Wie queere Identitäten immer noch durch den Staat unterdrückt werden

Mai 2023, REVOLUTION-Zeitung April/Mai 2023

Wirft man einen Blick in die meisten Kindergärten, so stellt man schnell fest, dass die Existenzen von trans Personen, Geschlechtern jenseits des binären Systems und nicht-heterosexuelle Beziehungen keinen Platz finden. Seien es Spielzeug, Bücher oder Gruppenaktivitäten: Diversität sucht man darin meist vergeblich.

Auch in der Grundschule im Sachkundeunterricht wird meist gelehrt, dass es lediglich Frau und Mann gebe und im Gymnasium wird im Biologieunterricht alles auf die Spitze getrieben. Oft wird die Klasse zur „Aufklärung“ in zwei geteilt – Menschen die sich keinem der binären Geschlechter zuordnen, werden außer Acht gelassen und auch der Biologieunterricht an sich ist zu vielen Teilen immer noch cis- und heteronormativ. 

Und das nicht ohne Grund!

Woher kommt Queerunterdrückung?

Besonders im Kindes- und Jugendalter soll das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie gefestigt werden, denn Kapitalist_Innen profitieren finanziell von unbezahlter Haus- und Sorgearbeit, die Frauen als natürlich zugeschrieben wird. Durch die Auslagerung der Reproduktion der Arbeitskraft ins Private kann diese überhaupt erst tagtäglich für die Ausbeutung durch die Kapitalist_Innen zur Verfügung stehen.

Innerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie sollen Frauen im Stillen Arbeitskraft reproduzieren – unbezahlt und in den eigenen vier Wänden. Dazu zählen alle Arbeiten, die nötig sind, damit Arbeiter_Innen am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen können. Beziehungsmodelle, welche weder monogam noch heterosexuell sind und Identitäten jenseits des cis-binären Spektrums stellen das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie in Frage, da sie das Konzept „Vater, Mutter, Kind“ unterlaufen und somit nicht mehr klar ist, wer welche Rolle in der Familie einnimmt.

Es ist somit auch kein Zufall, dass der bürgerliche Staat nicht nur im Bildungssektor, sondern auch im Gesundheitssektor und am Arbeitsplatz queere Personen benachteiligt und unterdrückt.

Geschlechtsangleichende Operationen werden immer noch nicht vollständig finanziert und sind nicht ohne bürokratischen Aufwand möglich, für Jugendliche nicht einmal ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten!

Queerfeindliche Gewalt

Immer wieder führt diese durch den bürgerlichen Staat forcierte Unterdrückung zu queerfeindlichen Übergriffen und Gewalttaten. Und wenn dies nicht bereits durch die Organe des bürgerlichen Staates selbst geschieht, sondern durch Faschist_Innen und andere queerfeindliche reaktionäre Gruppen, wird dies meist weggesehen, denn diese Taten werden in den meisten Teilen Deutschlands nicht einmal dokumentiert. Berlin ist das einzige Bundesland, das ein Monitoring zu queerfeindlicher Gewalt erstellt. Im Jahr 2021 wurde mit 456 gemeldeten Fällen – davon 23 %  teils schwere körperliche Gewalt – der höchste Wert seit Aufnahme der themenspezifischen Erfassung dokumentiert. Das sind knapp 100 Fälle mehr als im Vorjahr und dabei muss bedacht werden, dass bei weitem nicht alle gemeldet werden.

Im Rahmen einer Umfrage der EU im Jahr 2020, an der ca. 2.750 trans Personen aus Deutschland teilgenommen haben, gaben 66 % der Befragten an, in mehr als acht Lebensbereichen in den letzten 12 Monaten aufgrund ihres Trans-Seins diskriminiert worden zu sein. 90% von Ihnen haben den letzten Vorfall nicht gemeldet.

Aber gibt es nicht auch Fortschritte?

Es zeigt sich also, dass queere Personen in allen Lebensbereichen durch den bürgerlichen Staat unterdrückt werden. Doch dieser ist besonders in den letzten Jahren immer mehr bemüht, Illusionen zu schaffen, queere Befreiung sei innerhalb des Kapitalismus zu lösen.

So bestehen die gleichgeschlechtliche zivile Ehe und die mögliche Eintragung von „inter“ und „divers“ im Geburtenregister seit 2017 und jüngst wurde durch die Ampelregierung, die sich Progressivität auf die Fahne schreibt, das reaktionäre „Transsexuellengesetz“ (TSG) abgeschafft, welches durch ein neues Selbstbestimmungsgesetz ersetzt werden soll. Dieses soll trans, inter und nicht-binären Personen künftig die Möglichkeit geben, ihren Geschlechtseintrag sowie ihren Vornamen im Personenstandsregister durch eine Erklärung beim Standesamt ändern zu lassen.

Dies alles sind zwar durchaus positive Entwicklungen, wir müssen uns dabei aber klar machen, dass diese Fortschritte immer mit Vorsicht zu genießen sind. Der bürgerliche Staat möchte mit solchen Maßnahmen Bewegungen den Wind aus den Segeln nehmen und so etwas wie den CSD zu einer mehr oder weniger staatstragenden Party verkommen lassen.

Für uns als Revolutionär_Innen ist klar, dass wir uns nicht auf den bürgerlichen Staat verlassen dürfen, wenn wir die Unterdrückung von queeren Personen ernsthaft bekämpfen wollen. Denn im Kapitalismus steht er im Dienste der herrschenden Klasse, deren Profit auf die Unterdrückung von Frauen, queeren und migrantisierten Menschen angewiesen ist. Deshalb muss dieser Kampf zwangsläufig auch ein Kampf gegen den Kapitalismus sein. Hierfür schlagen wir folgende Forderungen vor:

  • Inklusive Bildung und Mitspracherecht der Schüler_Innen über Inhalte der Lehrpläne!
  •  Für das Recht auf medizinische Geschlechtsangleichung an die soziale Geschlechtsidentität –             kostenfrei und ohne unnötigen bürokratischen Akt!
  •  Antisexistische Komitees in Schulen, Unis & Betrieben sowie Selbstverteidigungskomitees in Verbindung mit der Arbeiter_Innenbewegung!
  • Intersex vollständig legalisieren! Medizinische, kosmetische Eingriffe z.B. zur                   Geschlechtsangleichung nur mit Zustimmung der betroffenen Person.
  • Kampf gegen die transphobe Hetze der Rechten und selbsternannten Radikalfeminist_Innen!
  • Gegen die Pflicht das eigene Geschlecht in offiziellen Dokumenten anzugeben! Für den Ausbau an Unisex-Orten im öffentlichen Raum, wie Toiletten oder Umkleiden!



Trash TV – harmlose Unterhaltung oder pure Ideologie?

Von Leonie Schmidt, April 2023, REVOLUTION-Zeitung April/Mai 2023

Wer kennt es nicht: nach einem anstrengenden Tag in der Schule, Uni oder auf Arbeit mal eben auf der Couch entspannen und etwas anschauen, was keine große Denkleistung erfordert und Unterhaltung verspricht. Und zufälligerweise ist auch gerade die neue Staffel einer Datingshow im Fernsehen angelaufen. Das passt ja eigentlich perfekt! Doch den meisten Zuschauenden wird an einigen Stellen auffallen, dass manche Sachen, die in solchen Sendungen passieren, irgendwie komisch bis problematisch sind. Was das für Elemente sind und weswegen Trash TV trotzdem so erfolgreich ist, wollen wir in diesem Artikel näher betrachten.

Was ist überhaupt Trash TV?

Starten wir erst mal mit den Grundlagen; Trash TV ist kein eigenes Genre, sondern ein Überbegriff, für Sendungen, die man grob in Scripted Reality Sendungen wie „Mitten im Leben“, Dating Shows wie „Der Bachelor“ und Castingshows wie „Germanys Next Topmodel“ einteilen kann, es gibt aber auch noch andere Formate, wo sich vor allem Z-Promis gegenseitig die Köpfe einschlagen, wie bspw. „Promis unter Palmen“. Sie alle haben gemeinsam, dass sie möglichst realistisch wirken sollen, auch wenn es in den meisten Fällen mindestens ein grobes Script, Anregungen durch die Produktionsfirma oder einen Schnitt gibt, der Sachen in ein ganz anderes Licht rücken soll. Diese vermeintliche Realität ist also ziemlich gekünstelt und wird dem Dramafaktor entsprechend zurecht gebogen. Viele können das auch nicht erkennen und so fällt es ihnen dann auch schwer, zwischen den Teilnehmer_Innen einer Show und ihnen als Privatperson zu unterscheiden. Und auch den Darsteller_Innen fällt das auf die Füße, wenn sie für meist wenig Geld, ziemlich entwürdigende Sachen tun müssen (es sei denn sie sind Promis mit hochdotierten TV-Verträgen und Agenturen).

Trash TV gibt es in der deutschen Fernsehgeschichte noch nicht so lange, denn nach dem 2. Weltkrieg und der Zweiteilung Deutschlands wurde im BRD-Fernsehen eher ein Fokus auf „Erziehung zur Mündigkeit“ gelegt, weswegen es hauptsächlich ernsthafte Formate gab, in denen auch in vielen Fällen Wissen vermittelt wurde. Erst mit der Einführung der Privatsender wie z.B. RTL in den 1980er Jahren wurde ein neuer Fokus deutlich: es ging auf einmal um Einschaltquoten (und Werbeeinnahmen), denn anders konnte man sich nicht gegen die gefestigten Sender des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durchsetzen. So gab es bspw. Shows wie „Tutti-Frutti“, eine Erotik-Game-Show in den 90er Jahren auf RTL. Klares Vorbild: das US-amerikanische DayTime TV. Gerne wurden hier vor allem Talkshow-Formate mit skandalträchtigen Dramen als Anregung übernommen, diese waren besonders in den späten 90ern bis zu den frühen 2000ern angesagt, zum Beispiel „Britt – Der Talk um eins“. Aber auch heute noch kann festgestellt werden, dass alle Trash TV Formate ein Art Äquivalent im englischsprachigen Raum haben, sei es nun „Love Island“ oder „Too hot to handle“.

Medienwissenschaftler_Innen sehen die Vorläufer außerdem in Freakshows und französischem Kasperletheater: mit anderen Worten, reißerische Inhalte, Fremdscham und seichte Unterhaltung prägen die Sendungen und sind auch deren Erfolgsrezept. Denn ja, natürlich wollen wir sehen, wie 10 Singles gegen ihren Sex Drive ankämpfen und uns darüber lustig machen, dass sie es wirklich nicht 14 Tage aushalten können wie bei „Too hot to handle“. Wenn die Einschaltquoten stimmen, stimmen natürlich auch die Werbeeinahmen (oder wie bei Netflix die Einnahmen aus den Abo-Gebühren). Aber der Fokus auf Geld und Aufmerksamkeit sind mitnichten die einzigen Probleme, die die beliebten Shows haben. Sie lenken uns ab von den wichtigen Themen des Lebens, lassen uns abstumpfen, haben also eine Art Zerstreuungseffekt, der uns vom Leben während kapitalistischer Krisen ablenken soll. Außerdem vermitteln sie auch in vielerlei Hinsicht falsche Werte und Bilder über bestimmte Personengruppen.

Klassismus und der Hass auf Hartz IV-Empfänger_Innen

Besonders sieht man das zum Beispiel in scripted reality Sendungen wie „Mitten im Leben“, „Familien im Brennpunkt“ oder im Doku-Format „Hartz aber herzlich“, umgangssprachlich auch als „Assi-TV“ bezeichnet, in welchen Stereotypen über Menschen, welche in Armut leben, vermittelt werden. Oft soll es so wirken, als hätten diese selbst Schuld an ihrer Lage, seien faul, egoistisch, drogen- und alkoholabhängig, schlechte Eltern mit viel zu vielen Kindern, aus denen auch nie etwas werden wird. Auch werden sie auffällig oft als besonders dick mit besonders ungesunder Ernährung dargestellt, die den ganzen Tag nur auf der Couch sitzen und fern sehen. Das alles passiert, während in Deutschland Hartz IV-Empfangende Sanktionen herein gedrückt bekommen und in Maßnahmen gezwungen werden, wollen sie nicht ohne das Minimum an Lebensstandard dastehen.

Laut Armutsforscher Christoph Butterwegge wird durch diese Darstellung einerseits Angst angeheizt, ebenso wie Dome & Co. im Plattenbau zu landen, den Zuschauenden fällt es aber auf Basis der Stereotypisierung und extremen Überspitzung umso leichter, sich zu distanzieren und zu erheben und  sich  auch im realen Leben als etwas Besseres zu fühlen.

Diese These lässt sich gut daran beobachten, wie die Sendungen in sozialen Netzwerken kommentiert werden. Hier wird gefordert, den Frauen in Armut ihre Kinder wegzunehmen, es wird darüber gelästert, dass sie es wagen von ihrem Hartz V nicht nur Lebensmittel einzukaufen, sondern auch mal Zigaretten oder sich die Nägel machen zu lassen. Wer arm ist, verdient nur das allernötigste, so der Tenor.

Allerdings sei an dieser Stelle gesagt, dass die Herabwürdigung der Armen in den letzten Jahren eher subtiler geworden ist, als es vorher noch üblich war und der Blick vermeintlich differenzierter wirkt. Aber die Distanzierung und der Argwohn bleiben natürlich trotzdem bestehen. Denn nicht immer ist das Gefühl der Zuschauenden, etwas Besseres zu sein, ausschließlich reine Arroganz. Manchmal zeigt es sich auch eher in der Hinsicht, dass man sich denkt, dass man es im Vergleich zu „denen“, doch eigentlich ganz gut hat und sich nicht beschweren kann.

So wachsen Vorurteile und Hass, es kommt zu einer Entsolidarisierung und Spaltung innerhalb der Arbeiter_Innenklasse, was natürlich besonders schlimm ist, wenn es aufgrund der Krise wieder Sozialkürzungen gibt und die geeinte Solidarität gegen diese umso notwendiger wird.

Den Traumprinz in 10 Folgen finden?

Aber im Trash TV geht es nicht immer nur um Armut und Elend. Oft genug werden auch Datingshows produziert, die meistens an exotischen Orten spielen, wo alle Teilnehmenden halbnackt am Pool flanieren, Party machen und ab und zu ein paar „anstrengende“ Challenges bewerkstelligen oder auf Einzel – und Gruppendates gehen. Was das Ziel ist, ist eigentlich klar: hier soll der_die Traumpartner_In gefunden werden. An dieser Stelle wird also ein bestimmtes Ideal von romantischen, hetero- und cis- normativen Beziehungen vermittelt, die auch schön monogam zu sein haben. Denn wer es wagt, bei den Datingshows nicht nur eine Person im Visier zu haben, wird unter Garantie mit Drama oder, je nach Format, sogar mit dem Ausschluss konfrontiert.

Doch so romantisch wie das Ideal einer Zweierbeziehung auch wirken mag, oberflächlicher als in diesen Shows geht es eigentlich gar nicht. Der Fakt, dass es insbesondere in Shows  wie „Der Bachelor“, wo es einen Hauptcharakter und um sie konkurrierende Teilnehmende gibt, darum geht, jemanden von sich in ca. 10 Folgen zu überzeugen und die restlichen Kandidat_Innen auszuschalten, klingt nicht nach einem Rahmen, in welchem sich eine zwischenmenschliche Beziehung, basierend auf Gemeinsamkeiten, Kommunikation und Nähe entwickeln kann. Konkurrenz zwischen potentiellen love interests, wie wir es aus der Realität von Datings Apps kennen, wird hier noch einmal zugespitzt und durch symbolische Interaktionen wie die Rosenübergabe untermauert. Die Oberflächlichkeit dieser Beziehungen zeigt sich auch an ihrer Dauer, die meistens kaum den Zeitraum von Produktion und Ausstrahlung überschreiten.

Auch wird in den meisten dieser Sendungen Sexualität zwar konstant durch Anspielungen angedeutet, aber es wird immer auf den „richtigen“ Moment gewartet, oder es wird gleich klar gemacht, dass es im Rahmen der Sendungen keinen Raum einnehmen darf und bis nach dem Finale gewartet werden muss, wobei vorher das Höchste der Gefühle schlabbrige Zungenküsse sind. Auch das entspricht der bürgerlichen Sexualmoral, dass man, wenn man es mit jemandem ernst meint, nicht gleich drauf los vögeln darf und Intimität aufgespart werden muss (was natürlich in extremer Form auf das Warten bis zur Hochzeitsnacht zurückzuführen ist).

Des Weiteren haben viele, vor allem männliche Teilnehmer ein sehr rückschrittliches Geschlechterbild, Frauen werden als passive Objekte gesehen, die „klar gemacht“, „abgeschleppt“ oder überredet werden müssen, die ruhig sein sollen, wenn der Mann spricht, kein Drama machen und sich ganz einfach unterordnen sollen. Der Mann hingegen tritt als klassischer, aktiver Macho und Eroberer auf, der sich nimmt, was ihm vermeintlich zusteht. Auch werden schon nach einer kurzen Kennenlernphase, oder auch wenn sie gerade mal ein Auge auf den oder die Angebetete geworfen haben, ziemlich schnell besitzergreifend.

Das alles basiert natürlich auf der Rollenverteilung, die uns allen im Kapitalismus auferlegt wird, um die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die doppelte Ausbeutung der Frau durch unbezahlte Reproduktionsarbeit und Lohnarbeit zu legitimieren. Ebenso basiert darauf das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie, mit all seinen Einschränkungen, aus dem sich auch die hier reproduzierte bürgerliche Sexualmoral ergibt.

Aber wer macht da eigentlich alles mit?

Wenn wir uns die Anforderungen anschauen, im Bikini oder in der Badehose am Pool zu lungern, wird schnell klar: vor allem normschöne Menschen, die auch als Models und Influencer_Innen tätig sein könnten oder dies bereits spätestens nach Ausstrahlung sind. Die Männer sind durchtrainiert und sollen teilweise durch Tattoos noch männlicher wirken. Die Frauen kommen mit langen Haaren, makelloser Haut und schlanken Kurven daher. Personen abseits dieser Ideale sieht man so gut wie gar nicht. Vor allem im Format „love island“ wird auch oft in der Villa trainiert und über Ernährung philosophiert, außerdem geben viel Teilnehmende in den Interviews an, dass ihre Partner_Innen durchtrainiert und schlank, und bloß nicht dick sein sollten. So wird auch das Bild zementiert, dass nur normschöne Personen es verdient haben, geliebt zu werden. Und für alle anderen gibt es dann Datingshows, in denen ausschließlich plus-size-Personen auftreten, sie sich also nur „unter ihresgleichen“ umsehen dürfen.

Außerdem sind die meisten, die dabei sind, weiß und stehen auch offenkundig auf weiße, blonde Frauen, wie Onyi, Teilnehmerin der aktuellen Staffel „Too hot to handle Germany“ kritisiert. Netflix hatte sie zwar als diversity bonus gecastet, aber es war klar gewesen, dass die meisten anderen Teilnehmenden ganz andere Präferenzen haben. Das hat sie als Außenseiterin da stehen lassen, wie sie selber und andere auf Tik Tok kritisierten. Das ist natürlich alles andere als gute Repräsentation in dieser Show und es ist verständlich, dass dieser Umgang mit einer WOC im TV dem Selbstbewusstsein von Rassismus-Betroffenen nicht gerade gut tut, sondern sogar schadet.

Aber nicht nur in dieser Hinsicht sollten sich die Produktionsfirmen überlegen, ob sie sich Diversität wirklich auf die Fahne schreiben sollten. Grundsätzlich wird nämlich immer davon ausgegangen und die Sendungen sind auch so aufgebaut, dass alle hetero sind und eine binäre Geschlechtsidentität haben. Denn die Einteilung nach Mann und Frau spielt eine große Rolle in Challenges oder Auswahlverfahren bzw. Pärchenbildungen bspw. bei „love island“. Außer in der aktuellen Staffel von „Too hot to to handle Germany“, wo Bisexualität aber auch eher eine untergeordnete Rolle spielt, gibt es keine gleichgeschlechtlichen Verpaarungen, es sei denn, es ist ein explizit homosexuelles Datingformat.

Das selbe in Regenbogenfarben oder alles besser bei Prince(ss) Charming?

Explizit queere Datingformate gibt es in Deutschland für Schwule mit Prince Charming seit 2019, mit Princess Charming für Lesben seit 2021. Alleine, dass es so lange gebraucht hat, ist schon ein Witz, die ersten hetero Folgen von „Der Bachelor“ gab es bereits erstmals 2003 in der deutschsprachigen Version!

Aber so gut wie es gemeint ist, so schlecht ist es auch umgesetzt. Werfen wir einmal einen Blick auf Princess Charming. Vor allem in der ersten Staffel gab es einiges an „Problemen“, was fast noch beschönigend ausgedrückt ist. Die Teilnehmer_Innen konnte man queeren bzw. lesbischen Stereotypen geradezu zuordnen, vielleicht mit einigen Ausnahmen. Wer da nicht reingepasst hat, wurde unter den Teppich gekehrt, denn auch hier wurde bspw. Bisexualität nicht ernst genommen, denn in der Show geht es ja „nur um Frauen, die auf Frauen stehen“. Realistische Repräsentation sieht anders aus. Ebenso, dass immerzu von lesbischen Frauen gesprochen wurde, obwohl sich unter den Teilnehmenden auch eine nicht-binäre Person, nämlich Gea, befand. In einer Folge wurde sogar über their nicht-binäre Identität gesprochen und they musste einer anderen Kandidatin alles genaustens erklären. Die Sendung ist also auch ziemlich cis-normativ.

Weitere Kritikpunkte sind der unbegrenzte Zugriff und der damit zusammenhängende Konsum von Alkohol. Im Prinzip sieht man die Teilnehmer_Innen ständig mit einem Glas Sekt in der Hand und natürlich werden auch so die eigenen Hemmungen fallen gelassen. Einerseits trägt das natürlich zur gesamtgesellschaftlichen Normalisierung dauerhaften Alkoholkonsums bei, auf der anderen Seite kam es (unter anderem, aber natürlich nicht nur deswegen) auch mehrfach zu  übergriffigem Verhalten am Set. So gab es zum Beispiel einen Outcall wegen sexualisierter Gewalt gegenüber der Influencerin Wikiriot durch Jo, eine andere teilnehmende Person. Besonders in der Kritik steht hier neben der Täterin auch die Produktionsfirma, die sich nicht zu den Vorkommnissen äußern will und ein an die Öffentlichkeit Treten für die betroffenen Personen durch eine Verschwiegenheitsklausel erschwert hat. Auch in der zweiten Staffel kam es zu bedrängenden Szenen während einer Party mitsamt aufgezwungenen Küssen, obwohl vorher Grenzen aufgezeigt wurden. Anstatt, dass die Produktionsfirma hier eingreift und verantwortungsvoll handelt, wurde das sogar in die Dramaturgie mit eingebaut!

Wir sehen also, nur weil LGBTIA+ drauf steht, ist leider nicht alles perfekt, im Gegenteil. Denn natürlich werden auch diese Sendungen im Kapitalismus produziert und sind somit den gesellschaftlichen Zwängen und Einschaltquoten unterworfen. So positiv, wie höhere Diversität erst einmal scheinen mag, zeigen diese Beispiele doch einmal mehr, dass Unterhaltung, welche auf Basis von Kapitalinteressen, erstellt wird, nicht derartig progressiv sein kann, wie wir uns das vielleicht erhoffen.

Daher fordern wir:

  • Gegen unterdrückerische Schönheitsideale in Werbung und Medien! Enteignet die großen Medienhäuser und die „kulturschaffende“ Industrie (Gameentwickler, Filmproduktionen,..) genauso wie Google, Instagram und Co.!
  • Für organisierte Medienarbeit durch Räte aus Zuschauer_Innen, Arbeiter_Innen und Kreative ohne die Reproduktion von Unterdrückung!
  • Für eine internationale, proletarische antisexistische Bewegung!



Keine Sexualität, kein Problem? – Über Asexualität und echte sexuelle Befreiung

Von Erik Likedeeler, April 2023

„I was angry at the world for making me hate who I was. It was all because of that, that this new identity felt like a loss, when in reality, it should have been a beautiful discovery.” So beschreibt Georgia, die Hauptfigur aus Alice Osemans Jugendroman „Loveless“, ihre Erkenntnisse zum Coming Out als asexuell und aromantisch.

Ihre Gefühle des Verlustes und Selbsthasses sind in der asexuellen Community kein Einzelfall: Ohne sexuelle Anziehung zu leben, kann beängstigend sein in einer Welt, in der Sex einen Warencharakter hat und Desinteresse mit Gefühlskälte gleichgesetzt wird. Die Befürchtung, nicht „normal“ zu sein, ist verständlich in einer Welt, in der Anpassung scheinbaren Schutz vor Diskriminierung bietet. Auch das Gefühl, die eigene Zukunft zu verlieren, ergibt sich unmittelbar aus einer Gesellschaft, die viel Spannung und Drama künstlich aus Sexualität herauszieht.

Asexualität wird häufig als irrelevanter Aspekt der queeren Identität eingeordnet und nur selten als Ursache für Diskriminierung erkannt. Doch es gibt viele Arten, auf die sexuelle Befreiung im Kapitalismus verhindert wird. Wie asexuelle Menschen davon betroffen sind und wie dagegen vorgegangen werden kann, soll in diesem Artikel dargestellt werden.

„Keine Angst, das kommt schon noch“: Outing und Jugendunterdrückung

Einerseits werden Jugendliche durch Beschämung, Tabuisierung, Verbote und Homofeindlichkeit daran gehindert, ihre Sexualität frei zu erkunden. Andererseits wird ihnen Sexualität als biologisch alternativlos vermittelt: als etwas Selbstverständliches, das sie unweigerlich eines Tages tun werden. Im Sexualkundeunterricht wird davon gesprochen, sich Zeit zu lassen und auf „die richtige Person“ zu warten. Doch dass ein „Nein“ auch eine dauerhafte Option sein darf, wird selten vermittelt.

Jugendliche, die sich als asexuell outen, bekommen häufig unterstellt, sie wären „Spätzünder_Innen“ und würden ihre Präferenzen ändern, wenn sie älter wären. Das passt perfekt in das Vorurteil, Jugendliche wären impulsive und entscheidungsunfähige Opfer ihres Hormonhaushalts. Es wird so getan, als wüssten Jugendliche so wenig über sich selbst, dass ihre aktuelle Identität wertlos wäre und sie eines Tages als völlig andere Menschen aufwachen könnten. Viele Jugendliche kennen ihre Gefühle und Bedürfnisse, bekommen jedoch beigebracht, sich selbst nicht zu vertrauen. Das ist der Grund, warum asexuelle Menschen im Durchschnitt länger als andere queere Personen brauchen, um ihre sexuelle Orientierung herauszufinden.

 „Hattest du schon einmal Sex?“ ist eine häufige Fangfrage, bei der asexuellen Menschen abverlangt wird, möglichst viele negative Erfahrungen vorzuweisen. Sie sollen ihre ganze Jugend lang leiden, an sich zweifeln und sich traumatisieren lassen, bevor sie erwarten dürfen, dass ihnen geglaubt wird. Die Behauptung, sie hätten einfach noch nicht „den_die Richtige_n“ gefunden, ist nutzlos und irrelevant. Es ist makaber, von asexuellen Personen zu verlangen, sie sollten ihr ganzes Leben auf der Suche nach etwas verbringen, das es ihnen ermöglicht, sich an unterdrückerische sexuelle Normen anzupassen.

„Du hast bestimmt ein leichtes Leben“: Asexualität ist kein Ausweg aus dem Patriarchat

Asexuelle Menschen werden regelmäßig als naiv und unreif abgestempelt. Das Recht auf Selbstbestimmung und Vernunft wird ihnen abgesprochen. Hier zeigt sich die sogenannte Chrononormativität: die Idee, dass Menschen ihr Leben nicht nach ihrem eigenen Tempo leben sollten, sondern dass es Meilensteine gibt, die ab einem bestimmten Alter erreicht werden müssen, wie zum Beispiel das „Erste Mal“. Dieser Kampf gegen unsichtbare Deadlines wird im Kapitalismus absichtlich provoziert, um Menschen effizienter auszubeuten.

Häufig müssen asexuelle Menschen sich herablassende Kommentare darüber anhören, wie „einfach“ ihr Leben doch wäre. Aber Asexualität ist nur dann einfach, wenn sie auf einen einzigen Satz heruntergebrochen wird, wie es in Mainstream-Medien oft der Fall ist. Genau wie jede andere sexuelle Orientierung hat Asexualität viele Facetten und sexuelle Anziehung zu empfinden ist keine mystische Schwelle, die den Unterschied zwischen Kindheit und Erwachsensein markiert.

Asexualität ist keine Freikarte, um der Unterdrückung durch das Patriarchat zu entkommen. Tatsächlich sind asexuelle Menschen massiv von sexualisierter Gewalt betroffen. Durch die anerzogene Verunsicherung gegenüber den eigenen Bedürfnissen geraten sie leicht an manipulierende Täter_Innen, die ihre Verletzlichkeit ausnutzen, um ihnen Schuldgefühle einzureden. Nicht selten kommt die Gewalt in Form von „korrektiver“ Vergewaltigung daher, mit dem Ziel, die Person wieder „normal“ zu machen.

Viele asexuelle Menschen erlernen ein hypersexuelles Verhalten, um die eigene Orientierung vor sich selbst und anderen zu verstecken. Sie erfahren weder von Asexualität, noch von Konsensprinzipien wie „Nur Ja heißt Ja“. Deshalb wachsen sie mit dem beängstigenden und verstörenden Gedanken auf, eines Tages Sex haben zu müssen. Miranda Fricker bezeichnet das als hermeneutische Ungerechtigkeit: Sprache und Diskurse sind von den Belangen der Herrschenden geprägt, deshalb haben unterdrückte Menschen kaum Möglichkeiten, ihre eigene Unterdrückung zu erkennen, über sie nachzudenken und sie sprachlich auszudrücken.

„Empower dich doch einfach“: Was bedeutet sexuelle Befreiung?

Die rückständigsten Teile des bürgerlichen Familienideals abzulehnen, gilt mittlerweile als aufgeklärt und emanzipiert. Doch ein gewisses Maß an harmloser „Ich mag den Valentinstag nicht“-Rebellion darf nach wie vor nicht überschritten werden. So gilt Sexualität immer noch als unverzichtbarer Teil jeder romantischen Beziehung.

In linken Strukturen werden insbesondere asexuelle Frauen oft als verklemmt abgestempelt. Sie gelten als Objekte des Mitleids, die sich noch von anerzogener Prüderie und Scham befreien müssen. Kein aufregendes Sexualleben vorweisen zu können, wird mit konservativen Ansichten gleichgesetzt. Weibliche Sexualität soll kultiviert werden, um „feministische“ Politik zu performen – damit auch Frauen Sex konsumieren und sich „empowert“ fühlen können. Das Patriarchat wird dabei als der einzige valide Grund genannt, warum manche Frauen keinen Sex haben möchten.

Es wird an der Idee festgehalten, dass gesellschaftlich tabuisierte Formen von Sex, wie z.B. BDSM, einen Menschen inhärent befreiter machen würden. Das Bedürfnis, Sex zu einer lässigen Performance werden zu lassen, um sich selbst als aufgeschlossen zu inszenieren, hängt damit zusammen, dass die politisch Konservativen sich in der Öffentlichkeit auch gern sexuell konservativ präsentieren.

Es stimmt, dass sexuelle Praktiken Menschen dabei helfen können, Scham abzubauen und sich in ihrem Körper selbstbewusst zu fühlen und natürlich unterstützen wir die freie sexuelle Entfaltung aller Menschen- insofern sie das Bedürfnis danach haben. Doch Sex allein hat nicht die Macht dazu, die Welt zu einem gerechten Ort zu machen. Er ist keine antikapitalistische Praxis, die auf magische Weise gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen aushebeln könnte.

„Wer zweimal mit derselben pennt…“: Sex als Waffe gegen Krieg und Faschismus?

Schon die 68er-Bewegung definierte die sexuelle Befreiung damit, möglichst viel unverbindlichen Sex zu haben und betrachtete dies als Mittel gegen Krieg und Unterdrückung. Diese Idee mag sich richtig anfühlen, ist jedoch fehlgeleitet. Wie Angela Chen schreibt: „The revolution will not come on the tidal wave of your next multiple orgasm, on the floor of your communal living space. It will only happen if you have an actual plan for destroying systems of oppression and exploitation.” Asexualität ist kein politisches Versagen, das überwunden werden muss, sondern eine Identität, die respektiert gehört.

Auch psychoanalytische Ansätze versuchen, Sex als Patentlösung zu verkaufen und jedes gesellschaftliche Problem in Bezug darauf zu erklären. Die Idee der 68er, mit einer „befreiten“ Sexualität die Antikriegsbewegung zu stärken, geht auf den Freud-Schüler Wilhelm Reich zurück. Dieser glaubte, eine unterdrückte Sexualität wäre die Ursache des Faschismus. Doch der Faschismus ist in den materiellen Verhältnissen einer Gesellschaft begründet. Er ist ein Phänomen des Imperialismus und das letzte Mittel zur Niederschlagung des Klassenkampfes. Ihn mit unterdrückter Sexualität zu begründen, ist eine faule Erklärung für ein komplexes Phänomen. Das menschliche Verhalten ist vielfältiger als das und es ist übergriffige Spekulation, Menschen heimliche, unbewusste sexuelle Wünsche zu unterstellen.

Nicht selten müssen asexuelle Menschen sich auf respektlose Weise mit sogenannten Incels vergleichen lassen. Häufig wird davon ausgegangen, ein Mangel an Sex hätte die extrem frauenverachtenden Incels zu frustrierten Sexisten und Faschisten gemacht. Dabei wird ausgeblendet, dass das traditionelle Bild des Mannes als Ernährer und Beschützer angesichts kapitalistischer Krisen und sich wandelnder Rollenbilder ins Wanken geraten ist. Incel zu werden ist nicht die Folge von zu wenig Sex, sondern die Ausweitung einer Sozialisation, in der Abwertung und Erniedrigung Teil des Systems sind und man als Jugendliche_r oder Arbeiter_In ständig Angst vor dem Abstieg haben muss. Unterdrückungsformen wie Sexismus lassen uns dabei die Schuldigen in anderen Teilen der Arbeiter_Innenklasse suchen, anstatt bei den Kapitalist_Innen, die tatsächlich von unserer Ausbeutung profitieren. In unterdrückerischen Verhältnissen ist die Incel-Ideologie ein leichter Weg, um sich selbstwirksam zu fühlen. Dieses toxische Verhalten führt mitunter dazu, dass sexuelle Erfolge ausbleiben und nicht umgekehrt.

„Bist du eigentlich depressiv?“: Asexuelle Menschen sind nicht krank!

Unsere Gesellschaft wird von der gewaltvollen Norm strukturiert, dass alle Menschen romantische und sexuelle Anziehung spüren sollen. Wer diese Erwartung nicht erfüllen kann oder möchte, wird schnell für krank erklärt, also pathologisiert. Genau wie es früher bei Homosexualität der Fall war, wird Asexualität oft als Traumafolge verbucht. Allerdings gibt es keine wissenschaftliche Studie, die beweisen kann, dass Trauma die sexuelle Orientierung ändern kann.

Auch für Depressionen ist fehlendes Interesse an Sex ein Diagnosekriterium. Normerfüllende, romantisch-sexuelle Beziehungen werden von Therapeut_Innen als Beweis dafür gesehen, dass sich soziale Ängste verringert haben. Eine bestimmte Art von menschlicher Intimität als Idealfall zu verbuchen, führt zu Fehldiagnosen und falschen Behandlungen. Für trans Personen können „falsche“ Antworten auf die Abfrage der Sexualität zur Verweigerung der Behandlung führen, weil davon ausgegangen wird, dass sexuelle „Erfüllung“ und psychische Gesundheit sich proportional zueinander verhalten.

40% der asexuellen Menschen wurde schon einmal angeboten, sie zu „heilen“. Für Menschen mit geringem sexuellem Verlangen gibt es die Diagnose HSDD (hypoactive sexual desire disorder), umgangssprachlich Frigidität genannt. Nach dem DSM-4, einem wichtigen psychiatrischen Leitfaden, konnte HSDD bis 2013 selbst dann diagnostiziert werden, wenn ausschließlich der_die Partner_In darunter litt. Seit der Erscheinung des DSM-5 wird die Störung nur noch diagnostiziert, wenn die Person selbst leidet und sich nicht als asexuell identifiziert.

Auch diese neuen Diagnosekriterien ergeben wenig Sinn. Keine oder wenig sexuelle Anziehung zu verspüren, ist keine Krankheit, unabhängig davon, welches Wort dafür verwendet wird. Der Unterschied zwischen einer psychischen Krankheit und einer sexuellen Orientierung besteht nicht darin, wie eine Person sich damit fühlt. Ist ein schwuler Mann nur dann schwul, wenn er mit seiner Homosexualität glücklich ist?

HSDD und Asexualität haben unterschiedliche intellektuelle Ursprünge. HSDD stammt aus dem medizinischen Bereich, während Asexualität im Bereich der sozialen Gerechtigkeit verwurzelt ist. Bei der Diagnose von HSDD sind Ärzt_Innen die Autorität, während asexuelle Menschen betonen, dass jeder Mensch selbst entscheiden muss. Bei HSDD wird eine Abweichung zum Problem erklärt, bei der Asexualität geht es darum, Vielfalt zuzulassen, auch wenn sie sich unbequem anfühlt.

Asexuelle Menschen glauben nicht an eine moralische Verpflichtung zur Steigerung des sexuellen Verlangens. Sie kritisieren, dass Menschen ihre Asexualität erst dann akzeptieren dürfen, wenn eine „Heilung“ ausgeschlossen wurde. Die HSDD-Diagnose ist nutzlos, weil es eine sinnvollere Alternative gibt: zu akzeptieren, dass das Leid durch Stigmatisierung zustande kommt, und gegen diese Diskriminierung anzukämpfen.

„Das ist doch keine gesunde Beziehung“: Diskriminierung durch den Staat

Die Diskriminierung gegen asexuelle Menschen wird auch von staatlicher Seite getragen: Die Kosten für eine künstliche Befruchtung werden nur in heterosexuell gelesenen Partner_Innenschaften von der Krankenkasse übernommen, bei denen der „natürliche Weg“ nicht funktioniert.  Auch beim Adoptionsverfahren muss eine „stabile“ Ehe vorgewiesen werden. Dazu zählt üblicherweise auch körperliche Intimität.

Wenn eine verheiratete Person keine deutsche Staatsbürger_Innenschaft besitzt, kann der Verdacht aufkommen, dass sie diese über die Heirat erlangen wollte. Menschen in Ehen mit getrennten Schlafzimmern haben kaum eine Möglichkeit zu beweisen, dass es sich nicht um eine Scheinehe handelt. Daran zeigt sich, wie willkürlich Beziehungsnormen zusammengewürfelt sind. Heutzutage fallen getrennte Schlafzimmer unter den Begriff „Eheproblem“, früher waren sie im Bürgertum die Norm. Daran, wie vielen gesetzlichen, kulturellen und moralischen Erwartungen Sexualität unterworfen ist, lässt sich leicht erkennen, dass sie alles andere als die „natürlichste Sache der Welt“ ist.

Fazit

Asexuell zu sein ist mühsam in einer Welt, die Sex als das Highlight einer jeden Beziehung markiert. Doch sexuelle Interaktion ist nicht die einzige bedeutungsvolle Verbindung, die Menschen in ihrem Leben eingehen können. Sie ist weder die Quelle des höchsten Glücks, noch der ultimative Beweis dafür, dass Menschen sich lieben. Die Verbundenheit zu Freund_Innen, Familie, Natur, Sport, Wissenschaft, Politik oder Kunst ist für viele Menschen ein ebenso erfüllender Teil des Lebens.

Ziel der sexuellen Befreiung ist, dass es eines Tages selbstverständlich und leicht sein wird, ohne Zwang oder Rechtfertigung nach Konsensprinzipien zu leben. Wenn soziale Skripte wie das Ideal der bürgerlichen Familie absterben, kann Sexualität vom Profitdruck gelöst werden. Das heißt, sie wird nicht länger als Marketingstrategie ausgeschlachtet werden oder ein Werkzeug sein, um den Nachschub an Lohnarbeitenden sicherzustellen. Eine Gesellschaft, die Asexualität vollends akzeptieren möchte, muss sich nicht nur von hierarchischen Beziehungsformen, Vergewaltigungskultur und oberflächlichen Vorstellungen von vertraglichem Konsens verabschieden, sondern letztendlich auch von Leistungsdruck, kapitalistischer Ausbeutung und Profitmaximierung, sowie von geschlechtlicher Arbeitsteilung. 

Deshalb fordern wir:

  • Gegen die Vergewaltigungskultur! Für einen inklusiven Sexualkundeunterricht, der eine Vielfalt an sexuellen Orientierungen vermittelt und sich an Konsensprinzipien orientiert.
  • Für den vollen Zugang zu Elternschaft, Adoptionsrechten und reproduktionsmedizinischen Behandlungen auch für queere Menschen. Gegen das Ideal der bürgerlichen Familie und die kulturelle Überhöhung von Sexualität.
  • Gegen Konversionstherapien, korrektive Gewalt und die Pathologisierung von Asexualität. Für eine echte sexuelle Befreiung, auch für Jugendliche.

Literaturverzeichnis

  • Chen, Angela. Ace. What Asexuality Reveals About Desire, Society, and the Meaning of Sex. New York 2020: Random House.
  • Decker, Julie Sondra. The Invisible Orientation. An Introduction to Asexuality. New York 2015: Simon & Schuster.
  • DeWinter, Carmilla. Das asexuelle Spektrum. Eine Erkundungstour. Hamburg 2021: Marta Press.
  • Kroschel, Katharina; Baumgart, Annika. [un]sichtbar gemacht. Perspektiven auf Aromantik und Asexualität. Münster 2022: Edition Assemblage.



Selbstbestimmungsgesetz – lange nicht genug!

Von Lia Malinovski, März 2023

Mittlerweile dürfte es den meisten Menschen ein Begriff sein: Das Selbstbestimmungsgesetz. Es soll das alte, menschenverachtende und diskriminierende „Transsexuellengesetz“ (kurz TSG) abschaffen und durch eine menschenwürdige und progressive Gesetzgebung ersetzen. Klingt erstmal gut, aber ist es das wirklich? Das wollen wir in diesem Artikel klären.

Was ist das alte TSG?

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, was das Selbstbestimmungsgesetz konkret verändert, sollten wir uns vorher das TSG angucken. Das TSG regelt, wie Menschen ihren Namen und Geschlechtseintrag rechtlich ändern können, also wie er auf dem Perso und in anderen offiziellen Dokumenten steht. Bisher sah das Verfahren so aus: Anstatt einfach zum Standesamt zu gehen, und dort die Änderungen vorzunehmen, ist es eine Entscheidung des Gerichts. Das Gericht will wiederum zwei psychologische Gutachten, die besagen, dass man „wirklich trans“ ist. Was auch immer das bedeuten soll. Die Gutachten müssen unabhängig voneinander, von spezialisierten Sachverständiger_Innen gemacht werden und auch Auskunft darüber geben, ob sich das „Zugehörigkeitsempfinden [zum anderen Geschlecht] des Antragstellers mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr ändern wird.“ (TSG §4, Abs. 3). Danach entscheidet das Gericht, ob der Wunsch der/des Antragssteller_In erfüllt wird. Selbst wenn man das ganze Verfahren durchlaufen hat und positive Gutachten vorweisen kann, kann es also sein, dass der Personenstand, Name oder Geschlechtseintrag gar nicht geändert wird.

Das ist aber nicht das Schlimmste. Denn die Gutachten kosten nicht nur extrem viel, sondern sind im Prozess ihrer Erstellung oft sehr übergriffig. Erfahrungsberichte vieler trans Personen zeigen, dass es nicht selten ist, dass man über die Sexualität, sexuelle Fantasien, Pädophilie, Masturbation, etc. befragt wird. Also Dinge, die nicht nur gar nichts mit dem Geschlecht zu tun haben, sondern auch noch extrem übergriffig sind und teilweise ekelhafte Unterstellungen vermitteln. Die erwähnten hohen Kosten machen es außerdem besonders für trans Personen aus armen Verhältnissen oder trans Jugendliche schwer, das Verfahren überhaupt zu einzuleiten – 500 bis 1000 Euro pro Gutachten lassen sich nicht immer einfach so auftreiben, doppelt erst recht nicht!

Selbstbestimmungsgesetz – eine gute Alternative?

Es braucht also eine Alternative zum bisherigen TSG. Das sagen nicht nur wir, mittlerweile hat es selbst die Bundesregierung verstanden. Deshalb haben sich Justizminister Marco Buschmann und Familienministerin Lisa Paus jetzt endlich auf eine Reform geeinigt. Wie die aussehen soll, haben sie in den „Eckpunkten für das Selbstbestimmungsgesetz“ aufgeschrieben und mittlerweile sogar einen Gesetzentwurf vorgestellt. Unter anderem ist darin vorgesehen, dass trans Personen künftig nicht mehr zum Gericht gehen müssen, sondern beim Standesamt und ohne unnötige und diskriminierende Gutachten die Namensänderung beantragen können. Das Gleiche gilt auch für den Geschlechtseintrag. Wie im alten TSG soll es auch ein Offenbarungsverbot geben, wodurch es illegal ist, den „Deadname“, also den alten, toten Namen zu veröffentlichen oder zu gebrauchen. Das ist ziemlich cool, denn der Deadname heißt nicht umsonst so und es ist sehr respektlos den alten Namen zu nutzen oder sogar zu verraten. Aber nicht alles an dem Gesetzentwurf ist cool: Es wurde laut der „Süddeutschen Zeitung“ eine Passage eingefügt, die expliziten Frauenräumen das Recht gibt, auch nach der Namens- und Personenstandsänderung trans Frauen aus diesen Räumen auszuschließen, wenn es gewollt ist – und ihnen damit die Identität abzusprechen. Also ziemlich uncool, nett ausgedrückt.

Rückschrittlichkeit unter dem Deckmantel des Progressiven?

Diese Passage im Selbstbestimmungsgesetz würde eine transfeindliche Praxis, die sowieso schon passiert ist, legalisieren! Es ist also ein krasser Rückschritt, denn es soll legal werden, trans Personen rauszuwerfen, wenn sich die Andere mit ihnen unwohl fühlen. Da man trans Personen ihre Transidentität aber nicht immer ansieht, wird das auf lange Sicht auch auf cis Frauen zurückfallen, wenn sie nicht den klassischen Geschlechterrollen entsprechen. Unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Sexismus werden Geschlechterrollen gestärkt und das Verstoßen dagegen weiter geächtet.

Die Passage ist auf Druck von TERFs erst reingekommen. Sie verbreiten seit Jahren das Bild des Mannes, der sich in Kleider steckt, um Frauen zu belästigen. Um das zu untermauern, fälschen sie sogar Statistiken und schüren ein Klima der Angst vor trans Frauen. Unterstützt wird das von AfD und Co, von Medien, aber auch in der „bürgerlichen“ Politik. Und Auswirkungen hat das nicht nur auf trans Personen, sondern auch auf cis Frauen. Schon jetzt gibt es Berichte, nach denen cis Frauen angegriffen werden, weil ihnen unterstellt wird, trans zu sein. Auf Twitter werden jetzt schon Vagina-Vergleiche gemacht, mit einer pseudowissenschaftlichen Unterscheidung zwischen „echten“ Vaginas und „gemachten“. Auch diese sind nicht haltbar und gefährden nicht nur trans Frauen!

Dieser Teil des Gesetzes reiht sich ein in eine Welle transfeindlicher Gesetze weltweit– in den US-Bundesstaaten Tennessee beispielsweise gibt es mittlerweile einen staatlichen Zwang zum Detransitionieren (eventuelle Geschlechtsangleichungen, und sei es nur gesellschaftlich, nicht körperlich, wieder rückgängig machen) und trans Personen werden aus der Öffentlichkeit gedrängt. Der Absatz aus dem Selbstbestimmungsgesetz gestrichen werden! Keinen Meter der menschenverachtenden transfeindlichen Politik, die versucht, unsere hart erkämpften Rechte wieder zurückzunehmen!

Was braucht es noch?

Auch abgesehen davon ist das Selbstbestimmungsgesetz nicht genug. Es geht zwar einen wichtigen Schritt, aber ist lange nicht genug. Beispielsweise soll, nachdem man den Antrag ans Standesamt übergeben hat, eine dreimonatige Bedenkzeit eingeführt werden. Das macht die Änderung von Namen und Geschlechtseintrag unnötig kompliziert und bürokratisch.

Statt eines Selbstbestimmungsgesetzes, das reaktionäre Ideen enthält und in den progressiven Punkten viel zu kurz greift, braucht es tatsächliche Selbstbestimmung! Es braucht eine revolutionäre Perspektive. Und die Selbstbestimmung darf sich nicht nur auf den Namen und Geschlechtseintrag beschränken, sondern muss auch die medizinische Transition organisieren.

  • Für eine revolutionäre Alternative sowohl zum Selbstbestimmungsgesetz, als auch zum TSG! Für echte Selbstbestimmung!
  • Für den Ausbau von Unisex-Orten an Schulen, Unis, in Betrieben und in der Öffentlichkeit!
  • Gegen den Zwang den behördlichen Namen in Schulen, in offiziellen Dokumenten und in Bewerbungen etc. anzugeben! Gegen die Pflicht, ein Geschlecht in offiziellen Dokumenten anzugeben!
  • Für das Recht auf kostenfreien und unbürokratischen Zugang zu medizinischer Geschlechtsangleichung und der offiziellen Namens- und Personenstandsänderung!



Kapitalismus macht krank

Von Pippine Garterbelt, März 2023

Triggerwarnung: Erwähnung von (sexualisierter) Gewalt, (sexualisierte) Gewalt an Kindern, Transfeindlichkeit, psychische Erkrankungen, Suizid, Krieg und Drogenmissbrauch

Dies ist der erste Teil unserer Artikelreihe, die sich mit mentaler Gesundheit im Kapitalismus beschäftigt. Sie beschäftigt sich einerseits mit den Ursachen psychischer Erkrankungen und warum der Kapitalismus kein Interesse daran hat, diese zu bekämpfen, aber auch mit den Perspektiven und notwendigen Forderungen für eine Zukunft, in der Gesundheit kein Luxus mehr sein muss.

Zahlen & Fakten: Lage der Arbeiter_Innen

Die folgenden Zahlen und Fakten verschaffen uns einen Eindruck davon, wie ernst die Ausmaße psychischer Erkrankungen in Deutschland sind und wie vielfältig ihre Auslöser sein können:

Seit neustem Stand sind 13,8 Millionen Menschen (das sind 600.000 Menschen mehr als noch vor der Pandemie), also 16,6% der Deutschen, aktuell von Armut betroffen, davon 2,8 Millionen Kinder und 9,3 Millionen Rentner_Innen. Jede zweite Rente liegt unter 900 Euro. Wir müssen meist 8 bis 10 Stunden täglich arbeiten, um unsere Lebenserhaltungskosten zu decken und unsere wenige Freizeit müssen wir dann noch unserer eigenen Reproduktionsarbeit widmen. Während durch die Inflation alles teurer wird, besonders die Lebensmittel- und Energiekosten auf Rekordniveau steigen, bleiben unsere Löhne unten. Unsere hohen Arbeitszeiten und dem massiven Leistungsdruck, der uns im Berufsalltag begegnet, sind verantwortlich für psychische Erkrankungen wie Burnout und Depressionen. Studien belegen, dass eine Arbeitswoche von 8 bis 20 Stunden die Menschen zufrieden und produktiver macht, während eine Arbeitswoche mit über 39 Stunden sogar negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit hat.  Das Burnout-Syndrom entsteht durch chronischen Stress am Arbeitsplatz, der nicht erfolgreich verarbeitet wird und ist erst seit diesem Jahr als Krankheit anerkannt. 2020 waren 180.000 Menschen an Burnout erkrankt, zusammen brachten sie es zu 4,5 Millionen Krankheitstagen. Das Risiko an einem Burnout zu erkranken, steigt mit zunehmendem Alter. Besonders soziale Berufsgruppen sind betroffen. 2021 gab es 611.000 leerstehende Wohnungen, trotzdem leben Menschen auf der Straße oder in heruntergekommenem, für die Wohngemeinschaften viel zu kleinem Wohnraum. Etwa 1,5 Millionen Mietwohnungen fehlen, besonders in Großstädten ist der Zustand extrem. 2019 wurden knapp 300.000 Wohnungen neu gebaut, weniger als ein Drittel davon sind klassische Mietwohnungen und weniger als ein Zehntel bezahlbare Sozialwohnungen. 2022 wurde in Berlin keine einzige Sozialwohnung gebaut – dafür wurden etliche abgerissen, um Platz für noch mehr Eigentumswohnungen zu schaffen. Im Schnitt bewerben sich um jede freie Wohnung in der Stadt mehr als 200 Menschen. Die Mieten haben sich in den letzten 10 Jahren in der Stadt mehr als verdoppelt. Der Quadratmeterpreis der länger bewohnten Wohnungen liegt im Durchschnitt bei 6,37€ und bei 10,55€ bei den neu zu vermieteten Wohnungen. Jeder zweite Berliner hätte Anspruch auf eine Sozialwohnung. Mediziner bestätigen, dass Menschen in Folge ihrer ungelösten Wohnungsfrage, und der damit einhergehenden Bedrohung der eigenen Existenz, depressiv werden. Menschen sexueller und geschlechtlicher Minderheiten, Menschen mit Migrationshintergrund oder einem ausländischen Nachnamen oder Menschen, die Teil einer religiösen Minderheit sind, sind auch bei der Wohnungssuche besonders diskriminiert. Gleichzeitig sind diese Menschen auch um ein Vielfaches eher von Armut betroffen. Dieses Jahr wurden mehr als 178.000 von Obdachlosigkeit betroffene Menschen in Unterkünften untergebracht. Die Lebenserwartung von obdachlosen Menschen liegt im Durchschnitt bei gerade einmal 49 Jahren – das sind 30 Jahre weniger als das aktuelle natürliche Sterbealter eines Menschen. Menschen, die in Armut leben, erkranken eher an Depressionen als Menschen aus reichen Verhältnissen. 2017 wurden 71.000 Menschen aufgrund psychischer Erkrankung arbeitsunfähig und mussten in Frührente gehen. Etwa 20% der Kinder und Jugendlichen leiden an psychischen Erkrankungen. Die viert häufigste Todesursache hierzulande von Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren ist Suizid. 42% der Mobbingopfer denken über Suizid nach. Menschen, die von psychischen Erkrankungen betroffen sind, sterben etwa 10 bis 20 Jahre früher als der Durchschnitt. Jährlich begehen mehr als 700.000 Menschen Suizid. Die häufigsten Gründe hierbei sind neben psychischer Erkrankung: Armut, Stress und familiäre Konflikte. In Deutschland sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten, AIDS und illegalem Drogenmissbrauch zusammen. Die meisten Menschen, die Suizid begehen sind unter 25 Jahre alt. Die Selbsttötungsrate liegt bei männlich sozialisierten Menschen dreimal so hoch, als bei weiblich sozialisierten Menschen und auch trans Personen und Personen sexueller und geschlechtlicher Minderheiten haben ein erhöhtes Risiko Suizid zu begehen, gegenüber cis Personen. 14% aller trans Jugendlichen und Jugendliche sexueller und geschlechtlicher Minderheiten denken im Jahr einmal daran, Suizid zu begehen. Der Grund warum der absolute Großteil der Selbsttötungsopfer männlich sozialisierte Personen sind, liegt auch genau daran: An ihrer Sozialisierung. Denn von ihnen wird Stärke erwartet, was der Grund dafür ist, dass sie sich seltener Hilfe suchen und seltener über Probleme sprechen. Auch Betroffene, die über ihre Probleme sprechen, schaffen es oft nicht, sich Gehör zu verschaffen, da psychische Erkrankungen, vor allem bei männlich sozialisierten Personen nach wie vor nicht ernst genommen werden.

Sexualisierte und häusliche Gewalt und emotionaler Missbrauch

Fast jede weiblich gelesene Person wird im Laufe ihres Lebens mindestens einmal Opfer sexualisierter Grenzüberschreitungen. Etwa 29,5% der weiblich sozialisierten Personen haben schon einmal sexualisierte Gewalt im erwachsenen Alter erfahren und etwa 27,7% im Kindesalter. Als sexualisierte Gewalt wird hierbei Nötigung zu ungewollten sexuellen Handlungen oder das (versuchte) Eindringen in den Körper gemeint. Menschen mit Behinderungen sind besonders betroffen: etwa jede zweite Person mit Behinderung wurde schon einmal Opfer sexualisierter Gewalt. Etwa 38% der Menschen, besonders männlich Sozialisierte, sind der Meinung, dass Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein kann. 2019 wurden in Deutschland 15.701 Kinder als Opfer sexuellen Missbrauchs polizeilich erfasst, während der Corona-Pandemie stieg die Zahl deutlich an. Dabei sind das nur die polizeilich bekannten Fälle, die Dunkelziffer ist um ein deutliches höher, denn nur jeder 15. bis 20. Missbrauchsfall wird angezeigt. Auch die Zahl der Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie stieg während der Corona-Pandemie um etwa 53% an. Kinder und Jugendliche sind doppelt so oft von häuslicher Gewalt betroffen, als weiblich wahrgenommene Personen. Die Zahl der Betroffenen von häuslicher Gewalt stieg um 100% an, wenn sich die Opfer mit ihren Tätern in Quarantäne befanden. Auch Familien die finanzielle Probleme haben, sind um ein Vielfaches häufiger von häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffen. Opfer emotionalen Missbrauchs, lassen sich viel schwerer statistisch erfassen, da die Gewalt auf rein zwischenmenschlicher Gefühlsebene stattfindet und so schwerer nachzuvollziehen ist, im Gegensatz zu physischer oder sexualisierter Gewalt. Emotionaler Missbrauch ist psychische Misshandlung die als Gehirnwäsche wirkt, durch ein regelmäßiges Muster verbaler Angriffe, konstanter Kritik und Erniedrigung, Manipulation, Kontrolle, Schuldzuweisungen, Isolierung und emotionaler Distanzierung, um so die Opfer in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Täter zu manipulieren. Chronische Traumatisierung im Kindesalter, etwa in Form regelmäßiger emotionaler, psychischer Misshandlung, sind Grundstein psychischer Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen im Erwachsenenalter. Emotionaler Missbrauch kann in jedem Alter und in jeder Art von Beziehung stattfinden, dabei sind die Täter immer in einer höher gestellten Machtposition zu dem Opfer.  

Flucht und Krieg

2021 wurden weltweit insgesamt 28 Kriege und bewaffnete Konflikte geführt. 100.000.000 Menschen sind aktuell auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen. Das sind mehr Menschen als jemals zu vor in der Geschichte der Menschheit. Menschen, die gezwungen sind, vor Konflikten, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung zu fliehen, kommen meist nur mit dem, was sie am Körper tragen und schweren Traumata aus ihren Herkunftsländern her. Alles andere mussten sie zurücklassen, wurde zerstört oder ihnen genommen. Doch auch während der Flucht kommt es oft zu weiteren traumatischen Geschehnissen, durch unsichere Fluchtwege, Repressionen, Vergewaltigung, Gewalt und systematischer unterlassener Hilfeleistungen an den Grenzen. Jedes Jahr sterben tausende Menschen auf der Flucht. In einem sicheren Land angekommen, hören die Probleme nicht auf: Hier bekommen die Menschen, die ihre Reise überlebt haben, erst einmal jahrelang keine Arbeitserlaubnis, ihre absolvierten Schul- und beruflichen Abschlüsse werden oft nicht anerkannt, sie sind isoliert in Massenunterkünften, haben keine Reisefreiheit um auch mal nur eine andere Stadt zu besuchen. Alles ist bürokratisiert, dabei sind wichtige Dokumente nicht in allen Sprachen verfügbar und es fehlt an übersetzendem Fachpersonal. Die Quote von falsch bearbeiteten Anträgen und eigentlich verbotenen Abschiebungen ist erschreckend hoch. Geflüchtete Menschen müssen hier in dauerhafter Unsicherheit über ihr Bleiberecht und Angst vor einer plötzlichen Abschiebung leben und dann liegt ihr Schicksal meist nur in den Händen einer einzigen Person, die die Macht hat völlig willkürlich Entscheidungen zu treffen. 

Gesundheitssystem und psychische Erkrankungen

Ambulante Therapieplätze für Betroffene

Vor der Pandemie lagen die Wartezeiten auf einen Therapieplatz bei 3 bis 9 Monaten, denn schon vor Corona fehlten mindestens 1750 Kassensitze für Psychotherapeut_Innen. Dabei sind die Fälle von Depressionen und Angststörungen während der Pandemie weltweit um etwa 25 Prozent gestiegen. Seit 2017 hat jeder Mensch ein Recht auf eine psychotherapeutische Akutsprechstunde, jedoch erhalten 40% der Betroffenen nach einer solchen Sitzung keinen Therapieplatz. Die richtige Therapie für sich zu finden ist schwer. Es gibt unzählige Therapieverfahren, nur drei der vielen Behandlungsformen gelten in Deutschland derzeit als anerkannte Psychotherapieverfahren im Sinne der Psychotherapie-Richtlinie und werden von der gesetzlichen Krankenkasse, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, übernommen. Nur etwa 18,9% der betroffenen erwachsenen Bevölkerung geht überhaupt auf Therapieplatzsuche. Denn wer in Deutschland einen Therapieplatz sucht, ist auf sich allein gestellt. Wer mit Symptomen psychischer Erkrankungen zum Hausarzt geht, dem_der wird eine Psychotherapie empfohlen und bekommt bestenfalls noch eine Liste aller ambulanten Psychlog_Innen in der Umgebung. Darunter ein bunter Mischmasch von Verhaltenstherapeut_Innen, Tiefenpsycholog_Innen, Traumatherapeut_Innen, systemischer und psychoanalytischer Therapien. Dann heißt es eine Praxis nach der anderen abzutelefonieren, in eine Mailbox zu der anderen reinsprechen, um eine Absage nach der anderen zu bekommen – falls man denn überhaupt eine Antwort bekommt. Doch wer weiß schon, was man als erkrankte Person meist noch ohne erste Diagnose für eine Therapieform braucht? Oft landen Patient_Innen dann in völlig falschen Therapieverfahren und Erlangen trotz zum Teil jahrelanger Therapie keinen Fortschritt. So steht die Psychotherapie schon seit geraumer Zeit aufgrund mangelnder oder gar fehlender Wirksamkeit in Kritik. 20 bis 50% der Patient_Innen, besonders Menschen in Armut, Menschen mit einem geringen Bildungsstand, Menschen, die Teil einer ethnischen Minderheit sind, Jugendliche, Rentner_Innen und Menschen mit Ess- oder Persönlichkeitsstörung brechen ihre Therapie frühzeitig ab.

Lage der deutschen Psychiatrien

Die Zustände in deutschen Psychiatrien bezeichnet die Aufsichtskommission als skandalös. Personalmangel, Überbelegung, fehlende Aufenthaltsräume und Freiflächen. Verdeckte Reporter_Innen berichten von verstörenden Bestrafungen von Patient_Innen in geschlossenen Psychiatrien. So werden Menschen, die aufgrund ihrer selbst- oder fremdgefährdenden Symptomatik eine 1 zu 1 Betreuung bräuchten, für mehrere Stunden mit Gurten fixiert. Teilweise immer wieder, auch Wochen und Monate. Dabei ist eine Fixierung länger als 30 Minuten nicht legal und müsste mit einem gerichtlichen Beschluss angeordnet werden. Enthüllungsjournalist_Innen aus einer Vivantes Klinik berichten, ein_e Psycholog_In betreue 40 bis 60 Patient_Innen gleichzeitig, daher kommt es oft zum Ausfall von Therapien. Aus einer Jugendhilfe- und Wohneinrichtung aus Eifel wird berichtet, dass es dort im Keller einen „Deeskalationsraum“ ohne Tageslicht und Toilette, mit Guckloch in der Tür gäbe, in denen die jugendlichen, psychisch kranken Bewohner_Innen als Strafmaßnahme teilweise mehrere Tage lang eingesperrt werden. „Deeskalationsräume“ so und ähnlich finden sich in psychologischen Einrichtungen überall im Land und die Gefahr, dass sie als Strafmaßnahmen missbraucht werden ist, besonders aufgrund des massivem Personalmangels, hoch. Aus anderen Kliniken wird berichtet, dass Patient_Innen die Einnahme von Beruhigungsmitteln aufgezwungen wird, indem sie zum Beispiel heimlich unters Essen gemischt wird. In vielen Kliniken macht es den Eindruck, die Medikation stehe über der eigentlichen Therapie. Aus Berichten geht hervor, dass viele Patient_Innen keine stationäre Behandlung und lieber ambulante Hilfe bräuchten, ein stationärer Platz jedoch profitabler ist.
Schon 1971 wurden die Zustände in den Psychiatrien untersucht und als „katastrophal“ erklärt. Ziele einer sogenannten „Psychiatrie-Reform“ wurden beschlossen – und bis heute nicht vollständig erreicht. Die neuen Berichte schätzen ein, die Situationen in den Psychiatrien wären zum Teil wie noch vor 20 bis 30 Jahren.

Heilung ist ein Privileg

Etwa 1.000.000.000 Menschen auf der Welt sind aktuell von psychischen Erkrankungen betroffen – dabei dürfte die Dunkelziffer noch viel höher sein, da viele aufgrund der schweren Zugänglichkeit zu professioneller Hilfe und der gesellschaftlichen Stigmatisierung nicht diagnostiziert werden. Während arme Menschen am stärksten betroffen sind, sind sie gleichzeitig auch die Menschen, die am seltensten in Behandlung sind. In Deutschland sind die häufigsten Krankheitsbilder Angststörungen, Depressionen und Sucht – mehr als jeder vierte Erwachsene ist jährlich davon betroffen. Menschen in Therapie müssen oft ihre Arbeitszeiten für ihre Sitzungen opfern, sofern sie die Möglichkeit dafür haben, oder müssen eher sogar zwischen ihrem Job und Therapie wählen. Somit sind Betroffene häufiger von Arbeitslosigkeit und Armut bedroht. Armut ist also nicht nur Auslöser, sondern kann auch Folge einer psychischen Störung sein. Sich von einer psychischen Erkrankung erholen zu können ist also ein Privileg. Und das sollte es nicht sein.

Die Befreiung der Menschen als wirksamste Therapie

Wer sich jetzt diese Zahlen angesehen hat und immer noch glaubt, der Kapitalismus würde die Menschen nicht krank machen, kann nur Klassenfeind der unterdrückten Masse sein oder Martin Dornes heißen. Denn aus den Zahlen lässt sich eindeutig schlussfolgern: Menschen, die eine besondere Unterdrückung im Kapitalismus erfahren, sind auch gefährdeter eine psychologische Erkrankung zu erleiden oder an einem Suizid zu versterben. Übermäßige Arbeitsbelastung, fehlende Sozialleistungen, traditionelle Geschlechterrrollen und Familienverhältnisse, Krieg & ein kaputtgespartes Gesundheitssystem nützen einzig und alleine den Kapitalist_Innen und ihrem Streben nach maximalem Profit, während sie den Großteil der Menschen krank machen. Würde die Menschheit in Folge einer sozialistischen Revolution befreit werden und eine Gesellschaft aufgebaut werden, in der jeder Mensch an seinen Bedürfnissen orientiert leben kann, frei von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung, würde auch die psychoanalytische Forschung einen rasanten Sprung nach vorne machen. Weil sie nur noch dem wissenschaftlichen Interesse verschrieben wäre und nicht mehr von einem Kapitalinteresse bestimmt oder der Finanzierung der Herrschenden abhängig wäre und nicht in Konkurrenz zu anderen Forschungsinstituten stände. Menschen, die in Staaten leben, die ein stabileres Gesundheitssystem, kürzere Arbeitszeiten, bessere Bezahlung und weniger Leistungsdruck in der Gesellschaft ausgesetzt sind, sind statistisch gesehen glücklicher, als Menschen aus konservativeren oder kolonialisierten Staaten. Wie glücklich könnten wir also in einer Welt sein, die auf unsere freien Entfaltungen ausgelegt ist und sich nach unserer aller Bedürfnisse richtet, weil wir nun alle Teil der demokratischen Organisierung unserer Gemeinschaft wären?
Mit der Zahl der Arbeitslosen in der BRD und dem technologischen Fortschritt, wäre es möglich, dass wir mit 4 Arbeitstagen pro Woche und 5-6 Stunden am Tag, bei vollem Lohnausgleich weiter machen könnten. Studien belegen, dass 8-20 Stunden Arbeit pro Woche förderlich für die Gesundheit sind, während über 39 Stunden sich als schädlich für die Gesundheit herausgestellt haben, körperlich wie auch psychisch! Diese Änderungen sind sofort umsetzbar, Zahlen müssen dafür die Menschen, die mit unserer Gesundheit und unserer Arbeit ihren Reichtum ergaunert haben. Dieses System macht krank und nur wir können es durch gemeinsamen Kampf der Arbeiter_Innen, Jugendlichen, Arbeitslosen und Betroffenen ändern!

Daher fordern wir:

  • Sofortige Einführung der 6 Stunden-Tage und 4 Tage-Arbeitswoche, höhere Löhne und mehr Personal!
  • Hartz IV endlich abschaffen! Inflationsgedeckte staatliche Auszahlungen an von Arbeitslosigkeit betroffene Menschen und selbstversorgenden Jugendlichen in Heimeinrichtungen.
  • Mehr Personal und Geld in die Kinderbetreuung und Bildungseinrichtungen! Lasst die Kinder und Jugendlichen gemeinsam mit den Erwachsenen über ihren Betreuungs- und Schulalltag bestimmen!
  • Kollektive Selbstverteidigungsstrukturen für alle unterdrückten Gruppen!
  • Sofortiger staatlich finanzierter Inflationsausgleich!
  • Enteignung der Immobilienkonzerne – die Häuser denen die sie brauchen! Kein Mensch darf mehr von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen oder gar nur bedroht sein!
  • Transsexuellengesetz abschaffen! Für eine sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung!
  • Emotionaler Missbrauch ist Missbrauch und muss als solcher anerkannt und verfolgt werden! Ausbau von Schutzeinrichtungen für Gewaltopfer jeder Art und Geschlecht!
  • Bleiberecht für alle! Für sichere Fluchtwege und offene Grenzen!
  • Keine Profite auf Kosten unserer Gesundheit! Entprivatisierung des Gesundheitssystem und Enteignung der pharmazeutischen Industrien unter Kontrolle der Arbeiter_Innen!

Quellen:

Armut und Depression: https://amp.focus.de/gesundheit/ratgeber/depression/soziale-ungleichheit-ganz-unten-was-ihr-ueber-den-teufelskreis-aus-armut-und-depression-wissen-muesst_id_10183665.html

Abbruchquote Therapie: https://m.faz.net/aktuell/wissen/medizin-ernaehrung/warum-patienten-psychotherapien-abbrechen-13524579.amp.html

Wirksamkeit und Methodik Psychotherapie: https://www.spektrum.de/news/psychotherapie-was-tatsaechlich-wirkt/1991017

Depression und Corona: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/who-corona-anstieg-psychische-krankheiten-101.html

Mobbing: https://www.experto.de/businesstipps/Suizid-als-letzter-ausweg-aus-der-mobbing-falle.html

Emotionaler Missbrauch: https://blog.cognifit.com/de/emotionaler-missbrauch/amp/

8 Stunden Tag: https://hire.workwise.io/hr-praxis/organisationsentwicklung/sechsstundentag

Wohnungsfrage: https://www.deutschlandfunknova.de/amp/beitrag/psyche-wohnungssuche-kann-krank-machen

https://www.deutschlandfunknova.de/amp/beitrag/psyche-wohnungssuche-kann-krank-machen

https://www.wz.de/nrw/mehr-wohnraum-gefordert_aid-57926687

https://www.empirica-institut.de/nc/nachrichten/details/nachricht/cbre-empirica-leerstandsindex-2021/

Burnout: https://anti-stress-team.de/blog/stress/burnout-statistiken/

Flucht: https://www.dw.com/de/unhcr-mehr-menschen-denn-je-auf-der-flucht/a-61894830

Psychiatrien/Psychotherapie: https://www.empirica-institut.de/nc/nachrichten/details/nachricht/cbre-empirica-leerstandsindex-2021/

https://www.stern.de/amp/wirtschaft/news/team-wallraff-deckt-untragbare-zustaende-in-psychiatrien-auf-8628102.html

https://www.psychologie-aktuell.com/news/aktuelle-news-psychologie/news-lesen/der-psychiatrie-skandal-hunderttausende-patienten-landen-aus-finanziellen-gruenden-im-krankenhaus.html

https://www.spiegel.de/politik/das-dasein-wird-seziert-a-0e34f794-0002-0001-0000-000013691520

https://www.spiegel.de/politik/das-dasein-wird-seziert-a-0e34f794-0002-0001-0000-000013691520

https://www.aerzteblatt.de/archiv/25936/Psychiatrie-Reform-Auf-halbem-Weg-stecken-geblieben




Non-Binary in der Schule: Wie ist das so?

Interview mit Flo, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Flo ist 15, geht zur Schule – und bevorzugt für sich keine Pronomen. Flo ist nämlich nicht-binär. Wie haben die Schulkolleg*innen reagiert? Gab es Probleme mit Lehrer*innen? Wir haben Flo um Einblicke gebeten. Das Interview führte Aventina Holzer.

Wann hattest du erstmals das Gefühl, dass „männlich“ oder „weiblich“ dich nicht wirklich beschreiben?

Man stellt es sich oft bisschen so wie in den Filmen vor, oder? Man steht vorm Spiegel und realisiert, dass man eigentlich lieber einen Penis möchte, oder sich nicht wohl mit Brüsten fühlt. Also so war es bei mir eher nicht. Es waren stattdessen viele unterschiedliche Dinge. Angefangen damit, dass ich mich schon im Kindergarten mit der Unterteilung in männlich und weiblich nicht wohlgefühlt habe. Und dass mich später Leute gefragt haben, ob ich männlich oder weiblich bin. Das hat mich damals schon geärgert. Aber auch Momente wo ich selbst gesehen habe, dass ich ausschaue wie ein Bursche und mich damit plötzlich wohlgefühlt habe.

Wusstest du gleich, dass du non-binary bist?

Nein. Ich habe mir viele Dokus angeschaut, speziell zum Thema inter Personen. Dort wurde das Thema „nicht (nur) Mann und Frau sein“ aufgegriffen. Das habe ich dann auch mit meiner Mutter diskutiert, die das nicht ganz verstanden hat. Ihre Antwort auf meine Frage, ob es noch was anderes als weiblich und männlich gäbe, war „nein!“. Das hat mich damals auch ziemlich enttäuscht und den Gedanken zu meiner eigenen Nicht-Binärität nach hinten geschoben. Später habe ich dann über TikTok und Instagram viele Leute gefunden, mit deren Content ich mich identifiziert habe – und so auch mehr über meine Geschlechtsidentität herausfinden konnte. Wie hat dein Umfeld darauf reagiert? Damit hatte ich viel Glück, weil ich zu dem Zeitpunkt schon politisch aktiv war – damals bei Fridays for Future. Davor habe ich kaum queere Menschen gekannt und dann waren plötzlich alle dort gay. Ich wusste zu dem Zeitpunkt schon, dass ich nicht-binär bin und konnte das in diesem Rahmen auch zum ersten Mal äußern. Da habe ich mich dann auch zum ersten Mal getraut, meine Pronomen zu sie/er zu ändern (Anm: mittlerweile verwendet Flo keine Pronomen). Meine Eltern waren ein bisschen schwieriger, weil sie das alles nicht kannten.

Wie lief dein Outing in der Familie?

Ich war ur nervös als ich ihnen gesagt habe, dass ich keine Pronomen mehr verwende und nur bei meinem richtigen Namen genannt werden möchte. Die nächsten eineinhalb Jahre hatten wir viele Gespräche darüber und ich wurde tausendmal ge-deadnament und misgendert. Das hat auch immer wieder intentional gewirkt. Meine Oma und Tante waren dann relativ cool. Sie haben auch begonnen, keine Pronomen für mich zu verwenden und neue Begriffe für Nichte/Neffe, Enkel/Enkelin zu erfinden. In der Schule wurde mein Coming-out hingegen zum Großteil ignoriert. Vor allem weil die Leute es nicht so richtig verstanden haben, einige haben es aber auch ganz gut akzeptiert.

Wie geht es dir dir mit dem Umgang mit deiner Geschlechtsidentität in der Schule?

Naja, da ist das Namens-Ding. Wenn Lehrer*innen die „richtigen“ Namen verwenden. Mein Name ist auf keiner Liste geändert – und darum weigern sich einzelne Lehrpersonen, meinen Namen zu lernen. Eine meinte sogar, dass wir uns jetzt ja nicht erwarten sollen, dass sie unsere neuen Namen oder diese „komischen Pronomen“ lernt. Und beim Elterngespräch wurde von manchen Lehrer*innen das Thema die ganze Zeit auf Transidentität gelenkt, statt darüber zu reden, weswegen das Gespräch eigentlich stattfindet – meiner Noten. Leute gehen davon aus, dass trans Personen einfach ein allgemeines Thema sind, über das alle jetzt plötzlich reden können und mitentscheiden, was ihre körperliche Selbstbestimmung angeht. Jede*r hat eine Meinung dazu und jede trans Person muss auch immer sofort darüber diskutieren.

Wie fühlst du dich, wenn du so darüber ausgefragt wirst?

Schüler*innen sind oft verwirrt – was auch voll ok ist. Jede*r sollte nachfragen, wenn man sich bei etwas nicht sicher ist. Aber viele Leute stellen auch sehr persönliche Fragen über Transitions, die einer cis Person nie gestellt werden würden. Meine Schule selbst ist aber zum Glück eigentlich eh sehr queer geprägt. Transmaskuline Menschen können etwa bei den Burschen mitturnen zum Beispiel. Es wäre sicher an vielen anderen Schulen viel schlimmer. Trotzdem fühlt man sich als trans Person oft als Vorführexemplar.

Was hättest du dir in der Schule als Unterstützung gewünscht?

Eine Vertrauensperson, die beim Thema ausgebildet ist, wäre sehr wichtig. Die Person sollte sich auskennen, weil man sich sonst immer erklären muss und die Hürde dann sehr hoch ist, sich an diese Person zu wenden. Am Anfang wäre es auch wichtig von der Lehrer*innen-Seite aus auch zu fragen, wie die Eltern dazu stehen und das mitein-zubeziehen. So kann vermieden werden, trans Personen in unangenehme Situationen zu bringen oder auch ein Coming Out zu erzwingen.

Würde eine Thematisierung im Unterricht helfen?

Gibt es sowas aktuell? Thematisierung von trans-Identität im Unterricht ist momentan meistens freiwillig. Es heißt „wir können darüber reden, wenn es Leute interessiert“ und wenn es dazu kommt, ist es nicht besonders informiert. Es ist doch nicht nur eine Interessensfrage, es gibt so viel Falschinformation in den Medien – da braucht es eine Fixierung im Lehrplan! Schulungen zu dem Thema wären auch eine gute Sache, sonst werden queere Schüler*innen die ganze Zeit als Lexikon verwendet.

Hast du Tipps an Lehrer*innen und Mitschüler*innen, wie man am besten mit einem Coming Out umgeht?

Die eigenen Pronomen sagen hilft auf jeden Fall mal, es ist zum Beispiel cool, wenn Lehrer*innen das im Rahmen von Vorstellungsrunden aufbringen. Es ist nämlich nervig, immer selbst auf Lehrer*innen zukommen zu müssen. Fragen zu der Person und Geschlechtsidentität zu stellen, ist voll ok. Aber man sollte sich vielleicht zuerst fragen: „Kann man es googeln?“, oder: „Sind manche Fragen doch zu intim? Würdest du die einer cis Person wirklich genauso stellen?“. Zum Beispiel Fragen zu Genitalien und zum Sexualleben. Aber Fragen stellen ist natürlich schon auch sehr wichtig, speziell, wenn man Probleme beim Verstehen von Pronomen hat. Man vertut sich am Anfang, das ist nicht so tragisch, man sollte sich einfach selbst korrigieren, weitermachen und nicht voll das Drama draus machen. Das bringt sonst trans Menschen nur in eine unangenehme Situation und lenkt vom eigentlichen Thema ab. Wichtig ist eben auch, dass Information nur weitergegeben werden, wenn explizit darum gebeten wird – zum Beispiel im Rahmen von Coming-outs. Oft heißt es, nicht-binär zu sein, sei ein Jugend-Trend.

Können cis-Personen helfen, dagegen aufzuklären?

Auf jeden Fall! Wenn diese Diskussion aufkommt und man als cis Person das Gefühl hat, dass die trans Person sich eh gut auskennt, macht es trotzdem Sinn sich in die Diskussion einzuschalten. Sonst bleibt es immer an trans Personen hängen diese Diskussionen zu führen und man fühlt sich sehr alleine.

Was sind gute Argumente dagegen?

Zum Beispield, dass das Wort „nicht-binär“ zwar relativ neu ist, aber das Konzept nicht. Die Geschichte ist voll mit trans Personen und auch in den Medien gibt es einige Leute, die sich nicht wohlfühlen mit der Geschlechtsbinärität, wie sie momentan aufrechterhalten wird. Als ältere Person kann man sich sicher auch zurückerinnern an Leute, die nicht reingepasst haben in die Binärität von männlich und weiblich, die sich damit nie speziell assoziiert haben oder die vielleicht auch schon früh wussten, dass ihr biologisch zugeschriebenes Geschlecht nicht dazu passt, wie sie sich fühlen. Jetzt gibt es eben Wörter dafür.

Wie stark werden non-binary-Menschen generell heutzutage diskriminiert?

Bis heute gibt es keine gesetzliche Gleichstellung. Stigmatisierung ist immer noch ein Thema, war aber früher auch noch viel stärker. Im Kontext von der Aids-Krise sind unglaublich viele queere Menschen gestorben und da die Gesellschaft früher noch viel homophober und transphober war, waren viel weniger queere Leute bereit, sich zu outen oder überhaupt lang genug am Leben. Das hat sich mit der Zeit verändert bzw. verändert sich immer noch. Bevor man solche Aussagen trifft, wie, dass es sich um einen „Trend“ handelt, sollte man erstmal nachdenken, warum gerade jetzt Menschen sich wohl genug fühlen ihre Identität öffentlich zu diskutieren. Und natürlich gibt es durch das Internet auch mehr Zugang zu Informationen und Möglichkeiten sich anonym Ratschläge und Unterstützung zu holen. Das ist einfach eine neue Art zu kommunizieren und sie bringt auch viele neue Möglichkeiten, mit der Welt in Interaktion zu treten. Und eigentlich ist es schön, dass jetzt viel mehr Menschen zu ihrer Identität finden und zu ihr stehen können.

Über Flo

Flo ist Akivist*in beim Jugendrat und Schüler*in. Flo ist seit ein paar Jahren politisch aktiv und engagiert sich einerseits in der Klimabewegung, aber auch gegen Kapitalismus und für eine befreite Gesellschaft. Der Jugendrat ist eine politische Organisation von jungen Menschen, die sich aus der Fridays for Future Bewegung gegründet hat. Klimagerechtigkeit ist ein zentraler Grund für seine Gründung. Klimagerechtigkeit kann aber nur erreicht werden, indem man mit dem kapitalistischen System bricht, welches nur nach Profitgier Entscheidungen trifft. Deshalb ist der Jugendrat auch unabhängig von politischen Parteien, um radikal für unsere Zukunft kämpfen zu können.




Pakistan: Rechte versucht, minimalen Schutz für trans Personen rückgängig zu machen

Vom Revolutionary Socialist Movement (Pakistan), Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Während im Iran die Arbeiter:innenklasse gegen das diktatorische, patriarchale Regime auf die Straße geht, wird über die Attacke der fundamentalistischen Rechten auf trans Personen in Pakistan, die ohnehin schon massiv unterdrückt werden, geschwiegen.

Ebenso wie die Mullahs im Iran versuchen, Frauen daran zu hindern, selbst zu entscheiden, was sie tragen, will das pakistanische Äquivalent mit seiner protofaschistischen Basis die kleinen Erfolge des Gesetzes zum Schutz von trans Personen aus dem Jahr 2018 zurücknehmen. Es war zwar kein großer Wurf, kann jedoch als kleiner Fortschritt angesehen werden. Es gewährt trans Personen zum Beispiel nicht das Recht, sich entgegen ihrem eingetragenen Geschlecht als Mann oder Frau zu identifizieren. Dennoch erlaubt es ihnen, sich selbst dem dritten Geschlecht im Unterschied zu ihrem bei Geburt zugeschriebenen zuzuordnen. Dies gilt auch für Ausweisdokumente.

Die religiöse Rechte begehrt, wie zu erwarten war, bewaffnet gegen dieses Gesetz auf und verbreitet eine Deutung, die wie gewöhnlich in Betrug und Verderbtheit wurzelt, die typisch für ihresgleichen ist. Als Begründung gibt sie an, dass die amtliche Änderung des Geschlechts als Möglichkeit genutzt werden könne, das Verbot von Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare zu umgehen, indem sie vorgeben, ein anderes Geschlecht zu repräsentieren. Doch das ist unwahr.

Die Kräfte, die gegen dieses Gesetz mobilisieren, welches im Jahr 2018 verabschiedet wurde, sind dafür bekannt, seit langem protofaschistische Tendenzen zu umfassen. Sie sind ebenfalls dafür bekannt, ein extrem patriarchales und rückschrittliches Frauenbild zu vertreten. Die Partei Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft; JI) spielte eine zentrale Rolle für die drakonischen Gesetze, die der Diktator Zia-ul-Haq (1978 – 1988) während der Militärdiktatur eingeführt hat. Die Jamiat Ulema-e-Islam (Fazl) (JUI-F; Versammlung Islamischer Kleriker), deren Führer Maulana Fazal-ur-Rehman ist, wurde vor kurzem, als die PDM (Pakistan Democratic Movement; Pakistanische Demokratische Bewegung; Parteienkoalition gegen Expremierminister Imran Khan, 2020 gegründet) in Opposition zu Imran Khan gegründet wurde, als  Held:in der reformorientierten und liberalen Linken Pakistans gefeiert. Doch sie pflegt die hässliche Tradition, die Gesichter von Frauen, die in öffentlichen Anzeigen zu sehen sind, mit schwarzer Farbe zu beschmieren. In der Zwischenzeit hat sich noch eine weitere Partei, die Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) der widerwärtigen Hasskampagne angeschlossen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Vorsitzende und ehemalige Premierminister Imran Khan ein Frauenhasser vom selben Schlag ist.

Senator Mushtaq Ahmad Khan von der Partei Jamaat-e-Islami steht an der Spitze der derzeitigen Hasskampagne gegen die Rechte von trans Menschen, die zumindest auf dem Papier bestehen. Er hat vorgeschlagen die Gesetzeslage dahingehend zu ändern, dass Gremien von Ärzt:innen geschaffen werden sollen, die dann wiederum die Entscheidungsmacht darüber hätten, ob eine Person „komplett“ männlich oder weiblich sei. Dies solle mit einer invasiven körperlichen Untersuchung einhergehen. In seiner Vorstellung sollten nur die, bei denen das Geschlecht auf Basis der Fortpflanzungsanatomie bei Geburt „unklar“ sei, das Recht dazu haben, über ihr Geschlecht zu entscheiden. Kurz gesagt sollten lediglich Menschen mit mehrdeutigen Genitalien (Anm.: in der Regel sog. Intersexuelle) wählen dürfen und auch nur, wenn sie sich vorher der Tortur einer Leibesuntersuchung durch eine ärztliche Instanz unterzögen. In einem Land, wo die meisten Ärzt:innen (Anm: in der Regel Männer) bereits massiv in die Privatsphäre ihrer Patient:innen durch wertende Kommentare eingreifen, bspw. wenn es um Themen rund um Sex geht, kann man sich ausdenken, was das für Leben und Gesundheit von trans Personen an Belastung mit sich bringt.

Die Begründung Mushtaq Ahmad Khans hat gezeigt, dass sowohl Frauenunterdrückung als auch die Geschlechterungleichheit und die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten eine Klassenfrage darstellen. So gab er bei Voice of America zu, dass die eigenständige Wahl des Geschlechtes „eine Gefahr für die Familie und das Erbschaftssystem darstellt“ und es „die Tür dafür öffnet, dass 220 Millionen Menschen auswählen zu können, irgendwas zu sein“. Die Familie ist in der bürgerlichen Gesellschaft der Garant für das Überleben des kapitalistischen Systems, denn sie dient in erster Linie dazu, das Privateigentum dort zu halten. Für Pakistan ist wichtig anzumerken, dass insbesondere in islamischen Gesellschaften Frauen den halben Anteil des Mannes am Erbe erhalten. Die mickrige Hälfte, die ihnen zusteht, wird dennoch als Teil angesehen, der der Familie des Mannes zustünde. Die Ängste, dass Privatbesitz anders verteilt würde, und die Bedrohung, die das Gesetz offensichtlich für das „Familiensystem“ darstellt, zeigen, wie die Institutionen der Familie, des Klerus und des Gesetzes zusammenwirken, um die Existenz und den Fortbestand des Systems des Privateigentums zu sichern. Dieses System sorgt dafür, dass die Reichen reich und die Armen arm bleiben. Es sorgt dafür, dass der Sohn eines Kapitalisten auch nach dem Tod des Vaters Eigentümer des Familienunternehmens bleibt und der Sohn eines Arbeiters auch nach dem Tod seines Vaters zu einem Hungerlohn arbeiten muss. Die regressive Anhäufung von Reichtum in wenigen Händen kann ohne Familiensystem nicht fortbestehen. Das derzeitige Gesetz zum Schutz von trans Personen sieht vor, dass eine Person, die sich als trans Mann identifiziert, auch doppelt so viel Erbe erhält wie eine trans Frau. In einem Land, in dem es üblich ist, dass Brüder ihre Schwestern emotional so manipulieren, dass sie auf ihren ohnehin schon geringen Anteil am Erbe verzichten, oder es sich einfach ohne ihre Zustimmung aneignen, kann man sich vorstellen, welche Ängste das Gesetz bei reaktionären Männern auslöst, die nun mit der Bedrohung konfrontiert sind, dass ihre leiblichen Schwestern sich möglicherweise in Männer „verwandeln“. Auch wenn es keine Zahlen gibt, die solche lächerlichen Befürchtungen untermauern, ist die Klassenbasis dieser Ängste mehr als deutlich.

Obwohl sie unbegründet sind, bedeuten sie in der Realität eine Bedrohung für das Leben und die Sicherheit von trans Personen. Im Jahr 2021 wurden nachweislich mindestens 20 trans Personen in Pakistan umgebracht. Das pakistanische Religionsgericht sowie der ständige Ausschuss für die Überprüfung im Senat prüfen die Argumente zum Gesetz. Der Rat für Islamische Ideologie (ein weiteres Verfassungsorgan Pakistans), dessen Aufgabe es ist, die pakistanischen Gesetze im Lichte des Islam zu überprüfen, hat das Gesetz aus dem Jahr 2018 für unislamisch erklärt. Wenn das Gesetz geändert wird, um die religiöse Rechte und ihre frauenfeindlichen Verbündeten in fast allen etablierten Parteien Pakistans zu besänftigen, käme das einer großen Niederlage für die Arbeiter:innenklasse und die unterdrückten Menschen in Pakistan gleich. Heute haben sie es auf trans Personen abgesehen. Morgen könnten sie versuchen, den Hidschab (Verschleierung oder Kopfbedeckung nach islamischem Gesetz) im Namen des Islam durchzusetzen wie ihre benachbarten Kleriker im Iran. Es ist ein Teufelskreis, in dem die imperialistischen Mächte diese Beispiele nutzen werden, um zu Hause weiter mit der Islamophobie hausieren zu gehen, während die arbeitenden Massen sowohl in den imperialistischen Kernländern als auch in den Halbkolonien weiter leiden.

Daher rufen wir Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, Gewerkschaften und alle fortschrittlichen Kräfte in Pakistan auf, sich gegen diese dogmatischen Kräfte zu stellen. Wir können nur selbst etwas bewirken, denn die Bourgeoisie wird keinen Finger rühren. Mushtaq Khan hatte bereits 2021 versucht, seine unsägliche Agenda durchzusetzen. Doch es schlug damals dank des Einsatzes von Shireen Mazari (pakistanische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin, Vorsitzende der Parlamentskommission für die Ernennung der/s Chef:in der Wahlkommission und ihrer Mitglieder) fehl. Gegenwärtig braucht die pakistanische Bourgeoisie eine Angst, die sie über ihre Medien und Kleriker in den Köpfen der Massen hervorrufen kann, um von den wirklichen Problemen der Wirtschaftskrise, den verheerenden Überschwemmungen und der ständig wachsenden Auslandsverschuldung abzulenken. Jamaat-e-Islami spielt langjährig die Rolle der Schutzmacht eines sich auflösenden kapitalistischen Systems. Ohne selbst je an die Macht kommen zu können, besteht darin ihr einziger Job, um sich ihren Anteil an den Pfründen zu sichern. Denn die Gruppe, auf die sie sich in der Gesellschaft stützt, ist überschaubar. Es sind vor allem kleine Geschäftsleute und Händler:innen, also Kleinbürger:innen. Historisch gesehen sind das genau diejenigen, die dazu mobilisiert werden können, auch mit Gewalt gegen die Arbeiter:innenklasse und ihre Organisationen vorzugehen. Genau deswegen ist es unsere Aufgabe, sie nicht gewähren zu lassen und uns mit all unserer Kraft gegen diese Attacken (auf Rechte von trans Personen) als Ausdruck patriarchaler Gewalt durch reaktionäre Kräfte zu stellen. Unsere Brüder und Schwestern im Iran weisen uns den Weg!




Indiens reaktionäres Regime und die Lage von Frauen

Jonathan Frühling, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

1,4 Milliarden Menschen zählt die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Laut Prognosen des IWF könnte Indien bereits im Jahr 2027 auf Rang vier aufzurücken – und damit Deutschland überholen. Doch Größe allein bedeutet nicht Reichtum. Indien ist ein Land voller Widersprüche, ein extremes Beispiel für die kombinierte und ungleichzeitige Entwicklung im Rahmen des imperialistischen Weltsystems. So entsteht das Bild einer aufstrebenden Macht, die zwischen Hightechindustrie und massiver Armut der Bevölkerung hin- und herpendelt. Im Folgenden wollen wir uns dabei die Lage von Frauen genauer anschauen. Doch bevor wir dazu kommen, wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Regierung und ihres Regimes geben.

Das Regime der BJP

Seit 2014 wird das Land von der Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP), einer der rechtesten Regierungsparteien der Welt, regiert. Die BJP hängt einer Ideologie an, die als Hindutva (hinduistischer Nationalismus, kurz Hindunationalismus) bezeichnet wird. Der Hinduismus wird als einzig legitime Kultur im indischen Staat angesehen. Alle anderen Kulturen, Religionen, Nationalitäten, Indigene und untere Kasten gelten als feindliche und schädliche oder jedenfalls als untergeordnete Elemente, die oder deren Widerstand bekämpft werden müssen. Das betrifft vor allem Muslim:innen, Kashmiri, Sikhs, Dalits (unterste Kaste) und Adivasi (Indigene).

Sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik werden als Kulturkampf inszeniert. Nach außen werden die Kulturen anderer Staaten als Gefahr angesehen, im Inneren werden die anderen Religionen, d. h. vor allem der Islam, Ziel der Hetze des Hindunationalismus. Die Funktion dieser Ideologie besteht darin, Feindbilder zu schaffen, um gleiche Hindu verschiedener Klassen bzw. Kasten an den Staat und seine kapitalistische und neoliberale Politik zu binden.

Denn es ist gerade die neoliberale Politik, die den Premierminister Narendra Modi Zustimmung unter den Kapitalist:innen einbringt. Während wichtige Teile des indischen Großkapitals lange in der Kongresspartei ihre politische Vertretung sahen, schwenkten in den letzten 10 – 15 Jahren fast alle Großkonzerne zur BJP um. Und diese agiert ganz in deren Interesse.

So erfolgten während der ersten Amtszeit Modis massive Angriffe auf die Gewerkschaften und Arbeitsschutzgesetze wie die Aufhebung des Rechtsschutzes für Festanstellungen und von Arbeitszeitbeschränkungen. Doch das ist nicht alles. Im Zuge von Modis Amtszeit hat sich das politisch-gesellschaftliche Klima extrem nach rechts verschoben.

Aufrufe zum Mord an Menschen muslimischen Glaubens durch hohe hinduistische Kleriker waren nur die Spitze des Eisberges an Volksverhetzung. Diese politische Stimmung hat auch bereits schon zu Pogromen geführt, wie z. B. 2020 in Delhi. Damals griff ein hinduistischer Mob muslimische Viertel an, um Protest gegen ein antimuslimisches Gesetz zu verhindern. Es starben dabei 26 Muslim:innen und 15 Hindus.

Bei der BJP handelt es sich zwar nicht um eine genuin faschistische Organisation, aber sie stützt sich sehr wohl auf rechte faschistoide Milizen wie die Bajrang Dal (Brigade Hanuman; Jugendflügel der Vishva Hindu Parishad; VHP. Diese ist wiederum auf dem rechten Flügel der Sammlungsbewegung Sangh Parivar angesiedelt) und die Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationale Freiwilligenorganisation; RSS). Die RSS ist eine paramilitärische, rechtsgerichtete hindunationalistische Gruppe, die über 50.000 Zweigstellen und Waffenausbildungslager besitzt. Sie wurde in den 1920er Jahren als antibritische, aber auch streng hinduistische und antimuslimische Organisation gegründet. Stark von Mussolini und Hitler beeinflusst, soll sie heute zwischen 5 bis 6 Millionen Mitglieder zählen. Sangh Parivar (Familie der Verbände) ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Hinduorganisationen, die von der RSS hervorgebracht wurden, wobei die Regierungspartei BJP eng mit ihr verbunden ist, sich auf sie stützt und ihre Agenda bedient.

Anders als ein faschistisches Regime kamen Modi und die BJP nicht infolge der Machteroberung einer kleinbürgerlich-reaktionären Massenbewegung an die Regierung. Sie zerschlugen auch nicht die organisierte Arbeiter:innenbewegung. Aber unter Modi etablierten sie einen parlamentarisch-demokratisch legitimierten Bonapartismus. Die rechten Verbände wie die RSS stellen zwar nicht den Kern der Regierungsmacht und des Staatsapparates dar, wohl aber organisierte kleinbürgerliche Hilfstruppen, vor allem gegen religiöse und nationale Minderheiten.

Während Modis Regime den großen Kapitalen enorme Zugewinne brachte und versucht, Indien in deren Interesse als Machtfaktor zu etablieren, so ist seine Regierung auch für die Masse der Frauen in Indien eine Kampfansage.

Die Lage von Frauen

Die widersprüchliche Situation innerhalb Indiens wird deutlich, wenn man die Lage von Frauen betrachtet. Aus dem Artikel „Why Indian women may lead the tech world of tomorrow“, von  Times of India am 4. Mai 2020 veröffentlicht, geht hervor, dass Frauen fast 50 % aller Studierenden im MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)-Bereich umfassen und Indien mit 42 % den höchsten Anteil an weiblichen MINT-Absolvent:innen auf der ganzen Welt hat.

Ihr Anteil an den Beschäftigten in Wissenschaft, Technik und technologischen Forschungsinstituten liegt aber bei nur 14 % und zeigt damit ein zentrales Problem des Landes auf. Denn sieben Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen in Indien noch immer gering, teilweise sogar rückläufig.

1990 waren noch 35 % aller Frauen beschäftigt. Heute sind es nur noch 25 %, womit Indien auf Platz 145 von 153 Ländern liegt. Hierbei ist anzumerken, dass diese Zahl vor allem so gering ist, da Frauen wesentlich häufiger im informellen Sektor arbeiten, also keine offiziellen Verträge (und damit einhergehenden Arbeitsschutz) haben. Interessant ist jedoch, dass der Anteil der Frauen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, in den Städten geringer ist als in den ländlichen Gebieten, obwohl es dort eigentlich mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Löhne gibt. Der entscheidende Grund dafür ist aber, dass die Familien von Kleinbauern/-bäuerinnen und Arbeiter:innen in diesen Regionen ohne weibliche Erwerbsarbeit nicht überleben könnten.

Ein ähnliches Szenario ist auch bei den alphabetisierten Frauen zu beobachten. 35,5 % aller Frauen sind Analphabetinnen (und nur 19,1 % aller Männer). Obwohl die Alphabetisierung die Erwerbstätigkeit von Frauen fördert, ist in den meisten Bundesstaaten nur ein geringer Anteil der gebildeten Frauen in der Stadt erwerbstätig. Auf der anderen Seite ist der Anteil der alphabetisierten Frauen auf dem Lande in verschiedenen Bereichen der bezahlten Arbeit viel höher als in den Städten.

Auch wenn keine offiziellen Zahlen verfügbar sind, so ist davon auszugehen, dass die Coronapandemie die Situation nochmal drastisch verschlechtert hat. Mit einem Minus von 7,7 % hat die Wirtschaft in Indien deutlichere Einbußen hinnehmen müssen als in anderen Ländern. Allein der Tourismusbereich ist um rund 58 % eingebrochen. Die Arbeitslosenquote stieg von 5,3 auf 8,0 %. Die Inflationsrate ist von zuvor 3,7 auf nun 6,6 % angestiegen und extrem viele Jobs im informellen Sektor sind weggefallen.

Das zeigt schon mal eines: Frauen in Indien sind keine homogene Masse, sondern ihre Situation ist stark von ihrer Herkunft geprägt, von ihrer Klassen- und Kastenzugehörigkeit, ihrer Nationalität oder Religion. Dies kann man auch an der Frage der häuslichen Gewalt nachvollziehen. Laut Regierungsumfragen ist jede dritte Frau häuslicher Gewalt ausgesetzt. Besonders betroffen sind dabei Dalitfrauen, die ungefähr 16 % aller Frauen ausmachen. Sie haben beispielsweise einen sehr eingeschränkten Zugang zur Justiz und in Fällen, in denen der Täter einer dominanten Kaste angehört, herrscht für diesen weitgehende Straffreiheit. Dalitfrauen gelten daher als leichte Zielscheibe für sexuelle Gewalt und andere Verbrechen, da die Täter fast immer ungestraft davonkommen. So zeigen beispielsweise Studien, dass in Indien die Verurteilungsquote bei Vergewaltigungen von Dalitfrauen unter 2 % liegt, während sie bei Vergewaltigungen aller Frauen in Indien 25 % beträgt.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Probleme: Frauen und besonders Mädchen leiden auch deutlich öfter an Mangelernährung, da es üblich ist, dass Frauen erst nach den männlichen Teilen der Familie essen und für diese oft nicht mehr genug übrig bleibt. Frauen werden massiv für ihre Menstruation diskriminiert, die als unrein angesehen wird und zum Teil sogar dazu führt, Tempel nicht mehr betreten zu können. Die Folge dieses Tabus und natürlich der Armut ist eine katastrophale Menstruationshygiene, auf die 70 % aller Unterleibserkrankungen bei Frauen zurückzuführen sind. Nur ca. 18 % aller Menstruierenden haben ausreichend Zugang zu Hygieneprodukten.

Arrangierte Ehen sind bis heute die Regel in Indien. Manche Quellen gehen von bis zu 90 % aus. Arrangiert werden die Heiraten traditionell von den Familien und Angehörigen, in den letzten Jahren aber auch zunehmend von Daitingseiten (im Auftrag beider Partner:innen), um so eine standes- und statusgemäße Heirat zu erzielen. So sind Hochzeiten von Angehörigen verschiedener Kasten bis heute mit nur rund 5 % eine Rarität, Heiraten über religiöse Grenzen hinaus sind mit nur 2 % noch seltener.

Die Lage unter der BJP

Trotz gesetzlicher Verbote wird die Gabe einer Mitgift (Geld und/oder teure Geschenke, die die Familie der Braut an die Familie des Bräutigams zahlen muss) bei der Verheiratung einer Frau gesellschaftlich erwartet. Wird die Mitgift als zu niedrig angesehen, läuft die Braut Gefahr, ermordet zu werden. Ca. 25.000 Mädchen und Frauen erleiden jedes Jahr dieses Schicksal. Die Geburt vieler Mädchen kann deshalb eine Familie finanziell ruinieren. Zum Teil müssen die Frauen auch selbst jahrelang arbeiten, um die Mitgift an die Familie des Mannes selbst bezahlen zu können.

Die Folge dieses Umstandes ist, dass Mädchen häufig abgetrieben oder geborene getötet werden. 52,1 % aller Kinder zwischen 0 und 6 Jahren sind Jungen. Dieses Problem versuchte die Modi-Regierung, seit 2015 mit der Kampagne „Beti Bachao, Beti Padhao“ (Rettet die Tochter, erzieht die Tochter) zu adressieren. Dass dies jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, zeigen die Daten der Regierung selber. Mehr als 56 % der Gelder wurden von 2014/15 bis 2018/19 für „medienbezogene Aktivitäten“ ausgegeben. Im Gegensatz dazu wurden weniger als 25 % der Mittel an die Bezirke und Staaten ausgezahlt und über 19 % von der Regierung gar nicht erst freigegeben.

Dies fasst die Politik der BJP recht gut zusammen. Auf den ersten Blick wirkt es so, als ob in Modis Regime Frauen einen Platz haben. So wurden in seiner Amtszeit auch teilweise Gesetze verabschiedet, die ihre Situation punktuell verbessern. 2021 wurde das Gesetz über den medizinischen Schwangerschaftsabbruch (MTP) abgeändert. Zwar sind Abtreibungen in Indien seit 1971 legal, allerdings nur unter bestimmten Vorraussetzungen. Diese wurden im Rahmen der Reform abgeändert. Beispielsweise ist es nun auch für unverheiratete Frauen möglich, legal abzutreiben. Ebenso wurden die Beratungsbedingungen angepasst, sodass es nun möglich wäre, dass Frauen statt nur bis zur 20. bis zur 24. Schwangerschaftswoche abtreiben können. 2017 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den bezahlten Mutterschaftsurlaub von 12 auf 26 Wochen für Beschäftigte aller Unternehmen, die mehr als 10 Mitarbeiter:innen beschäftigen, verlängert. Dies gilt jedoch nur für die ersten beiden Kinder, danach verkürzt sich die Elternzeit wieder auf 12 Wochen.

Doch fundamental verbessern diese Gesetze die Situation von Frauen nicht. Anrecht auf Kinderbetreuung haben beispielsweise nur Frauen, die in Betrieben mit 50 oder mehr Beschäftigten arbeiten. In einem Land, in dem ein großer Teil der weiblichen Erwerbstätigen entweder selbstständig ist oder im informellen Sektor arbeitet, führen diese Bedingungen zwangsläufig dazu, dass viele Frauen von den Leistungen (wie auch bei MBAA, der Reform zum Mutterschaftsurlaub) ausgeschlossen werden.

In der Praxis führt das jedoch dazu, dass laut einer Umfrage von India Today-Axis My India (das Meinungsforschungsinstitut, das die Ergebnisse der nationalen Wahlen im Mai 2019 am genauesten vorhersagte) 46 % der Frauen für die BJP und ihre Verbündeten stimmten, 27 % für den Kongress und seine Verbündeten und 27 % für andere Parteien. Im Vergleich dazu stimmten 44 % der Männer für die BJP und ihre Verbündeten. Bei der letzten Wahl stimmten also mehr Frauen als Männer für die BJP, auch wenn es nur 2 % waren.

Die BJP inszeniert sich also bewusst als „frauenfreundliche“ Kraft, macht Zugeständnisse, wo sie kann, und schafft es so, Wählerinnen zu mobilisieren. Gleichzeitig macht sie aber nicht Politik im Interesse „aller“ Frauen, sondern konzentriert sich überwiegend (nicht ausschließlich) auf wachsende Mittelschichten und agiert im Interesse der herrschenden Klasse.

Vor allem aber wendet sich das Modi-Regime an die Frau als Hindu. Ideologisch bezieht sie sich auf das tradierte Bild der Hindufrau als Mutter, Fürsorgerin und Göttin. So forderte beispielsweise der BJP-Abgeordnete Sakshi Maharaj im Jahr 2015 alle Hindufrauen auf, mindestens vier Kinder zu gebären, um die hinduistische Religion zu schützen (India Today, 2015). Mehrere Bundesstaaten haben auch Antikonversionsgesetze verabschiedet, die auf den so genannten „Liebesdschihad“ abzielen und die Angst schüren, dass muslimische Männer die Ehe nutzen, um Hindufrauen zum Islam zu bekehren, wodurch interreligiöse Ehen kriminalisiert werden. Darüber hinaus sind Parteiführer häufig wegen frauenfeindlicher Äußerungen in den Schlagzeilen und einige ihrer Landesregierungen haben wegen der schlechten Behandlung von Vergewaltigungsfällen weltweit Schlagzeilen gemacht.

Veränderung ist möglich

Trotz aller Hindernisse sind Frauen in Indien eine wesentliche Kraft bei Protesten. 2019 wurde bei einem symbolischen Protest eine 620 km lange Menschenkette gebildet, an der mehrere Millionen Frauen teilnahmen oder beispielsweise beim Kampf um sauberes Trinkwasser oder bei den Protesten gegen das CAA (neues Staatsbürgerschaftsgesetz), bei dem vor allem muslimische Frauen präsent waren.

Dabei muss klar sein: Gesetze und Urteile von Gerichten können Aufmerksamkeit schaffen, ändern werden sie die Situation von Frauen aber nur marginal, wenn der bürgerliche Staat sich weigert, die Gesetze umzusetzen oder schlichtweg nicht das Interesse hat, die Wurzel der Frauenunterdrückung anzugreifen. Frauen schützen, patriarchale Strukturen vernichten und eine reale Verbesserung erzwingen können wir nur, wenn wir uns gemeinsam organisieren: auf der Straße, in den Betrieben, an den Schulen, Unis und auch im Haushalt! Gegen die massive Gewalt gegen Frauen bedarf es des Aufbaus einer Bewegung, die beispielsweise auch für demokratisch-organisierte Selbstverteidigungskomitees eintritt. Sie muss in den Betrieben und Stadtteilen verankert sein und auch die Gewerkschaften zur Organisierung und Unterstützung auffordern.

Eine erfolgreiche Bewegung muss auf den Interessen der Arbeiter:innenklasse basieren und darf sich nicht der herrschende Klasse und deren Parteien unterordnen – natürlich nicht der BJP, aber auch nicht der Kongresspartei.

Das bedeutet auch, offen für die Rechte von Unterdrückten wie Muslim:innen, Dalits, Kaschmiris oder LGBTIA-Personen einzustehen und gemeinsame Kämpfe zu organisieren. Besonders braucht es aber auch einen gewerkschaftlichen Kampf gegen die miserablen Arbeitsbedingungen im informellen Sektor. Frauen können hier eine wichtige Rolle spielen und so ihre Situation verbessern und außerdem Mut und Motivation für weitere Kämpfe erlangen.

All dies erfordert nicht nur den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung, sondern auch eine politischen Alternative zum Reformismus der Communist Party of India (CPI): eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.




Sexarbeit und Prostitution im Kapitalismus

Leonie Schmidt, Zuerst erschienen in Neue Internationale 257, Juli/August 2021

Aktuell ist es wieder eine heiße Debatte in linken und auch explizit in marxistischen Kreisen: Sollte man als Linke/r, insbesondere als KommunistIn, für ein Verbot von Prostitution kämpfen? Schnell wird mit Vorwürfen des Liberalfeminismus oder der SexarbeiterInnenfeindlichkeit argumentiert. Aber wie sieht eine marxistische Betrachtung der Thematik aus?

In diesem Artikel werden Wörter in der folgenden Bedeutung verwendet: 1. Sexarbeit: Damit sind alle konsensuellen sexuellen Dienstleistungen gemeint. Das bedeutet natürlich zum einen Sex, aber auch bspw. Erstellung von pornographischen Inhalten oder Cam- und Chat-Tätigkeiten; 2. Prostitution: Hierbei handelt es sich um den konsensuellen Kauf von Sex; und 3. Zwangsprostitution: Es geht dabei um den zwanghaften Verkauf von Sex, der in den meisten Fällen nicht konsensuell ist, also eine Vergewaltigung darstellt. Diese Definitionen zeichnen natürlich nur einen groben Unterschied und es ist nicht in jedem Fall einfach, eine klare Trennung zu ziehen.

Situation in Deutschland

Fakt ist, es gibt keine genauen Zahlen darüber, wie viele Personen, insbesondere Frauen, sich in Deutschland prostituieren und Sexarbeit ausüben und wie viele es davon nicht freiwillig machen. Es gibt zwar Studien, in welchen aufgeführt wird, dass 90 % oder mehr der Prostituierten in Deutschland aussteigen wollen und ihre Arbeit nicht als freiwillig ansehen. Jedoch wurden diese vornehmlich bei Frauen unternommen, welche bereits in Aussteigerprogrammen standen.

Die Zahlen sind jedoch definitiv schwer zu erfassen, da es auch in Deutschland genügend Frauen in der illegalen Zwangsprostitution gibt. Außerdem ist es laut Prostituiertenschutzgesetz für SexarbeiterInnen nötig, sich beim Amt zu melden. Jedoch dürfte klar sein, dass die Dunkelziffer aufgrund von Zwangsprostitution enorm ist. Ende 2019 waren 40.400 Personen gemeldet. Manche Schätzungen gehen von 400.000 SexarbeiterInnen inkl. Zwangsprostituierten in Deutschland aus.

Viele der Letzteren kommen aus Osteuropa  in der Hoffnung, der Armut zu entfliehen und in Deutschland ein besseres Leben zu führen. Oftmals sind sie direkt oder indirekt von Menschenhandel betroffen und können sich nur sehr schwer dagegen wehren aufgrund von Armut, keiner anderen Möglichkeit, an Geld zu kommen, sprachlicher Barrieren, oder weil ihnen von den Zuhältern und Menschenhändlern die Pässe abgenommen werden. Zusätzlich sind sie auch noch von Rassismus betroffen und aufgrund der Illegalität ihres Aufenthaltes von Abschiebungen und staatlicher Verfolgung bedroht.

Auch gibt es viele Armutsprostituierte, welche keine andere Möglichkeit in diesem System sehen zu überleben. Diese sind meistens auch obdachlos und drogenabhängig. Allerdings gibt es auch Prostituierte und SexarbeiterInnen, welche ihren Job gerne und freiwillig ausüben. Das soll aber keineswegs verschleiern, dass diese Tätigkeit mit enorm viel Gewalt bis hin zu sklavenartigen Verhältnissen und Unterdrückung verbunden ist und viele Traumata und posttraumatische Belastungsstörungen auslöst, allerdings nicht immer und bei jeder Person.

Rechtliche Lage

Die rechtliche Lage in Deutschland erlaubt Prostitution grundsätzlich. Allerdings müssen sich die Prostituierten, wie bereits oben erwähnt, beim Amt melden. Diese Regelung gilt seit 2017 und wurde von Betroffenen bereits damals kritisiert, da es sich um ein Zwangsouting für ein zentrales Register handelt, was insbesondere bei einem weiterhin stigmatisierten Beruf wie Prostitution problematisch ist. Außerdem war es ein erklärtes Ziel des Prostituiertenschutzgesetzes, Frauen vor Zwangsprostitution zu schützen. Doch bleibt es eine utopische Annahme, dass sich Menschenhändler und Zuhälter von so einem Gesetz etwas vorschreiben lassen, da sie es bereits gewohnt sind, die Frauen zu bedrohen und einzuschüchtern und Letztere somit gar nicht ohne Druck bspw. Anzeige erstatten könnten. Des Weiteren müssen sich insbesondere Prostituierte aus Osteuropa Sorgen machen, dass sie nach einem Verfahren abgeschoben werden könnten. Strukturelle Unterdrückung kann eben nicht einfach durch Gesetz abgeschafft werden.

Sexarbeit ist Arbeit – oder?

Ist sie Lohnarbeit oder eine andere Form der Ausbeutung? Das hängt natürlich vom Arbeitsverhältnis ab. Die meisten Personen in der Prostitution arbeiten für einen Zuhälter. Hier können wir grundsätzlich ökonomisch von einem Ausbeutungsverhältnis sprechen, jedoch in der Regel nicht von freier Lohnarbeit, weil sie oft genug auch mit einem direkten, persönlichen Zwangs- und Gewaltverhältnis verbunden ist. Der Zuhälter eignet sich allerdings einen Teil des Erlöses für die Dienstleistung der Prostituierten an, die der Kunde zahlt. Es findet eine Form der Ausbeutung statt.

Das Verhältnis, das der Lohnarbeit am nächsten kommt, ist, wenn die Prostituierte z. B. für ein Bordell arbeitet. Selbst wenn sie dort formal als Selbstständige registriert sein mag, so lässt sich dies mit der Scheinselbstständigkeit eigentlicher LohnarbeiterInnen in anderen Berufen vergleichen.

Die EigentümerInnen des Bordells kassieren praktisch einen Mehrwert aus der Beschäftigung der Prostituierten und deren sexuellen Dienstleistungen. Sie besitzen außerdem die Produktionsmittel, bspw. das Bordell als Ort der Tätigkeit, und auch das nötige Zubehör wie bspw. Kondome oder Gleitgel. Natürlich darf bei dieser Betrachtung nicht vernachlässigt werden, warum die meisten Prostituierten überhaupt beginnen, in diesem Gewerbe tätig zu werden: Es ist oftmals ökonomischer Zwang. Dieser herrscht natürlich auch bei anderen Arbeitsverhältnissen, allerdings nicht in solch einer Form in Kombination mit psychischer, körperlicher und sexualisierter Gewalt.

Allerdings ist die Aussage, SexarbeiterInnen, insbesondere Prostituierte, würden ihren Körper verkaufen, falsch, denn er wird nicht zur Ware selbst und existiert hinterher immer noch. Richtig ist hingegen, dass es sich um eine Dienstleistung handelt und der Körper für eine bestimmte Zeit als Arbeitsmittel fungiert (als Mittel zur Befriedigung eines bestimmten sexuellen Bedürfnisses). Oftmals ist ein Argument dafür, dass der Körper doch verkauft werden würde, dass er für eine bestimmte Zeit für jegliche sexuelle Befriedigung gemietet wird. Jedoch trifft das nicht für alle Fälle und unvermeidlich zu. Es gibt Tarife für bestimmte Tätigkeiten oder Zeiten und auch Grenzen für das, was angeboten wird. Nicht zu bestreiten ist, dass es jedoch Freier gibt, die diese übertreten.

Es gibt aber auch SexarbeiterInnen, die quasi selbstständig sind. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht auch ökonomischen Zwängen oder anderen Unterdrückungsformen unterworfen sind. Einerseits gibt es die Prostituierten, welche direkt auf der Straße ohne Bordell und Zuhälter arbeiten. Oft sind gerade diese besonders gefährdet durch sexualisierte Gewalt, da sie ohne Schutz sind (wenngleich die Zuhälterei oftmals auch keinen sonderlich großen bietet und ihrerseits ein Gewaltverhältnis darstellt) und oftmals auch völlig unterbezahlt werden.

Andere selbstständige SexarbeiterInnen sind teilweise in der Lage, sich ihre KundInnen auszusuchen oder produzieren von Zuhause aus pornografische Inhalte. Diese kann man durchaus eher zum KleinbürgerInnentum zählen, denn sie arbeiten nicht für andere. Sie verkaufen nicht ihre Arbeitskraft, sondern ein Produkt. Allerdings ist zu beachten, wie das Material vertrieben wird, denn wenn es Websites wie OnlyFans (OF) hochladen, welche daraus Profit schlagen und einen Teil der Zahlungen einbehalten (bei OF sind es 20 %), so ist doch wieder ein Ausbeutungsverhältnis vorhanden, wobei auch hier die Frage bestehen bleibt, ob es sich um eine Haupttätigkeit handelt oder ob es weiteren Besitz an Produktionsmitteln etc. gibt.

Gerade bei OF sind nämlich auch viele Prominente tätig, die nicht auf die Zahlungen angewiesen sind. Grundsätzlich ist aber OF eine Plattform, wo untersucht werden muss, wie viel ökonomischer Zwang hinter Sexarbeit stecken kann. Da sie leicht zugänglich ist und es offizielle Statistiken gibt, kann erkannt werden, wie groß der Zuwachs an KreatorInnen und NutzerInnen während der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Krise (inkl. Jobverlusten und Arbeitslosigkeit) ausfiel: Alleine im März 2020 stiegen die Nutzerzahlen um 75 % an.

Historische Betrachtung

Schon Friedrich Engels bezog die Prostitution in seine Betrachtungen der Entwicklung der Frauenunterdrückung mit ein. Hier wird klar, dass diese, genau wie die bürgerliche Familie, untrennbar mit dem Kapitalismus verwoben ist und sich über alle Klassengesellschaften hin zur heutigen Form entwickelt hat. Laut Engels sind die bürgerliche Familie und die Prostitution zwei Seiten der gleichen Medaille, da es bei Ersterer v. a. um unbezahlte Reproduktionsarbeit bzw.  Vererbung der Produktionsmittel, bei Zweiterer um sexuelle Befriedigung der Freier geht.

Diese Teilung zwischen klassengesellschaftlichem Nutzen und sexueller Befriedigung existierte schon in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Bspw. im antiken Griechenland wurde es besonders deutlich mit der Dreiteilung zwischen Ehefrau, welche für Gebären  und Familie zuständig war und das Haus quasi nicht verlassen durfte, der Hetäre für die sexuelle Befriedigung und der Geliebten, die die Romantik ins Spiel brachte.

Diese Teilung sehen wir auch im Kapitalismus, jedoch ist es eben nur noch eine zweifache. Die weiterhin auferlegte Monogamie, insbesondere für die Frau, trägt also auch ihren Teil dazu bei, dass gesellschaftliche Nachfrage nach Prostitution besteht.

Natürlich ist es für MarxistInnen notwendig, gesellschaftliche Zusammenhänge zu kritisieren. Das sollte allerdings niemals auf Basis der Moral offiziöser, aber heuchlerischer bürgerlicher Prüderie geschehen, sondern vielmehr auf der einer dialektisch-materialistischen Kritik. Hier wäre anzumerken, dass es natürlich schon fatal ist, dass Sexualität zu einer Ware verkommt, nicht nur in Form von Sexarbeit, sondern auch Schönheitsindustrie und den damit verbundenen Instrumenten, Werbung sowie Dating Apps etc.

Dementsprechend können wir auf die Frage, ob es im Sozialismus Sexarbeit geben wird, antworten: Nicht so, wie sie heutzutage funktioniert. Genauso, wie es auch keine Lohnarbeit und kein Geld in dieser Form mehr geben wird. Allerdings kann es durchaus vorkommen, dass sexuelle Dienstleistungen, natürlich frei von ökonomischen und sonstigen Zwängen, angeboten werden könnten, je nachdem, ob sich dafür Menschen finden, die dies tun wollen. Die Frage der Notwendigkeit kann aus heutiger Sicht natürlich nicht komplett beantwortet werden. Fakt ist aber, dass diese durchaus mit dem endgültigen Absterben der bürgerlichen Familie und der Monogamie verschwinden könnte.

Feministisches „Empowerment“?

Einige Teile des liberalen Feminismus werfen die These in den Raum, dass Sexarbeit grundsätzlich  „empowernd“, selbstermächtigend sei, während Teile des Radikalfeminismus die Ansicht vertreten, dass jede Sexarbeit Zwangsprostitution wäre, das Patriarchat direkt unterstützen würde und somit zu unterbinden ist. Beide Annahmen ignorieren die Realität von Sexarbeitenden, denn natürlich ist Sexarbeit nicht grundsätzlich empowernd, nur weil sich die Person freiwillig dazu entscheidet und der ökonomische Zwang ignoriert wird. Grundsätzlich ist im Kapitalismus überhaupt keine Lohnarbeit und keine Form der Ausbeutung selbstermächtigend.

Allerdings können insbesondere eine Verbesserung des Arbeitsumfeldes und ein offener Umgang mit der Tätigkeit und der Kampf für die eigenen (Arbeits-)Rechte durchaus eine positive und fortschrittliche Wirkung zeitigen sowie grundsätzlich auch eine Möglichkeit bieten, offen mit seiner Sexualität und seinem Körper umzugehen (allerdings besteht diese Möglichkeit nur außerhalb von Armutsprostitution und ist eher selten anzutreffen). Insbesondere zu beachten ist hier auch, dass es viele Sexarbeitende gibt, die sich in keine Opferrolle drängen lassen, sondern selbstbestimmt für ihre Rechte, gegen Gewalt und gegen Stigmatisierung eintreten möchten.

Auf der anderen Seite ist es natürlich auch eine falsche These zu behaupten, alle, die sich bewusst für Sexarbeit entschieden, wären ganz einfach privilegiert und Sklavinnen des Patriarchats. Man kann sich natürlich auch bewusst für diese Form der Lohnarbeit entscheiden und trotzdem einen ökonomischen Zwang verspüren. Dem Kampf gegen das Patriarchat wäre auch nicht geholfen, wenn diese Einzelpersonen sich für einen anderen Job im Niedriglohnsektor entscheiden würden. Allerdings darf Sexarbeit natürlich auch nicht romantisiert und als der „Girlboss-Move“ schlechthin dargestellt werden, denn leider denken viele, insbesondere junge Frauen mit der ansteigenden Popularität von OF, dass dies schnelles und leicht verdientes Geld wäre. Diese Einstellung wird allerdings besonders durch RadikalfeministInnen den offen auftretenden SexarbeiterInnen in die Schuhe geschoben, was keineswegs auf alle zutrifft und nur einen sehr marginalen und vermutlich besser gestellten Teil der SexarbeiterInnengemeinde betrifft.

Verbot von Sexarbeit – die Lösung?

Viele Linke schlagen als Lösung ein Verbot vor, indem Zuhälterei und Freierschaft bestraft werden und nicht die Sexarbeitenden selber. Das mag auf den ersten Blick sinnvoll klingen, allerdings hat das sogenannte „Nordische Modell“ viele Tücken, über die auch SexarbeiterInnen aufklären. Aktuell wird dieses Modell auch schon u. a. in Schweden praktiziert. Daher ist es möglich, die Folgen zu analysieren. Dadurch, dass nicht das Gesellschaftssystem, der Kapitalismus, welches Sexarbeit notwendig macht, abgeschafft werden soll, besteht die Nachfrage der Kundschaft natürlich weiterhin. Durch dieses Verbot wird die Sexarbeit aber in die Illegalität gedrängt, wodurch es vermehrt zu Übergriffen und schlechten Arbeitsbedingungen kommt, und die Möglichkeit, bspw. eine Anzeige aufgrund sexualisierter Gewalt zu erstatten, wird ebenfalls stark eingeschränkt.

Gleichzeitig wird mit einer Illegalisierung auch die Stigmatisierung der Sexarbeitenden befestigt und sie werden ihrer aktuellen ökonomischen Grundlage beraubt, ohne aktive Unterstützung und Berufsalternativen. Des Weiteren fördert es auch Sextourismus. Wenn es nicht möglich ist, in der Heimat an diese Dienstleistungen zu kommen, fliegt man eben für wenig Geld in den Urlaub und lässt sich da bedienen, wo die meisten Personen wirklich Zwangsprostituierte und die Arbeitsbedingungen viel schlimmer sind. Das Nordische Modell ist letztlich ein Weg in die Sackgasse, weil es die Verhältnisse, die es zu bekämpfen vorgibt, nur illegalisiert und verlagert. Es stellt ironischer Weise an ein patriarchales System die Aufgabe, eine Tätigkeit abzuschaffen, von welcher es insbesondere auch profitiert. Außerdem ist es realitätsfern zu glauben, dass der bürgerliche Staat wirklich das Interesse verfolgt, Sexarbeit abzuschaffen, ohne Sexarbeitende zu kriminalisieren, und es überhaupt möglich ist, diese Arbeit, genauso wie ganz grundsätzlich die Lohnarbeit, innerhalb des Kapitalismus abzuschaffen.

Vier Ansatzpunkte

Was aber ist nun die Lösung? Grundsätzlich müssen wir als MarxistInnen an vier Punkten ansetzen. Erstens müssen wir Seite an Seite mit SexarbeiterInnen für die komplette Entkriminalisierung und gegen jegliche Repression von staatlicher Seite kämpfen sowie für bessere Arbeitsbedingungen und Selbstorganisierung  (natürlich auch in Form von Selbstverteidigungsstrukturen) eintreten, denn nur wenn die Sexarbeit ohne Zuhälterei und Kriminalisierung organisiert ist, kann überhaupt erst eine Kontrolle über die Verkaufs- und Arbeitsbedingungen durch die SexarbeiterInnen selbst durchgesetzt werden. Das inkludiert natürlich nicht nur die Selbstorganisierung am Arbeitsplatz, sondern schließt auch eine gewerkschaftliche Organisierung mit ein (wie es sie zeitweise bei ver.di in Hamburg gab), um größeren Druck im Kampf gegen Diskriminierung und für ArbeiterInnenrechte auszuüben, der Vereinzelung der Sexarbeitenden und der Stigmatisierung entgegenzuwirken.

Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch notwendig, den Personen, welche unter dem ökonomischen Zwang und den teilweise sehr schlechten Arbeitsbedingungen leiden, eine Möglichkeit zu bieten, ohne größere Probleme auszusteigen. Dahingehend müssen wir uns für kostenfreie und seriöse Beratungsstellen und bezahlte Umschulungen, Aus- und Weiterbildungen für berufliche Alternativen einsetzen. Nur wenn der ökonomische Zwang und die Illegalisierung entfallen, können Ausstieg und Umschulung eine attraktive reale Option werden. Ansonsten bleiben sie eine schöne, aber letztlich leere Versprechung.

Egal, wofür sich die individuelle Person entscheidet, es gilt das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und die Person sollte in ihrer Entscheidung unterstützt werden, natürlich ohne einerseits die Sexarbeit zu stigmatisieren oder andererseits sie zu romantisieren.

Um Zwangsprostitution insbesondere in Kombination mit Menschenhandel entgegenzuwirken, müssen wir uns neben ihrem Verbot auch für offenen Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle einsetzen, denn nur so kann den Versprechungen eines besseren Lebens in einem fremden Land unter Kontrolle von Mafiastrukturen entgegengewirkt werden.

Langfristig muss das Ziel von MarxistInnen darin bestehen, die materielle gesellschaftliche Basis umzugestalten und somit die ökonomischen Zwänge zu zerstören, die Menschen dazu nötigen, sexuellen Dienstleistungen aufgrund von Gewalt oder Not nachzugehen. Es wäre allerdings verkürzt und nicht hilfreich, ein Verbot zu fordern, da sich Prostitution, wie bereits beschrieben, nicht einfach abschaffen lässt, zumal nicht innerhalb einer kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft, die diese erst hervorgebracht hat. Dementsprechend ist es natürlich auch nötig, eine Massenbewegung aufzubauen, in welcher SexarbeiterInnen Seite an Seite mit allen Unterdrückten gemeinsam für das Ende von Kapitalismus und Patriarchat kämpfen können, ohne stigmatisiert zu werden.




Fünf Argumente gegen TERFS

von Miel de la Rosa, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Die Erfinderin der Harry-Potter-Serie fiel in den letzten Jahren mit ihrer Transfeindlichkeit auf, indem sie auf Twitter durchblicken ließ, dass sie das binäre Geschlechtersystem für unantastbar hält. Da steht sie nicht nur in einer Reihe mit Alice Schwarzer, sondern auch vielen Konservativen und Rechten. Doch anders als diese fühlen sich viele TERFs als Teil der linken oder feministischen Bewegung. TERF ist ein Akronym für „Trans-Exclusionary Radical Feminist“ (radikaler Feminismus, der trans Personen ausschließt).

Was sind überhaupt TERFs?

TERFs hängen – stark verkürzt – einer Strömung des Second-Wave-Feminismus an. Die Unterdrückung von Frauen wird als fundamentalste gesellschaftliche verstanden und existiere seit Anbeginn des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Auch wenn radikalfeministische Aktivist_Innen und Denker_Innen auf wichtige Themengebiete (beispielsweise Rape Culture) aufmerksam machen konnten, verfolgen sie keinen revolutionären, antikapitalistischen Ansatz, sondern verbleiben oftmals auf einer individualistischen Ebene. In letzter Zeit hat sich insbesondere in Onlineräumen nun eine gar nicht so kleine Schar an Radikalfeminist_Innen gebildet, die nun nicht mehr Männer, sondern trans Personen zu Hauptfeind_Innen der eigenen Befreiung auserkoren hat. Während die meisten TERFs vor allem in „sozialen Medien“ durch Shitstorms und Hassattacken auffallen, griffen einzelne sogar trans Personen auf Demonstrationen in Großbritannien an.

Sie werfen ihrem Gegenüber gerne mal folgende Sätze an den Kopf:

1. Pseudoargument: „Am Ende bleibst du biologisch ein Mann, auch wenn du Hormone nimmst.“

Manche TERFs vertreten ein bioessentialistisches Weltbild: Weil eine Person einen Penis besitzt, habe sie ein innewohnendes Bedürfnis danach, „biologische Frauen“ zu unterdrücken, und stelle deshalb auch eine Gefahr für diese dar. Dies würde im Umkehrschluss aber auch bedeuten, dass Gewalt und Unterdrückung nicht nur von Geburt aus in Männern angelegt sind, sondern auch eine andere Gesellschaft nicht möglich ist. Dies ist ein äußerst deterministisches, aber auch pessimistisches Weltbild, welches Frauen als „das Gute“ und Männer als „das Böse“ stilisiert.

Darauf wollen TERFs auch hinaus, wenn sie anmerken, dass eine trans Frau immer ein „biologischer Mann“ oder eine „falsche Frau“ bleibe, egal ob sie wolle oder nicht. Denn warum ist dies so wichtig zu betonen, wenn biologische Geschlechter nicht unter einem solch deterministischen Blickwinkel betrachtet werden würden? Wir hingegen erklären Frauen- und LGBTQ+-Unterdrückung aus dem kapitalistischen System heraus. Frauen werden ökonomisch sowie politisch benachteiligt. Sie werden in Krisenzeiten zuerst entlassen und sind gleichzeitig der Part, der für die Reproduktion des herrschenden Gesellschaftssystems zuständig ist. Denn Reproduktionsarbeit wird vor allem von ihnen geleistet. In der klassischen Rollenverteilung steht ihre Rolle als Hausfrau und Mutter im Vordergrund. Diese vorherrschenden Geschlechterrollen haben sich aus diesen historischen Spezifitäten entwickelt und stützen das kapitalistische System. LGBTQ+-Personen lassen sich schwerer in die altbekannte Zweiteilung einordnen – ein Grund, weswegen diese zusätzliche Unterdrückung erfahren.

2. Pseudoargument: „Ich unterstütze, dass du trans bist, aber ich will nicht, dass du deinem Körper schadest und die Veränderungen, die du vornimmst, permanent sind, weil du deine Meinung ändern könntest.“

Jüngere Menschen werden zusätzlich mit Misstrauen konfrontiert. Man unterstellt ihnen, zu jung oder nicht reif genug zu sein. Implizit werfen TERFs trans Personen damit vor, dass es eine Meinung wäre und nicht eine Geschlechtsidentität ist, die man sich nicht aussuchen kann. Trans Jugendliche müssen sich ihr Recht, Hormone zu nehmen, um ihren Körper ihrem Geschlecht anzupassen, lange und schmerzhaft erkämpfen. Ohne ärztliche sowie psychologische Unterstützung geht das nicht, weil man diese Anpassung nicht selbst vornehmen kann. Allein diese Auseinandersetzung zu führen, zeigt Reife und lässt Raum für mögliche Bedenken. Doch wenn Letztere auftreten, gehen sie TERFs einen Scheißdreck an.

3. Pseudoargument: „Du machst nicht die gleiche Erfahrung wie ,echte Frauen’, weißt nicht, wie es ist, Misogynie zu erleben.“

Natürlich überschneiden sich die Erfahrungen von trans und cis Frauen nicht vollständig. Doch auch nicht alle cis Frauen haben einen gemeinsamen Erfahrungshaushalt. Klasse, Herkunft, Hautfarbe, Alter sowie Gesundheitszustand führen zu unterschiedlichen Leben(släufen) sowie Arten der Diskriminierung und Ausbeutung durchs kapitalistische System: So kann sich eine reiche, weiße Frau beispielsweise die Arbeitskraft einer armen migrantischen Frau kaufen, um sich vom Reproduktionsarbeitssystem zu befreien. Das heißt nicht, dass es deswegen Sinn ergeben würde, bestimmte (in gesellschaftlichen Kämpfen anerkannte) Begriffe aufzulösen. Das heißt nur, dass man die Komplexität von Begriffen wie „Frau“ einsehen und die Frage stellen kann: Was ist denn eine „echte“ Frau? Was geht mit Frausein einher?

4. Pseudoargument: „Trans Menschen sollten keinen Zugang zu Schutzräumen von Frauen (bspw. Frauenhäuser) bekommen.“

Zunächst einmal: trans Frauen sind Frauen. Allerdings wird neben bioessentialistischen Ansätzen häufig Sozialisation ins Spiel gebracht: Man sei ein Mann, weil man als solcher sozialisiert worden und somit Quelle der Gewalt gegen Frauen sei. Die spezifischen Erfahrungen von trans Personen in der Jugend lassen sich aber damit nicht aushebeln. Es ist eine spezielle Situation, wenn junge trans Menschen permanent dafür kritisiert werden, dass sie ja nicht dem Männlichkeits- oder Weiblichkeitsbild entsprechen, in das sie die Gesellschaft versucht hineinzudrängen. Das ist keine einfache Sozialisation als Mann oder Frau, sondern führt vielmehr zu eigenen Erfahrungen und spezifischer Verinnerlichung von Konzepten, die nicht männlicher oder weiblicher Sozialisierung gleichen.

Personen können zusätzlich auch später noch eine andere Sozialisierung durchlaufen. Wenn eine trans Frau auf der Straße, im Beruf und im Freundeskreis von den meisten Personen als Frau wahrgenommen wird, wird sie eben auch als solche behandelt.

Spezifisch transfeindlicher Gewalt sind sie zusätzlich ausgesetzt, wenn sie als trans „erkannt“ werden. Das Projekt „Trans Murder Monitoring“ vermerkt weltweit mindestens 327 Morde an trans- und genderdiversen Personen zwischen Oktober 2021 und September 2022, wobei die Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte. 95 % der Ermordeten waren trans Frauen oder transfeminin. Angesichts der Lebenserfahrungen, die viele trans Personen machen müssen, wirkt es also fast schon zynisch, wenn bestimmte TERFs vorgeben, ja nur cis Frauen vor trans Personen schützen zu wollen.

5. Pseudoargument: „Du darfst schon trans sein, aber mach das im Privaten.“

TERFs weigern sich auffällig oft, nicht den Deadname (Name, der bei der Geburt von den Eltern vergeben wurde), sondern das gewählte Pronomen zu nutzen. Es ist heute belegt, dass es nicht nur cis Männer und cis Frauen gibt. Doch das Weltbild von TERFs basiert auf einer binären Geschlechtervorstellung.

Nun kann man versuchen, TERFism aus sexistischer Unterdrückung heraus zu erklären. Gerade wenn cis Frauen unter den rigiden Erwartungshaltungen an ihr Geschlecht leiden oder für sich eine Identität als Bitchfrau (wörtlich: Schlampe, Zicke, Miststück; im übertragenen Sinn: selbstbewusste Frau) finden mussten, kann es zum Beispiel ein Dorn im Auge sein, wenn sich eine trans Frau sehr stereotyp feminin kleidet. Dass die meisten trans Frauen Feminität nicht unmittelbar mit Frau-sein gleichsetzen, sondern sich bestimmter Symbole bedienen, um gesellschaftlich als Frau erkannt zu werden und transfeindlichen Angriffen zu entgehen, wird jedoch nicht beachtet. Genauso werden trans Frauen abgelehnt, wenn sie sich maskuliner kleiden oder keine Transition vornehmen. TERFs nehmen trans Personen hier das Recht zur freien Entfaltung und argumentieren genauso, wie Gegner_Innen von Homosexualität es lange getan haben.

Die ähnlichen Argumente und Strategien kommen nicht von ungefähr, schaut man sich an, was aus einstigen bekannten bürgerlichen Feminist_Innen wie Alice Schwarzer geworden ist, die man heutzutage wohl schlecht noch irgendeiner linken Strömung zuschreiben kann. Immer wieder aufs Neue neigen TERFs zumindest in der Frage von Geschlecht zu konservativen und rechten Kreisen. Der Angriff auf das binäre Geschlechtersystem wird als einer auf die bürgerliche Familie und den Kapitalismus selbst gesehen. Allerdings sind die einzelnen Argumentationsmuster mannigfaltig und nicht alle vertreten daneben nur rechte Positionen.

So sehr man also versucht, auf bestimmte Argumente von TERFs einzugehen, bleibt TERFism eine auf Kritik am Individuum basierende (und im Extremfall gewaltvolle) Ideologie, die die tatsächliche Wurzel von Sexismus nicht anzugreifen vermag. Doch gesellschaftliche Befreiung kann nur gemeinsam erreicht werden, weil cis Frauen und trans Personen vom gleichen, ausbeuterischen System unterdrückt werden. Wir müssen aber gegen die Klasse kämpfen, die uns tatsächlich ausbeutet und unsere Unterdrückung Tag für Tag möglich macht – die Kapitalist_Innen. Das Miteinbeziehen von trans Personen in einen antisexistischen Klassenkampf untergräbt diesen nicht, sondern kann ihn nur stärker machen!