordern die Rücknahme der Kündigung seitens der Geschäftsführung und Geschäftsführer Thomas Hänsgen!

Die junge GEW Berlin hat eine Petition zur Unterstützung ihrer Kollegin gestartet. Wir rufen euch dazu auf, diese zu unterzeichnen:

https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLScZFsRwzEuusmSerFPma0t876gnrCjKP48nChprnrmO3C7T4Q/viewform

Die Petition hat bereits etliche Unterschriften bekommen und setzt den Träger vermutlich bereits stark unter Druck. Dennoch braucht es weitere Schritte. Wenn die GEW tatsächlich die Interessen der Angestellten gegenüber den Bossen vertreten will, muss sie sich als Ganzes mit Inés solidarisieren und öffentlichkeitswirksam hinter ihre Kollegin stellen. Es braucht Solidaritätsaktionen in unseren Schulen – und insbesondere in der Schule von Inés – zu der die GEW Berlin mit voller Stärker mobilisiert. Auch in den kommenden Streiks für den Tarifvertrag Gesundheit und den Tarifvertrag der Länder muss sich gegen das gewerkschaftsfeindliche Handeln des Trägers ausgesprochen werden. Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass der tjfbg mit seinem hinterhältigen Union Busting nicht durchkommt. Gemeinsam können wir die Erfahrung machen, dass unsere Solidarität stärker ist, als die Kündigungsversuche der Bosse. Gemeinsam können wir damit noch viel mehr Kolleg_innen ermutigen, sich für bessere Lern- und Lehrbedingungen in unseren Schulen einzusetzen!




CDU auf dem Weg zum Rechtspopulismus?

Von Jona Everdeen, Juli 2023

Gerade erst erregte die CDU/CSU Aufsehen mit der Forderung, es müssten in Deutschland mehr Nationalflaggen gezeigt und häufiger die Nationalhymne gespielt werden. Ein Aufruf an die Bevölkerung, gerade die junge Generation, doch bitte etwas patriotischer zu sein. Was vielleicht erst einmal als altbackene Marotte abgetan werden könnte, ist in Wahrheit Teil eines Prozesses, der in den letzten Monaten massiv an Fahrt gewonnen hat: Dem Rechtsruck der Union, der auch für einen Anstieg populistischer Rhetorik sorgt.

Die Union in der geänderten Weltlage

In Klassenbegriffen steht sowohl die Politik von Rechtspopulist_Innen wie die AfD als auch die von „Demokrat_Innen“ wie CDU, FDP oder Grüne im Interesse der Bourgeoisie. Worin besteht also der Unterschied? Naja, selbst in einem einzigen Nationalstaat bildet das Kapital keinen homogenen Block. Neben einem gemeinsamen Grundinteresse daran, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Ausbeutung und Profit aufrechtzuerhalten, bestehen verschiedene Kapitalfraktionen mit punktuell auch widersprüchlichen Einzelinteressen. Ein vereinfachtes Beispiel dafür ist der Widerspruch zwischen dem globalisierten Großkapital mit über die gesamte Welt und insbesondere Europa verteilten Produktionsketten und Absatzmärkten auf der einen Seite und kleinem oder mittelständigem Kapital mit stärkerer Orientierung zum Binnenmarkt auf der anderen Seite. Typisch für den Rechtspopulismus ist dann die Bezugnahme auf das „deutsche Volk unten“ gegen „die Eliten da oben“. Auf politischer Ebene spiegelt sich dieser Widerspruch z. B. darin wider, dass die eine Fraktion auf eine gewisse Durchlässigkeit der Nationalgrenzen besteht, während die andere maximale nationale Abschottung fordert. Diese Voraussetzungen für die ursprüngliche Abgrenzung von Union und AfD ändern sich jedoch mit der Entwicklung der politischen Weltlage. Durch Krise, Krieg und Pandemie sind internationale Produktionsketten zusammengebrochen und es haben sich Tendenzen zur Deglobalisierung eingestellt. Gleichzeitig hat der Aufstieg Chinas die hegemoniale Stellung der USA in Frage gestellt, auch in diesem Spannungsfeld muss sich das deutsche Kapital aufs Neue verorten. Dabei haben in den letzten Jahren vor allem die Grünen sich zur Repräsentation der auf die USA ausgerichteten Teile entwickelt.

Die CDU nach Laschet

Nach ihrem Machtverlust mit dem Ende der Ära Merkel war die CDU zunächst sehr planlos.Mit der Ampel hatte sich eine Koalition gefunden, die die Interessen der bürgerlichen Klasse in der Krise besser umsetzen konnte als sie selber. Dazu kam, dass vor allem die Grünen im Zuge dieser Ampel und der jüngsten Verschärfung der Krise in Form von Krieg und Inflation massiv nach rechts rückten. Ansätze einer Politik der sozialen Gerechtigkeit wurden von Habeck endgültig über Bord geworfen und mit Hohn über die verschwenderischen Armen in der Energiekrise ersetzt. Waren die Grünen einstmals energische Gegner_Innen der NATO, wurden sie nun unter Baerbock die energischsten Verfechter_Innen des imperialistischen Militärbündnisses des Westens und machen sich stark für Aufrüstung. Dabei gelang es Baerbock gut den aggressiver werdenen deutschen Imperialismus propagandistisch mit „Kampf für Menschenrechte“ zu rechtfertigen. Selbst ihr einstiges Steckenpferd, den Klimaschutz, opferten die Grünen schulterzuckend den Kapitalinteressen.

Gleichzeitig gelang es auch der FDP sehr gut, sich als verlässliche Wahl für das auf Neoliberalismus setzende Großkapital zu verkaufen. So blockierte die FDP unter Lindner in der Koalition vehement alles, was irgendwie Vorteile für Arbeiter_Innen und Nachteile für das Kapital bedeutet hätte. In der Koalition bleibt die SPD weitgehend farblos und verwaltet den Kapitalismus mit.

Doch was sollte mit der CDU passieren? War sie überflüssig geworden? Würde sie das Feld frei machen Habeck und Lindner? Nein, sicher nicht: Unter Merz erkannte die Partei, dass die Zeit des merkelschen Konservativismus vorbei ist. In der sich immer stärker zuspitzenden Krise zieht die Verwaltungs-Logik von „es ist gut so wie es ist, bloß nichts überstürzen“ nicht mehr, denn in der zugespitzten Krisensituation benötigt die herrschende Klasse soziale Angriffe, um sich zu erhalten. Um nicht in der relativen Bedeutungslosigkeit zu versinken, sondern weiter die erste Wahl der Bourgeoisie als Regierungspartei zu bleiben und ihre Wähler_Innen-Basis zu erhalten, muss die Union ihr Auftreten verändern und programmatisch nach rechts rücken.

Wegner in Berlin

Nachdem die post-Merkel CDU nach der letzten Bundestagswahl in einer tiefen Krise steckte, katapultierte sie ein phänomenaler Wahlsieg ausgerechnet im „links-grünen Berlin“ endgültig aus der Misere. Nach 20 Jahren erreichte mit Kai Wegner zum ersten Mal wieder ein Unionspolitiker das Amt des Regierenden Bürgermeisters.

Den Wahlkampf, der ihm diesen Sieg bescherte und die CDU zur dominanten Partei in den bürgerlichen Randbezirken machte, setzte durchweg auf ein klares rechtskonservatives Programm flankiert durch teils rechtspopulistische Rhetorik.

So versprach Wegner ein „Bürgermeister der Autofahrer“ zu sein und diese vor weiteren „Angriffen“ zugunsten einer verkehrsberuhigten und fahrradfreundlichen Innenstadt zu „schützen“.

Auch hetzte Wegner massiv gegen Migrant_Innen, vor allem im Zuge der sogenannten Silvesternachtskrawalle, wo er in einer parlamentarischen Anfrage die Vornamen der Verdächtigen erfragte. Auch wenn das Resultat, die meisten Namen waren deutsch gelesene, seiner Logik widersprach, nutzte er weiterhin das Framing von den „kriminellen Ausländern“, gegen die er vorgehen wolle. In dieser Framing reiht sich auch nahtlos die Law and Order Logik von Wegners Wahlkampf ein. Er wolle dafür sorgen, dass in Berlin wieder „Sicherheit und Sauberkeit“ herrsche und dafür die Polizei massiv ausbauen.

Vor allem aufgrund der Unfähigkeit der linksliberal-reformistischen R2G Regierung, die wirklichen Probleme der Stadt, steigende Mieten und die allgemeinen Folgen der Krise zu lösen, zog Wegners Wahlkampf vor allem im Berliner Kleinbürgertum und der rückschrittlichen Arbeiter_Innenschaft gut. Wobei auch gesagt werden muss, dass er sein Amt in erster Linie der Rechtssozialdemokratin Giffey zu verdanken hat die, obgleich R2G mehr Stimmen als die GroKo hatte, lieber unter dem Rechten Wegner regieren wollte, als sozial- und umweltpolitische Zugeständnisse an Grüne und Linke machen zu müssen.

Einen Skandal stellte dann die Bürgermeisterwahl im Senat da, wo mindestens nicht auszuschließen ist, dass Wegner auch mit AfD-Stimmen ins Amt gewählt wurde, das spielte allerdings weder für ihn noch für Giffey eine Rolle.

Wird Bayern zum deutschen Florida?

Noch mehr als in Berlin zeigt sich in einem anderen Bundesland die Union immer rechtspopulistischer: In Bayern.

In Bayern herrscht schon lange mit dem tendenziell rechtesten Teil der Union, die CSU, eine Partei quasi alleine, wobei ihre sinkende Popularität sie erst jüngst dazu zwang, sich mit Aiwangers „Freien Wählern“ eine Partei mit ins Boot zu holen, die nochmal deutlich rechtspopulistischer auftritt. Entsprechend wenig verwunderlich ist es auch, dass hier der Rechtsruck die schärfsten Züge annimmt. So reiste eine Abordnung von CSU-Spitzenpolitiker_Innen kürzlich nach Florida, um dem dortigen erzreaktionären Republikaner Ron DeSantis einen Freundschaftsbesuch abzustatten und brachte sogleich dessen Politik mit nach Hause. So forderte wenige Tage nach dem Besuch die CSU in DeSantis-Manier ein Verbot von Dragshows und verbreiteten die republikanische Lüge, Dragqueens würden das Kindeswohl gefährden.

Auch trat Markus Söder prominent auf einer rechtspopulistischen Demo gegen die Heizungspläne der Ampelregierung auf, wo sein Schulterschluss mit rechten und verschwörungsideologischen Kräften daran scheiterte, dass er sich zwar als Teil des rechten Sammelsuriums sah, dieses ihn aber nicht als Teil von ihrer „Volksbewegung“.

Ist die CDU jetzt eine zweite rechtspopulistische Partei?

Es ist zwar zu sehen, ob in Bayern, Berlin oder bundesweit, dass sich die Unionsparteien immer mehr populistischer Rhetoriken bedienen, vor allem um gegen die Politik der Ampelregierung, die Klimabewegung oder Migrant_Innen zu schießen. Zudem rückt die Union generell in ihrer Politik stärker nach rechts und nähert sich der AfD an. Dennoch kann noch nicht davon geredet werden, dass es sich bei der Union bereits um eine rechtspopulistische Partei handelt, wie es die AfD ist.

Vielmehr ist sie eine zunehmend rechtere konservative Partei, die sich in der Krise gezwungen sieht, vermehrt auf rechtspopulistische Rhetoriken zurückzugreifen, um ihre Wähler_Innen-Basis nicht an die AfD zu verlieren und ihr Programm für soziale Angriffe im Interesse der Großbourgeoisie zu vertuschen. Die Union stützt sich nicht auf Protestbewegungen und ist programmatisch weiterhin auf das dominante, globalorientierte Großkapital ausgerichtet. Es ist zwar möglich, dass CDU/CSU langfristig auf eine rechtspopulistische Taktik umschwenken, wie es bei PiS, Fidesz und Teilen der Republikaner bereits passiert ist, sicher ist diese Entwicklung aber nicht. Viel eher hängt sie von der weiteren Entwicklung der Krise ab und davon, ob sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der Fraktionen der herrschenden Klasse verschieben. Fakt ist aber sicherlich, je mehr bürgerliche Parteien „gezwungen“ sein werden, Kapitalinteressen mit massiven Angriffen auf Arbeiter_Innen, Migrant_Innen und sozialen Bewegungen durchzusetzen, desto nötiger werden sie es auch haben, diese Angriffe sowie dafür benötigten autoritäreren Regierungsformen mit populistischen und nationalistischen Parolen zu legitimieren und damit Verwirrung über die Klassenverhältnisse zu erzeugen. 

Schwarz-blau, eine berechtigte Angst?

Dass rechtspopulistische Parteien häufig auch über Unterschiede hinweg zueinander finden, sieht man in Italien gut, wo gleich drei solcher Kräfte eine Regierungskoalition bilden. Doch auch traditionell rechtskonservative Parteien, die verstärkt auf rechtspopulistische Rhetoriken setzen, öffnen sich häufig für solche Bündnisse, so die „Volkspartei“ in Spanien, die sich mit der ultra-rechten VOX zusammengetan hat, um gemeinsam eine rechtspopulistische Front gegen die kriselnde sozialdemokratische Regierung zu bilden.

Doch wie sieht es in Deutschland aus? Mit der AfD gibt es hier ja eine rechtspopulistische Partei, der sich die Union zwar gerade politisch und vor allem rhetorisch immer mehr annähert, aber dennoch an der von CDU-Vorsitzenden Merz verkündete „Brandmauer“ hängen bleibt. Ist diese aber noch lange zu halten?

Tatsächlich sorgte erst gerade ein thüringischer Bürgermeister aus der CDU für Aufsehen, als er offen eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Rechtsparteien forderte und sich damit offen gegen die „Brandmauer“ auflehnt.

Eine Koalition des rechten Unionsflügels um Kretschmer, Kuban und die CSU mit der AfD oder zumindest eine Koalition auf Landesebene zum Beispiel in Thüringen sind zu einer realistischen Möglichkeit geworden. Die Ampelregierung hat es schließlich nicht geschafft, die Krise irgendwie adäquat zu lösen und die vorherige GroKo hat sich auch diskreditiert. Jedoch ist es auch fraglich, ob tatsächlich die Mehrheit der großbürgerlichen Klasse, die von der Union-Politik abgebildet wird, bereit ist, die mit so einer Rechtsregierung verbundenen Risiken in Kauf zu nehmen. Auch ist erst einmal nicht davon auszugehen, dass eine solche Regierung, innerhalb kürzester Zeit den bürgerlichen Parlamentarismus außer Kraft setzen würde. Viel eher wäre eine Politik wie die unter ÖVP-FPÖ in Österreich oder der Meloni-Regierung in Italien zu erwarten. Allerdings nur ein schwacher Trost, ist wenn man deren massive Angriffe auf Arbeiter_Innen und ihre gesellschaftspolitische Rückschrittlichkeit betrachtet.

Doch jetzt kommen wir zu der entscheidenden Frage: Was tun, wenn tatsächlich schwarz-blau siegt?

Wie kann der Rechtsruck geschlagen werden?

Zunächst einmal nicht dadurch, seine Narrative zu übernehmen und zu versuchen, irgendwie „links“ umzudeuten. Sahra Wagenknechts gescheiterter Linkspopulismus und auch Bewegungen wie Podemos in Spanien zeigen das deutlich!

Was es stattdessen braucht, ist eine starke Linke, im besten Falle in Form einer Einheitsfront gegen den Rechtsruck! Nur mittels einer Politik, die praktisch die Klassenfrage, und zwar die politische wie die ökonomische, in den Mittelpunkt stellt, kann der Rechtsruck zurückgeschlagen werden und CDU, Freien Wählern oder AfD den Wind aus den Segeln genommen werden! Revolutionär_Innen müssen innerhalb diese Einheitsfront aktiv auf die Widersprüche des Kapitalismus aufmerksam machen und für notwendig-radikale Forderungen kämpfen.

Auch sollte klar sein, dass wir eine Rechtsregierung nicht widerstandslos hinnehmen dürfen! Die Antwort auf eine schwarz-blaue Regierung muss der Generalstreik sein! Hierfür müssen wir heute schon Druck auf Linkspartei, SPD und Gewerkschaften ausüben, offene Mobilisierungen und Widerstand gegen den Rechtsruck zu organisieren.




Tarifkampf der EVG: Schlichtung ablehnen!

Leo Drais, Juli 2023, zuerst erschienen bei Arbeiter:innenmacht

Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) hat sich in der überaus zähen Tarifrunde mit der DB AG auf eine Schlichtung eingelassen, nachdem sie sich bereits in der Vorbereitung der Urabstimmung über einen Erzwingungsstreik befand. Diese wird auch kommen – das Schlichtungsergebnis soll urabgestimmt werden. Es ist zu erwarten, dass die EVG dann die Annahme empfiehlt, gerade mal 25 % der abstimmenden Mitglieder reichen dafür. Demgegenüber müssten 75 % das Ergebnis ablehnen, sprich für einen Erzwingungsstreik stimmen, damit dieser stattfindet.

Schachzug der Bürokratie

Das Ganze ist ein geschickter Zug der EVG-Führung, die in den letzten drei Monaten viel dafür getan hat, nicht zu streiken, die immer wieder betont hat, Lösungen gebe es nur am Verhandlungstisch, die eine Niederlage vor dem Arbeitsgericht Frankfurt zu einem Sieg umdeutete, die mit Transdev einen Abschluss gemacht hat, zu niedrig, zu lang in der Laufzeit, den sie wie mit dem Zaunpfahl winkend auch bei der DB gern genommen hätte – nur: Nicht mal diesen Abschluss wollte die DB akzeptieren.

Der Abschluss bei Transdev, dem größten privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) nach dem staatlichen der DB AG (Betreiber u. a. der Bayerischen Regiobahn, NordWestBahn, S-Bahn Hannover) beinhaltet eine Laufzeit von 21 Monaten und eine zweistufige Bruttofestgelderhöhung von 290 Euro ab November und 130 Euro ab August 2024; Nachwuchskräfte kriegen die Hälfte. Zusätzlich kommt eine Inflationsausgleichsprämie über 1.400 Euro. Daneben erfolgten Verbesserungen im Bereich der Zuschläge und noch Weiteres. Von den ursprünglichen Forderungen: Laufzeit 12 Monate, 650 Euro in die Tabelle ist dennoch nicht viel geblieben. Andere private EVU folgten dem Abschluss.

Die Bahn provozierte mit einem Angebot von 27 Monaten Laufzeit und einer Erhöhung von gerade mal 200 Euro in zwei Schritten (Dez 23, Aug 24, jeweils 100 Euro). Das „Angebot“ wurde von der Zentralen Tarifkommission (ZTK) abgelehnt und ebenso vom Bundesvorstand der EVG. Somit waren die Verhandlungen gescheitert.

Die Entscheidung ist wahrscheinlich Ausdruck von zwei Aspekten: Erstens kann natürlich eine Gewerkschaftsführung, auch wenn sie sich noch so sehr um die Sozialpartner:innenschaft mit den Bossen bemüht, nicht jeden Scheiß unterschreiben, zumal die EVG im Coronajahr 2020 komplett die Füße stillgehalten und unter dem Deckmantel der Beschäftigungssicherung eine Nullrunde unterschrieben hat – ohne irgendeine Vordiskussion mit der Basis.

Dieses Mal bemühte sich der Apparat von Anfang an, dem ganzen Verfahren einen demokratischeren Anstrich zu geben, natürlich weit ab von einer direkten Kontrolle durch die Mitglieder. Man organisierte Tarifwerkstätten und eine Mitgliederbefragung, beides mit deutlichen Schwächen. Bei Ersteren durfte zwischen drei Hauptforderungen nur eine gewählt werden, bei Zweiterer konnten alle mehrfach abstimmen, jedoch ohne, dass in dem Ergebnis irgendeine Verbindlichkeit lag; die Laufzeit fehlte gleich ganz.

Zudem hat sich in den vergangenen Jahren die Zusammensetzung des EVG-Apparates verändert. Mehr junge Gewerkschaftssekretär:innen und Ehrenamtliche sind abgefuckt davon, wie der Laden läuft. Zudem ist natürlich einerseits allen Gewerkschaftsoffiziellen klar, dass mit einem zu schlechten Abschluss Austrittswellen drohen, zum anderen, und das ist nicht zu unterschätzen, gibt es bei der Bahn anders als für die IG Metall bspw. eine relevante Konkurrenzgewerkschaft mit der GDL. Diese hat ihrerseits mittlerweile ihre Forderungen für die Tarifrunde ab Herbst aufgestellt, darunter eine 35-Stundenwoche für Schichtarbeiter:innen sowie 555 Euro mehr in die Tabelle. Schließt die EVG zu schlecht ab, gibt es für alle Mitglieder immer auch die Möglichkeit, zu ihr zu gehen, und das weiß natürlich der Apparat beider Vereinigungen.

Davon abgesehen ist es natürlich so, dass die Tarifkommissionen bei den unterschiedlichen Unternehmen anders zusammengesetzt sind.

Dann kam die DB mit dem Angebot einer Schlichtung um die Ecke und der EVG-Apparat witterte die Chance: ein guter Sozialpartner sein und gleichzeitig die Mitgliedschaft einbinden. Das Ergebnis der Schlichtung wird urabgestimmt, die Verantwortung über die Annahme der Mitgliedschaft in einem Verfahren überantwortet, das selbst formal undemokratisch ist. Am Ende klopfen sich EVG-Vizevorsitzende Cosima Ingenschay und Co. auf die Schulter und sagen: „Die Mitgliedschaft hat entschieden“, selbst wenn mehr als 50 % das Ding ablehnen sollten. Es scheint demokratisch, aber der ganze Weg dahin und die Abstimmung selbst waren und sind es nicht. Allein schon deshalb muss die Schlichtung abgelehnt werden. Immerhin einige, wenigstens die Vertreter:innen der Jugend, haben dies getan.

Annahme verweigern

Darüber hinaus ist erstens zu erwarten, dass bei der Schlichtung nicht das rauskommt, was ursprünglich gefordert wurde. Zwar gehört es zu den üblichen Ritualen in deutschen Tarifverhandlungen, weit unter den eigenen Forderungen abzuschließen, doch nur, weil es „schon immer so gemacht“ wird, wird es dadurch nicht richtiger. Warum wird nicht eskalierend vorgegangen? Eine DB, die ungestraft einfach mal 2 Monate gar nicht verhandelt hat, hätte es nicht anders verdient, als mit einem Erzwingungsstreik bestraft zu werden, wo mit jeden Tag die Forderung erhöht wird.

Zweitens muss die Schlichtung (und damit ihr Ergebnis) deshalb abgelehnt werden, weil sie nicht nur ein Zugeständnis an die Bahn darstellt, sondern auch, weil die EVG damit von dem Wohlgefallen der Schichter:innen abhängig wird. Diese kann sie zwar selbst mitbestimmen, zum Redaktionsschluss sind diese auch noch nicht bekannt, erfahrungsgemäß sind es jedoch Politiker:innen, die vorgeblich zwar über dem Konflikt stehen, jedoch immer auch das „Wohl des Konzerns“ im Blick behalten (wie die EVG-Spitze selbst auch; schließlich verteidigt sie die DB nicht aus fortschrittlichen Gründen gegen deren drohende Zerschlagung, sondern für den Erhalt des Status quo).

Wir sollten von der Schlichtung nicht mehr erwarten als den Transdev-Abschluss. Wir sollten sie deshalb ablehnen und, weil sie ein undemokratisches Verfahren ist, das am Ende mit der Urabstimmung einen demokratischen Touch erhalten soll. Unsere Mittel für einen Abschluss, der unseren Forderungen entspricht, sind noch nicht ins Spiel gebracht worden: Ablehnung des Schlichtungsergebnis, Durchführung des Erzwingungsstreiks.

Und wenn das Ganze sich schon bis in den Herbst hinzieht, dann liegt der gemeinsame Kampf mit den Kolleg:innen der GDL auch auf der Hand. Immerhin stehen wir täglich zusammen gegen diesen Konzern um Sicherheit und Pünktlichkeit auf der Schiene ein, das heißt, wir können auch zusammen gegen seinen Tarif kämpfen. Wir sollten gegenseitig die Forderungen durch die der höchsten von der anderen Seite ersetzen. Von den Führungen der EVG und der GDL gibt es in unterschiedlichem Maß daran kein Interesse, die Zusammenarbeit wird aus der Basis kommen müssen.

Genauso gilt das für ein Eintreten für wirklich demokratische Tarifrunden: Tägliche Betriebsversammlungen, direkt gewählte und rechenschaftspflichtige Vertreter:innen in der Tarifkommission. Abstimmungen über Annahme und Streik nach einfacher Mehrheit. Kann sein, dass ein solches Verfahren noch Jahre auf sich warten lassen wird. Trotzdem: Der Grundstein für eine Diskussion dazu muss jetzt in der Tarifrunde gelegt werden.

Und noch etwas müssen wir selbst in die Hand nehmen: GDL- und EVG-Chef:innen sind denkbar schlecht darin, der Medienhetze etwas entgegenzusetzen, wenn es zu Streiks kommt. Es wird einfach darauf verwiesen, dass diese rechtens seien – das heißt im Umkehrschluss dann eben auch, ein gerichtliches Streikverbot kampflos zu akzeptieren.

Streik und Reisende

Wie können die Reisenden also mitgenommen werden? Es gibt gleich mehrere Möglichkeiten. Erstens: Einbeziehung durch Erweiterung der Forderungen. Keine Fahrpreiserhöhung, kostenloser Nahverkehr und massive Angebotserweiterung, bezahlt durch die Profite von VW und Co. Zweitens: Aufklärung. Nicht die streikenden Kolleg:innen sind schuld an der Misere, sondern der Konzern und der Staat. Der Streik findet auch dafür statt, dass die Arbeitsbedingungen bei der Bahn besser werden. Verkehrswende braucht Eisenbahner:innen. Von diesen gehen in manchen Bereichen 70 – 80 Prozent in den nächsten zehn Jahren in Rente. Daher braucht es nicht nur einen massiven Ausbau des öffentlichen Verkehrs, sondern auch ein deutlich verbessertes Investitionsprogramm für Neueinstellungen!

Drittens: Gezielter Erzwingungsstreik. Es wäre durchaus möglich, gezielt und schwerpunktmäßig den Güterverkehr der Auto- und Schwerindustrie zu bestreiken und Personenverkehr zeitweilig auszunehmen, verbunden mit einem Streik im Bereich Vertrieb und Fahrkartenkontrolle. Das würde aber einen höheren Organisationsgrad brauchen und vor allem wäre dafür die Voraussetzung, dass wir als Beschäftigte den Streik selbst kontrollieren. Die Ironie wäre dann übrigens, dass der Reiseverkehr auf einmal pünktlicher wäre – in einem vollen, heruntergefahrenen Netz fällt es auf, wenn die Züge fehlen, die die bedeutendsten Industrien des Landes bedienen, also jene, die seit Jahrzehnten für einen chronische Benachteiligung der Schiene verantwortlich sind.