Trumps Großangriff: Die Politik der Rechten ist die Politik der Reichen

von Urs Hecker, Januar 2025

Vor wenigen Tagen feierte der neue US-Präsident Donald Trump seine Amtseinführung.
Umringt von Milliardär:innen und Vertreter:innen der US-Bürokratie konnte er sein rassistisches, sexistisches und nationalistisch-größenwahnsinniges Programm der Reichen verkünden. Noch einen Tag davor auf der offiziellen Siegesfeier seiner Wahlkampagne zeigte Elon Musk, der reichste Mann der Welt, gleich zwei Mal auf der Bühne den Hitlergruß. Nach der Amtseinführung hagelte es eine Flut von autoritär, am Kongress vorbei verabschiedeten Dekreten, die einen in diesem Jahrtausend beispiellosen Angriff auf die Rechte sozial Unterdrückter darstellen. Diese Angriffe sind denen, die uns in Deutschland unter Merz oder einer zukünftigen AfD-Regierung bevorstehen könnten, sehr ähnlich. Wie wirken sie sich also aus und wie können wir uns dagegen wehren?

Angriffe auf Migrant: innen

Ein Hauptziel der Angriffe Trumps sind wieder einmal Migrant:innen aus Lateinamerika.
Der nationale Notstand wurde an der Grenze zu Mexiko verhängt, was bedeutet, dass in Zukunft das Militär gegen Einwanderer:innen eingesetzt werden kann. Schon jetzt gehen Bilder um die Welt, wie Migrant:innen an der Grenze zwischen den USA und Mexiko verzweifeln. Der Grund: Trump hat die App, mit der Millionen Menschen sich legal Termine für den Grenzübertritt vereinbaren konnten, einfach sperren lassen. Diese Menschen gaben oft alles auf, um ein US-Visa zu erhalten, nur um jetzt trotz Termin an der Grenze abgewiesen zu werden. An dieser Grausamkeit zeigt sich einmal mehr, dass auch „legale“ Einwander:innen von den Angriffen der Rechten betroffen sind und die Heuchelei derer, die das verneinen und behaupten, es ginge nur um „illegale Einwanderung“. Zusätzlich will Trump ein weiteres zentrales Recht von Migrant:innen in den USA abschaffen: Die Staatsbürger:innenschaft per Geburt. Dadurch werden ganze Generationen der Nachfahr:innen heutiger Migrant:innen entrechtet, die nun für immer Menschen zweiter Klasse in den USA bleiben können. Ob das Ganze aber wirklich rechtsgültig ist, wird sich noch zeigen, denn die Staatsbürger:innenschaft per Geburt ist ein historisches Grundpfeiler des US-amerikanischen Gesellschaft, den zu fällen nicht mal eben gehen wird.

In Deutschland blüht uns Ähnliches. Abgesehen davon, dass es hier die Staatsbürger:innenschaft bei Geburt nie gab, fordern auch hier die großen Parteien eine Verschärfung des tödlichen EU-Grenzregimes und eine Einschränkung der Staatsbürger:innenschaft. So fordert die CDU unter anderem, dass Menschen mit doppelter Staatsbürger:innenschaft ausgebürgert werden können, sollten sie zweimal straffällig werden. So öffnen sie den Weg für Deportationen von deutschen Staatsbürger:innen und schaffen selbst unter ihnen 2 Klassen: die „Biodeutschen“, die sicher für immer Staatsbürger:innen sind und solche, die ihre Rechte wieder verlieren können.

Wir fordern deshalb international:

  • Grenzzäune und Mauern einreißen! Grenzen auf überall für alle!
  • Volle Staatsbürger:innenrechte für alle in dem Land, in dem sie leben!

Angriffe auf trans und inter Menschen

Auch trans Menschen werden in großem Stil vom neuen Präsidenten angegriffen und haben wahrscheinlich in Zukunft noch Schlimmeres zu erwarten. So hat Trump bei seiner Amtseinführung gesagt: „In den USA wird es in Zukunft nur noch zwei Geschlechter geben: Mann und Frau“ und folglich Behörden dazu angewiesen, nur männliche und weibliche Geschlechtseinträge anzuerkennen.
Außerdem sollen in Zukunft die Chromosomen bzw. „das Geschlecht bei Zeugung“ bestimmen, welches Geschlecht Menschen haben. Damit wird nicht nur die Realität von trans und inter Menschen verkannt, es nimmt ihnen das Recht, selbst über ihren Körper und ihr Geschlecht zu bestimmen und die Tür für weitergehende Kriminalisierung ist geöffnet. Gleichzeitig ist mit einer Zunahme der trans- und queerfeindlichen Stimmung weltweit und somit auch mit weiteren Angriffen auf trans Menschen und ihre Rechte zu rechnen.

Auch in Deutschland zeigt sich ähnliches, wenn Friedrich Merz z.B fordert, das Selbstbestimmungsgesetz zurückzunehmen, oder die AfD die gleichgeschlechtliche Ehe wieder abschaffen will.

Wir fordern stattdessen:

  • Selbstbestimmung über die eigene Geschlechtsidentität: Für Recht auf kostenfreien und unbürokratischen Zugang zur offiziellen Namens- und Personenstandsänderung! Gegen den Zwang, das Geschlecht in amtlichen Dokumenten anzugeben!
  • Für Selbstbestimmung über den eigenen Körper: Für das Recht auf kostenfreien und unbürokratischen Zugang zu medizinischer Geschlechtsangleichung!
  • Intersex vollständig legalisieren: Verbot medizinisch nicht notwendiger, kosmetischer
    Genitaloperationen an Kindern!

Nationalismus und Autoritarismus

Eingebettet werden diese Angriffe in einem immer aggressiveren, von außen teilweise lächerlich wirkenden Nationalismus und einen steigenden Autoritarismus. Der Panamakanal soll „zurückerobert“ werden und Panama wird offen mit einem militärischen Angriff gedroht. Dies soll in einem zukünftigen Konflikt mit China dafür sorgen, sicher die Kontrolle über diese wichtige Schifffahrtsstraße zu besitzen, aber führt auch dazu, dass innere Kritik durch nationalistische Furore unterdrückt werden kann. Lächerlich wirkend und dennoch ernstzunehmend ist die Ankündigung, den Golf von Mexiko in „Golf von Amerika“ umzubenennen. Dieses Feigenblatt soll natürlich nur dazu dienen, Amerikaner:innen von den echten Problemen im Land abzulenken, indem man einen rein kosmetischen Konflikt mit dem Ausland schafft. Auch der Autoritarismus nimmt schon jetzt im Land zu und ist die andere Seite der Maßnahmen, um die Angriffe auf die unterdrückten Gruppen durchsetzen zu können. Wie oben erwähnt wird das Militär an der Grenze auf Migrant:innen losgelassen. Dazu hat Trump angekündigt die Todesstrafe wieder verschärft durchzusetzen und will auch „sicherstellen“, dass einzelne Bundesstaaten genug Tötungsmittel zur Verfügung haben. Diese Maßnahme wird wieder vor allem Schwarze und andere rassistisch Unterdrückte treffen. Außerdem soll auch der Staatsdienst direkter unter die Kontrolle des Präsidenten gestellt und Beamt:innen leichter entlassen werden können. In Zukunft ist eine noch weit größere Ausweitung der Repressionsmaßnahmen zu erwarten.

Auch in Deutschland ist die Zunahme der Repression ein Trend des Rechtsrucks, wie wir an den Angriffen auf die Bewegung der Palästina-Solidarität sehen können, aber auch verschärfte Angriffe gegen Antifaschist:innen und Klimaaktivist:innen. Der bürgerliche Staat, ob in Deutschland, den USA aber auch anderen westlichen Staaten wie Britannien, setzt verschärft auf autokratische Maßnahmen und Strafen, um seine innen- wie außenpolitischen Ziele gegen Kritik durchzusetzen.

Wir fordern dagegen:

  • Stoppt jede imperialistische Intervention! USA und alle anderen Imperialist:innen raus aus Lateinamerika!
  • Abolish the Police: Statt innerer Hochrüstung Investitionen in Bildung und Soziales auf Kosten der Reichen!

Rechte Politik ist die Politik der Reichen

Dass Trump bei Amtseinführung von den reichsten Menschen der Welt umgeben war, zeigt bildlich, was uns inhaltlich schon längst klar sein muss: Die Politik der Rechten ist die Politik der Reichen, der Kapitalist:innen. Das sehen wir auch wenn Trump aus den Pariser Klimaabkommen erneut aussteigt und den Energienotstand verhängt, um noch mehr fossile Brennstoffe aus dem Boden zu holen. Diese Politik, die unser aller Lebensgrundlage angreift, dient offensichtlich der amerikanischen Ölindustrie sowie den restlichen Kapitalist:innen, die sich davon niedrigere Strompreise erhoffen können. Des Weiteren sollen unglaubliche 500 Milliarden in private KI-Infrastruktur investiert werden, was zum einem natürlich den Tech-Milliadären an Trumps Seite dient, aber auch im internationalen Kampf mit China den USA einen Vorsprung verschaffen soll. Weitere massive Steuergeschenke an Unternehmen sind geplant. So verkündete Trump in Davos, dass alle Unternehmen in den USA produzieren und „die niedrigsten Steuern überhaupt“ erhalten sollten. Die Kosten davon werden die Arbeiter:innen und Jugendlichen tragen, wenn in Folge neuer Sozialkürzungen zum Beispiel das eh schon beschissene Bildungssystem noch weiter kaputtgespart wird. Eine Methode, den zukünftigen Widerstand dagegen zu schwächen, sind die jetzt von der Trump-Regierung verübten Angriffe. Der von der Regierung verbreitete Rassismus und Nationalismus sowie die Queerfeindlichkeit schwächen die Jugend und die Arbeiter:innenklasse und spalten sie. Die Entrechtung von Migrant:innen führt dazu, dass sie sich weniger und schlechter an ökonomischen und politischen Kämpfen beteiligen können. Auch in Deutschland wird im Windschatten des Rassismus eine Sozialkürzung nach der Anderen vorgenommen. Nach der Nullrunde beim Bürgergeld droht nun die CDU, es für Hunderttausende komplett zu streichen, während in Berlin von CDU und SPD massive Kürzungen im Jugend- und Kulturbereich vorgenommen wurden.

Nicht verzweifeln: Jugendbewegung aufbauen!

Angesicht der Größe des Angriffes, der (vermeintlichen?) Stärke der Regierung der Rechten und Milliardär:innen und der schrecklichen Auswirkungen auf die Betroffenen, ist es schwer, nicht zu verzweifeln. Sicher waren viele von uns die letzten Tage schockiert und haben sich ohnmächtig und ungläubig gefühlt. Auch in Deutschland schreitet der Rechtsruck scheinbar ohne Bremse immer weiter voran und bedroht die Lebensbedingungen von uns Jugendlichen.
Aber vereinzelt und schockiert vor den Bildschirmen merken wir eine Sache nicht: gemeinsam organisiert können wir eine unglaubliche Stärke entwickeln! Eine Bewegung der Jugendlichen und Arbeiter:innen, die in Schulen, Unis und Betrieben verankert ist, kann den Rechtsruck stoppen. Für uns als Jugendliche heißt das, dass wir uns dort organisieren müssen, wo wir uns täglich aufhalten müssen: Den Schulen. Hier können wir am Besten andere Jugendliche erreichen, hier spüren wir die Auswirkungen des Rechtsruck am dollsten, hier können wir eine Verankerung für eine zukünftige Bewegung schaffen. Mobilisierungen wie die gegen die AfD in Riesa zeigen, dass Zehntausende von uns bereit sind zu kämpfen!
Eine solche Bewegung muss sich auch international vernetzen und gemeinsam Perspektiven und Strategien entwickeln, um den internationalen Rechtsruck und Großangriff der Kapitalist:innen stoppen zu können. Auch wenn wir uns also zunächst gegen die lokalen Angriffe der Reichen wehren müssen, haben diese alle die gleiche Ursache als Antworten der Reichen auf die globale Krise des Kapitalismus. Wir können nur siegen, wenn wir im globalen Maßstab den Reichen eine Antwort der Arbeiter:innen und Jugendlichen auf die Krise entgegenstellen! Diese Antwort sollte die oben erwähnten Forderungen gegen Soziale Unterdrückung und Autoritarismus aufgreifen und mit sozialen Forderungen verbinden, weitere Forderungen könnten sein:

  • Selbstverteidigungskomitees und Antidiskriminierungsstellen an Schule, Uni und Betrieb gegen Soziale Unterdrückung und Diskriminierung!
  • Gemeinsamer politischer und ökonomischer Kampf: Geflüchtete rein in Gewerkschaften!
  • Hunderte Milliarden für Bildung und Soziales auf Kosten der Reichen, statt für Aufrüstung und als Steuergeschenke an Milliardär:innen!



Woher kommt der globale Rechtsruck?

Von Lia Malinovski, REVOLUTION Zeitung, Dezember 2024

Dass immer mehr Mitschüler:innen rechte Scheiße raushauen und die Lehrer:innen drüber lachen, ist nicht nur in einem Deutschland so, in dem die AfD bundesweit auf über 17 % kommt. Auch Italien hat mit Georgia Meloni eine Regierungschefin, welche aus einer faschistischen Tradition stammt und sich auf einen neoliberalen Rechtspopulismus eingestellt hat. Javier Milei greift in Argentinien die Arbeiter:innenklasse und Jugend massiv an, Donald Trump hat die Wahl in den USA gewonnen und in Frankreich hat der ultrarassistische Rassemblement National 30 % der Wähler:innenstimmen geholt. Im Folgenden wollen wir untersuchen, woher diese Erfolge der Rechten kommen und welche Dimensionen der aktuelle Rechtsruck überhaupt hat, damit wir sie auch wirksam bekämpfen können!

Rechtsruck heißt Militarismus!

Alle imperialistischen Staaten zusammen investierten im vergangenen Jahr so viel Geld in ihre Armeen und Waffensysteme wie nie zuvor. Während sich kaum noch jemand um irgendwelche UNO-Resolutionen schert, erhöhen alle Staaten, die es sich leisten können, ihren Militäretat. In der Ukraine und in Gaza sehen wir bereits, zu welchen bestialischen Taten die wachsenden Spannungen zwischen den Weltmächten führen können. Auch Taiwan oder der Pazifik sind Orte, an denen sich diese in Zukunft schnell militärisch entladen könnten.

Doch wer nach außen gegen den scheinbaren äußeren Feind aufrüstet, muss sich auch gegen die angeblichen „inneren Feinde“ wappnen. Parallel zu Sondervermögen fürs Militär gibt es also mehr Befugnisse für die Polizei und Angriffe auf demokratische Rechte wie die Demonstrations- oder Pressefreiheit. Das sehen wir zum Beispiel daran, dass in Deutschland alle, die es gewagt haben, sich für Frieden in der Ukraine oder in Gaza auszusprechen, und damit den deutschen Kriegsplänen in der jeweiligen Region widersprochen haben, zu verkommenen Vaterlandsverrätern, Putinfreunden oder sogar Antisemiten abgestempelt wurden. Die ideologische Scharfmacherei wird begleitet von Demonstrationsverboten oder Angriffen auf das Asylrecht.

Hintergrund der globalen Militarisierung nach Innen und nach Außen ist die Wirtschaftskrise und eine verschärfte Blockbildung zwischen den imperialistischen Mächten. Angesichts unklarer Gewinnaussichten setzen die imperialistischen Mächte zunehmend auf militärische Stärke. Wir befinden uns nämlich aktuell in einer sogenannten Überproduktions- oder Überakkumulationskrise. Das bedeutet unter anderem, dass sich Investitionen, die Unternehmen gemacht haben, nicht mehr rentieren und sie auf den Ausgaben sitzen bleiben. Außerdem wurde mehr produziert, als auf dem Markt verkauft werden kann, was ebenfalls die Krise anfacht. Diese Überakkumulationskrise, hat – anders als noch vor einigen Jahren – mittlerweile auch China ergriffen. Die Vorläufer der aktuellen Krise, die Finanzkrise 2007/08 haben für ein Stocken und sogar für einen teilweisen Rückgang der Globalisierung gesorgt. Stattdessen werden Handelskonflikte immer mehr und es bilden sich imperialistische Blöcke. Diesen Prozess nennen wir Blockbildung. Die USA ist als klare weltbestimmende Macht auf dem Abstieg und ihre Vorherrschaft auf der Welt nicht mehr unangefochten. Daraus ergibt sich ein immer härterer Kampf um die Neuaufteilung der Welt, also um Einflusssphären und Absatzmärkte, zwischen den imperialistischen Blöcken. Bei diesem Kampf zeichnet sich ab, dass der Hauptwiderspruch zwischen den USA und China besteht und sich Russland und die EU (inkl. der britische Imperialismus) diesen beiden unterordnen müssen. Beispielhaft sind dafür die Schutzzölle auf chinesische E-Autos, die die USA auf 100% und die EU auf bis zu 35% angehoben hat. Es entbrennt ein Wirtschaftskrieg, der die relative Stabilität der letzten Jahrzehnte ins Chaos stürzt.

Rechtsruck heißt Sparpolitik!

Die Kosten der Krise werden jedoch nicht etwa von denjenigen gezahlt, die sich verzockt haben und sich mit Krieg und Ausbeutung die Taschen voll gemacht haben. Nein, sie werden auf uns Jugendliche, Queers, Migrant:innen und die gesamte Arbeiter:innenklasse abgeladen. Das sehen wir darin, dass nahezu überall auf der Welt die Löhne von Inflation und Mieten aufgefressen werden. Dass der Sozialstaat zusammengekürzt wird und unsere Schulen und Jugendclubs verfallen. Das internationale Wirtschaftswachstum wird auf gerade mal 3% prognostiziert, für Deutschland sogar nur ganz knapp über 0%. Damit stehen wir international am Rande einer Stagnation, die schnell in eine Rezession führen kann. Das Kapital reagiert darauf mit Sozialkürzungen, Angriffen auf die Löhne und Arbeitsbedingungen sowie Massenentlassungen.

Neben dem Proletariat ist auch das Kleinbürger:innentum von der Krise betroffen. Es wird dabei zwischen den Hauptklassen Proletariat und Bourgeoisie zerrieben und wird deshalb international zur sozialen Hauptstütze der rechten Parteien. Sie gehen in der globalen Konkurrenz unter und fürchten den Abstieg ins Proletariat. Sie haben wirtschaftliche Existenzängste, fühlen sich von den „Eliten“ (auf die sie doch immer vertrauen konnten) verraten, sind neidisch darauf, dass diese nur das Monopolkapital in der Krise retten. Sie wollen zurück zu den „guten alten Verhältnissen“ vor der Krise und ihre Position auf dem Binnenmarkt durch eine Abrieglung der Grenzen sichern.

Immer mehr Teile der Gesellschaft werden durch die Krise, die Inflation und die staatlichen Sparpolitiken in Armut und Verelendung getrieben. Doch anstatt sich dagegen mit einer fortschrittlichen Vision einer anderen Gesellschaft zu wehren, suchen immer mehr Teile der Gesellschaft die Antworten auf ihre Probleme im rechten Lager. Doch das liegt daran, dass es linke Parteien und Gewerkschaften in den letzten Jahren nicht geschafft haben, den Angriffen des Kapitals etwas entgegenzusetzen. Nachdem die Finanzkrise 2007/08 zuerst wie in Griechenland oder in den arabischen Ländern starke soziale Bewegungen ausgelöst hat, haben diese nach und nach schwere Niederlagen erlitten. Und auch die Gewerkschaften und Sozialdemokrat:innen, die die Krise nur sozialverträglicher gestalten wollen, statt gegen das Kapital zu kämpfen, haben immer weniger Spielraum zum Verteilen. Es folgen Mitgliederverlust, eine sinkende Kampfkraft und damit weniger Handlungsspielraum, den Angriffen des Kapitals etwas entgegenzusetzen. Für uns Jugendliche war sicherlich auch die Niederlage der Klimabewegung prägend, die viele vorher Aktive desillusioniert und frustriert zurückgelassen hat.

Rechtsruck heißt Rassismus und Sexismus!

Der Populismus schafft es in dieser Gemengelage mit seinem Gerede vom „Volk“ das gegen „die Eliten“ kämpft, den Klassenwiderspruch zu vernebeln und damit die Bourgeoisie zu stärken. Außerdem geht es einher mit Nationalismus und Sozialchauvinismus. Man müsse gegen die „fremden Elemente“ in einem eigentlich sonst so guten Kapitalismus vorgehen. In der Realität sind das dann oft Linke, Migrant:innen, Queers, Geflüchtete, Arbeitslose. Man will das Rad der Zeit zurückdrehen, in eine Zeit vor der großen Krise, in der es angeblich noch keine Geflüchteten, emanzipierten Frauen und keine queeren Geschlechtsidentitäten gab.

Der Rassismus, Sexismus und die Queerfeindlichkeit sind dabei wichtige Werkzeuge der Herrschenden, den Frust der Massen von sich abzulenken. Gleichzeitig erfordert die ökonomische Krise eine schärfere Ausbeutung der ärmeren Länder. Um dies zu rechtfertigen, müssen ihre Bevölkerungen mithilfe von Rassismus als minderwertiger erklärt werden. Auch wenn Menschen aufgrund von Krieg, Waffenexporten, Naturkatastrophen und Wirtschaftskrisen in die reicheren Länder flüchten müssen, wirkt diese Ideologie. So überholten sich aktuell AfD, CDU und die ehemalige Ampelregierung mit immer menschenfeindlicheren Angriffen auf Geflüchtete und deren Rechte, seien es „Abschiebeoffensiven“ oder die kürzlich eingeführte Bezahlkarte. Dieses Gift spaltet unsere Klasse und verhindert, dass wir uns international gegen die Angriffe auf uns alle wehren können.

Wer zur Zielscheibe der medialen Hetzkampagnen wird, hängt dabei auch von den außenpolitischen Interessen der jeweiligen Staaten ab. So gewinnt aktuell der antimuslimische Rassismus an einer immer größeren Bedeutung. Für die Legitimation der Waffenlieferungen für den Genozid in Gaza muss eine ungeheure rassistische Propagandamaschinerie angeworfen werden. Was an 9/11 an Fahrt aufnahm, wird heute auf die Spitze getrieben. In deutschen Schulen dürfen alle Menschen in Gaza als Terroristen beschimpft werden, aber Kritik an Israel wird sofort als antisemitisch gebrandmarkt und unterdrückt. Solidarität mit Israel wird Voraussetzung für die Einbürgerung und in vielen Medien schwirrt die Lüge vom importierten Antisemitismus umher.

Wohin treibt der Rechtsruck?

Ob in den USA Trump oder Harris gewonnen hat, die Politik wird eine Rechtere werden und der Konflikt mit China wird sich weiter zuspitzen. Auch wird die USA weiter auf eine Unterstützung der israelischen Aggression, die Bekämpfung sozialer Bewegungen im Innern und eine rassistische Abschottung ihrer Grenzen gegenüber Migrant:innen setzen. In Deutschland ist eine Regierung unter der CDU und ihrem rechten Aushängeschild Friedrich März zu erwarten. Angriffe auf das Streikrecht, auf das Demonstrationsrecht und die sexuelle Selbstbestimmung werden nur einige der erwartbaren Folgen sein.

Der Rechtsruck wird sich in seinen unterschiedlichen Dimensionen also weiter formieren und ausbreiten, wenn wir es nicht schaffen, zu beweisen, dass die Lösung der Krise von links kommen muss. Der Kampf dafür beginnt genau dort, wo du gerade diesen Artikel liest. Denn zuerst einmal müssen wir uns dort organisieren, wo wir uns tagtäglich aufhalten, nämlich an unseren Schulen, Unis und Betrieben. Dort müssen wir Komitees aufbauen, die sich den Auswirkungen des Rechtsrucks entgegenstellen. Nur so können wir es schaffen, andere Teile der Gesellschaft auf unsere Seite zu ziehen, der Szenepolitik ein Ende zu bereiten und uns unabhängig vom Staat zu organisieren. Dabei müssen wir die Angriffe des Kapitals mit sozialen Forderungen bekämpfen! Wir brauchen Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft. Diesen müssen wir mit antirassistischen Forderungen verknüpfen, denn Rassismus schwächt unsere gemeinsame Kampfkraft. Wir lassen uns nicht spalten! Lasst uns gemeinsam gegen alle Asylrechtsverschärfungen und Grenzregime kämpfen und organisierte Selbstverteidigung aufbauen, gegen die Angriffe der Rechten! Das können wir jedoch nicht alles alleine tun, dafür müssen wir unsere Forderungen auch an die Organisationen richten, die einen Großteil der Arbeiter:innenklasse organisieren – also die Gewerkschaften und die reformistischen Parteien. In gemeinsamen Kämpfen müssen wir ihre Führungen unter Druck setzen, sich tatsächlich und unter Mobilisierung ihrer gesamten Mitgliedschaft gegen den Rechtsruck zu stellen. Koordiniert werden muss unser Widerstand international, denn so wie der Rechtsruck global stattfindet, kann es auch nur unser Widerstand sein.




Von der Türkei bis nach Südafrika: Femi(ni)zide global bekämpfen!

Von Sani Meier, November 2024

89.000 Frauen und Mädchen wurden 2022 vorsätzlich getötet – das sind 234 pro Tag, so viele wie seit 20 Jahren nicht mehr. Diesen Bericht veröffentlichte die UNO vor fast einem Jahr und löste damit weitreichende Empörung aus. Dennoch hat sich bis heute für die meisten Frauen wenig verändert: Deutschland erreichte 2023 seinen Höchststand an Femiziden. Wie schaffen wir es, die Gewaltspirale zu durchbrechen?

Frauenmord, Femizid, Feminizid?

Mehr als die Hälfte der Morde an Frauen finden im partnerschaftlichen oder familiären Umfeld der Opfer statt, also im privaten Raum. Die Täter sind ihre Ehemänner, Partner, Väter, Brüder oder vermeintliche Freunde. Die Motive reichen von Eifersucht und Trennungsangst über Rache bis zur Wiederherstellung der familiären „Ehre“. Noch immer verharmlosen die Medien diese Morde als „Familiendrama“, „Eifersuchtstat“ oder „Beziehungstragödie“, oder machen die Opfer mit Begriffen wie „erweiterter Suizid“ unsichtbar. Um dem entgegenzuwirken, wird heute der Begriff „Femizid“ verwendet, der die Systematik und geschlechtsbezogene Gewalt hinter den Taten in den Vordergrund rückt.

In Lateinamerika haben Feminist:innen erkannt, dass der Begriff des Femizids sich nur auf Taten im privaten Umfeld beschränkt. Um die Rolle des Staates und wirtschaftliche Faktoren nicht zu vernachlässigen, wurde der zusätzliche Begriff „Feminizid“ entwickelt. Ein anschauliches Beispiel hierfür sind die Frauenverbrennungen der europäischen Frühen Neuzeit: Frauen wurden unter dem Vorwurf der Hexerei systematisch durch Vertreter der Kirche getötet. Diese waren nicht ihre Partner oder Verwandten, aber konnten sich durch die Morde das Eigentum der getöteten Frauen aneignen. Feminizide wie diese geschehen auch heute noch in Teilen Afrikas und Indiens vor den Augen der Öffentlichkeit, um die Macht der Täter zu demonstrieren. Der Staat tritt meist als Komplize auf, da er die Taten halbherzig oder gar nicht rechtlich verfolgt, selbst Täter ist oder Frauen nicht die Möglichkeiten gibt, sich zu schützen.

Afghanistan

Auch das gezielte Töten von Aktivistinnen zur Sicherung der staatlichen Ordnung spielt eine wichtige Rolle. In Afghanistan häufen sich die Berichte über Frauenleichen, die auf Müllhalden oder in Straßengräben gefunden werden, besonders seit der Machtübernahme der Taliban. Frauen, die sich kritisch gegenüber dem Regime äußern, werden gezielt Opfer von Gewalttaten und sollen andere abschrecken. Die Taliban selbst geben keine offiziellen Zahlen zu Morden an Frauen heraus, doch auch durch die jüngsten Gesetzesverschärfungen können sie nicht verhindern, dass mutige Frauen weiterhin über die Situation vor Ort berichten.

Obwohl mit den Begriffen „Femizid“ und „Feminizid“ ein großer Teil der Taten sprachlich abgedeckt wird, ist es wichtig zu betonen, dass die oben genannten Zahlen keine vollständige Abbildung der patriarchalen Gewalt darstellen. Das liegt daran, dass ein großer Teil der Fälle nicht offiziell dokumentiert wird oder von staatlicher Seite verheimlicht wird. Dazu kommt, dass auch trans, inter und nicht-binäre Personen von Gewalt aufgrund ihres Geschlechts betroffen sind – auch sie werden nicht in die Statistiken mitaufgenommen. Doch obwohl die Dunkelziffer nicht genau zu ermitteln ist, geben uns die offiziellen Zahlen Anlass genug Grund zum Handeln. Ein Blick auf die weltweiten Frauenbewegungen der letzten Monate zeigt das globale Ausmaß der Gewalt, aber auch des Widerstands dagegen:

Türkei

Besonders die Türkei ist in den letzten Wochen und Monaten Schauplatz feministischer Mobilisierung. Trauriger Anlass hierfür waren zwei besonders schockierende Femizide im Oktober: Ein 19-Jähriger Mann hatte zwei junge Frauen ermordet und enthauptet. Nachdem er den zweiten Mord in der Öffentlichkeit auf der Theodosianischen Mauer in Istanbul beging, tötete er dort auch sich selbst. Bis September zählten Frauenrechtsorganisationen bereits 295 Frauenmorde und 184 verdächtige Todesfälle in der Türkei. 65 Prozent der Täter gaben an, die Frauen getötet zu haben, weil diese sich trennen wollten oder weil sie eine Partnerschaft oder Ehe abgelehnt hätten. Der Doppelmord brachte das Fass zum Überlaufen und hunderte Aktivistinnen auf die Straßen Istanbuls. Sie machen nicht nur die Täter individuell verantwortlich, sondern auch das Patriarchat und den Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dessen Regierung. Islamistische Bruderschaften und Teile des Regierungsbündnisses hatten immer wieder gefordert, die Gesetze zum Schutz von Frauen vor Gewalt abzuschaffen und Unterhaltszahlungen nach einer Scheidung zeitlich zu befristen. 2021 trat die Türkei aus der Istanbul-Konvention aus, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Angeblich fördere dieses Übereinkommen Homosexualität und untergrabe sogenannte „traditionelle Familienwerte“. An dieser Begründung wird deutlich, welche Rolle die bürgerliche Familie, bestehend aus Vater, Mutter und Kindern, für Gewalt gegen Frauen spielt. Wie wir wissen, stellt sie den Schauplatz und Rahmen für Femizide dar, und diese Morde bilden meist den Höhepunkt einer langen Geschichte von häuslicher Gewalt. Doch warum ist das so?

Die bürgerlichen Familie

Seit der Industrialisierung ist dieses Familienmodell zum Ideal geworden: Der Vater geht einer Lohnarbeit nach und versorgt mit seinem Gehalt die Familie, während die Mutter als Hausfrau zuhause bleibt und Sorge- und Hausarbeit ohne Bezahlung erledigt. Seit der Finanzkrise 2008 reicht in den meisten Familien der Arbeiter:innenklasse das alleinige Einkommen des Mannes nicht mehr aus. Viele Familien schaffen es gerade so über die Runden, wenn die Frauen auch arbeiten. Besonders im globalen Süden und bei migrantischen Arbeitskräften liegt der Lohn oft unter den Kosten der Versorgung. In dieser Situation kann der Mann seine sozialisierte Rolle des Versorgers nicht erfüllen und Frauen verdienen allein nicht genug, um sich trennen zu können. Die Krise des Kapitalismus ist gleichzeitig eine Krise der bürgerlichen Familie, deren innere Spannungen sich häufig in Gewalt und im schlimmsten Fall Mord entladen.

Der Rechtsruck verschärft diese Entwicklungen, weil Sexismus und Homophobie im Zentrum der Politik rechter Parteien stehen. Anstatt „traditionelle Familienwerte“ als den Ursprung patriarchaler Gewalt anzuerkennen, stellen sie sie als „natürlichen“ Ausweg aus der Krise dar. Männer sollen sich weiterhin verzweifelt in das Bild des alleinigen Versorgers pressen, während Frauen ohne finanzielle Mittel an den Haushalt gefesselt sind und der Sozialstaat weiter abgebaut wird. Dieser Teufelskreis zeigt, dass nur die Überwindung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der kapitalistischen Ausbeutung einen Ausweg aus der Gewaltspirale bieten kann.

Südafrika

Die Zusammenhänge zwischen Gewalt gegen Frauen und dem Klassensystem zeigen sich deutlich in Südafrika, wo die Statistik für Femizide 5 Mal höher ist als der weltweite Durchschnitt. Vor allem liberale Feminist:innen wundern sich über solche Zahlen, da die politische Repräsentation von Frauen hier deutlich höher ist als im Rest der Welt: 45% Frauenanteil im Parlament. Das allein reicht aber nicht aus, um Frauen vor Gewalt zu schützen, da Frauen aus der Arbeiter:innenklasse meist keine Chance auf eine politische Karriere haben. Über die Hälfte der Südafrikanerinnen lebt unterhalb der Armutsgrenze und in den Townships, also den städtischen Siedlungen, leben etliche Menschen auf engstem Raum unter prekären Bedingungen. Sie haben keine Chance, sich aus finanzieller Not und Abhängigkeit herauszukaufen und werden von den Herrschenden nicht berücksichtigt.

Wichtig zu berücksichtigen ist jedoch, dass häusliche Gewalt nicht allein das Problem proletarischer Stadtteile ist: Risikofaktoren wie Stress, Veränderung und Abhängigkeit können auch in bürgerlichen Familien auftreten. Männer der herrschenden Klasse haben dabei gute Chancen, ihre Taten zu verbergen und dafür niemals rechtlich belangt zu werden.

Indien

Zuletzt zeigt ein Blick nach Indien, welche kämpferische Perspektive unsere Solidarität aufzeigen kann. Hier erschütterten die Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Medizinstudentin im August das Land. Die Parallelen der Tat zur Gruppenvergewaltigung einer jungen Frau in einem Bus 2012 führte vielen vor Augen, dass sich seitdem nicht genug getan hat, um Frauen zu schützen. Gleichzeitig geschah die Tat am Arbeitsplatz des Opfers, im Krankenhaus, und rückte damit die prekären Arbeitsbedingungen im indischen Gesundheitswesen in den Fokus. Seit Jahren beklagen sich die Ärzt:innen, die zu 60% Frauen sind, über Unterbesetzung und mangelnde Sicherheit. Aus Solidarität gingen nach Bekanntwerden der Tat mehr als eine Million indische Ärzt:innen in einen Generalstreik, um ihre Forderungen gegenüber der Regierung durchzusetzen. Ihr Einsatz führte dazu, dass der Fall nun auf der höchsten Ebene der staatlichen Gerichtsbarkeit verhandelt wird. Doch auch wenn wir daran erkennen, dass Streiks Regierungen unter Druck setzen können, dürfen wir kein Vertrauen in den Staat und seine Institutionen haben, wenn es um den Schutz von Frauen und Queers geht!

Es ist unsere Aufgabe als revolutionäre Linke, Femi(ni)ziden den ökonomischen Nährboden zu nehmen, indem wir für soziale Verbesserungen und Wohlfahrtsprogramme sowie die Vergesellschaftung der Hausarbeit eintreten. Dies kann nur durch die Kontrolle der Arbeiter:innen über die Produktion und die Verteilung von Ressourcen gesichert werden. Gleichzeitig müssen wir uns selbst durch die Organisierung von bewaffneten Arbeiter:innenmilizen verteidigen. Gewalt gegen Frauen ist ein globales Problem des Kapitalismus und kann demnach nur durch eine globale, proletarische Frauenbewegung überwunden. Diese muss dem Sexismus innerhalb der eigenen Klasse den Kampf ansagen und den Weg bereiten für eine Zukunft ohne unterdrückerische Rollenbilder und sexistische Gewalt.




Welches Buch ein Klassiker ist, entscheiden wir selbst!

Wie der Deutschunterricht die Ideologie für Nationalismus liefert

Von Erik Likedeeler, Oktober 2024

Neues Schuljahr, neue Lehrpläne? Weit gefehlt. Bei vielen von uns liegen nach den Sommerferien wieder genau die gleichen verstaubten Wälzer auf den Tischen, mit denen sich schon unsere Eltern oder älteren Geschwister herumschlagen mussten. Aber warum lesen wir im Deutschunterricht überhaupt Klassiker? Und was soll ein „Klassiker“ überhaupt sein?

Kriterien für die Schullektüre? Nichts als Chauvinismus!

Eine offizielle Liste an Klassikern, aus denen die Schullektüre ausgewählt wird, gibt es nicht. Vielmehr sind je nach Bundesland bestimmte Epochen oder Autoren vorgeschrieben, oder es gibt Listen mit Vorschlägen. Aber wie kommt es, dass manche Werke es auf diese Listen schaffen und andere nicht? Wenn die Beliebtheit bei Schüler:innen das oberste Kriterium wäre, hätte Der Schimmelreiter es bestimmt nicht so oft in den Unterricht geschafft.

Die Anforderungen der Lehrpläne an die Schullektüre sehen ungefähr so aus: Die Werke sollen von ästhetischer Qualität sein und exemplarisch für eine Epoche stehen. Die Motive und Themen, die Form und der Stil sollen geschichtlich relevant sein, und es soll ein Bezug zu den Grundproblemen der menschlichen Existenz vorhanden sein.

Das Problem dabei: Ästhetik kann gar nicht objektiv sein. Auch die anderen Kriterien sind nur auf den ersten Blick ein sinnvoller Maßstab: Wer darf denn darüber entscheiden, welche Motive geschichtlich relevant sind, oder was die „Grundprobleme der Menschheit“ sind?

Literaturkritik bedeutet heutzutage immer noch größtenteils, dass reiche weiße Männer über die Werke von reichen weißen Männern schreiben. So pushen sie sich gegenseitig und helfen einander in den Klassiker-Status. Die Themen, über die sie schreiben, werden für allgemeingültig erklärt, während Queerfeindlichkeit und Rassismus als Randprobleme gedeutet werden, die nur für Minderheiten relevant wären.

Nach Klassiker-Kriterien wie „Vielschichtigkeit“ wird in den Werken von unterdrückten Autor:innen gar nicht erst gesucht. Frauen wird schon seit hunderten von Jahren abgesprochen, bedeutsame Bücher schreiben zu können, und auch heute noch werden ihre Werke als Spezialgegenstände für Genderforschung abgestempelt. Wie der bekannte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki einmal dazu sagte: „Wen interessiert, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert? Das ist keine Literatur – das ist ein Verbrechen.“

Literaturepochen? Alles andere als romantisch

Auch die Anforderung des „exemplarischen Charakters für eine Literaturepoche“ ist kein objektives Kriterium. Denn die Art, wie Literaturepochen eingeteilt werden, ist nicht naturgegeben, sondern menschengemacht.

Ein Beispiel: Die Epoche der Weimarer Klassik wird zwischen Goethes erster Italienreise und Goethes Tod verortet. Der Lehrplan sieht also vor, dass wir etwas über Goethe lernen, weil er exemplarisch für die Weimarer Klassik steht. Und wir lernen etwas über die Weimarer Klassik, weil Goethe daran mitgewirkt hat. Das ist nichts anderes als ein Zirkelschluss.

Häufig wird sich bei der Epocheneinteilung an dem Schaffen weniger bürgerlicher, europäischer Männer orientiert. Es wird davon ausgegangen, dass sie einander inspirierten und hervorbrachten, dass sie in einer Art Kausalkette miteinander in Verbindung stehen, die man einfach auswendig lernen kann. Alle Werke und Dichter:innen, die nicht in das Geschichtskonstrukt einer männlichen Linie passen, werden einfach ausgeblendet.

Warum wird von uns Schüler:innen erwartet, dass wir nur stumpf vorgefertigte Modelle auswendig lernen, anstatt selbst welche zu entwerfen? Wenn Literaturepochen von vorneherein um weiße, bürgerliche Männer herumgebaut werden, dann haben Arbeiter:innen, Frauen und People of Color keine Chance, jemals exemplarisch für eine Epoche zu stehen.

Das merken wir auch an unseren Lehrplänen: Selbst für den Themenblock der „weiblichen Identitätsfindung“ schlägt der Lehrplan in Baden-Württemberg mehr Werke von Männern als von Frauen vor.

In Bayern ist Goethes Faust sogar das einzige Werk, das verpflichtend im Lehrplan steht. Und hier können wir uns mal die Frage stellen: Wofür steht ein Werk wie Faust denn repräsentativ? Das Stück bricht mit sämtlichen Regeln und Traditionen und steht sicher nicht exemplarisch für die damalige Zeit.

Was unsere Lehrer:innen uns auch nicht erklären wollen: Warum müssen es denn immer Barock und Romantik sein? Je nachdem, welche sozialen Bewegungen wir uns anschauen, und welche Autor*innen wir miteinander in Verbindung setzen, können Epochen ganz unterschiedlich eingeteilt werden.

Warum lernen wir nichts über die Zirkel Schreibender Arbeiter, die es ab 1959 in der DDR gab? Warum lesen wir im Englischunterricht Shakespeare, aber erfahren nichts über die afroamerikanischen Künstler:innen zur Zeit der Harlem Renaissance?

Sind Klassiker wirklich „zeitlos“?

Häufig werden Klassiker definiert als Werke, die „den Stil ihrer Zeit überdauern“ und „viele Generationen von Menschen begeistern“. Aber wie schaffen einige Werke das?

Wenn die Tragödien von Schiller oder die Gedichte von Eichendorff „zeitlos“ auf uns wirken, dann liegt das vor allem daran, dass sie schon damals, als sie geschrieben wurden, wenig mit ihrer Zeit zu tun hatten.

Ob Französische Revolution oder Märzrevolution: Damals brachen alte politische Systeme in sich zusammen und neue Machtstrukturen etablierten sich. Ein Großteil der Bevölkerung litt unter sozialem Elend; Frauen waren zur Care-Arbeit gezwungen und versklavte Menschen schufteten in den Kolonien.

Wer konnte es sich angesichts von Krieg und Hungersnot leisten, zu beschließen, dass ihn das alles nichts angeht? Wer konnte im stillen Kämmerlein von der Schönheit der Natur oder den Idealen der griechischen Antike träumen? Wer profitierte davon, Dramen darüber zu verfassen, dass der Mensch nur dann vollkommen wird, wenn er gelassen über alles Unrecht hinwegblickt? Richtig, die Männer des europäischen Bürgertums, die gar kein Bock hatten, sich mit den aktuellen Ereignissen zu befassen.

Kein Wunder, dass Johann Christoph Gottsched und Co. so sehr mit der Ständeklausel geliebäugelt haben: Damit ist die Regel gemeint, dass nur Adlige die Hauptfiguren in Tragödien spielen dürfen. Wenn sie litten oder starben, galt das als besonders tragisch und bedeutsam, weil ihre „Fallhöhe“ größer war. In Komödien hingegen wurde sich über Bauern oder andere arme Bevölkerungsgruppen lustig gemacht – ihr Leben galt als lächerlich und unbedeutend.

Heute stehen wir vor der Frage: Wie kann ein Werk weiterhin als „zeitlos“ gelten, wenn die meisten Jugendlichen es verachten und keinen Zugang mehr dazu finden? Wenn wir uns nicht mit den zwielichtigen Helden der Stücke identifizieren, sondern mit denen, die unter ihrem Verhalten leiden? Aber jedes Mal, wenn wir feststellen, wie ekelhaft der Prinz aus Emilia Galotti ist oder wie übergriffig Werther sich gegenüber Lotte verhält, bekommen wir nur zu hören: „Das war damals eben eine andere Zeit.“

Wie können wir glauben, dass Klassiker niemals an Aktualität einbüßen, und gleichzeitig darüber hinwegsehen, wie sexistisch, rassistisch und antisemitisch viele dieser Werke sind? Wie können wir Dichter für allwissende Genies halten, aber gleichzeitig an dem Glauben festhalten, dass sie es einfach nicht besser wissen konnten, was Unterdrückung angeht?

Der Dichter – ein einsames Genie?

Die Beziehung zwischen Autor:in und Werk ist keine feststehende, sondern eine, die immer wieder neu verhandelt werden muss und sich eng an den Besitzverhältnissen einer Gesellschaft orientiert. Als größere Teile der Bevölkerung lesen lernten und die Techniken des Buchdrucks sich verfeinerten, entstand ein rasant anwachsender Buchmarkt, und das dringende Bedürfnis, sich in diesem Business einen Platz zu sichern. Im Kapitalismus ist es unabdingbar, einen Autor fest mit einem Werk zu verknüpfen: Nur so lässt sich „geistiges Eigentum“ schützen und Geld verdienen. In der der Renaissance wurde es durch „Autorenprivilegien“ möglich, das Druckrecht zu verkaufen und gegen Fälschungen vorzugehen; die Idee eines „geistigen Eigentums“ entstand sogar noch später.

In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts brachte die Bewegung des Sturm und Drang die Idee des Dichters als „schöpferisches Genie“ hervor: Junge Dichter, darunter auch Goethe und Schiller, betrachteten sich selbst als Götter, die bei ihrem Schreiben aus sich selbst heraus schöpften und ihre eigenen Empfindungen verarbeiteten. Inspiration nicht mehr als eine gottgegebene Kraft zu betrachten, passte zum damaligen aufklärerischen Gedanken.

Mithilfe dieser Genie-Theorie wurde behauptet, dass nur wenige, bürgerliche Männer das Talent zum Schreiben in sich trugen. Alle anderen, die nicht zu dieser Elite zählten, sollten es erst gar nicht versuchen. Bauern sollten auf ihren Feldern bleiben und Mütter bei ihren Kindern. Auch Goethe war der Überzeugung, Frauen wären nicht dazu in der Lage, Kunst zu schaffen. Gleichzeitig verbrannte er die Briefe seiner Schwester, weil er fand, dass sie besser geschrieben waren als seine eigenen.

Als Frau ein „Genie“ zu sein war geradezu unanständig: Männliche Genies lebten von ihrer Kompromisslosigkeit, von Provokation und Grenzüberschreitungen, sowie von ihrer „rasenden Leidenschaft“ – auch im sexuellen Sinne. Frauen mit den gleichen Eigenschaften, wie z.B. Charlotte Brontë, galten als grob, unkultiviert und nicht heiratsfähig.

Doch die Idee des Künstlers als „einsames Genie“ ist schon lange überholt: Kein Dichter schöpft ausschließlich aus sich selbst heraus. Im Hintergrund spielen immer Denktraditionen eine Rolle. Über Jahrhunderte hinweg haben männliche Dichter von Frauen abgeschrieben, sie für sich arbeiten lassen oder ihre Werke gestohlen und als eigene veröffentlicht.

Zusätzlich braucht jedes „Genie“ ein materielles, technisches, finanzielles und emotionales Supportsystem, das im Hintergrund agiert, um Ruhe und Motivation zu schaffen und das „Genie“ von anderer Arbeit zu befreien. Dieses System beruht natürlich auf der Ausbeutung von Ehefrauen und Arbeiter:innen.

Schluss mit deutscher Leitkultur!

Der Genie-Gedanke und das Epochen-Konstrukt fügen sich in den Lehrplänen zusammen zu einer unterschwellig vermittelten „Theorie der großen Männer“. Wir bekommen beigebracht, dass die Welt sich aus den Biographien weniger, europäischer, bürgerlicher Männer zusammensetzen würde. Je nach Unterrichtsfach werden dann Kant, Bismarck, Beethoven, Einstein oder Nietzsche als Autoritäten benannt – diejenigen, die so bekannt sind, dass man ihre Vornamen weglassen kann.

Daraus ergibt sich der Eindruck, dass es vor unserer Geburt diese Reihe von „perfekten“ Vertretern der Renaissance, der Aufklärung oder der Romantik gab, in deren Tradition wir stehen und auf deren Existenz unsere heutige Kultur aufbaut. Mit diesen Identifikationsfiguren sollen nationalistische Herrschaftsansprüche auf intellektueller Ebene gerechtfertigt werden.

Nicht ohne Grund hängt in einigen deutschen Städten an jedem zweiten Haus eine Tafel, die darüber informiert, wo Goethe überall schon gegessen, geschlafen oder hingekotzt hat. Denn die Klassiker-Dichter repräsentieren nicht nur sich selbst: sie stehen auch für das „Land der Dichter und Denker“ und sind wichtige Symbole des deutschen Imperialismus.

Die deutschen Sprach- und Literaturwissenschaften, die unserem Deutschunterricht zugrunde liegen, entstanden genau in den Jahrzehnten, in denen der deutsche Nationalismus erstmals an Aufschwung gewann. Die Brüder Grimm schrieben ihre Märchen, Legenden, Wörterbücher und Grammatikregeln nicht aus Spaß nieder, sondern weil sie eine deutsche Leitkultur erschaffen wollten.

Kein Wunder, dass wir nichts darüber lernen, wie rassistisch Immanuel Kant war, oder wie homophob Heinrich Heine sich geäußert hat. Denn wer die „großen Männer“ angreift, der greift das ideologische Fundament des deutschen Imperialismus an. An vielen Stellen hindern uns die Lehrpläne daran, ein vollständiges Bild von den Menschen zu entwickeln, die wir als Idole betrachten sollen.

Es wäre aber viel zu einfach, davon auszugehen, dass wir einfach nur all die verdorbenen alten Männer loswerden müssten, um einen bereinigten Lehrplan zu erhalten und in einer unschuldigen Welt zu leben, in der nur noch gute Menschen gute Bücher schreiben. Wir können nicht so tun, als gäbe es einen „reinen Idealzustand“, der durch die Realität nur ungünstig befleckt wird.

Glücklicherweise leben wir in einer Zeit, in der wir Zugang zu zahlreichen Informationen haben. Daraus erwächst die Verantwortung, diese zu unterrichten. Wenn wir über Kants Kategorischen Imperativ lernen, dann darf dabei nicht ignoriert werden, dass er Frauen und People of Color nicht als vollwertige Menschen gesehen hat.

Wenn sich nach dem Unterricht herausstellt, dass es Theoretiker:innen oder Dichter:innen gibt, die Schüler:innen nach wie vor als Vorbilder betrachten wollen, dann entscheiden wir darüber selbst!

Selbstbestimmte Schullektüre – wie kommen wir dahin?

Als Beweis dafür, dass die Lehrpläne ja bereits diverser werden, wird häufig Corpus Delicti angeführt, durch das viele von uns sich fürs Abi gequält haben. Aber einfach ein paar konservative Autorinnen wie Juli Zeh in den Lehrplan mitaufzunehmen, ist nicht die Bildungswende, die wir uns vorstellen. Der Deutschunterricht braucht tiefgreifendere Veränderungen!

Leider orientieren die Kultusministerien sich bei der Lektürefrage an den Verlagen, z.B. am Reclam-Verlag. Die Verlage wiederum sind von kapitalistischen Zwängen getrieben: Nach wie vor werden mehr Werke von Männern als von Frauen veröffentlicht; je höher das Ansehen des Verlages, desto geringer der Frauenanteil in den Publikationen.

Außerdem orientieren sich die Verlage bei ihrem Programm daran, was in den Lehrplänen steht. Die Verlage und die Ministerien schieben sich also gegenseitig die Verantwortung zu, und diese Struktur ist so fest gewachsen, dass niemand etwas ändern will.

Damit die Verlage nicht länger aufgrund von Profitzwang „Altbewährtes“ bevorzugen, müssen sie verstaatlicht werden! Die Produktion und Veröffentlichung von neuen Unterrichtsausgaben und Lektüreschlüsseln muss unter der Kontrolle der Arbeiter:innen stattfinden!

Auch das verfügbare Unterrichtsmaterial spielt eine große Rolle: Wenn wir uns dafür entscheiden würden, ein neues, unbekanntes Buch zu lesen, dann müssten unsere überarbeiteten Lehrer:innen alle Unterrichtsstunden selbst gestalten und könnten nicht auf Vorlagen für Arbeitsblätter zurückgreifen. Es braucht also auch kleinere Schulklassen, damit Lehrer:innen ihren Unterricht selbstgestalten können, anstatt auf 20 Jahre alte Konzepte zurückgreifen zu müssen.

Die Angst davor, sich auf neue Werke einzulassen, kann auch von den Schüler:innen ausgehen, die Probleme mit Interpretationen haben. Zu Novalis oder Gerhart Hauptmann gibt es wenigstens fertige Texte im Internet, die wir bei der Klausurvorbereitung nutzen können. Das ist längst nicht für alle Werke der Fall.

Um diesen Leistungszwang zu beheben, brauchen wir die Abschaffung der Schulnoten für Klausuren. Zudem müssen einige Deutschlehrer:innen sich endlich von dem Gedanken verabschieden, dass es für jedes Gedicht nur eine einzige Interpretationsmöglichkeit geben kann.

Um zur selbstbestimmten Schullektüre zu kommen, muss sich also vieles ändern. Am wichtigsten ist, dass Schüler*innen sich zusammenschließen und gemeinsam darüber zu diskutieren, welche Werke sie im Deutschunterricht behandeln wollen. Das müssen nicht nur Bücher sein: Auch andere Medien wie Filme oder Spiele können dazu beitragen, einen Unterricht schaffen, für den Schüler:innen sich tatsächlich begeistern, und mit dem wir Literatur als etwas Schönes und nicht etwas Ödes kennenlernen!




Sexualkunde und Rechtsruck: Wie hängt das zusammen?

Von Erik Likedeeler, April 2024, REVOLUTION Zeitung 2/2024

Vor Kurzem haben wir an der Christian-Morgenstern-Schule in Hamburg eine Kampagne gestartet, um dafür zu kämpfen, dass dort ein richtiger Sexualkundeunterricht eingeführt wird – denn das ist an Waldorfschulen nicht immer gegeben.

Zusammen mit der queeren Schulgruppe der CMS haben wir ein Banner auf dem Schulhof aufgehängt, mit Plakaten auf das Thema aufmerksam gemacht und auf den Toiletten Boxen aufgestellt, damit die Schüler:innen ihre eigenen Wünsche an den Unterricht auf Zettel schreiben und hineinwerfen können.

Mit dem aktuellen Rechtsruck steht die Qualität der Bildung und Aufklärung über Liebe, Beziehungen und Sexualität wieder einmal auf der Kippe, auch an den staatlichen Schulen. Aber warum ist das eigentlich so?

Welches Bild von Sexualität und Familie vertreten Rechte?

Das Bild, das Rechte von Familie und Sexualität vertreten, ist überschaubar: Sex soll am besten zwischen weißen, heterosexuellen Menschen stattfinden, die entweder verheiratet sind oder in einer ehe-ähnlichen, monoamoren (max. 2 Personen lieben sich gegenseitig) Beziehung leben. Dabei soll der Mann eine aktive Rolle ausüben und die Frau sich passiv seinen Wünschen unterordnen. Ein Recht darauf, Nein zu sagen, soll es für sie nicht geben.

Zweck ist es, die bürgerliche Kleinfamilie aufrecht zu erhalten. Das heißt: Männer arbeiten Vollzeit, während Frauen zuhause bleiben und sich um den Haushalt und die Kinder kümmern.

Sexualpraktiken, die nicht unmittelbar der Fortpflanzung dienen, werden beschämt und tabuisiert. Wenn Rechte Verhütung als Luxus bezeichnen, Abtreibungen verbieten und Konsens für Quatsch erklären, dann dient auch das diesem Idealbild.

Rechte beziehen sich auf die Vorstellung eines „Volkes“ in einem Nationalstaat, dessen Interessen es zu vertreten gälte. Auch wenn sie das nicht so offen sagen, stehen sie mit dieser Ideologie im Dienst des Kapitalismus.

Denn sowohl der Nationalstaat als auch die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung ist für dessen Profitmaximierung notwendig. Deshalb kommt es in Zeiten von Krisen, z.B. Corona, Krieg oder Finanzkrise, immer wieder zum Erstarken rechter Kräfte, bzw. zum Rechtsruck in bürgerlichen Parteien.

Natürlich sind Rechte nicht damit einverstanden, dass sich auch all die Menschen fortpflanzen dürfen, die nicht in das Idealbild der bürgerlichen Familie passen. Queere Eltern oder Alleinerziehende soll es in ihren Augen gar nicht geben, denn die würden die angeblich „natürliche“ Rollenaufteilung infrage stellen.

Auch behinderten Menschen wird es abgesprochen, Kinder bekommen zu dürfen, da Rechte sie als Belastung für ihr „Volk“ einstufen und sie als Sündenbock nutzen, wenn das profitorientierte Gesundheitssystem an seine Grenzen kommt. Deshalb werden zahlreiche behinderte Menschen gegen ihren Willen sterilisiert.

Warum Kinder und Jugendliche Aufklärung brauchen

Rechte tun häufig so, als wären Kinder und Jugendliche reine, unschuldige Wesen, die vor der „woken“ Ideologie geschützt werden müssten. Damit meinen sie im Grunde alles, was die Diversität der Gesellschaft auf positive Weise widerspiegelt, wie zum Beispiel das Behandeln von LGBTIA+ im Unterricht. Anstatt uns über unsere eigene Sexualität bestimmten zu lassen, reden sie von „Grooming“. Mit dieser Begründung wurden in US-amerikanischen Schulen zahlreiche Bücher mit vermeintlich „frühsexualisierenden“ Inhalten verboten.

Doch die Realität sieht anders aus: Eine Menge Jugendliche haben gern Sex und probieren sexuelle Handlungen aus, völlig egal, ob sie in der Schule darüber aufgeklärt wurden oder nicht. Sex ist für viele Jugendliche ein wichtiger Teil des Lebens und ihnen Informationen darüber vorzuenthalten oder Abstinenz zu fordern, ändert daran nichts.

Das würde höchstens dafür sorgen, dass Grenzüberschreitungen begünstigt werden, weil das Konsensverständnis fehlt, oder dass es zu mehr ungewollten Schwangerschaften und sexuell übertragbaren Infektionen wie HPV kommt, weil die Verhütung weggelassen wird.

Außerdem ist es eine bittere Tatsache, dass auch Kinder und Jugendliche von sexualisierter Gewalt betroffen sind, sowohl durch Gleichaltrige als auch durch Erwachsene. Wenn wir die gesellschaftlichen Tabus nicht abbauen, dann werden Betroffene nicht in der Lage sein, Körperteile und Handlungen konkret und ohne Scham zu benennen. Und wie sollen sie dann jemals in der Lage sein, sich zu wehren oder um Hilfe zu bitten?

Wir sind außerdem dagegen, Kinder mit Lügen vom Storch abzuspeisen, nur, weil Lehrpersonen und Erziehungsberechtigte sich damit schwertun, Fortpflanzung kindgerecht zu erklären. Solche Märchen dienen nicht dem Kindeswohl, sondern nur dem Schamgefühl der Erwachsenen. Kinder für blöd zu verkaufen hält sie innerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie in einer unmündigen und abhängigen Rolle gefangen.

Was muss passieren?

Um zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche unzuverlässige Informationen von Freund:innen oder aus dem Internet beziehen müssen, muss Sexualkunde ein verpflichtender Bestandteil des Unterrichts sein, an jeder einzelnen Schule!

Deshalb fordern wir einen zeitgemäßen Sexualkundeunterricht, der alles abdeckt, was Jugendliche wirklich interessiert. Dazu gehört z.B. die korrekte Darstellung der Anatomie, denn in zahlreichen Lehrbüchern ist immer noch nicht die Klitoris korrekt abgedruckt. Nur, wenn Jugendliche ihren eigenen Körper kennenlernen dürfen, können sie sich selbst und ihre Bedürfnisse verstehen und darüber tabulos kommunizieren. Aber auch verschiedene sexuelle Praktiken und entsprechende Verhütungsmethoden müssen Teil des Lehrplans sein, vor allem abseits von Heterosexualität wird momentan viel zu wenig aufgeklärt. Schüler:innen und Lehrer:innen sollten gemeinsam entscheiden dürfen, welche Themen sie im Unterricht behandeln wollen.

Letztlich muss nicht nur der Sexualkundeunterricht von Schüler:innen mitgestaltet werden, sondern es braucht eine umfassende Bildungswende, damit auch in den anderen Unterrichtsfächern keine rechten Geschlechterrollen mehr vermittelt werden.




Faschist:innen zurückdrängen – Pride verteidigen!

Flo Rojo, zuerst erschienen in Neue Internationale 285, September 2024

Protest gegen Pride Parades ist seit Jahren immer wieder Mobilisierungspunkt der Rechten. Hierbei führt der Hass auf das Feindbild Queers auch nicht selten zu Angriffen auf die CSDs. Was in den letzten Jahren jedoch noch meist vereinzelt passiert ist, entwickelt sich nun zu größeren Gegenprotesten, wie z. B. vor kurzem in Bautzen. Dort schafften es Kräfte wie die Jungen Nationalisten (JN, Jugendorganisation von Die Heimat, bis 2023 NPD), hunderte jugendliche Nazis unter dem Motto „Gegen Genderpropaganda und Identitätsverwirrung“ zu versammeln. Zusammen mit den Freien Sachsen brachten sie fast 700 Menschen auf die Straße. Die Videos des Aufmarschs, in welchen sie z. B. lautstark „Nazikiez“ skandierten, gingen schnell viral. Nun stellt sich die Frage: Wie können wir damit umgehen?

Warum dienen Prides als Angriffspunkt?

Die Nazikleinstpartei III. Weg schreibt: „Eine Familie, das sind Mann, Frau und Kinder“ und dass die Genderagenda eben diese angreifen würde, was dazu führt, dass „Gender-Propaganda und ihre politischen Äußerungen … unsere Kinder und die Jugend [gefährden]“. Für die Rechten stellen lesbische, schwule oder trans Menschen also Angriffe auf „ihre“ Familie dar. Das Durchbrechen von Geschlechterrollen, das Infragestellen von Heterosexualität als Normalität gefährden nämlich das klassische Bild der bürgerlichen Kleinfamilie. Das ist dabei nicht nur ein Problem der Rechten, sondern auch Kern der Queerunterdrückung überhaupt. Die klassische geschlechtliche Arbeitsteilung, bei der die cis Frau unbezahlt Reproduktionsarbeit (bspw. Waschen, Kinder Erziehen etc.) verrichtet, wird nämlich durch das klassische Familienbild ideologisch gerechtfertigt. Daneben spielen eindeutig geregelte Erbschaftsverhältnisse für die Herrschenden eine vergleichbare Rolle. Somit kommen die Faschist:innen zwecks Verteidigung der „deutschen Familie“ eben zu dem Entschluss, dass der „Kampf gegen die Regenbogenideologie auch auf der Straße geführt“ werden muss.

Die Rolle der Polizei

Ob Berlin, Bautzen oder Leipzig – bei den Aufmärschen spielte die Polizei eine Rolle dabei, dass die Faschist:innen nicht aktiv den CSD angriffen. Im Kontrast zu z. B. Palästinademos war das Polizeiaufgebot zwar recht klein und bot für die Faschist:innen weiterhin Möglichkeiten zum Angriff, dennoch wurden die Nazis z. B. in Leipzig daran gehindert, überhaupt den Bahnhof zu verlassen, und in Berlin alle Beteiligten verhaftet. Von vielen Kräften wird deshalb nun die Polizei als Schutzpatron für Queer Prides gehandelt. Doch ist das so sinnvoll und ausweglos wie oft dargestellt?

Die Polizei spielt in diesem System eine primäre Rolle: Verteidigung der Interessen des bürgerlichen Staats und somit des Kapitals. Somit ergibt sich auch, warum sie sich für die Sicherheit von Prides einzusetzen scheint, da der Staat eben das Interesse verfolgt, sich als Kämpfer für queere Rechte zu inszenieren. Wobei er sonst tagtäglich queerfeindliche Gewalt durchsetzt, meist auch durch die Polizei. Ob die Uniformierten auf „unserer Seite stehen“, kommt drauf an, ob der Staat gerade ein Partyevent in unserem Namen veranstalten möchte. Doch selbst da bekommst du schnell einen Schlagstock ins Gesicht, wenn du z. B. die Spekulation mit Wohnraum oder Unterstützung von Israels Genozid kritisierst. Das haben wir dieses Jahr beim CSD in Hannover (https://onesolutionrevolution.de/solidaritaet-mit-der-queeren-hausbesetzung-in-hannover-fuer-die-enteignung-von-wohnraum/) und der International Queer Pride in Berlin gesehen.

Im Kampf um queere Befreiung können wir uns somit nicht auf die Polizei verlassen. Da die Unterdrückung von queeren Menschen eben in den Grundfesten des Kapitalismus verwurzelt ist, kann deren Aufhebung nur durch die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung erreicht werden. Der Kampf um queere Befreiung kann also nur gegen die Polizei als Teil des bewaffneten Arms des Staates, welcher für die Aufrechterhaltung der Diktatur des Kapitals agiert, erfolgreich sein.

Wie verteidigen?

Doch auch wenn wir zu diesem Entschluss kommen, stehen wir weiterhin vor dem Problem, dass die Bedrohung durch Faschist:innen weiterhin auf der Tagesordnung steht. Wie können wir uns also effektiv gegen Angriffe von Nazis und Polizei schützen? Die Losung, die wir verbreiten sollten, lautet: massenhafte, militante und organisierte Selbstverteidigungsstrukturen. Diese Organe, welche Zusammenschlüsse von Organisationen der Arbeiter:innenbewegung und Unterdrückten sein müssen, können eben diese Funktion erfüllen. Hierbei ist es essentiell, dass es sich um demokratische Strukturen handelt, diese somit sich durch Wähl- und Abwählbarkeit und Rechenschaftspflicht auszeichnen. Dabei müssen wir dafür kämpfen, dass sich diese Organe nicht nur aus ein paar radikalen Linken zusammensetzen, sondern aktiv auf Gewerkschaften und reformistische Parteien wie Linkspartei und SPD zugehen, um die breite Masse der Arbeiter:innen dazu zu bringen, die Verteidigung so effektiv wie möglich durchzuführen. Das heißt: Wir müssen dringend auch auf Organisationen von Unterdrückten zugehen, also auf queere aber auch Migrant:innenorganisationen, da diese von den Angriffen der Faschist:innen tagtäglich betroffen sind. So können wir Schutz für Unterdrückte wirklich ermöglichen und der Übermacht der Staatsgewalt beginnen, etwas entgegenzustellen.

Wir kommen wir dahin?

Wir müssen jedoch auch der Realität ins Auge schauen und verstehen, dass SPD und DIE LINKE sich nicht direkt an dem Aufbau dieser Organe beteiligen würden. Aus der Perspektive von kleinen Gruppen, so wie wir es sind, müssen wir daran arbeiten, diese Kräfte unter Druck zu setzen, und diese Perspektive als unerlässlich aufzeigen. Gleichzeitig müssen wir jedoch praktische Arbeit leisten und uns den Faschist:innen entgegenstellen, wobei uns klar sein muss, dass das in unserem jetztigen Stadium nur beispielhaft passieren kann. und weiter die Forderung aktiv in die Linke tragen.

Doch Symptome zu bekämpfen, reicht an dieser Stelle nicht aus! Im Kampf gegen den Aufstieg der Faschist:innen müssen wir ebenfalls soziale Forderungen gegen die Krise und schlechten Lebensbedingungen aufwerfen, die den Kampf für Verbesserungen mit dem gegen den Kapitalismus verbinden. Denn reine Antifaarbeit wird die Faschist:innen nicht verschwinden lassen. Das können wir jedoch nicht nur abstrakt tun, sondern indem wir an den Orten, an denen wir uns jeden Tag aufhalten, organisieren, also der Schule, Uni und im Betrieb. Wir müssen auf die Ängste und Probleme, die unsere Mitschüler:innen, Kommiliton:innen und Kolleg:innen umtreiben, eingehen und dort für unsere Interessen kämpfen, um die Basis einer kräftigen Bewegung zu schaffen, die den Faschist:innen etwas entgegenstellt. Lasst uns also die Angst und Wut vor den Faschist:innen, der Polizei und schlechten Zukunftsaussichten in geordnete Bahnen lenken und ihnen organisierten Ausdruck verschaffen. Nur so ist es möglich, diesem Elend zu entfliehen und eine Gesellschaft zu errichten, welche für uns da ist und in der wir uns sicher selbst feiern können.




Weltmenstruationstag: Bluten for free? Hygieneartikel auf allen Toiletten!

Von Alys, Mai 2024

Stell dir vor, du bist in der Schule. In 15 Minuten beginnt deine mündliche Prüfung. Du bist nervös und gehst vorher noch einmal auf die Toilette. Dort wartet eine böse Überraschung auf dich: Du hast deine Tage bekommen und keinen Tampon dabei!

So eine Situation haben viele Schüler:innen schon einmal erlebt. Bei 67 % der Menstruierenden muss erstmal Klopapier als Notlösung herhalten. Doch wie geht es dann weiter? Vielleicht hast du Glück und eine:r deiner Mitschüler:innen hat einen Tampon für dich dabei. Wenn nicht, müsstest du dir in der Pause eine Packung kaufen gehen, doch dein Taschengeld reicht nicht für die 5 €.

Was kostet deine Periode?

Periodenarmut ist ein Problem, dem oft wenig Beachtung geschenkt wird. In einer Studie von PLAN Deutschland und WASH United gaben 23 % der Mädchen und Frauen ab 16 Jahren an, dass die monatlichen Ausgaben für die Periode für sie eine finanzielle Belastung seien.

Das britische Rabattportal Money Saving Heroes fand heraus, dass Menstruierende circa 46 € im Monat für Periodenprodukte, Schmerzmittel, Wärmepflaster, neue Unterwäsche und Ähnliches ausgeben. Im ALG II Satz sind zum Beispiel monatlich nur 17.02 € für Hygieneausgaben vorgesehen. Die meisten Schüler:innen sind finanziell noch abhängig von ihren Eltern. Sind diese Arbeiter:innen des Niedriglohnsektors oder auf Sozialhilfe angewiesen, wird das Geld für Periodenprodukte knapp. Besonders betroffen von Periodenarmut sind jedoch obdachlose Menschen. Bei ihnen kommt erschwerend dazu, dass es sehr wenige saubere und kostenlose öffentliche Toiletten gibt und dass sie weniger Zugang zu sauberer Kleidung haben.

Fehlender Zugang zu Hygieneartikeln und öffentlichen Toiletten führt dazu, dass vor allem junge Menstruierende sich unwohl fühlen und lieber zuhause bleiben. Damit werden Menstruierende aus dem öffentlichen Raum wie zum Beispiel der Schule ausgeschlossen. Wer sich außerdem sorgen muss, ob der letzte Tampon noch für den Schultag reicht, kann sich schlechter aufs Lernen konzentrieren.

Eine Sparstrategie ist zum Beispiel, Menstruationsprodukte länger nicht zu wechseln. Das kann gesundheitlich gefährlich werden. Beim Tragen eines Tampons über 8 Stunden erhöht sich das Risiko für das toxische Schocksyndrom. Feuchte Binden bilden einen Nährboden für Bakterien und Infektionen. Das könnte wiederum höhere medizinische Kosten nach sich ziehen. Oder andersrum: Arm sein ist sehr teuer.

Hygieneartikel als Grundversorgung

Deshalb die Frage: Warum gehören Tampons und Binden nicht einfach zur Standardausstattung von öffentlichen Toiletten wie Klopapier und Handseife? Von der Politik und von der Öffentlichkeit wird die Periode weitestgehend ignoriert und gewissermaßen als ein Privatproblem mancher Menschen behandelt. Das hat zum einen damit zu tun, dass das Thema immer noch tabuisiert wird. Es ranken sich sehr viele hartnäckige Mythen um die Periode, zum Beispiel dass das Periodenblut irgendwie schmutzig oder gar giftig sei oder dass man während der Blutung keinen Sex haben sollte. So wirkt, als sei die Periode etwas, für das man sich gar schämen sollte, und erst recht nicht öffentlich darüber laut sprechen oder gar politisieren. Diese Tabuisierung und Mystifizierung sind letztendlich die Folge der jahrtausendalten Frauenunterdrückung und im Besonderen des Heraushaltens von Frauen bzw. Menstruierenden aus dem öffentlichen Raum und damit auch des wissenschaftlichen wie medizinischen Diskurses. Etwas, was bei den allermeisten Frauen und Menstruierenden über eine lange Phase ihres Lebens zum Alltag gehört, schlichtweg als unaussprechlich und ekelerregend zu definieren, ist eine Form der Gewalt und Unterdrückung. Zumal Beschwerden, die damit einhergehen, auch totgeschwiegen werden und bis vor kurzem nicht einmal wirklich untersucht wurden. Stattdessen wird uns seit unserer Jugend vermittelt, dass es ganz normal ist, wenn wir Krämpfe haben, die uns bewegungsunfähig machen, wir aber einfach eine Wärmeflasche drauflegen sollen, weil wir uns ja nicht einfach jeden Monat 1–5 Tage deswegen krankschreiben lassen können. Und das, obwohl das in diesem Ausmaß überhaupt nicht normal ist, wie die heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich Endometriose zeigen. Doch auch Endometriose wird noch viel zu wenig in der Medizin ernstgenommen, obwohl es eine weit verbreitete Erkrankung ist (laut Zeitbild medical sind 10 % der Menstruierenden in Deutschland betroffen). Das merken wir dran, wie schwierig es ist, eine Diagnose zu bekommen. Dies dauert im Schnitt 10 Jahre. Auch PMDS, also PMS mit Fokus auf psychische Symptome, wird wenig öffentlich diskutiert. Dabei sind auch diese Symptome weit verbreitet, führen aber bei 5–7 % sogar dazu, dass sie aufgrund von depressiven Symptomen den Alltag nicht richtig bewältigen können. Erschwerend kommt hinzu, dass PMDS bis zu 16 Tage im Monat anhält.

Zum anderen ist es für die Kapitalist:innen, die Hygieneartikel herstellen lassen, ein riesiges Geschäft, weil ein bedeutender Anteil der Bevölkerung dazu gezwungen ist, beständig auf die eigenen Produkte zurückzugreifen. Der Profit steht hier mal wieder über allem und ganz besonders über der Gesundheit von Menstruierenden, weswegen auch schädliche chemische Komponenten für die Produktion verwendet werden. Wir sprechen hier von einem jährlichen Umsatz von 800 Millionen Euro in Deutschland. Es zum Privatproblem zu machen, ermöglicht es gerade, absurd hohe Preise für diese Artikel zu verlangen, ohne dass das zum Politikum wird. Gerade in einer Gesellschaft mit patriarchalen Strukturen, in der cis Männer deutlich mehr Macht und Einfluss besitzen, können sie etwas, wofür sie selbst nicht aufkommen müssen, als eine Art „Luxusartikel“ deklarieren. Das führt auch dazu, dass Menschen, die nicht betroffen sind, also insbesondere cis Männer, Vorstellungen von der Periode, basierend auf schlechter Aufklärung, entwickeln, die dann beinhalten, dass Menstruierende eigentlich gar keine Hygieneartikel bräuchten und das eben einfach nur Luxus sei und sie einfach das Blut „anhalten“ könnten und dann das Klo benutzen könnten.

Hinzu kommen dabei auch noch die Steuern durch den bürgerlichen Staat: Bis vor Kurzem waren noch 19 % Mehrwertsteuer veranschlagt, mittlerweile sind es zumindest nur noch 7 %. Doch das geht nicht weit genug!

Kämpfen wir dafür!

Klar ist: Damit alle uneingeschränkt am Schulalltag teilnehmen können, sollten Menstruationsprodukte nicht einfach nur etwas billiger sein. Es braucht kostenlose Menstruationsartikel in jeder Schule und auf jeder öffentlichen Toilette! Alle Schüler:innen sollen die gleichen Möglichkeiten haben, am Unterricht teilzunehmen, und insgesamt sollte hier keine finanzielle Ungerechtigkeit bestehen! Durch kostenlose Hygieneartikel wird nicht nur das Wohlbefinden und Selbstbewusstsein von jungen Menstruierenden gestärkt, sondern auch das Thema Periode an sich ein Stück weit enttabuisiert, zumal wir uns im Sinne von trans Inklusion dafür einsetzen, auf allen Toiletten diese Produkte auszulegen. Hinzukommen sollte natürlich auch ein demokratisch organisierter Aufklärungsunterricht an der Schule, um über Perioden Mythen und Vorfälle diskutieren zu können.

Wir sollten das zum einen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene erkämpfen, indem wir für einen selbstverständlichen Umgang mit Perioden und eine Anerkennung von Hygieneartikeln als Grundversorgung kämpfen. Dies unterstützen wir als Teil der Frauenbefreiungsbewegung. Dazu gehört nach unserem Verständnis auch die Enteignung der Konzerne Johnson & Johnson, die marktführend im Bereich Hygieneartikel sind. Die Arbeiter:innen des Betriebs könnten dann die Produktion kontrollieren und so auch dafür sorgen, dass bspw. schädliche Stoffe wie Pesitzide, Weichmacher und Bleichmittel nicht ihren Weg in Binden, Tampons & Co. finden! Durch eine Planwirtschaft ist es möglich, eine kostenfreie Grundversorgung für alle zu errichten. Auch die Forschung im Bereich Endometriose und PMDS muss vorangetrieben werden, so dass wir Unterstützung für alle Betroffenen erkämpfen können. Die Devise heißt hier Enteignung unter Arbeiter:innenkontrolle und die Aufhebung des Patentrechts, um zu gewährleisten, dass die Produktion von medizinischen Präparaten nicht unter Profitinteresse steht und sie auch in einer Langzeitanwendung so sicher wie möglich sind! Des Weiteren setzen wir uns für unkomplizierte Krankmeldung im Fall von Perioden, PMS und PMDS ein. In Spanien bspw. wurden dafür monatliche extra Urlaubstage eingerichtet, die in einem solchen Fall jederzeit genommen werden können. Etwas Ähnliches ohne ärztliches Attest halten wir sowohl für Schule als auch für Uni und Betrieb für sinnvoll, denn mal ehrlich: Wer will sich mit Horrorkrämpfen noch zum Arzt schleppen und dort mehrere Stunden auf einen gelben Schein warten?! Und das jeden Monat auf Neue?!

Aber konkret an der eigenen Schule kann man es auch politisieren, indem man die Schulleitung unter Druck setzt. Sowohl öffentliche Aktionen und Kundgebungen können dazu gehören, aber auch es einfach erst mal selbst zu machen, indem man Hygieneartikel auf den Schulklos auslegt und dazu ein Plakat hängt, was skandalisiert, dass die Schulleitung das nicht selbst macht! Das kann sich lohnen, denn diese Gedanken machen sich viele Menschen, die Perioden haben, und dadurch kann man einen Raum schaffen, indem man darüber spricht und sich organisieren kann und vielleicht sogar erkennt, welche Ungerechtigkeit darüber hinaus noch in der Schule besteht! Wenn ihr dabei Unterstützung braucht, meldet euch doch gerne bei uns!

Daher fordern wir:

  • Kostenlose Menstruationsartikel in allen Schulen, Unis, Betrieben und öffentlichen Toiletten
  • Schluss mit Transfeindlichkeit: Menstruationsprodukte auf allen Klos
  • Unkomplizierte Krankmeldung bei Periodenbeschwerden
  • Kostenlose, öffentliche und saubere Toiletten – überall und 24/7
  • Lehrpläne unter demokratischer Kontrolle der Schüler:innen, Arbeiter:innen und aller Mitarbeitenden der Schule: Wir entscheiden über unsere Aufklärung!
  • Massive Inventionen in die Forschung hinsichtlich Menstruationsbeschwerden, bezahlt von den Profiten der Reichen, die Forschung unter Kontrolle von Arbeiter:innengremien
  • Enteignung der Betriebe, Minimierung der Schadstoffe für Mensch und Natur in Hygieneartikeln und Errichtung einer Planwirtschaft unter Arbeiter:innenkontrolle zur Aufrechterhaltung der Grundversorgung.

Quellen:

https://www.plan.de/fileadmin/website/04._Aktuelles/Kampagnen_und_Aktionen/Menstruation sumfrage/Plan-3_Pager_Menstruation-A4-2022.pdf

https://www.informationsportal-kinderwunsch.de/resource/blob/201942/a69a4011a67d9fe83c8902d85796a981/zeitbild-medical-endometriose-und-kinderwunsch-a-rztemappe-data.pdf




Solidarität mit der queeren Hausbesetzung in Hannover! Für die Enteignung von Wohnraum!

von Revolution Hannover (geschrieben von Leni Kronstadt, Jail, Peter & Charlie), Mai 2024

In Hannover wurde in der Nacht vom 17.5. zum 18.5. am Klagesmarkt ein Haus besetzt. Zeitgleich zum CSD wurde die Besetzung bekannt gemacht. Aktivist:innen hingen Transparente aus den Fenstern, es wurde Pyrotechnik in den Farben der Trans* Fahne gezündet. Von Seiten der CSD-Besucher:innen gab es großen Jubel, Applaus und zustimmende Rufe. Eine Menschenmenge bildete sich vor dem Haus. Es gab antisexistische und antiqueerfeindliche Parolen. Das besetzte Haus steht seit zehn Jahren leer und dient den Besitzer:innen als Spekulationsobjekt. Bereits vor fünf Jahren wurde es schon einmal besetzt, kurz nach der Besetzung allerdings geräumt. Die Besetzer:innen zeigten sich kooperationsbreit, was die Besitzer:innen des Hauses nicht davon abhielt, Anzeige zu erstatten und eine Räumung zu fordern. Nur wenige Stunden nach dem Bekanntwerden der Besetzung griffen Bullen die Kundgebung vor dem Haus mit Pfefferspray und Schlägen an, nahmen Menschen fest und riegelten das Haus ab. Viele Menschen, Besetzer:innen sowie CSD-Teilnehmer:innen wurden verletzt. Die Polizei gab später auf X (ehemals Twitter) an, sie seien vor dem Haus angegriffen worden. Diese Behauptung konnte nicht durch Videos oder Fotos bestätigt werden. Gegen Abend wurde das Haus dann mit Hilfe der Feuerwehr geräumt, da sich Aktivist:innen auf dem Dach des Gebäudes positioniert hatten. Die Besetzer:innen erhielten einen Platzverweis.

Und das alles, obwohl auf jeden obdachlosen Menschen in Hannover gleich mehrere leerstehende Wohnungen kommen und die Stadt Hannover sechs Millionen Euro an Geldern für Jugend und Sozialarbeit streichen will. Die Besetzung hätte eine Türöffnung für einen queeren Safer-Space darstellen können, denn queere Menschen sind immer noch überdurchschnittlich oft von Obdachlosigkeit und Gewalt betroffen. Zudem mangelt es an allen Ecken und Enden an Angeboten und Unterstützung für queere Jugendliche. Statt Wohnraum zu schaffen und ernsthaft das Problem von Wohnungslosigkeit im Kapitalismus anzugehen, werden Wohnungen als Spekulationsobjekt genutzt und Mietpreise in die Höhe getrieben. Sobald dann das Elend, das durch dieses inhumane Wirtschaften mit Grundbedürfnissen von Menschen sichtbar wird, wird eine Verdrängungspolitik mit Bullenwachen und wie in Hannover am Raschplatz mit Freizeitangeboten, die von Security rund um die Uhr bewacht werden, durchgesetzt. Dass diese Verdrängungspolitik allerdings nicht zur Lösung des Problems führt, ist offensichtlich.

Wohnraum muss enteignet werden!

Wir sind solidarisch mit den Hausbesetzer:innen, da besetzte Häuser sicherere und selbstverwaltete Räume ermöglichen können, auch wenn es keine komplett sicheren Räume im kapitalistischen System geben kann. Besonders für diejenigen, die unter den katastrophalen Bedingungen des aktuellen Wohnungsmarktes kein bezahlbares Zuhause mehr finden, stellen sie aber oft eine letzte Rettung dar. Gleichzeitig ist es jedoch wichtig aufzuzeigen, dass Besetzungen allein das Problem der Wohnungslosigkeit nicht lösen können. Es ist ein fester Teil des kapitalistischen Systems und dient dazu, dieses zu stützen: Wer sich nicht genug ausbeuten lassen kann oder will, landet auf der Straße. Um dieses grundlegende Ausbeutungsverhältnis aufzuheben, müssen wir den Kapitalismus überwinden. Da dieser auf Eigentumsverhältnissen beruht, können Besetzungen durchaus ein Werkzeug sein, da sie die Differenzen zwischen den Interessen des Kapitals, das durch den Staat verteidigt wird mit Hilfe der Polizei, und den Interessen der Arbeiter:innenklasse aufzeigen können. Eine wirkliche Problemlösung für die Wohnungsnot stellen sie allein deswegen schon nicht dar, da es meistens für Menschen, die nicht in der linken Szene vernetzt sind, quasi unmöglich ist, die besetzten Räume zu nutzen. Eine reine Besetzung sollte also nicht das einzige Ziel sein, sondern mit dem Fokus auf der Enteignung durchgeführt werden. Es braucht die Kontrolle von Mieter:innen über die Wohnungen, die Enteignung von Vermieter:innen und Immobilienkonzernen und Wohnungsbau unter Arbeiter:innenkontrolle, um das Problem ernsthaft zu lösen.

Queer-Unterdrückung & Kapitalismus

Gerade in Zeiten des Rechtsruckes ist es wichtig aufzuzeigen, dass das Ideal der bürgerlichen Familie im Kapitalismus der Profitmaximierung der Kapitalist:innen dient. Es dient zur Unterdrückung der Frau, ermöglicht eine für den Staat möglichst kostengünstige Reproduktionsarbeit und ist somit behilflich dabei, Gewinn zu maximieren: Care-Arbeit ist Privatangelegenheit und Frauen leisten diese unentlohnt und oftmals allein, während Männer durch ihre Lohnarbeit die Familie finanziell versorgen sollen. Da von diesem Gehalt allein kaum eine Familie überleben kann, leisten Frauen neben ihrer Care-Arbeit meist noch zusätzliche Lohnarbeit. Queere Menschen passen nicht in dieses Weltbild, da sie sich eben nicht so leicht in die vorgeschriebenen Rollen quetschen lassen, was dazu führt, dass queere Menschen angefeindet und als „anders“ angesehen werden. Im Kapitalismus werden also einerseits queere Menschen unterdrückt und ihnen wird zum Beispiel durch unnötige Verbote oder unzureichende Gesetze das Leben schwer gemacht. Zum anderen werden Pride-Fahnen und die CSDs auch immer wieder für Marketing von Konzernen und auch Polizei und Armee genutzt. So auch in Hannover.

Keine Pride mit der Polizei!

Gerade im Pridemonth gibt es unzählige Produkte mit Pridefahnen zu kaufen, und die Polizei hat Infostände und eigene Wagen auf den CSD-Demonstrationen. Obwohl sie es waren, die vor nicht einmal fünfzig Jahren noch prügelnd durch queere Bars randaliert sind und queerfeindliche Gesetze durchgesetzt haben, was überhaupt erst zur Tradition des Christopher Street Days führte. Wie wir wissen: The first pride was a riot! Auch heute prügeln die Cops immer noch auf Queers ein, wie es bei der Kundgebung vor dem besetzten Haus auf unzähligen Videos festgehalten wurde. Die Bullen scheuen immer noch nicht davor zurück, queere Menschen zusammenzuschlagen, die an friedlichen Veranstaltungen teilnehmen. Solche Szenen sind keine „Einzelfälle“, sondern zeigen, welche Rolle die Polizei im Kapitalismus spielt: Sie ist die institutionalisierte und monopolisierte Gewalt des Staates. Das bedeutet, dass sie die Politik des Staates mit Gewalt durchsetzt. Im Kapitalismus steht dieser im Dienste der herrschenden Klasse und verteidigt deren Eigentum, da sie durch diesen Profit erzeugt. Hausbesetzungen stellen diese Eigentumsverhältnisse des Wohnraums eindeutig in Frage und werden damit automatisch von der Polizei zerschlagen. Auch Queers stellen die Herrschaftsordnung des Kapitalismus in Frage, wie weiter oben bereits erläutert. Die Polizei hat also auf dem CSD nichts zu suchen. Sie führt die Interessen des bürgerlichen Staates aus und ist kein Teil der Arbeiter:innenklasse.

Was können wir also aus diesen Erkenntnissen schließen?

Unsere Befreiung wird uns nicht geschenkt werden, wir müssen sie selbst erkämpfen. Vollständige queere Befreiung ist erst nach der Überwindung des Kapitalismus möglich, da dieser Queerfeindlichkeit braucht, um seine Unterdrückungsmechanismen durchsetzen zu können. Trotzdem werfen wir im Hier und Jetzt Forderungen auf, die unsere Situation verbessern können:

  • Polizei und Bundeswehr raus aus dem CSD und unseren Schulen!
  • Enteignung aller Immobilienkonzerne und Kontrolle der Arbeiter:innen über Wohnraum!
  • Für unabhängige Aufarbeitungsstellen zur Untersuchung von Polizeigewalt unter Kontrolle der Arbeiter:innenbewegung!
  • Für demokratisch legitimierte und kontrollierte Selbstverteidigungsstrukturen der Arbeiter:innen, Jugendlichen, Queers & Frauen, sowie allen Unterdrückten und Ausgebeuteten des Kapitalismus!

Um erfolgreich gegen unsere Unterdrückung kämpfen zu können, ist es wichtig, dass wir uns organisieren. Wenn du Interesse hast, schreib uns eine DM auf Instagram und komm zu unseren Ortsgruppentreffen!




IDAHOBIT: Schulter an Schulter gegen Queerfeindlichkeit & Rechtsruck!

Von Leonie Schmidt, Mai 2024

Heute ist der IDAHOBIT, der internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie. Seit 2005 wird dieser begangen, um an die Streichung von Homosexualität aus dem Register der Krankheiten von der WHO 1990 zu erinnern. Transgeschlechtlichkeit ist jedoch erst seit 2018 nicht mehr in der ICD zu finden. Diese Umstände zeigen schon einmal gut auf, dass die gesellschaftliche Akzeptanz von queeren Personen auch heute noch auf äußerst wackligen Säulen steht. Aufgrund dessen, dass es dem BRD-Imperialismus lange Zeit sehr gut ging, konnten einige Verbesserungen für Queers erkämpft werden. Jedoch kommt es besonders in Zeiten von Krisen zu einer Zunahme von Gewalttaten gegen Queers & Frauen, während Rechte der körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung schnell wieder zurückgenommen werden können (ein Blick nach Polen, Ungarn und Italien sowie die USA genügt).

Zusätzlich haben wir es weltweit mit einem massiven Rechtsruck zu tun. Sowohl die bürgerlichen Parteien rücken nach rechts als auch rechte Player gewinnen an Relevanz und Zustimmung. Das lässt sich in Hinblick auf die Finanzkrise(n) erklären, welche seit 2007/08 die Welt, wie unsere Eltern und Großeltern sie vorher kannten, aus ihren Fugen geraten lassen. Für viele Personen aus den unteren Klassen steht die Existenz auf dem Spiel, diese Sorgen führen dazu, dass rechte Ideen an Boden gewinnen, weil sie eine vermeintliche Lösung präsentieren.

Zunahme der Gewalt gegen Queers in Deutschland

Im Sommer 2023 häuften sich die Meldungen über Angriffe auf CSDs und das bei weiten nicht nur in eher rechten, konservativ-ländlichen Regionen. Im Jahr 2022 kam es sogar zu einem Mordfall auf einem CSD in Münster: Malte C., ein 20-jähriger trans Mann, wurde brutal erschlagen, weil er andere queere Personen vor einem Angreifer schützen wollte. Auch amtliche Zahlen bestätigen, was uns als queeren Personen schon lange klar ist: jährlich nehmen die angezeigten Hassverbrechen gegen queere Personen zu. Das ist seit der ersten Erfassung im Jahr 2001 erkennbar. Einen besonders starken Sprung gab es im Jahr 2018 auf 2019, wo sich die erfassten Übergriffe um 60% erhöhten, im Bereich der Gewalttaten sogar um 70 % (LVSD 2023). Im Jahr 2022 fiel die Steigerung um ca. 15% im Vergleich zu 2021 aus. Selbstverständlich müssen wir davon ausgehen, dass hier nicht jeder Übergriff verzeichnet ist. Denn nach wie vor gibt es eine hohe Dunkelziffer, viele haben (zurecht) kein Vertrauen in die Polizei und dass diese wirklich queere Menschen schützen würde. Schließlich kommt es auch immer wieder dazu, dass Polizist:innen während sie Repressionen gegen Linke verüben, queer- und insbesondere transfeindliche Beleidigungen rausholen, um uns einzuschüchtern.

Selbstbestimmungsgesetz – Ende gut alles gut?

Auf den bürgerlichen Staat ist also kein Verlass, das zeigt uns auch das brandneue Selbstbestimmungsgesetz. Sicherlich ist es im Vergleich zum veralteten TSG an manchen Stellen fortschrittlicher, doch dem Druck von transfeindlichen Akteur:innen wie den medienaffinen TERFs ist die Ampel dennoch gewichen, als sie beispielsweise die Hausrechtklausel mit eingefügt haben. Trans Personen dürfen also nun aufgrund ihrer trans Identität aus Einrichtungen verwiesen werden, eine Klausel, die nicht nur als Hintertür für Queerfeindlichkeit zu verstehen ist, sondern Trans-Feind:innen ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Auch dass die anerkannte trans Geschlechtsidentität bezüglich der Wehrpflicht im Verteidigungsfall nicht mehr zählt, ist äußerst fragwürdig und zeigt auf, dass sich die BRD mit Diversity schmücken mag, die imperialistischen Staatinteressen wiegen aber mehr. Des Weiteren soll es auch Listen von trans Personen bei den Behörden geben – ein Sicherheitsrisiko sondergleichen, wenn das in die falschen Hände gerät. In Anbetracht der rechten Strukturen in Polizei und Bundeswehr ist diese Sorge also auch nicht weit hergeholt.

AfD und die Queerfeindlichkeit

Die AfD, welche nach wie vor gute Chancen in der EU-Wahl hat – laut einer aktuellen Umfrage liegt die Prognose bei 15,6% (DAWUM 2024) – ist definitiv auch eine Partei, die gerne gegen queere Menschen hetzt. So sprach sich Andreas Gehlmann, ein Landtagsabgeordneter der AfD dafür aus, homosexuelle Menschen auch in Deutschland ins Gefängnis zu stecken (Süddeutsche 2016). Thomas Ehrhorn, ebenfalls AfD Politiker, bezeichnete Homosexualität als Geisteskrankheit, die zum Volkstod führe, da eine Gesellschaft sich so nicht fortpflanzen könne (Focus 2018). Auch wenn die AfD eine Partei mit Flügelkämpfen ist und sie nicht geschlossen hinter solchen Aussagen stehen, deuten diese Zitate schon auf die Position der AfD hin: sie möchte mit allen Mitteln die konservative Familie aus Mann, Frau und Kind(ern) erhalten. Dabei setzen sie sich gegen die Ehe für Alle ein, wollen Regenbogenfamilien nicht als gleichwertig anerkennen und möchten das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz abschaffen, was Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Sexualität, Herkunft und Religion entkriminalisieren würde. Außerdem möchten sie sexuelle Aufklärung in Bildungsreinrichtungen massiv einschränken, dies würde Kinder nur verwirren und manipulieren und dazu führen, dass sie sich selbst für queer halten. Eine lächerliche Argumentation in Anbetracht der Tatsache, wie viel Fokus nach wie auf Hetero-Beziehungen im Aufklärungsunterricht liegt!

Spaltung und Klassenkampf von oben

Die AfD ist aber nicht die einzige Partei, die Hetze gegen Queers nutzt, um sich selbst Relevanz zu verschaffen. Auch die CDU/CSU fabuliert von einer queeren Bedrohung und behauptet, Drag Queens seien pauschal eine Gefahr für Kinder. Zusätzlich haben sie sich kürzlich entschlossen, das Genderverbot in bayerischen Schulen, Unis und Behörden durchzusetzen. Auch gibt es Berichte von queeren Schul-AGs in Bayern, die aufgrund eines nicht näher begründeten Verbots der Schulleitung nicht mehr aktiv sein dürfen (Queer.de 2024). Im Allgemeinen fühlen sich viele junge Queers in Bayern unwohl, 94% erlebten bereits Diskriminierung (Queer.de 2023). Das dortige Klima ist direkt inspiriert vom US-amerikanischen Kulturkampf gegen queere Menschen. So trafen sich CSU-Politiker mit dem queerfeindlichen Senator Ron DeSantis. Aber warum? Die CSU hat in Bayern eine spürbare rechte Konkurrenz: die Freien Wähler unter Hubert Aiwanger, welche trotz (oder gerade wegen) seiner antisemitischen Flugblattkampagne an Zulauf gewonnen haben. Deswegen muss sie sich auch hier rechter positionieren, um ihre Wähler:innen nicht zu verlieren.

Dennoch ist die Union aber keine rechtspopulistische Partei, sondern weiterhin eine rechte, konservative Partei, die auf Biegen und Brechen hin versucht, ihre Wähler:innen nicht an die AfD, und in Bayern an die Freien Wähler, zu verlieren und gleichzeitig die sozialen Angriffe im Sinne der herrschenden Klasse zu verschleiern versucht. Dafür nutzt sie auch immer mehr rechtspopulistische Rhetorik und in diesem Fall queerfeindliche Rhetorik. 

Die Ablehnung queerer Personen oder Ablehnung queerer Rechte kann sich, neben dem grundlegenden Problems des Rechtsrucks, auch in Teilen mit einer massiven Unzufriedenheit mit der Ampel erklären lassen. Die Ampel, und insbesondere die Grünen, werden von ihren konservativen Gegner:innen vor allem für ihre „woke Ideologie“ angegriffen. Dadurch verbinden viele die Angriffe auf ihre soziale Lage mit dem Kampf für mehr Rechte für queere Personen. Das ist natürlich völliger Quatsch, die Grünen schmücken sich vielleicht mit Regenbogen-Farben, doch echte Befreiung werden auch sie nicht erkämpfen können (und versuchen es auch gar nicht). Dennoch funktioniert so der Klassenkampf von Oben wie er im Buche steht: die Kapitalfraktion die hinter den Grünen steht, verliert an Relevanz, zusätzlich wird die Arbeiter:innenklasse gespalten und macht für ihre missliche Lage nicht die Bourgeoisie und deren Interessen zuständig, sondern queere Personen und ihren Kampf für Akzeptanz und Gleichberechtigung.

Klassengesellschaft und Queer-Unterdrückung

Für uns als Kommunist:innen ist die Grundlage der Unterdrückung queerer Personen klar. Diese entsteht in Zusammenhang mit der Frauenunterdrückung, welche auf das Ideal der bürgerlichen Familie gestützt ist. Das Ideal der bürgerlichen Familie stellt eine wichtige Instanz im Kapitalismus dar, da durch es die Reproduktionsarbeiten in der Familie der Arbeiter:innenklasse vornehmlich auf Frauen unvergütet ausgelagert werden kann. Kurz und knapp heißt das: Frauen putzen, kochen, erziehen Kinder und haben ein offenes Ohr, damit die ganze Familie am nächsten Tag wieder werktätig sein kann. Das wird auch als Reproduktion der Ware Arbeitskraft bezeichnet. Der Umstand, dass Frauen dafür zuständig sind, ist toll für die Kapitalist:innen, denn so können sie mehr Profite machen, da diese Arbeit nicht bezahlt oder überhaupt erstmal gesehen wird. Natürlich machen auch Männer in den letzten Jahren mehr im Haushalt – Studien beweisen jedoch, dass die Hauptlast immer noch bei Frauen liegt. In einer Studie kam heraus, dass 72% der Frauen in Deutschland täglich Hausarbeit verrichten, während es nur 29% der Männer sind (Destatis 2019). Das ist jedoch kein selbstgewähltes Leid, sondern etwas, was uns von klein auf durch Rollenbilder und Erwartungen aufgezwungen wird. In genau diese Rollenbilder passen aber queere Personen nicht rein, auch wenn es immer wieder versucht wird, z.B. wenn ein lesbisches Paar gefragt wird, wer denn der Mann in der Beziehung sei. Durch ihre bloße Existenz scheint es der herrschenden Klasse, dass queere Personen der Gesellschaftsordnung gefährlich werden könnten, besonders in Zeiten von Krisen. Demnach sind so auch die Rollbacks und die Zunahme von Gewalt an Queers & Frauen zu erklären: die herrschende Klasse muss das Ideal der bürgerlichen Familie beschützen, um ihre eigene Existenz und den Kapitalismus zu schützen. Der bereits erwähnte Punkt der Spaltung der Unterdrückten und Ausgebeuteten stellt einen praktischen Nebeneffekt dar.

Zusätzlich sind wir als queere Jugendliche durch unsere Abhängigkeit vom Elternhaus auch unterdrückt, da unsere Eltern einerseits auf einer juristischen Ebene Entscheidungen über uns treffen können, z.B. ob sie uns geschlechtsangleichende Behandlungen erlauben, aber natürlich auch auf einer erzieherischen Ebene, z.B. ob sie uns den Kontakt zu anderen queeren Personen erlauben, wobei es dann möglich ist, durch die finanzielle Abhängigkeit von uns gegenüber unseren Eltern Druck auf uns auszuüben.

Was tun?

Kurz und knapp: Kapitalismus abschaffen! Die bürgerliche Familie existierte nicht immer, Frauenunterdrückung auch nicht. In der sogenannten Urgesellschaft gab es keine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, somit auch keine Rollenverteilung, die auf dem Geschlecht basierte. Es gab aber auch keine Klassen und keinen privaten Besitz an Produktionsmitteln. Stattdessen gab es ein Kollektiv, was die Aufgaben nach Fähigkeiten untereinander aufgeteilt hat.

Daraus können wir ziehen, dass wir nur in einer klassenlosen und befreiten Gesellschaft als Queers frei von Unterdrückung und Ausbeutung leben können. Das ist aber nichts, was automatisch passiert. Immerhin haben uns über viele Generationen hinweg die Rollenvorstellungen geformt. In einem sozialistischen System haben wir aber zumindest die materiellen Grundlagen, die für Frauen – und Queerbefreiung zuständig sind, aufgehoben. Keiner Einzelperson gehört mehr der Betrieb, niemand wird mehr ausgebeutet, und Frauen müssen nicht mehr dem Großteil der Reproduktionsarbeit nachgehen. Damit wir die Prägung unseres Bewusstseins hinter uns lassen können, müssen wir uns aber auch aktiv für Aufklärung einsetzen. Ebenfalls ist die Vergesellschaftung der Hausarbeit ein relevanter Punkt, um die individuelle Last für jede:n von uns minimieren zu können. Das heißt also nicht, dass wir den Leuten verbieten wollen, in monogamen Hetero Familien zu leben, aber wenn die gesellschaftlichen Strukturen nicht mehr vornehmlich darauf ausgerichtet sind, wird sich das für viele von selbst erledigen.

Wie kommen wir aber überhaupt zum Sozialismus? Dafür müssen wir im hier und jetzt ansetzen und eine Massenbewegung aus Arbeiter:innen, Frauen, Queers und Jugendlichen aufbauen. Diese muss international koordiniert sein und sich ein gemeinsames Programm geben, für das gekämpft werden soll. Das heißt, wir müssen uns auch die Probleme anschauen, die jetzt existieren und darauf konkrete Antworten finden, um die Unterdrückten und Ausgebeuteten davon zu überzeugen, dass der Kapitalismus sie nicht befreien wird und stattdessen nur eine klassenlose Gesellschaft dies gewährleisten kann. Gegen die Diskriminerung von queeren Personen können wir Anti-Diskriminierungsstellen und Selbstverteidigungskomitees aufbauen und uns für selbstverwalteten Aufklärungsunterricht einsetzen. Wollen wir gegen den Rechtsruck ankommen, müssen wir uns auch um die wirtschaftliche Lage von Arbeiter:innen, Jugendlichen und dem niederen Kleinbürger:innentum kümmern, indem wir für ein Mindesteinkommen für Schüler:innen und Studierende sowie eine Erhöhung von Mindestlöhnen mit Hilfe einer gleitenden Lohnskala angepasst an die Inflation eintreten. Für die Koordinierung dieser Kämpfe brauchen wir auch eine neue revolutionäre Partei, die diese anführt, genau wie eine neue Jugendinternationale, um auch der Jugendunterdrückung einen eigenen Fokus geben zu können.

Klar ist, die Befreiung wird uns niemand schenken, wir müssen selbst aktiv werden! Wenn du genau das willst, schließ dich unserem Kampf für die Befreiung von Queers und allen anderen Ausgebeuteten und Unterdrückten an! Melde dich einfach bei uns und wir klären alles weitere persönlich ab.

Quellen




Eurovision Song Contest 2024 – United by Genocide?

von Leonie Schmidt, Mai 2024, zuerst veröffentlicht in der Infomail 1254 der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Gestern Abend fand in Malmö das Finale des 68. Eurovision Song Contest unter dem Motto „United by Music“ statt. Überschattet war es, völlig zu Recht, von verschiedenen Protesten gegen die Teilnahme Israels und Boykottaufrufen. In den letzten Jahren hat sich das Schauen des ESCs besonders bei einem jüngeren und queeren Publikum zu einem festen kulturellen Bestandteil gemausert. Jährlich schalten für das Finale um die 162 Mio. Menschen weltweit ein. In diesem Artikel wollen wir die verschiedenen Aktionen, Vorfälle und Proteste näher beleuchten und auch auf die kulturelle Bedeutung des ESC eingehen.

Der ESC ist nicht unpolitisch!

Die erste Frage, die sich stellt, ist für viele sicher erst einmal, warum Israel überhaupt beim ESC teilnehmen darf. Immerhin liegt es nicht in Europa und begeht gerade einen Genozid in Gaza. Das lässt sich damit erklären, dass es Teil der Europäische Rundfunkunion (EBU) ist. Tatsächlich sind nicht nur europäische Staaten und ihre Sender vertreten, jedoch ist Israel historisch gesehen das erste Land, was außerhalb der EU liegt und beim ESC antrat. Allerdings könnte man ja meinen, dass die EBU Kriegsverbrechen sanktioniert, immerhin wurde Russland nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine auch ausgeschlossen. Doch diese Doppelmoral erklärt die EBU mit dem Verhältnis des russischen und israelischen Senders zu ihrer jeweiligen Regierung. Beim israelischen Sender KAN bestünden keine Verletzungen der Werte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Seltsam in Anbetracht der Tatsache, dass auf X (vormals Twitter) Videos kursieren, auf denen zu sehen ist, wie der Sender KAN seinen Namen auf Panzergranaten schreiben lässt, die dann nach Gaza geschickt werden. So scheint es sich ja doch um eine kriegstreiberische Rundfunkanstalt zu handeln.

Vor allem aber möchte sich die EBU darauf ausruhen, dass der ESC unpolitisch sei. Das gelte selbstverständlich auch für die israelische Kandidatin Eden Golan, die ihren ESC-Song „October Rain“ in „Hurricane“ abändern musste. Doch beugen wollte sich Israel anfangs nicht direkt, ursprünglich wollte es die Teilnahme absagen, wenn das Lied abgeändert werden müsste. Letztendlich trat Golan doch an, zu symbolisch sei der Auftritt beim ESC. Doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen: Es handelt sich immer noch um dasselbe Lied, welches inspiriert ist von den Folgen des Angriffs der Hamas für die Israelis im Oktober 2023 und in diesem Kontext auch als Propaganda für den Krieg in Gaza gegen die Palästinenser:innen verstanden werden muss. Interessanterweise gibt es im Allgemeinen gerade in Israel eine Welle an Propagandasongs von jungen Künstler:innen, vornehmlich aus dem Bereich Hip-Hop, die den Krieg in Gaza und auch den Genozid glorifizieren und so IDF-Soldat:innen und die gesamte Bevölkerung bei der Fahnenstange halten sollen. Ein Beispiel ist der Song „Harbu Darbu“ von Ness und Stilla, die Zeilen wie „Wait for it to rain on you, whores. Every bad person comes for his punishment in the end“ (Deutsch: „Wartet, bis es auf euch regnet, Huren. Jeder schlechte Mensch kommt am Ende für seine Strafe auf“) beinhalten. Das Lied von Eden Golan ist zwar sicher nicht derart vulgär und gewaltverherrlichend, doch es muss dennoch als Inszenierung der Opferrolle des israelischen Staats verstanden werden. Schließlich ist es ein sehr emotionales Lied, was den Anschein erweckt, dass nicht gerade 35 Tausend Palästinenser:innen in Gaza durch die Hand des israelischen Militärs ermordet worden wären, zumal Eden Golan bereits angekündigt hat, nach ihrem ESC-Auftritt der IDF beizutreten.

Der diesjährige ESC wurde im Übrigen auch von einer israelischen Firma massiv gesponsert: Moroccanoil. Die Haarpflegeprodukte, die sie produziert, werden auch teilweise in besetzten palästinensischen Gebieten hergestellt. Sie profitiert also direkt von der Apartheid, und indem sie Teil des ESCs ist, erhält sie mehr Reichweite, Kredibilität und kann so noch mehr Produkte verkaufen.

Es ist auch nicht das erste Mal, dass Israel die Teilnahme beim ESC nutzt, um sich und seine Apartheid gegenüber Palästina in ein besseres Licht zu rücken. 2019 konnte es sich bereits als unfassbar queerfreundliches Land inszenieren, was, wie wir in diesem Artikel näher ausgeführt haben, nicht der Realität entspricht. Auch der US-amerikanische Sender CNN bestätigt die Softpower, die durch die Teilnahme am ESC aufgebaut werden kann, besonders für Länder, die Menschenrechtsverletzungen begehen. Der israelische Staatspräsident Jitzchak Herzog unterstreicht ebenso die Beweggründe, die hinter der Teilnahme stecken, wie die Times of Israel berichtete: Eine Teilnahme Israels an dem Wettbewerb sei wichtig für das Land und auch ein Statement. Es gebe Juden-/Jüdinnenhasser:innen, die versuchten, Israel von jeder Bühne zu vertreiben. Selbstverständlich geht es hier nicht wirklich um Antisemitismus, aber mit dieser Behauptung kann sich Israel eben wieder besser als Staat inszenieren, der ein Recht darauf hat, sich gegen Angriffe zur Wehr zu setzen, um seine proimperialistischen Absichten zu verschleiern. Den Beweis für diese These lieferte Israel gleich selbst: Während Eden Golan schmerzerfüllt in Malmö ihre Ballade trällerte, bombardierte die IDF den Gazastreifen, schoss auf einen Krankenwagen, der gerade verletzte Palästinenser:innen transportierte.

Der ESC ist also alles andere als unpolitisch. Auch wenn man sich das Abstimmungsverhalten der Vergangenheit anschaut, offenbart sich, dass „politische Spannungen“ keinen unwichtigen Einfluss haben und selten Punkte an Länder gehen, mit denen das jeweilige Land aus politischen oder kulturellen Gründen im Zwist bzw. in Konkurrenz steht. Beispielsweise erhielt Großbritannien 2021 0 Punkte sowohl von der Jury als auch Zuschauer:innen als Reaktion auf den Brexit.  Auch hinsichtlich des europäischen Imperialismus stellt es keinen unwichtigen Aspekt dar. Immerhin wurde der ESC 1956 gegründet, um die Einheit der teilnehmenden Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg zu fördern. Dahinter steht auch die Idee eines vereinten Europas als Wertegemeinschaft, welches dieselben (imperialistischen) Interessen vertritt. Genau genommen sind das natürlich die der imperialistischen Kernzentren Deutschland und Frankreich, auch wenn ihre Macht innerhalb der EU und des imperialistischen Weltsystems am Bröckeln ist. In dem Fall des diesjährigen ESC sollte daher ganz klar unterstrichen werden, dass der europäische Imperialismus hinter Israel steht. Selbstverständlich fördert der ESC auch nationalistische Gefühle durch die Konkurrenz der verschiedenen Länder und Identifikation mit der „eigenen“ künstlerischen Vertretung. In den letzten Jahren wurde das von einem queeren Publikum vermehrt aufgebrochen: Dadurch, dass offen queere Personen antreten und die Show seit jeher extravagant ist, empfinden viele auch abseits von nationalistischen Gefühlen Spaß an der Show.

Kein Sieg für Israel

Gewonnen hat Nemo, Vertretung der Schweiz, mit einem Lied über their Nichtbinarität. Dabei waren die Jurypunkte entscheidend. Zusätzlich tritt Nemo auch offen für einen Waffenstillstand in Gaza ein. Bei der Übergabe der Auszeichnung sprach sich they unkonkret für Frieden aus.

Israel hat trotz des Versuchs, viele Leute zu motivieren, für Golan zu stimmen, nicht gewonnen. Immerhin. Der 5. Platz jedoch wurde ihr sicher. Interessanterweise waren die Jurypunkte dabei nicht entscheidend, auch wenn sich Deutschland und Israel gegenseitig damit beschenkten. Stattdessen waren es die Televotes der Zuschauenden, die alle zusammengerechnet werden. Israel erhielt hier 328 Stimmen, 12 Punkte kamen unter anderem aus Deutschland. Wären also nur diese ausschlaggebend, hätte Israel tatsächlich gewonnen. Im Kontext der Boykottaufrufe ist es zwar nicht allzu verwunderlich, immerhin haben so Zionist:innen mehr Macht gehabt, wenn Fans, die für Palästina sind, gar nicht erst abstimmen. An diesem Ergebnis zeigt sich aber auch, wie gut die Propagandamasche und die Opferrolle ankommen. Aber es hätte eigentlich gar nicht so weit kommen dürfen, dass der Apartheidstaat Israel solch einen Auftritt hinlegen darf, um die Sympathien des TV-Publikums zu erheischen.

Gegenstimmen von Künstler:innen

Vor dem diesjährigen ESC hatten sich 2.000 Künstler:innen aus Schweden, Finnland und Island gegen eine Teilnahme Israels ausgesprochen. Auch hat die schwedische Gewinnerin des ESC 2023 Loreen verkündet, dass sie nicht Eden Golan den Preis überreichen würde, hätte diese gewonnen. Statt die vermeintliche politische Neutralität des ESC hinzunehmen, haben außerdem einige Künstler:innen, die am ESC teilnehmen (sollten), sich gegen die unkommentierte Teilnahme Israels ausgesprochen. Während einer Pressekonferenz zeigten sich Bambi Thug, Irlands Kandidat:in, Joost Klein, niederländischer Kandidat und Marina Satti, Griechenlands Vertreterin wenig begeistert von Eden Golans Statements gegenüber der Presse. Des Weiteren unterzeichneten einige von ihnen einen offenen Brief, der für Frieden, einen Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln plädiert und Israel als Apartheidstaat bezeichnet. Nemo, Sieger:in des ESC für die Schweiz, unterschrieb diesen ebenfalls. Auch der vormalige schwedisch-palästinensische ESC-Gewinner von 2011, Eric Saade, setzte ein Statement, indem er bei der Eröffnung des Halbfinales eine Kufiya um sein Handgelenk geschlungen trug. Auf Instagram teilte er mit, dass die EBU seinen Auftritt nicht geteilt hatte, er aber keinesfalls schweigen wolle, wenn Kinder abgeschlachtet werden, unabhängig davon, wer die Täter:innen seien. Politische Statements und Palästinafahnen wurden von Seiten der EBU untersagt, das Tragen der Kufiya kann dabei allerdings als Grauzone interpretiert werden. Auch Bambi Thug trug sie während eines Presseinterviews, they durfte aber nicht mit Körperbemalung in mittelalterlicher-keltischer Schrift auftreten, die Freiheit für Palästina und Waffenruhe fordert. Die portugiesische Vertreterin Iolanda zeigte ihre Palästinanägel in Kufiyamuster beim Finale, bisher ohne weitere Konsequenzen, außer, dass ihre Performance nicht auf Youtube hochgeladen wurde wie alle anderen Songs, sondern stattdessen ihr Auftritt vom Halbfinale. Auch die italienische Vertreterin Angelina Mango setzte laut X ein Zeichen, indem sie bei der Flaggenparade absichtlich die italienische Flagge so mit ihrem Kleid kombinierte, dass es wie eine Palästinafahne aussah.

Konsequenzen scheint es aktuell für Joost Klein zu geben. Dieser wurde ausgeschlossen, wenig ist jedoch bisher bekannt. Nachdem er von der israelischen Delegation massiv bedrängt wurde, die seine toten Eltern, wegen welchen er überhaupt erst am ESC teilnehmen wollte, verhöhnte, wurde nun spekuliert, dass er deswegen verbal ausfällig geworden sei. Es wurden polizeiliche Ermittlungen eingeleitet und der niederländische Broadcaster des Eurovision Song Contest, AVROTROS, schildert den Vorfall wie folgt: Nach seinem Auftritt habe Joost mehrfach zu verstehen gegeben, dass er nicht gefilmt werden möchte. Dem wurde von nicht nachgegangen, trotz Wiederholung von Joosts Bitte. Daraufhin habe er sich in bedrohlicher Gestik auf die Kamera einer schwedischen Kamerafrau zubewegt, mehr sei jedoch nicht passiert. AVROTROS weigerte sich danach, die niederländischen Punkte zu übermitteln, und bezeichnet den Ausschluss von Joost Klein als völlig überzogen.

Es drängt sich jedenfalls das Gefühl auf, dass hier mit allen Mitteln versucht wird, die Künstler:innen, die sich kritisch zur Teilnahme Israels äußern, unter Druck zu setzen und ihnen notfalls die Plattform zu entziehen. Und das, während es der israelischen Delegation erlaubt bleibt, in sozialen Medien zu teilen, dass in ihrer Nähe kein/e Antisemit:in atmen dürfen solle, und Bambi Thugs Nichtbinarität durch den Kommentator des israelischen Übertragungssenders im Halbfinale durch den Dreck zu ziehen (seltsam, Israel ist wohl doch nicht so queerfreundlich?). Letzteres wird übrigens von der EBU mittlerweile als Regelverstoß gewertet. Er ist scheinbar jedoch nicht gravierend genug für eine Disqualifikation. Es häufen sich außerdem auch Berichte von kritischen Journalist:innen und anderen Teilnehmenden, die aussagen, dass sie von der israelischen Delegation ungefragt gefilmt, beleidigt und bedroht wurden.

Manipulation beim ESC?

Einen weiteren wichtigen Punkt stellen die Vorwürfe gegen verschiedene Aspekte des Wettbewerbs dar. Auf X (vormals Twitter) wurde geteilt, die EBU habe die Buhrufe des Publikums bei Eden Golans Auftritt im Halbfinale mit Applaus ersetzt. Obwohl im Stadion in Malmö die ablehnende Haltung klar zu hören war und auch durch Handyaufnahmen nachzuprüfen ist, schien es im Stream ganz anders: Hier erntete sie stattdessen tosenden Applaus. Auch der deutsche Vertreter für den ESC aus dem Jahr 2021, Jendrik, kritisierte diese Praxis auf X. Beim Finale selbst waren die Buhrufe zumindest deutlich zu hören und wurden auch vom deutschen Kommentator der Übertragung, Thorsten Schorn, aufgegriffen. Aber auch hier zeigen die Aufnahmen aus dem Stadion eine ganz andere Geräuschkulisse als die, die vor dem Fernseher ankam. Eine solche Manipulation der Reaktion von Zuschauer:innen ist nicht hinnehmbar und wird zu einem politischen Akt, auch wenn es im Namen des vermeintlich Unpolitischen durchgesetzt wird.

Die Abstimmungen für die Teilnahme am Finale haben ebenso Spekulationen nach sich gezogen. So veröffentlichte der italienische Broadcaster aufgrund von technischen Fehlern die Abstimmungsergebnisse, was eigentlich nicht erlaubt ist. Zuschauenden fiel auf, dass diese für Israel ungewöhnlich hoch seien. Auch das Televoting im Finale verwirrte einige – so hätten die Zuschauenden aus Irland 10 Punkte für Israel verteilt. Gerade in Anbetracht der irischen Kolonialgeschichte und des offenen Supports vieler Ir:innen für Palästina wirkt das doch ein bisschen seltsam. Natürlich gibt es nicht nur in Israel Zionist:innen, die für dieses Land abstimmen würden, daher muss nicht gleich von einer Manipulation ausgegangen werden. Jedoch gab es auch in der Vergangenheit Untersuchungen, das letzte Mal nach dem ESC 2022, aufgrund von „Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe“. Aufzuklären ist das durch Spekulationen jedenfalls nicht, stattdessen sollten die Abstimmungsergebnisse offengelegt und von Arbeiter:innenorganen überwacht und ausgewertet werden, um eine bessere Transparenz gewährleisten zu können.

Proteste

Doch auch außerhalb der Arena in Malmö kam es zu massiven Protesten. Auch die Sektion Arbetarmakt der LFI war vor Ort. Laut schwedischer Polizei strömten dabei in den vergangenen Tagen bis zu zwanzigtausend Menschen durch die Straßen bei Demonstrationen in der schwedischen Stadt, darunter auch Klimaaktivistin Greta Thunberg. Sie bezeichneten den ESC als Genocide Song Contest, forderten ein freies Palästina und einen sofortigen Waffenstillstand. Des Weiteren forderten sie den Boycott des ESC, als Teil der BDS-Kampagne im Bereich des kulturellen Boykotts. Durch den Aufschwung der Palästinasolidaritätsbewegung im Rahmen der weltweiten Unibesetzungen wurde auch dem Gegenprotest gegen den ESC eine besondere Aufmerksamkeit zuteil und viele Leute gingen auf die Straße.

Daneben gab es in anderen Ländern Aktionen. So schalteten belgische Gewerkschaften beim Halbfinale am Ende und Anfang der Übertragung eine Texttafel, die #Ceasefirenow und #StopGenocide beinhalteten. Das war nicht abgesprochen mit dem Sender, der in Belgien den ESC übertrug, jedoch ist das auch scheinbar nicht nötig.

Perspektive

Die belgische Gewerkschaft kann man sich jedenfalls definitiv in dieser Hinsicht zum Vorbild nehmen. Genau solche Aktionen wären unter anderem notwendig, um eine noch größere Öffentlichkeit zu schaffen für den Genozid in Gaza, die Vorkommnisse und Zensur beim ESC sowie Doppelmoral bezüglich der israelischen Teilnahme. Dafür müssten sich die Gewerkschaften in der Unterhaltungsbranche der teilnehmenden Länder und die Arbeiter:innen dieser zusammentun, könnten auch zusammen mit den Künstler:innen die Plattform des ESC nutzen, um ein Zeichen zu setzen und die israelische Teilnahme zu blockieren, wenn die EBU hier schon mit zweierlei Maß messen will. Im Zusammenhang mit gewerkschaftlicher Aktion kann auch die Boykottkampagne sinnvoll sein. Ebenso wäre natürlich auch eine komplette Bestreikung des ESCs oder die Besetzung der Arena in Malmö eine Möglichkeit gewesen.

Grundsätzlich müssen die Strukturen des ESCs transformiert werden. Die höheren Tiere der EBU haben bewiesen, dass sie durch ungerechtfertigte Entscheidungen, Ausschlüsse und Zensur alles versuchen, den Protest verstummen zu lassen. Ein solcher Song Contest, der fair und für Künstler:innen ein sicherer Ort ist, während imperialistische Staaten keine Plattform für die Legitimierung ihrer Kriegsverbrechen erhalten, kann nur durch Rätestrukturen von Arbeiter:innen, Zuschauenden und Künstler:innen gewährleistet werden! Zusätzlich kann man sich überlegen, ob die Zentrierung um die Herkunft der antretenden Künstler:innen abgeschafft werden kann. Aber erstmal ist klar: Der ESC darf nicht zum Propagandamittel für den Genozid werden! Take back the ESC! Oder um es mit den Worten von Bambie Thug zu sagen: „Fuck the EBU, we are what the Eurovision is!“ (Deutsch: „Scheißt auf die EBU! Wir sind die Eurovision!“)