Das Corona-Virus und die Gesundheitskrise in den USA

Rebecca Anderson. Red Flag, Großbritannien, Fight!
Revolutionäre Frauenzeitung, März 2021

Das Corona-Virus hat sich unkontrolliert in allen fünfzig
Bundesstaaten ausgebreitet und Millionen von Infektionen und
Hunderttausende vermeidbarer Todesfälle verursacht. Von der
Untergrabung der öffentlichen Gesundheitsberatung über die
Verzögerung von Konjunkturpaketen bei gleichzeitiger Rettung des
Großkapitals bis hin zu verspäteten Lockdowns – die politische
Reaktion auf das Virus war katastrophal. Sogar die Einführung des
Impfstoffs in dem Land, das einen der wichtigsten herstellt, ist
schmerzlich langsam verlaufen. Die letzte Bastion gegen die Pandemie
– das Gesundheitssystem, das sich um die schlimmsten Fälle
kümmert, wo das Krankenhauspersonal unermüdlich daran arbeitet,
schwerkranke Patienten zu retten – hat ebenfalls den Test der
Pandemie nicht bestanden. Covid-19 hat die strukturelle Krise eines
lückenhaften Gesundheitssystems offengelegt, das eher auf Profit als
auf menschliche Bedürfnisse ausgerichtet ist.

Die Partei Democratic Socialists of America (Demokratische
Sozialist_Innen Amerikas; DSA) führt seit 2016 eine Kampagne namens
„Medicare for All“, ein Vorschlag, der von den Gewerkschaften
nicht aufgegriffen wurde. Dies liegt zum einen daran, dass ihre
bürokratischen Führungen kein Interesse an einer solchen Kampagne
haben. Zum anderen bietet Medicare vielen Arbeiter_Innen weniger
Gesundheitsschutz als ihre bestehende Versicherung. Als
Revolutionär_Innen in der DSA glauben wir, dass die DSA stattdessen
die Forderung nach einer universellen Gesundheitsversorgung für alle
aufstellen und die Gewerkschaftsbasis mobilisieren sollte, um
innerhalb der Gewerkschaften für diese Politik zu kämpfen.

Das Gesundheitssystem im reichsten Land der Welt

Das US-Gesundheitssystem ist versicherungsbasiert und selbst dort,
wo der Staat über Programme wie Medicare oder Medicaid die
Gesundheitsversorgung finanziert, wird der eigentliche Anbieter
(z. B. ein Krankenhaus) in der Regel von einem privaten
Unternehmen betrieben. Die Kosten für den Verzicht auf ein
geplantes, flächendeckendes System von Krankenhäusern und
Arztpraxen zugunsten der Finanzierung der Gewinne privater Anbieter
lassen sich beziffern: Pro Person kostet die medizinische Versorgung
in den USA 11.000 US-Dollar, mehr als doppelt so viel wie in anderen
Industrieländern.

Von diesen durchschnittlichen Ausgaben sind 4.993 US-Dollar
öffentliche Gelder. Das ist höher als in Frankreich (4.111
US-Dollar), aber niedriger als in Deutschland (5.056 US-Dollar). Das
Vereinigte Königreich, wo die Gesundheitsversorgung im
Behandlungsfall kostenlos ist, gibt pro Kopf 3.107 US-Dollar aus. In
den USA bedeuten die überdurchschnittlich hohen Ausgaben für die
Gesundheitsversorgung jedoch nicht eine bessere, sondern lediglich
eine teurere Versorgung. Einige Krankenhäuser und Kliniken sind
staatlich, aber die meisten befinden sich in privater Hand. Die
meiste Zeit werden die Ausgaben für die Gesundheit der Bürger_Innen
an private Unternehmen gezahlt.

Die staatlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen in den USA
decken den medizinischen Bedarf der meisten Menschen nicht ab,
weshalb private Krankenversicherungen einen riesigen Wirtschaftszweig
ausmachen. Eine solche private Krankenversicherung kostet
durchschnittlich 4.092 US-Dollar pro Person und Jahr. Für einige
Arbeit„nehmer“_Innen wird diese von den Arbeit„geber“_Innen
bezahlt – im Wesentlichen ein Abzug vom Lohn –, andere müssen
sie entweder selbst bezahlen oder darauf verzichten.

Selbst mit einer Krankenversicherung ist die Gesundheitsversorgung
bei weitem nicht kostenlos. Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen
bedeuten, dass diejenigen mit einer Versicherung es sich immer noch
zweimal überlegen müssen, ob sie eine/n Ärztin/Arzt aufsuchen.
Viele Menschen mit geringem Einkommen sind unterversichert, was
bedeutet, dass ihre Versicherung keine angemessene
Gesundheitsversorgung abdeckt.

Versicherungen schützen außerdem nicht vor den Kosten von
chronischen Langzeiterkrankungen. Die Prämien steigen oder
Versicherungen lassen teure, also kranke, Versicherungsnehmer_Innen
fallen. Eine Studie aus dem Jahr 2009 ergab, dass Schulden für
medizinische Kosten zu 46 Prozent aller Privatinsolvenzen beitragen.

Das U.S. Census Bureau (Volkszählungsbehörde) berichtete 2017,
dass fast neun Prozent der Amerikaner_Innen keine Versicherung haben.
Diese Zahl war in den Vorjahren höher, aber mit der Einführung des
„Affordable Care Act“ (ACA) 2010 begann die Zahl der
Unversicherten ab 2014 zu sinken. Diese 28 Millionen Menschen ohne
Krankenversicherung zahlen entweder aus eigener Tasche für die
Behandlung (die durchschnittlichen jährlichen Kosten pro Person
liegen bei 1.122 US-Dollar) oder müssen warten, bis ihre Notlage so
dramatisch ist, damit sie Zugang zu kostenloser Gesundheitsversorgung
von geringer Qualität erhalten. Das Fehlen einer Krankenversicherung
verursacht etwa 60.000 vermeidbare Todesfälle pro Jahr.

ACA, allgemein bekannt als „Obamacare“, sorgte im Wesentlichen
für eine gewisse Regulierung des Krankenversicherungsmarktes, indem
es Versicherungsgesellschaften zwang, Menschen mit Vorerkrankungen
aufzunehmen und grundlegende medizinische Bedürfnisse abzudecken. Es
halbierte die Zahl der nicht versicherten Menschen und verlangsamte
die steigenden Kosten der Gesundheitsversorgung. Trotz des enormen
politischen Widerstands gegen den ACA wurde jedoch nur an den Rändern
eines kaputten Systems herumgebastelt und viele Amerikaner_Innen sind
immer noch unterversichert, gar nicht versichert oder haben Schulden
wegen medizinischer Behandlungen.

Joe Biden plant, weiter zu basteln und 25 Millionen unversicherte
Amerikaner_Innen zu versichern, allerdings nicht die 6,5 Millionen
undokumentierten Migrant_Innen, die sich im Land aufhalten. Er würde
4 Millionen in Armut lebende Menschen, deren Bundesstaaten sich
geweigert haben, ihnen Medicaid anzubieten, automatisch anmelden. Für
andere würden mehr Versicherungsoptionen zur Verfügung gestellt
werden über das marktwirtschaftlich ausgerichtete Obamacare. Bidens
Pläne greifen jedoch nicht in die von den Unternehmer_Innen
gestellte Versicherung ein, so dass die 150 Millionen Menschen, die
ihre Versicherung darüber erhalten, nicht von der neuen Regelung
profitieren würden.

In Amerika sind die Preise für Arzneimittel eine weitere große
Belastung, da sie weit höher sind als in anderen Industrieländern.
Ein 10-ml-Fläschchen Insulin kostet in den USA 450 US-Dollar im
Vergleich zu nur 21 US-Dollar jenseits der Grenze in Kanada. Im Jahr
2015 riskierten fast 5 Millionen Amerikaner_Innen eine Strafanzeige,
um verschreibungspflichtige Medikamente aus anderen Ländern zu
kaufen.

Die Corona-Krise

Das Corona-Virus hat die US-Regierung gezwungen, direkt mit den
großen Pharmakonzernen zu verhandeln, um genügend Impfstoffe zu
einem ausreichend niedrigen Preis zu erhalten und damit ein
landesweites Impfprogramm zu starten. Der Impfstoff selbst ist
kostenlos, allerdings dürfen die Anbieter_Innen weiterhin Gebühren
für die Verabreichung erheben.

Bei dem Impfprogramm geht es um Prävention, um die
Wiedereröffnung von Schulen und die Rettung der Wirtschaft. Die
Regierung hat ein offensichtliches Interesse daran, die Impfung von
über 300 Millionen Menschen zu zentralisieren und sozialisieren.

In ähnlicher Weise hat das Corona-Virus die Regierung gezwungen,
einzugreifen und die Schulden der Krankenhauspatient_Innen zu
begrenzen und die Infizierten zu ermutigen, sich behandeln zu lassen,
anstatt das Risiko der Verbreitung des Virus einzugehen, indem sie
sich selbst zu Hause behandeln. Ende Januar befanden sich über
120.000 Corona-Virus-Patient_Innen in US-Krankenhäusern und die
durchschnittlichen Kosten für ihre Behandlung betrugen 30.000
US-Dollar bzw. 62.000 US-Dollar für Personen über sechzig Jahre.
Als das Ausmaß der Pandemie deutlich wurde, wurde eine Reihe von
Hilfspaketen auf Bundesebene verabschiedet, die die Kosten für die
Behandlung weitgehend abdeckten. Das Gesundheitssystem ist jedoch
immer noch ein Marktplatz und einige Krankenhäuser und andere
Gesundheitsdienstleister haben sich entschieden, nicht an den
Hilfsprogrammen teilzunehmen. Einige Patient_Innen fanden sich immer
noch mit hohen Rechnungen konfrontiert.

Mehr als 25 Millionen Fälle wurden registriert und die Zahl der
Todesfälle hat die 400.000-Marke überschritten, wobei kaum Zweifel
daran bestehen, dass mindestens eine halbe Million Amerikaner_Innen
an dieser Pandemie sterben werden. Es wird auch geschätzt, dass eine
von fünf Personen, die sich mit dem Virus infizieren, später an
„Long Covid“ leiden wird, einer chronischen Krankheit mit
unterschiedlichen Symptomen und Schweregraden. Viele, die an dieser
Krankheit leiden, können auf Grund der ständigen Müdigkeit nicht
mehr arbeiten. Einige haben bleibende Schäden an Herz, Lunge oder
Gehirn davongetragen. Die Frage, wer die Kosten für die fortlaufende
Behandlung von Patient_Innen mit „Long Covid“ übernimmt, ist
besorgniserregend für die Millionen von Amerikaner_Innen, die durch
die Krankheit ihren Arbeitsplatz und damit jede Versicherung
verlieren könnten.

Das Corona-Virus hat das Versagen des US-Gesundheitssystems
entlarvt. Die Anarchie des Marktes war nicht in der Lage, mit den
Herausforderungen der Pandemie fertigzuwerden, so dass sogar die
marktwirtschaftliche, für einen schlanken Staat stehende
republikanische Partei gezwungen war, einzugreifen und die
Verantwortung für das Impfprogramm zu übernehmen sowie Bundeshilfe
für die Krankenhauspatient_Innen bereitzustellen.

Die von Biden vorgeschlagene Erweiterung des ACA oder auch
Sanders‘ „Medicare for all“ gehen nicht weit genug. Das Geld,
das in den USA bereits für die Gesundheitsversorgung ausgegeben
wird, würde ausreichen, um einen nationalen Gesundheitsdienst zu
schaffen, der für alle, auch für Migrant_Innen ohne Papiere,
kostenlos ist. Im Gegensatz zum bestehenden Versicherungssystem
könnte die universelle Gesundheitsversorgung durch die Besteuerung
der Milliardär_Innen und Multimillionär_Innen finanziert werden,
die von der Pandemie profitiert haben.

Doch zwischen den Amerikaner_Innen und einer kostenlosen,
qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung stehen mächtige
Gesundheitsanbieter_Innen, die den Markt unter sich aufgeteilt haben
und sowohl bei den staatlichen als auch bei den privaten
Gesundheitsprogrammen einen massiven Gewinn abschöpfen. Auch die
Pharmaindustrie hat sich daran gewöhnt, den Gesundheitsmarkt in den
USA auszunutzen und weitaus mehr für ihre Produkte zu verlangen.

Der Kampf um kostenlose Gesundheitsversorgung

Die DSA setzt sich seit 2016 für „Medicare for All“ ein,
d. h. für ein Gesundheitssystem mit einer einzigen Kasse, in
das alle US-Bürger_Innen automatisch aufgenommen würden. Dies wäre
zwar ein großer Fortschritt für den Zugang zur
Gesundheitsversorgung und deren Kosten in den USA, würde aber die
Gesundheitsversorgung und das Eigentum an Arzneimitteln immer noch in
privaten Händen belassen. Es fehlt auch die Unterstützung durch die
Gewerkschaften, da viele von den Gewerkschaften ausgehandelte
unternehmensfinanzierte Versicherungen besser als „Medicare“
sind, wenn auch natürlich teurer. Die DSA muss über „Medicare for
All“ hinausgehen und ein System der universellen
Gesundheitsversorgung vorschlagen. Die Unterstützung der
Gewerkschaften kann gewonnen werden, indem zunächst die einfachen
Gewerkschaftsmitglieder davon überzeugt werden, die diese Argumente
in die Gewerkschaftsbewegung tragen können.

Während die Demokrat_Innen unter dem Druck ihrer Basis begrenzte
Reformen wie das ACA verabschiedet haben, haben sie bewiesen, dass
sie nicht gewillt sind, die Gesundheitsversorgung den privaten Händen
zu entreißen. Die Republikaner_Innen haben sich vehement gegen eine
Regulierung und Einmischung in den Gesundheitsmarkt gewehrt und
wettern trotz des Corona-Virus, das sie im Extremfall zum Eingreifen
zwingt, weiterhin ideologisch gegen eine sozialisierte
Gesundheitsversorgung. Auf keine der beiden Parteien kann man sich
verlassen, wenn es darum geht, ein Gesundheitssystem im Interesse der
Arbeiter_Innenklasse zu schaffen oder zu verwalten.

Bidens Vorschläge zur Ausweitung der Versicherung auf weitere 25
Millionen Amerikaner_Innen sind zwar eine sehr begrenzte Reform,
werden aber auf den Widerstand der Republikaner_Innen, der
Versicherungslobbys und großer Teile der Medien stoßen. Die
Horrorgeschichten, die in der Opposition zu „Obamacare“
kursierten, werden wieder auftauchen. Es wird enormen Druck auf die
Regierung geben, die Gesundheitsreform zu verwässern oder zu
verzögern. Daher müssen die Sozialist_Innen auch von links Druck
aufbauen, um sicherzustellen, dass die neuen Gesetze verabschiedet
werden, während sie gleichzeitig darauf hinweisen, dass sie nicht
weit genug gehen und weiter reichende Änderungen vorschlagen.

Jeder ernsthafte Plan zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens
würde die Enteignung der privaten medizinischen und pharmazeutischen
Unternehmen erfordern. Die Krankenhäuser wurden mit den hart
verdienten Dollars der amerikanischen Arbeiter_Innenklasse gebaut und
zwangen diejenigen, die nicht zahlen konnten, in den Bankrott. Die
Forschungs- und Entwicklungskosten von Medikamenten wurden durch die
erpresserischen Gebühren der großen Pharmakonzerne um ein
Vielfaches bezahlt. Dennoch sind sie bereit, Menschen an Diabetes und
HIV/AIDS sterben zu lassen, anstatt ihre Gewinne sinken zu sehen. Den
Unternehmen, die von Krankheit profitieren, steht keine Entschädigung
zu. Ihre Patente sollten widerrufen und Sachwerte wie Labore und
Krankenhäuser in einem öffentlichen Gesundheitsdienst verstaatlicht
werden.

Wenn ein solcher Dienst durch Kampf errungen würde, wäre er bei
den Demokrat_Innen und Republikaner_Innen nicht sicher, aber die
Ärzt_Innen, Pfleger_Innen und anderen Mitarbeiter_Innen des
Gesundheitswesens, die während der gesamten Pandemie ihr Leben
riskiert haben, um ihre Patient_Innen zu versorgen, wissen, was es
bedeutet, für menschliche Bedürfnisse und nicht für private
Eigeninteressen zu sorgen. Ein verstaatlichter Gesundheitsdienst,
kostenlos für alle, finanziert durch die Besteuerung der Reichen und
betrieben von den Patient_Innen und dem Gesundheitspersonal, lautet
die Antwort auf Amerikas Gesundheitskrise.




Krise des deutschen Krankenhaussektors

Katharina Wagner, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung, März
2021

Man hatte es kommen sehen! Nicht erst seit dem Beginn der
weltweiten Corona-Pandemie war es um das deutsche Gesundheitssystem
nicht gut bestellt. Seit vielen Jahren existiert ein Fachkräftemangel
im Gesundheits- und vor allem im Altenpflegebereich. Die
herrschenden, schlechten Arbeitsbedingungen tun ihr Übriges dazu,
potenzielle Berufsanfänger_Innen abzuschrecken bzw. Fachkräfte aus
dem Arbeitsumfeld zu vertreiben. Dabei war und ist der Bereich
Kranken- und Altenpflege, sowohl der bezahlten als auch in viel
größerem Maße der unbezahlten, weiterhin eine Domäne der Frauen.
Der
Anteil weiblicher Beschäftigter
liegt bei über 80 %. Nun,
inmitten  der Pandemie, mehren sich die Stimmen, die vor einem
Kollaps des deutschen Gesundheitssystems warnen, vor allem auf den
Intensivstationen.

Gleichzeitig spielten die Beschäftigten in den Krankenhäusern
eine zunehmend bedeutendere Rolle in den Klassenkämpfen der 
letzten Jahre, sei es um mehr Personal an diversen Unikliniken oder
als Vorkämpfer_Innen in der Lohntarifrunde des öffentlichen
Dienstes von Bund und Kommunen im letzten Herbst.

Aktuelle Situation

Seit Anfang Februar gehen zwar die Zahlen von Covid-Neuinfizierten
zurück. Noch immer sterben aber hunderte Menschen täglich und Grund
zu Entwarnung gebt es aufgrund des Zick-Zack-Kurse von Bund und
Ländern bei der Pandemie-Bekämpfung und aufgrund neuer Mutationen
erste recht nicht. Laut DIVI-Intensivregister (DIVI: Deutsche
Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin)
sind in den erfassten 1.200 Akut-Krankenhäusern derzeit 22.433
Intensivbetten belegt, lediglich 17 % der Gesamtbetten stehen
bundesweit für weitere Patient_Innen zur Verfügung. Von den derzeit
intensivmedizinisch
behandelten COVID-19-Patient_Innen
(über 5000 Anfang Januar
2021) müssen rund 57 % beatmet werden, mit einer
durchschnittlichen Beatmungsdauer von rund zweieinhalb Wochen
(Quelle: Neues Deutschland, 12.11.2020). Mit rund 64 % sind die
Betten allerdings mit anderen als an COVID-19 Erkrankten belegt,
bspw. nach Notfällen oder planbaren Operationen.

Denn anders als im Frühjahr haben viele Kliniken aufgrund
finanzieller Gründe den Regelbetrieb noch immer nicht eingeschränkt.
Allerdings muss hier berücksichtigt werden, dass diese Zahlen
teilweise nicht der Realität entsprechen. So meldete das ARD-Magazin
„plusminus“ am 02. Dezember 2020 aufgrund interner Recherchen,
dass etliche Krankenhäuser mehr verfügbare Betten gemeldet hatten,
als tatsächlich zur Verfügung stehen, um den versprochenen Bonus
von bis zu 50.000 Euro pro neu aufgestelltem Intensivbett vom Bund zu
bekommen. Allerdings kann ein nicht unerheblicher Teil dieser Betten
aufgrund fehlender Fachkräfte nicht eingesetzt werden. Dieser
Fehlanreiz seitens des Bundesgesundheitsministers kostete den/die
Steuerzahler_In bisher rund 626 Millionen Euro (Quelle:
www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/videos/sendung-vom-02-12-2020-video-102.html).

Zusätzlich erhielten die Kliniken sogenannte Freihaltepauschalen
im Zuge von zwei Rettungsschirmen, um finanzielle Anreize für das
Freihalten von Intensivbetten durch Verschiebung planbarer und nicht
dringend notwendiger Operationen zu setzen. Während die Pauschalen
beim ersten Rettungsschirm im Frühjahr 2020 an alle Krankenhäuser
ausgezahlt wurden, sollen innerhalb des zweiten nur Kliniken Geld
bekommen, die in Gebieten mit hohem Infektionsgeschehen liegen und
weitere Bedingungen erfüllen. Die Entscheidung über die Auszahlung
liegt bei den jeweiligen Bundesländern. Trotz der beiden
Rettungsschirme fordern bereits verschiedene Organisationen, darunter
die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) weitere Liquiditätshilfen
für das gesamte Jahr 2021 inklusive Streichung der Einhaltung und
Dokumentation von Personaluntergrenzen. Auch die Prüfquote
des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen
soll auf max. 5 %
reduziert werden. All dies geht natürlich zu Lasten der
Beschäftigten und Patient_Innen.

Unterm Strich können diese Ausgleichszahlungen allerdings die
Defizite im Krankenhaus nicht wettmachen, die ein auf
gewinnträchtigen Behandlungen fußendes System mit sich bringt und
besonders durch die Pandemie schonungslos aufgedeckt wurden. Wir
kritisieren also nicht die Ausgleichszahlungen als solche, sondern
ihre Planlosigkeit und ihren zu geringen Umfang. So wurden sie teils
nicht an die Behandlung von Coronapatient_Innen geknüpft, teils
wurden Einrichtungen geschlossen (Rehakliniken) und ihr Personal in
Kurzarbeit geschickt, während die Hotspots mit Überlastung und
Einnahmeverlusten zu kämpfen hatten.

Für das Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen gab
es außer Beifall und warmen Worten wenig für seine
aufopferungsvolle Tätigkeit während der Pandemie. Zwar wurde eine
Corona-Prämie seitens des Bundes zugesagt, diese aber an sehr viele
Bedingungen geknüpft und von vornherein nur für ca. 100.000 der
über 440.000 Angestellten in Krankenhäusern vorgesehen. Die
Entscheidung, wer nun den Bonus bekommen solle, wurde dabei den
Betriebs- und Personalräten sowie Mitarbeiter_Innenvertretungen (in
kirchlichen Einrichtungen, wo Betriebsverfassungs- und
Personalvertretungsgesetz nicht gelten) zugeschoben. Dagegen gab es
allerdings teilweise heftigen
Widerstand
. Für die stationäre und ambulante Pflege wurde
bereits im Frühjahr 2020 eine Bonuszahlung beschlossen, diese aber
in sehr vielen Fällen nicht an die Beschäftigten weitergegeben.

Ökonomische Entwicklung

Während die Krankenhäuser in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg
bis in die Anfänge der 1970er Jahre komplett durch den Staat
finanziert wurden (Kameralistik), fand 1972 ein Wechsel zu einer
dualen Finanzierung statt. Dabei wurden die Kosten zwischen den
Bundesländern und den Krankenkassen aufgeteilt. Während letztere
für die laufenden, also Betriebs- und Behandlungskosten, aufkamen,
übernahm der Staat die sogenannten Investitionskosten. Allerdings
gingen diese Aufwendungen seit Einführung dieses Systems 
drastisch zurück, während es gleichzeitig zu einem
Personalkostenanstieg für die Krankenkassen, genauer gesagt für die
Versicherten, kam. Dies alles bereitete den Boden für die Einführung
der sogenannten diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRGs: diagnosis
related groups) 2004, nachdem bereits 2002 eine gesetzlich verordnete
Öffnung des Krankenhausbereichs für private Konzerne eingeführt
wurde. Dies erlaubte nur noch eine Abrechnung von gleichen
Behandlungskosten pro Fall, wohingegen anfallende Kosten für z. B.
für Rettungswesen, Verwaltung, Materialbesorgung etc. nicht
berechnet werden können. Daraus resultiert eine Auslagerung von
Tätigkeiten außerhalb der Pflege mit gleichzeitigem Personalabbau
im Bereich der Pflegearbeit. So ermittelte beispielsweise eine Studie
der Hans-Böckler-Stiftung
aus dem Jahre 2018 einen Mangel von
100.000 Vollzeitstellen allein in der Krankenhauspflege. Durch
mögliche Verluste der Kliniken bei überdurchschnittlich hohem
Fallaufwand sieht man sich gezwungen, Patient_Innen entweder
frühzeitig zu entlassen oder profitorientierte Eingriffe wie das
Einsetzen künstlicher Gelenke stark gegenüber konventionellen und
langwierigen Therapien zu favorisieren. Auch zahlreiche Schließungen
von kommunalen Krankenhäusern sowie eine starke Privatisierungswelle
waren direkte Folgen des Wechsels hin zu einem profitorientierten
Abrechnungssystem.

Darunter haben nicht nur die Beschäftigten im Gesundheits- und
Pflegebereich stark zu leiden. Auch für Patient_Innen,
Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bedeutet dies eine
schlechtere Gesundheitsversorgung. Mittlerweile formiert sich schon
seit einigen Jahren Widerstand gegen ungenügende
Personalbemessungsgrenzen, Fachkräftemangel und schlechte
Arbeitsbedingungen. Im Zuge der Corona-Pandemie kamen weitere
Probleme wie die nicht ausreichende Versorgung mit Test- und
Schutzausrüstung sowie die Aushebelung von erkämpften
Arbeitsschutzrechten, als Beispiel sei an dieser Stelle die Erhöhung
der maximalen Arbeitszeit angeführt, hinzu. So hat Niedersachsen
eine Vorreiterrolle eingenommen und als erstes Bundesland die
maximale tägliche Arbeitszeit für Beschäftigte in Krankenhäusern,
Pflegeeinrichtungen sowie im Rettungsdienst von 10 auf 12 Stunden
täglich über den 1.1.2021 hinaus angehoben. Ausgleichsstunden oder
besondere Entschädigungszahlungen sind in dieser Allgemeinverfügung
zum Arbeitszeitgesetz nicht vorgesehen (Quelle: Neues Deutschland,
12.11.2020).

Die Antwort auf diesen besonders dreisten Vorstoß kann nur in
einer Verstärkung des Kampfes für die Abschaffung der
Fallpauschalen, eine gesetzlich geregelte Personalbemessung („Der
Druck muss raus!“) und die Verstaatlichung der privatisierten
Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und Patient_Innenverbände
bestehen. Dieser muss aktuell ergänzt werden durch einen
Pandemienotplan unter Arbeiter_Innen- und Nutzer_Innenkontrolle für
flächendeckende Impfungen, Tests, Infektionskettenrückverfolgungen
und Bereitstellung aller Krankenhäuser und Kliniken für die
Coronatherapie.

Reaktion der Gewerkschaften und anderer
Organisationen

Die Gewerkschaften, allen voran ver.di, haben sich in dieser
Situation des Pflegenotstandes meist auf Lobbyismus, wie etwa das
Sammeln von Unterschriften oder Starten diverser Petitionen,
konzentriert. Kam es tatsächlich mal zu Streikaktionen, blieben
diese meist auf einzelne Krankenhäuser wie etwa die Charité in
Berlin oder andere Unikliniken beschränkt. Bei der letzten
Tarifrunde im öffentlichen Dienst im Herbst 2020 wurde in erster
Linie von der Tarifkommission eine Verbesserung der Entlohnung
gefordert. Forderungen nach Einhaltung der beschlossenen
Personaluntergrenzen wurden dagegen nicht aufgenommen, obwohl vielen
Beschäftigten bessere Arbeitsbedingungen wichtiger gewesen wären
als eine Anhebung ihrer Löhne. Denn selbst in Krankenhäusern, wo in
der Vergangenheit Personaluntergrenzen vereinbart wurden, als
Beispiel sei hier wieder die Charité in Berlin genannt, haben die
Beschäftigten keinerlei Möglichkeiten, die Einhaltung
durchzusetzen. Denn eigentlich müssten bei Unterschreitung der
Personaluntergrenzen Betten gesperrt und planbare Operationen
verschoben werden. Dies verringert allerdings den Gewinn der
profitorientierten Krankenhäuser und wird demzufolge nicht
durchgeführt.

Perspektiven für den Kampf

Um dies zu verhindern und die Einhaltung der
Personalbemessungsgrenzen durchzusetzen, sind daher dringend
Kontrollorgane der Beschäftigten sowie der 
Patient_Innenorganisationen notwendig. Und statt eines „Häuserkampfs“
in einzelnen Kliniken sollte seitens der Gewerkschaften ein
bundesweiter Tarifvertrag mit gesetzlich geregelten
Personaluntergrenzen und einer damit einhergehenden Mindestbesetzung
gefordert werden. Um dies zu erreichen, müssen innerhalb der
Gewerkschaften Streikaktionen bis hin zum politischen Streik als
einem wichtigen Kampfmittel der Beschäftigten sowie der gesamten
Arbeiter_Innenklasse organisiert werden. Dafür sollten zunächst
Aktions- und Kontrollkomitees in Krankenhäusern und
Pflegeeinrichtungen aufgebaut werden und die Beschäftigten sowie die
Gewerkschaftsaktivist_Innen gemeinsam mit Patient_Innenorganisationen
über notwendige Maßnahmen entscheiden. Ein weiterer notwendiger
Schritt wäre die Durchführung einer bundesweiten Aktionskonferenz
zur Vernetzung für einen gemeinsamen Kampf und die Unterstützung
der #ZeroCovid-Kampagne als ersten Schritt in Richtung eines
Pandemiebekämpfungsnotplans.

Allerdings dürfen wir keine Illusionen in die bürgerliche
Gewerkschaftsbürokratie hegen, sondern müssen für einen internen
Wandel hin zu kämpferischen Gewerkschaften eintreten. Die Vernetzung
für kritische Gewerkschaften (VKG) bildet einen ersten Sammelpunkt
für die Möglichkeit der Bildung einer klassenkämpferischen,
antibürokratischen Basisbewegung in den Gewerkschaften, die diese
wieder auf den Pfad des Klassenkampfs statt der Sozialpartnerschaft
mit dem Kapital führen und die Bürokratie durch jederzeit
abwählbare, der Mitgliedschaft verantwortliche, zum
Durchschnittsverdienst ihrer Branche entlohnte Funktionär_Innen aus
den Reihen der besten Aktivist_Innen ersetzen kann!

Als Ausgangspunkte für Diskussionen im Zuge einer solchen
bundesweiten Aktionskonferenz im Gesundheitsbereich halten wir
folgende Forderungen für sinnvoll:

  • Staat und Unternehmen raus aus den Sozialversicherungen!
    Abschaffung der konkurrierenden Kassen zugunsten einer
    Einheitsversicherung mit Versicherungspflicht für alle, Abschaffung
    der Beitragsbemessungsgrenzen!
  • Allerdings sollen die Unternehmen ihren Beitrag
    („Unternehmeranteil“) proportional zu ihren Gewinnen zahlen
    statt zu ihren Personalkosten!
  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – von Tests bis
    zur Unterbringung in Krankenhäusern!
  • Stopp aller Privatisierungen im Gesundheitsbereich!
    Entschädigungslose Enteignung der Gesundheitskonzerne und
    Verstaatlichung aller Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime unter
    Kontrolle der dort Beschäftigten und der Organisationen der
    Patient_Innen, alten Menschen und Behinderten sowie ihrer
    Angehörigen!
  • Abschaffung der DRGs (Fallpauschalen) – stattdessen:
    Refinanzierung der realen Kosten für medizinisch sinnvolle
    Maßnahmen!
  • Breite Kampagne aller DGB-Gewerkschaften – unter Einbezug
    von Streikmaßnahmen – für Milliardeninvestitionen ins
    Gesundheitssystem, finanziert durch die Besteuerung der großen
    Vermögen und Erhöhung der Kapitalsteuern!
  • Sofortige Umsetzung aller bereits durchgesetzten Regelungen
    zur Personalaufstockung (PPR 2), kontrolliert durch Ausschüsse von
    Beschäftigten, ihrer Gewerkschaften und
    Patient_Innenorganisationen!
  • Einstellung von gut bezahltem Personal entsprechend dem
    tatsächlichen Bedarf, ermittelt durch die Beschäftigten selbst!
    Sofortige Umsetzung der von ver.di, der Deutschen
    Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat eingeforderten
    neuen Personalbemessung PPR 2 und nötigenfalls ein politischer
    Streik zur Durchsetzung!
  • Kampf für bessere Bezahlung aller Pflegekräfte in
    Krankenhäusern und (Alten-)Pflegeeinrichtungen: mind. 4.000 Euro
    brutto für ausgebildete Pflegekräfte!
  • Einstellung von ausreichend gut bezahlten und geschulten
    Reinigungskräften! Entsprechende Qualifizierung von vorhandenem
    Reinigungspersonal, das mit tariflicher Bezahlung bei den
    medizinischen Einrichtungen eingestellt wird! Sofortige Rücknahme
    der Auslagerung von Betriebsteilen in Fremdfirmen bzw.
    Tochtergesellschaften mit tariflichen Substandards!
  • Radikale Arbeitszeitverkürzung für alle bei vollem Lohn-
    und Personalausgleich – vor allem in den Intensivbereichen:
    Reduzierung der Arbeitszeit auf 6-Stunden-Schichten – bei vollem
    Lohn- und Personalausgleich und Einhaltung der Ruhezeit von
    mindestens 10 Stunden! Gegen die Verschlechterung des
    Arbeitszeitgesetzes, nötigenfalls mittels eines politischen
    Massenstreiks!
  • Für einen internationalen Notplan gegen die Coronapandemie
    unter Arbeiter_Innenkontrolle, beginnend mit einer Ausweitung der
    #ZeroCovid-Kampagne und der Einberufung einer internationalen
    Aktionskonferenz!



Notstand im Krankenhaus: Was hat sich im Verlauf der Pandemie geändert?

Interview mit Anne Moll, Krankenschwester in Bremen, Fight!
Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

Fight Wie stellt sich im Moment bei Euch die
Situation im Krankenhaus ganz konkret dar?

Ich arbeite im Klinikverbund Gesundheit Nord gGmbH in Bremen,
einem kommunalen Krankenhausverbund der Maximalversorgung. Es gehören
vier Häuser, über die Stadt verteilt, dazu, die über 3.000 Betten
verfügen. Dort arbeiten 8.000 Menschen zur Versorgung der Bremer
Bevölkerung und der aus dem niedersächsischen Umland.

Arbeitsüberlastungen und Personalmangel gehören seit Jahren zum
Alltag.

Mit Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 wurde deutlich, dass
das Krankenhaus nicht über genügend Intensivplätze für
beatmungspflichtige Patient_Innen verfügte . Außerdem stand der
Mangel an Schutzausrüstung für die Beschäftigten  ganz oben
auf der Liste der Probleme neben dem an gut ausgebildeten
Fachkräften, um die intensivpflichtigen Patient_Innen zu versorgen.

Seit November, mit der sogenannten 2. Welle, war es eine
Erleichterung, dass neue Intensiveinheiten aufgebaut worden waren.
Auch an Schutzkleidung gibt es quantitativ keinen Mangel mehr. Die
Qualität ist aber oft ungenügend, weil Schutzmasken teilweise nicht
auf Virenschutz getestet wurden oder Schutzkleidung schon beim
Anziehen reißt.

Das Hauptproblem bildet jetzt noch mehr der Notstand an
Fachkräften zur Versorgung. Das betrifft vor allem das ärztliche,
die Pflege und das Reinigungspersonal. Es wurde über die
Sommermonate so gut wie nichts zum Aufbau von mehr gut ausgebildetem
Personal unternommen. Außerdem sind in diesem Bereich nicht wenige
Fachkräfte abgewandert, weil sie den Arbeitsdruck nicht aushielten.
Und natürlich erkranken auch weiter Beschäftigte an Covid-19.

Fight: Wie kam es zu der Entwicklung? Worauf ist
zurückzuführen, dass das Gesundheitswesen sich in den Sommermonaten
nicht besser vorbereitet hat auf eine mögliche 2. Welle ?

Hier in Bremen wie in allen Krankenhäusern ging es darum, die
Kosten des Lockdowns wieder einzufahren. Zudem wurden auch in den
Sommermonaten starke Einschränkungen aufrechterhalten. Nur sehr
begrenzt wurden wichtigste Fortbildungen angeboten, oft dann doch
kurzfristig wieder abgesagt. Das Klinikum Bremen Nord hat bis heute
keine Alternativen zu Präsenzfortbildungen entwickelt.

Fight: Was hat sich bei den
Beschäftigtenvertretungen seit dem Sommer verändert?

Der Betriebsrat wirkt wie abgetaucht. Es gab im Sommer eine
Einladung zu einer Betriebsversammlung, die dann wieder abgesagt
wurde, weil der Versammlungsraum doch nicht den Hygienevorschriften
entsprach. Auch hier werden keine Alternativen entwickelt.

Die Gewerkschaft ver.di fordert ja schon seit Jahren bessere
Arbeitsbedingungen mit der Kampagne „Der Druck muss raus“, tut
aber wenig dafür. So hat sie die Tarifverhandlungen im Herbst 
nicht mit Arbeitszeitverkürzung oder der Kampagne „Mehr Personal
im Krankenhaus“ verbunden. Auch hat sie nicht flächendeckend
bundesweit zu Warnstreiks mobilisiert.

Die Beschäftigten selbst schaffen es in Bremen bis heute nicht,
sich selbst zu organisieren. Dabei gibt es bundesweit einige gute
Ansätze, darunter zwei bundesweite Vernetzungen. Einmal die zur
Forderung einer Aktivenkonferenz, die sich im Sommer formiert hat.
Daneben die für mehr Personal im Krankenhaus, die es jetzt schon 4–5
Jahre gibt.

Die Beschäftigten gehen aber überall vor allem einen
individuellen „Lösungs“weg:

Sie arbeiten Teilzeit, wenn das möglich ist, wechseln die
Abteilungen, zu möglichst weniger belastender Arbeit und gehen vor
allem ganz aus den Krankenhäusern und oft auch aus den Berufen raus.

Fight: Welche sofortigen Maßnahmen wären aus
Deiner Sicht nötig, um mit der zusätzlichen Belastung klarzukommen?

Die Sofortmaßnahme heißt gestern wie heute : MEHR PERSONAL,
bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen wie z. B.
Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, sichere Dienstpläne,
sichere Pausen.

In Bremen gibt es eine Studie der Arbeitnehmerkammer
(„Pflegepersonal entlasten, halten und gewinnen“ von Dr. Jennie
Auffenberg), die besagt, dass eine geschätzte Anzahl von zwischen
120.000 und 200.000 Pflegekräften, die den Beruf verlassen haben,
wiederkommen könnten, wenn sich die Bedingungen ändern.

Als erste Schritte wären sofort umzusetzen :

  • Lohnsteigerung von 500 Euro
    monatlich für die unteren Gehaltsstufen
  • Arbeitszeitverkürzung, den 3-Schicht- auf einen
    4-Schichtbetrieb umstellen, bei vollem Lohnausgleich

Zur Zeit passiert gerade das Gegenteil. Die Beschäftigten in den
Krankenhäusern  und Pflegeeinrichtungen sollen trotz ihrer
schon chronischen Überlastung auch noch die Covid-19-Schnellteste
durchführen und wurden für Impfungen angefragt.

Frage: Welche lang-/mittelfristigen Maßnahmen
sind deiner Meinung nach nötig, um den Pflegenotstand insgesamt zu
beseitigen?

Die Krankenhäuser, aber auch die Pflegedienste, Altenheime,
Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sowie der Jugendhilfe
müssen in öffentlicher Verantwortung geführt werden. Nur so kann
die Voraussetzung geschaffen werden, dass das Personal nach
Tarifvertrag bezahlt wird und Arbeitsschutzmaßnahmen umgesetzt
werden. Es braucht einen Flächentarifvertrag für alle, die im
Gesundheitssystem arbeiten, auch für die sogenannten patientenfernen
Berufe wie Reinigung und Logistik. Es ist dringend notwendig, dass
die Beschäftigten mit entscheiden über die Gestaltung ihrer
Arbeitsbedingungen, d. h. die Gesundheitsversorgung gehört
unter Kontrolle der Beschäftigten und Patient_Innen.

Dafür brauchen wir eine Basisopposition, die Aktionen
organisieren kann und für eine antibürokratische,
klassenkämpferische Neuausrichtung der Gewerkschaften kämpft.

Dafür trete ich in bestehenden Bündnissen und Vernetzungen aktiv
ein. Vielleicht bist Du demnächst dabei?

Fight: Vielen Dank für das Interview und viel
Erfolg.

Das Interview wurde im Januar 2021 geführt.




Identität als politisches Programm? Marxismus und Identitätspolitik

Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9,
März 2021

„Wir glauben, dass die tiefgreifendste und potentiell radikalste
Politik direkt aus unserer eigenen Identität kommt.“ (Combahee
River Collective, 1977
)

Dieser Satz stellt eine Art Credo dessen dar, was heute unter
„Identitätspolitik“ verstanden wird. Ursprünglich prägten
schwarze, antirassistische und antikapitalistische Feministinnen den
Begriff. Mittlerweile werden damit Politiken von radikalen Linken,
feministischen, reformistischen und bürgerlich-liberalen Kräften
oder auch des Rechtspopulismus gefasst.

Mit der Ausweitung der Phänomene, Strömungen und
gesellschaftlichen Kräfte, die mit dem Terminus bezeichnet werden,
geht eine zunehmende Unbestimmtheit einher, die noch dadurch vermehrt
wird, dass Identitätspolitik mittlerweile zu einem Kampfbegriff
geworden ist.

Annäherung an eine erste Definition

Bevor wir diese Entwicklung kurz nachzeichnen und die Frage
diskutieren, warum mittlerweile gegensätzlichen Klassenkräften
dieses Label zugeschrieben wird, wollen wir darstellen, was diese
Politik von Beginn an auszeichnet. Aus obigem Zitat wird deutlich,
dass der Begriff der eigenen Identität als entscheidende Grundlage
einer radikalen Politik zur Befreiung oder zur Beseitigung von
Ungerechtigkeit und Benachteiligung reklamiert wird.

Identität stellt dabei das individuelle oder kollektive
Bewusstsein vor, das aus der eigenen oder gemeinsam geteilten
Erfahrung entsteht. Darauf basiere die radikalste Politik im
Interesse der jeweiligen Gruppe von ausgebeuteten, unterdrückten und
diskriminierten Menschen. „Die“ Frauen, „die“ Schwarzen,
„die“ Arbeiter_Innen teilten nicht nur gemeinsame Erfahrungen.
Sie würden damit auch über einen Zugang zur Erkenntnis der Ursachen
und der Politik zur Überwindung der Lage von Ausgebeuteten oder
Unterdrückten verfügen, der Nicht-Angehörigen dieser Gruppe
prinzipiell verwehrt ist. Dies ergibt sich logisch daraus, dass die
jeweils eigene Identität zur Quelle für die „tiefgreifendste und
potentiell radikalste Politik“ erklärt wird.

Die Erklärung des Combahee River Collective bringt das direkt zum
Ausdruck. Die Erfahrung mit dem Rassismus weißer Mittelschichtfrauen
im Feminismus der 1970er Jahre und mit männlichem Chauvinismus sowie
Sexismus in der Black Community einschließlich radikaler linker
Organisationen wie der Black Panther Party führen sie zur
Schlussfolgerung:

„Wir erkennen, dass die einzigen Menschen, die sich genug um uns
kümmern, um konsequent für unsere Befreiung zu arbeiten, wir selbst
sind. Unsere Politik entwickelt sich aus einer gesunden Liebe zu uns
selbst, unseren Schwestern und unserer Gemeinschaft, die es uns
erlaubt, unseren Kampf und unsere Arbeit fortzusetzen.“

Diese jeweils eigene Identität wird zum privilegierten Ort von
Radikalität und Erkenntnis. Nicht-Angehörige der jeweils
betroffenen Gruppe können Unterdrückung zwar nachzuempfinden und
nachzuvollziehen versuchen, aber sie können nie selbst auf die
gleiche Weise aus dieser Erfahrung als „Frau“, „Schwarze“
(oder auch als „Arbeiterin“) schöpfen.

Sobald dieses Verständnis von Erfahrung – Identität –
Politik akzeptiert wird, befinden wir uns auf dem Boden der
Identitätspolitik.

Sobald die Grundlagen der Identitätspolitik akzeptiert werden und
diese selbst zu einer bestimmenden Ideologie politischer Strömungen
wird, entfalten sich daraus auch deren innere Widersprüche. Sie
manifestieren sich gerade mit ihrem Siegeszug z. B. in weiten
Teilen der Frauenbewegung, in der „radikalen“ Linken, aber auch
durch ihre Akzeptanz im bürgerlichen Politikbetrieb. Im Folgenden
wollen wir diese Entwicklung nachzeichnen.

Entstehung

Geprägt wurde der Begriff der Identitätspolitik vom Combahee
River Collective, einer 1974 gegründeten Organisation schwarzer
Feministinnen. In ihrem Statement von 1977 arbeiten sie nicht nur
ihre Erfahrungen als unterdrückte schwarze, heterosexuelle und
lesbische Frauen auf, sondern auch die Reproduktion von Rassismus im
von weißen Mittelschichtfrauen dominierten Feminismus, die
Reproduktion von Sexismus durch die Männer der antirassistischen
Bewegung.

Im Gegensatz zu den meisten späteren Vertreter_Innen von
„Identitätspolitik“ verstand sich das Combahee River Collective
als revolutionäre Organisation. Ähnlich wie die von Claudia Jones
schon Ende der 1940er Jahre formulierte Triple Oppression Theory
(TOT) begriff es die kapitalistische Ausbeutung, Patriarchat und
Rassismus als die Gesellschaft prägenden und damit auch revolutionär
zu überwindenden Strukturen.

Für das Combahee River Collective stellte die Herausbildung einer
„radikalen“, revolutionären Identität der Unterdrückten eine
spontane Tendenz dar, sofern und sobald diese ihre gemeinsamen
Erfahrungen im Rahmen kollektiven Austauschs ihrer Probleme und
gemeinsamer Organisierung zu artikulieren beginnen. Diese Verkürzung
wird angesichts der geschichtlichen Lage der frühen 1970er Jahre
verständlich. Seit der Bürgerrechtsbewegung war die Lage der
rassistisch Unterdrückten in den USA von einem politischen Erwachen,
dem Anwachsen einer Massenbewegung und deren Radikalisierung bis hin
zur Black Panther Party geprägt. International bildeten nationale
und antikoloniale Befreiungskämpfe bis hin zum Sieg Vietnams gegen
die USA einen historischen Hintergrund, der nicht nur Anlass zu
revolutionärem Optimismus gab, sondern auch die Vorstellung nährte,
dass die Unterdrückten – und hier zuerst die am meisten
Unterdrückten – spontan zu revolutionärem Bewusstsein gelangen
würden.

Zugleich steht das Combahee River Collective ironischerweise auch
für eine Kritik an der Identitätspolitik, die die Frauenbewegung
prägte (insbesondere den radikalen Feminismus). Das Statement von
1977 weist mit scharfer Kritik auf die widersprüchliche Lage in den
Bewegungen der Unterdrückten selbst hin, darauf, dass in der von
weißen Mittelschichtfrauen dominierten feministischen Bewegung
Rassismus reproduziert wird, die antikolonialen und antirassistischen
Bewegungen vor allem von Männern (und oft von solchen aus der
Intelligenz) dominiert wurden, in der Arbeiter_Innenklasse weiße,
ältere Männer Politik und Ausrichtung bestimmten.

Das Statement stellte damit auch eine Reaktion auf die
Reproduktion sozialer Unterdrückung in der Arbeiter_Innenklasse und
unter den Unterdrückten wie auf die Blindheit linker Kräfte
gegenüber dieser Tatsache dar. Auch wenn in der bürokratisch
dominierten Arbeiter_Innenbewegung und in nationalen
Befreiungsbewegungen ähnliche Mechanismen wie in der radikalen sowie
in der bürgerlichen Frauenbewegung seit Ende der 1960er Jahre
wirken, so wurde der Begriff der Identitätspolitik lange Zeit vor
allem auf Letztere angewandt.

Ein bedeutender Unterschied zu späteren Kritiken z. B. des
Queerfeminismus besteht darin, dass diese radikale Strömung des
Feminismus oder Antirassismus die Bildung einer kollektiven Identität
bzw. einer Massenbewegung zur Beseitigung der strukturellen Ursachen
der Unterdrückung zum Ziel hatte.

Ausweitung der „Identitätspolitik“

Die Ausweitung der Identitätspolitik in der Frauenbewegung und im
Feminismus ging, wie auch in Bewegungen gegen rassistische
Unterdrückung, zugleich oft (und wohl auch entgegen den Intentionen
mancher ihrer Schöpfer_Innen) damit einher, dass die „gemeinsame
Identität“ als klassenübergreifende vorgestellt wurde. Der
radikal antikapitalistische und antiimperialistische Anspruch geht in
den 1970er und 1980er Jahren mit der Verbreitung der
Identitätspolitik rasch verloren, sofern er überhaupt je
existierte. Verstärkt wird er durch die Niederlagen der
Arbeiter_Innenklasse im Zuge der neoliberalen Offensive und der
Restauration des Kapitalismus, die gerade für die Intelligenz als
„Ende des Marxismus“ erscheint. Für die Identitätspolitik
existiert faktisch die Einheit „der Frauen“ oder „der
Schwarzen“ als klassenübergreifende gegenüber „den Männern“
oder „den Weißen“, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit.

Dies unterstellt eine gemeinsame Erfahrung „aller“ Frauen
(oder „aller“ Unterdrückten). Wir wollen hier keineswegs
bestreiten, dass es tatsächlich gemeinsame Unterdrückungserfahrungen
gibt, die die Angehörigen aller Klassen betreffen. Zugleich finden
wir aber auch erhebliche Unterschiede. Entscheidend ist jedoch, dass
auf Basis der Identitätspolitik die grundlegenden Gegensätze
zwischen Frauen aus der herrschenden Klasse und der
Arbeiter_Innenklasse ebenso wie die Sonderinteressen der Frauen aus
dem Kleinbürger_Innentum und den lohnabhängigen Mittelschichten
hintangestellt werden. Es ist auch kein Zufall, dass die
Vertreter_Innen von Identitätspolitik oft aus letzteren Klassen bzw.
Schichten stammen. Deren Lage zwischen den Hauptklassen der
kapitalistischen Gesellschaft bildet einen sozialen Nährboden für
die Ausbreitung von Ideologien, deren Gehalt in der Verwischung der
Klassengegensätze besteht.

Dabei treten die inneren Gegensätze im realen Leben und gerade
auch in Massenbewegungen mit Macht hervor. So im „Women’s March“
gegen Trump 2017. Tamika Mallory, eine linke Aktivistin und
Vertreterin von Black Lives Matter, wurde des „Antisemitismus“
beschuldigt, weil sie sich mit dem palästinensischen Widerstand
solidarisierte und an einer Veranstaltung der Nation of Islam
teilnahm. Trotz klarer Beweise dafür, dass sie gegen Antisemitismus
in der Black Community auftrat, verstummten die Anschuldigungen nicht
und es folgte schließlich eine Spaltung der Koordinierung.

In ihrer Verteidigung machte Mallory auf einen Punkt aufmerksam,
der die Doppelstandards ihre Kritiker_Innen verdeutlichte. Während
sie sich ständig für einen Auftritt bei der Nation of Islam
rechtfertigen müsse, wurde z. B. die Republikanerin Meghan
McCain nie gefragt, ob sie sich von der Politik ihrer Partei oder
frauenfeindlichen Äußerungen ihres Vaters distanziere. Im
Gegenteil: Sie wurde willkommen geheißen, weil sie als prominente
Republikanerin die Bewegung verbreiten, Mallory mit ihrem
Antizionismus und Antikolonialismus hingegen „die Frauen spalten“
würde.

Hinter dieser Konzeption wird deutlich, dass
„identitätspolitische“ Einheit, die Einheit „aller“ Frauen
unabhängig von Klassenzugehörigkeit und Unterdrückung nur ein
ideologischer Deckmantel für die Durchsetzung besonderer, in der
Regel bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Klasseninteressen
darstellt.

Dieses Beispiel verweist auch schon darauf, dass die
Identitätspolitik in den letzten Jahrzehnten eine weit über die
ursprüngliche Frauenbewegung hinausgehende Bedeutung erfahren hat
und Eingang in die bürgerliche Öffentlichkeit fand.

Eine „(neo)liberale“ Identitätspolitik, die vor allem die
besonderen Interessen der Frauen aus den Mittelschichten, dem
Kleinbürger_Innentum und z. T. auch aus der
Arbeiter_Innenaristokratie artikulierte, wurde von bürgerlichen und
reformistischen Parteien aufgegriffen, um diese Frauen oder in
analoger Weise auch andere Unterdrückte als Wähler_Innen zu
gewinnen.

Linke Feministinnen wie Nancy Fraser oder im Manifest „Feminismus
für die 99 %“ unterzogen diesen „liberalen Feminismus“
einer scharfen Kritik, der faktisch eine Allianz mit Vertreterinnen
des „aufgeklärten“ Kapitalismus auf dem Rücken der
proletarischen „weißen“ Männer, aber auch aller anderen
subalternen Schichten und Klassen geschlossen habe. Damit hätte er
Trump und dem Rechtspopulismus erleichtert, sich als Vertretung der
„arbeitenden Klasse“, der „hart arbeitenden Amerikaner_Innen“
auszugeben.

Dieser durchaus berechtigte Vorwurf greift aber zu kurz. Während
Fraser die Folgen und die politische Kapitulation eines liberalen
Feminismus entlarvt, greift sie nicht die jeder Identitätspolitik
zugrundeliegende Vorstellung an, dass die eigene Erfahrung direkt zu
fortschrittlichem, befreiendem und gesellschaftsveränderndem
Bewusstsein führen würde. Im Gegenteil, das Manifest „Feminismus
für die 99 %“ durchziehen selbst identitätspolitische
Vorstellungen, namentlich wenn die Bildung eines
gesellschaftsverändernden „revolutionären“ Subjekts selbst als
Allianz verschiedener Klassenfraktionen der Subalternen und der
Unterdrückten, also als Addition kollektiver Identitäten,
verstanden wird (eine ausführliche Kritik findet sich in Urte March,
Feminismus
für die 99 Prozent – eine Kritik
, in: Fight 8, März 2020).

Veränderung der Klassenbasis

Die Erweiterung des Begriffs gegenüber den 1970er Jahren
reflektiert eine Veränderung der Klassenbasis von Identitätspolitik.
Ursprünglich stellte sie eine kleinbürgerliche Ideologie dar, die
aus Bewegungen von Unterdrückten hervorging und eine, aus der
gemeinsamen Erfahrung gewonnene Einheit im Kampf begründen sollte –
auch in Abgrenzung zu anderen Unterdrückten oder Ausgebeuteten, die
eine vergleichsweise privilegierte Stellung in der Gesellschaft
innehatten.

Die frühen, identitätspolitisch geprägten Gruppierungen,
Bündnisse und Bewegungen gingen oft mit einer ideologischen Tendenz
zur „Essentialisierung“ des Unterdrückungsverhältnisses einher.
Diese drängt sich geradezu auf, wenn die Identität der
Unterdrückten direkt der gemeinsamen Erfahrung entspringen soll.
Diese scheint dann nicht in einem historisch konstituierten
gesellschaftlichen Verhältnis zu stehen, sondern als „Eigenschaft“
einer bestimmten Gruppe von Menschen, die im Extremfall biologisch,
natürlich oder durch gemeinsame Kultur, Lage usw. spontan produziert
wird.

Daher können Frauen z. B. als das „friedliche“
Geschlecht erscheinen, das von Haus aus „verständigungsorientierter“
sei. Die Tendenz zur Naturalisierung liegt der Identitätspolitik
zugrunde, weil ihr die Identität (bzw. das bürgerliche Individuum)
selbst als etwas „Natürliches“ erscheint, als Grundkonstante,
als ein vorgefundenes Wesen des/der Unterdrückten.

Dies trifft auch auf radikalere Teile der Frauenbewegung zu, die
ihre Politik oft genug mit einer „Essentialisierung“ der
gemeinsamen Erfahrung begründen. So lassen sich auch die heftigen
Konflikte jener Teile des Feminismus, die ein essentialistisches
Verständnis des natürlichen Geschlechts und der
Geschlechteridentität („Frauen sind Frauen“) vertreten, mit
Trans-Aktivist_Innen verstehen. Auf der Basis von Identitätspolitik
sind diese Gegensätze letztlich nicht auflösbar.

Solange der/die TrägerIn der Identität nicht als Ensemble
gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern als vereinzeltes
bürgerliches Individuum oder als Gruppe von Individuen verstanden
wird, die gemeinsame Eigenschaften und Erfahrungen teilen, erscheint
Identität als ein unhinterfragbares Absolutes. Wer nichts besitzt,
besitzt immerhin, so scheint es, seine eigene Identität.

Natürlich wohnt der Suche nach ihr und dem Austausch gemeinsamer
Erfahrungen auch ein wichtiges emanzipatorisches Moment inne, ohne
das es keine fortschrittliche oder revolutionäre politische Bewegung
geben kann. Aber zugleich müssen die Grenzen dieser Suche verstanden
werden.

Wird die Identität als Ort privilegierter Erfahrung und Wahrheit
gesetzt, so ergibt sich für jede darauf begründete Politik eine
Tendenz zur Verabsolutierung der jeweils individuellen oder
Gruppenerfahrung „der“ Frauen, „der“ Schwarzen, aber auch
„der“ Fabrikarbeiter_Innen usw. usf.

Wird die eigene oder kollektive Erfahrung zum entscheidenden
Kriterium für Wahrheit und Richtigkeit von Politik, so lässt sich
über diesen Wahrheitsanspruch und die daraus abgeleitete Politik
letztlich nicht vernünftig streiten. Verschiedene Ansprüche stehen
einander mit gleichem Recht auf Authentizität entgegen. Jedes
Infragestellen des unbedingten Anspruchs auf die Richtigkeit der
eigenen Erfahrung und Wahrnehmung erscheint notwendigerweise als eine
Relativierung der sich erhebenden Identität der/des Betroffenen.

Die Verabsolutierung der eigenen Erfahrung tritt uns in
verschiedenen Formen entgegen, z. B. im Konzept von
Definitionsmacht, dem zufolge allein die Beschuldigung von
Täter_Innen durch Opfer physischer oder verbaler Übergriffe auf
Unterdrückte definiert, ob eine solche Tat auch vorlag – im Grunde
ein Rückfall hinter das bürgerliche Recht, weil Beschuldigten oder
Täter_Innen jedes Recht auf Verteidigung genommen wird. Die
rechtliche oder gesamtgesellschaftliche Problematik ist offenkundig.
Sie zeigt sich außerdem auch schlagend, sobald verschiedene
Unterdrückte auf ihre jeweilige Definitionsmacht absolut pochen,
wenn also z. B. ein rassistisch unterdrückter Mann einer weißen
Frau Rassismus vorwirft, diese wiederum dem Mann Sexismus.

Noch weitaus problematischer wird es, wenn die eigene
Unterdrückungserfahrung zum entscheidenden Wahrheitskriterium für
die Richtigkeit von Politik gemacht wird. Über die Politik einer
nationalen Befreiungsbewegung könnten demzufolge Menschen aus den
Metropolen, die keine Angehörigen der unterdrückten Nation sind,
nicht „von außen“ urteilen. Dies käme einer typisch westlichen,
kolonialistischen Arroganz gleich. Lassen wir einmal beiseite, dass
auch die Solidarisierung mit einer Befreiungsbewegung (oder erst
recht mit einer bestimmten politischen Strömung) ein Urteil „von
außen“ impliziert, so läuft diese identitätspolitische
Vorstellung regelmäßig auf eine Immunisierung vor Kritik hinaus.
Und diese begünstigt unwillkürlich die dominierenden bürgerlichen
Klassenkräfte innerhalb dieser Bewegungen.

In extremer Form schlägt die Identitätspolitik in einen
Relativismus um, der den Kampf gegen reaktionäre Ideologien und
Organisationen unter den Unterdrückten ablehnt oder deren
repressiven Charakter verharmlost. Vom Standpunkt revolutionärer
Klassenpolitik aus bedeutet eine Akzeptanz der Identitätspolitik in
der Frauenbewegung eine Anpassung an kleinbürgerliche und
bürgerliche, zumeist feministische Ideologien, bei nationalen
Befreiungsbewegungen an verschiedene Spielarten des Nationalismus.
Kurzum, der mit der Identitätspolitik einhergehende Relativismus
führt unwillkürlich zur politischen Unterordnung des Proletariats
unter kleinbürgerliche, bürgerliche, im Extremfall sogar direkt
reaktionäre Klassenkräfte.

Linke Lösungsversuche

Diese Problemstellungen greifen linke Verteidiger_Innen der
Identitätspolitik wie Lea Susemichel/Jens Kastner in ihrem Buch
„Identitätspolitiken“ auf und versuchen, eine „relativierte“
Identitätspolitik zu begründen, die diesen Fehler vermeiden soll.

Einerseits nehmen sie eine Erweiterung des Begriffs vor, indem sie
faktisch jede Massenpolitik, jede Bewegung als eine Form von
Identitätspolitik interpretieren, weil diese immer auf ein
kollektives Wir verweisen müsse, auf eine gemeinsame Lage, Erfahrung
und Gegner_Innen, um eine gemeinsame politische oder
gesellschaftliche Kraft zu konstituieren.

So erscheint für Susemichel/Kastner die Arbeiter_Innenbewegung
als eine neue, organisierte Massenbewegung, als erste, globale Form
der Identitätspolitik. Neben dieser fortschrittlichen Urform
(Identifikation mit der Klasse statt mit der Nation) steht für sie
am anderen Pol eine rechte Identitätspolitik wie z. B. der
Populismus eines Trump.

Wenn alles Identitätspolitik ist, diese also als Bedingung des
Politischen erscheint, wird der Begriff freilich inflationär und
nichtssagend. Wohl müssen wir uns fragen, warum so diese
verschiedenen politische Bewegungen und Ideologien überhaupt als
„Identitätspolitik“ erscheinen können. Der Grund dafür liegt
nicht einfach darin, dass Bewegungen auch auf gemeinsame Erfahrungen
rekurrieren sowie auf ein gemeinsames Wir oder eine/n gemeinsamen
(Klassen-)GegnerIn.

Der Punkt für die Überlappung von rechter und linker
Identitätspolitik liegt vielmehr im Versuch, die Politik einer
Bewegung, ihr Programm, ihre Forderungen usw. aus dieser scheinbar
unmittelbar vorgefundenen Identität herzuleiten. Er rekurriert dabei
auf eine wirkliche oder angebliche gemeinsame Erfahrung aller Frauen,
Weißen, Unterdrückten, die zu einer „natürlichen“
Gemeinsamkeit verklärt wird.

Auch wenn alle diese Bewegungen Momente von Identitätspolitik
enthalten, so wirft die Charakterisierung politischer Strömungen
unter diesem Label eigentlich mehr Probleme auf, als sie löst. Wenn
Bewegungen und politische Kräfte, die sich auf unterschiedliche
Klassen (oder Teile von Klassen) stützen, zusammengeworfen werden,
wird der Begriff entweder nichtssagend oder er verwischt die
eigentlich grundlegenden Unterschiede zwischen diesen Bewegungen, vor
allem ihren Bezug auf die verschiedenen Klassen der Gesellschaft.

Die Frage müsste also vielmehr lauten, warum Nationalismus,
Populismus, Feminismus, Ökonomismus so leicht mit
identitätspolitischen Vorstellungen verknüpft werden können. Der
Grund liegt darin, dass diese Ideologien allesamt mit dem Rekurs auf
eine angebliche gemeinsame Identität oder Erfahrung die
Arbeiter_Innenklasse sowie gesellschaftlich Unterdrückte
bürgerlichen Kräften unterordnen. Dies verdeutlicht einmal mehr den
grundsätzlich reaktionären Charakter der Identitätspolitik.

Vorläufer und historische Bezugspunkte linker
Identitätspolitik

Die Vertreter_Innen einer „linken“ Identitätspolitik
versuchen, die Probleme, die mit deren „Essentialisierung“
einhergehen, durch die Begründung einer nicht-essentialistischen
Identitätspolitik zu lösen. Ihre Bemühungen knüpfen dabei an
historische Vorbilder wie Simone de Beauvoir oder an Frantz Fanon an,
die wir im Folgenden untersuchen werden, um zu verdeutlichen, dass
auch diese Spielart der Identitätspolitik ihren inneren Problemen
nicht entkommen kann.

De Beauvoir

In ihrem Werk „Das andere Geschlecht“ kommt de Beauvoir das
Verdient zu, radikal „das Frausein“ in Frage zu stellen. „Man
kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“, fasst sie zusammen.
Damit verweist sie – ähnlich wie die marxistisch-materialistische
Erklärung der Frauenunterdrückung – darauf, dass
Geschlechterrollen, das „Frausein“, weibliche Sexualität (bzw.
deren Verleugnung) keine „natürlichen“, angeborenen
Eigenschaften „der Frau“, sondern gesellschaftliche Phänomene
darstellen.

Auch wenn de Beauvoir nicht die Erste war, die auf die
gesellschaftliche Konstitution der Geschlechterrollen und Identitäten
hingewiesen hat, so liegt die Bedeutung ihres Buchs darin, diese
markant und für Millionen Frauen hervorgehoben zu haben.

Aber aufgrund ihrer philosophischen Grundlage, des
Existenzialismus, kann sie das Wesen „des Menschen“ nur
individualistisch und abstrakt fassen. Für sie geht (wie für Sartre
und andere) die Existenz „des Menschen“ seinem gesellschaftlichen
Wesen voraus; d. h. das Individuum wird ontologisch als Mensch
verstanden, der in die Welt geworfen, zum Individuum gemacht wird,
indem er gezwungen ist, sich zu entscheiden. Der Mensch ist, wofür,
wozu er sich entscheidet. Bei de Beauvoir ist dies eng mit dem
Streben nach Freiheit verbunden.

Damit greift sie zwar ein reales Moment menschlichen und
insbesondere politischen Handelns auf, das notwendig
Entscheidungssituationen hervorbringt. Aber sie abstrahiert von der
historischen Bestimmtheit dieses Entscheidens und des Strebens nach
Freiheit. „Entscheidung“ und „Freiheit“ werden nicht mehr als
historisch konstituierte und wandelbare Größe begriffen, sondern
als Grundeigenschaften „des Menschen“.

In de Beauvoirs Arbeiten werden zwar immer wieder die Grenzen
dieser abstrakten Bestimmungen des für sich existierenden
Individuums deutlich. Aber ihr philosophischer Ausgangspunkt lässt
in sie gesellschaftliche und historische Faktoren nur im Nachhinein
einfließen. Diese relativieren zwar die grundlegenden Fehler des
Existenzialismus, aber ohne dessen eigentliche Grundlagen zu
überwinden, nämlich „Freiheit“ oder „Entscheidung“ nicht
als historische, sich entwickelnde Phänomene zu begreifen, die mit
der Entwicklung der Gesellschaftsformationen und der Produktivkräfte
selbst erst entstehen und einem Veränderungsprozess unterzogen sind.

Diese Probleme tauchen in jeder „nicht-essentialistischen“
Identitätspolitik auf wie auch im Queer- und Differenzfeminismus. Um
den Fallstricken des „Essentialismus“ zu entgehen, nehmen
Letztere zum subjektiven Idealismus Zuflucht. Frau, Geschlecht,
Identität erscheinen als rein diskursive Konstruktionen, in denen
„die Frau“ oder „das Geschlecht“ „gemacht“ wird. Der
Preis für diese „Lösung“ besteht freilich darin, dass jede
kollektive Identität per se suspekt und tendenziell repressiv wird.
Differenz- oder Queerfeminismus führen daher politisch logisch zu
einer rein idealistischen, individualistischen Politik – Identität
selbst ist eine Konstruktion. Oder anders formuliert: Auf Grundlage
einer Dekonstruktion eines scheinbar natürlichen Wesens kann nur
eine rein individuell, negativ bestimmte Identität von Unterdrückten
hergeleitet werden. Befreiung wird damit ihrer kollektiven Aspekte
entkleidet und wesentlich auf Selbstbestimmung, Selbstermächtigung
des Individuums und auf Verschiebung von Diskursen, also
Sprachpolitik konzentriert. Der Queer- und Differenzfeminismus mit
seinem Fokus auf das Individuum stellt dabei nicht nur eine
reaktionäre, idealistische Konzeption dar. Diese Ideologie
entspricht zugleich der Klassenlage der Mehrzahl ihrer
Vertreter_Innen unter den lohnabhängigen Mittelschichten (v. a.
den akademisch ausgebildeten).

Grenzen

Die „nicht-essentielle“ Identitätspolitik hingegen will nicht
nur dem Problem des „Essentialismus“, sondern auch des
bürgerlichen Individualismus entgehen. Sie greift daher – wie der
„Essentialismus“ – auf eine gemeinsame Erfahrung als Grundlage
für gemeinsame Politik zurück. Dessen Fehler und Tendenzen zur
Verabsolutierung sollen aber durch Reflexion auf ihre möglichen,
andere Unterdrückte „ausschließenden“ Momente der eigenen
Identität vermieden werden. Dazu wurde eine ganze Reihe von
Techniken entwickelt, darunter der Intersektionalismus, eine Art
Reparaturbetrieb auf Grundlage der Identitätspolitik.

Das Problem, das bei der Begründung einer
„nicht-essentialistischen“ Identitätspolitik immer wieder
auftaucht, hängt mit Folgendem zusammen. Um die Identität einer
Massenbewegung zu begründen, reicht eine rein abstrakte, bloß
negative oder rein diskursive Bestimmung der Identität nicht aus.
Eine kollektive Identität muss also an der Wirklichkeit ansetzen.
Dazu soll die gemeinsame Erfahrung herhalten. Doch die Erfahrung
selbst stellt sich in der bürgerlichen Gesellschaft als
widersprüchliche dar. Auch jene der Unterdrückung (oder erst recht
des „Ausgebeutet-Seins“) bringt die realen gesellschaftlichen
Verhältnisse keineswegs unmittelbar zum Ausdruck, sondern auf eine
ideologisierte, die realen Verhältnisse teilweise sogar auf den Kopf
stellende oder verschleiernde Weise.

Wenn bei Bildung einer kollektiven Identität unmittelbar aus der
eigenen Erfahrung ein sich befreiendes Subjekt abgeleitet werden
soll, entsteht unwillkürlich die Tendenz, dass auf gesellschaftlich
vorherrschende Formen des Bewusstseins der Unterdrückten
zurückgegriffen wird. Dass z. B. auch der Masse der Frauen die
Familie als „natürliche“ und wünschenswerte Form des
Zusammenlebens erscheint, entspringt den gesellschaftlichen
Verhältnissen im Kapitalismus selbst (ganz so wie den
Warenbesitzer_Innen die Warenproduktion als natürlich erscheint).

Wir wollen das an einem Beispiel verdeutlichen. Im Kapitalismus
wird der größte Teil der Reproduktionsarbeit von Frauen geleistet.
Diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung führt dazu, dass sie
nicht nur dementsprechende Fähigkeiten und darauf aufbauende
Bewusstseinsformen stärker ausbilden als Männer. Weil diese
Arbeitsteilung über Generationen, ja in unterschiedlicher Form die
gesamte Geschichte der Klassengesellschaften prägt, erscheint es so,
dass Frauen nicht nur „von Natur“ aus besser für Reproduktions-
und Sorgearbeiten geeignet wären, sondern auch mit dieser verbundene
Haltungen gegenüber anderen Menschen „natürlich“ einnähmen.
Sie wären sorgender, mitfühlender, kooperativer, friedfertiger,
kompromissbereiter … Ein auf Identitätspolitik basierender
Feminismus greift zwar durchaus die in der bürgerlichen Gesellschaft
vorherrschenden Rollenzuschreibungen und Ungleichheiten der
Geschlechter an, er übernimmt aber auch bestimmte scheinbar
natürliche Charaktereigenschaften „der“ Frau. Statt diese als
Resultate einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu begreifen,
werden diese auch in der Identitätspolitik als natürliche
Eigenschaften der Frau reklamiert, allerdings positiv konnotiert. So
sollten Frauen mehr bestimmen, weil sie das an sich friedfertigere,
solidarischere, sorgendere Geschlecht seien.

Die „nicht-essentialistische“ Identitätspolitik begreift zwar
dieses Problem. Sie erkennt, dass die identitätspolitischen
Bewegungen gesellschaftlich Unterdrückter an einen toten Punkt
angelangten, wenn verschieden Unterdrückte (z. B. „die
Frauen“, „die rassistisch Unterdrückten, „die Jugend“) ihre
Unterdrückung gegenüber anderen jeweils absolut setzten. Aber die
Begrenzung gegenüber der Absolutheit durch Vermittlung zwischen den
Bewegungen und Reflexion der eigenen „blinden Flecken“ greift in
Wirklichkeit zu kurz.

Ihr gerät nämlich der ideologische, widersprüchliche, verkehrte
Charakter der „spontanen“ Identität der Unterdrückten selbst
aus dem Blick. Um die Grenzen der Identitätspolitik zu sprengen und
zugleich eine Massenbewegung (z. B. von proletarischen Frauen
oder von rassistisch Unterdrückten) aufzubauen, reicht es nicht aus,
die ausgrenzenden Tendenzen „spontaner“ identitätspolitischer
Bewegungen einzuhegen. Es muss vielmehr die Vorstellung
problematisiert werden, dass die eigene Erfahrung von Unterdrückung
spontan zur richtigen Erkenntnis der Ursachen und Wege zur
Überwindung der Unterdrückung führen könnte.

Frantz Fanon

Dies wollen wir auch an einem zweiten Vorbild der
„nicht-essentialistischen Identitätspolitik“ verdeutlichen:
Franz Fanon. In seiner Schrift „Die Verdammten dieser Erde“ übt
er immer wieder scharfe Kritik an der Anpassung der schwarzen
Intelligenz an koloniale Herrschaft und bürgerlich-demokratische
Ideologien, aber auch an einen schwarzen Nationalismus, der die
traditionellen afrikanischen Gesellschaften romantisiert und deren
Vergangenheit neu beleben möchte. Fanon selbst charakterisiert dies
als reaktionäre und folkloristische Sentimentalität, als Ablenkung
vom Kampf um Befreiung.

In diesem Sinn ist Fanon „anti-essentialistisch“. Aber um eine
Massenbewegung im antikolonialen Befreiungskampf zu begründen,
greift er nicht zum Marxismus und zu Trotzkis Theorie der permanenten
Revolution, die allein den Kampf um demokratische Rechte und die
sozialistische Revolution theoretisch und programmatisch zu verbinden
vermag. Er steht vielmehr in der Tradition des sowjetrussischen
Stalinismus und Maoismus und der von ihnen geprägten Etappentheorie,
der zufolge die Revolution in den Halbkolonien zuerst zur nationalen
Befreiung führen muss, bevor die sozialistischen Aufgaben angegangen
werden können.

Er verleiht ihr freilich noch eigene Elemente. Erstens gilt Fanon
die städtische Arbeiter_Innenklasse in den Kolonien als eine
gekaufte, eng mit dem Kolonialismus verbundene Klasse, und sie
scheidet somit als revolutionäre Kraft aus, ja mag wie große Teile
der städtischen Bevölkerung als rückschrittlich erscheinen. Kein
Wunder also, dass er die revolutionäre Kraft eher auf dem Land als
in den Zentren sucht und der von dort aus organisierte
Befreiungskampf favorisiert wird.

Zweitens trennt er scharf zwischen der „nationalen Kultur“,
wie sie vorgefunden wird, von der „Nation“, wie sie im
Befreiungskampf erst begründet wird, am Entstehen ist. Wie ein
Phönix aus der Asche erhebt sich ein nationales Bewusstsein, das für
ihn auch die höchste Form revolutionären Bewusstseins darstellt.

„Die internationalen Ereignisse, der um sich greifende
Zusammenbruch der Kolonialreiche, die Widersprüche innerhalb des
kolonialistischen Systems unterhalten und verstärken die
Kampfbereitschaft, lassen ein nationales Bewusstsein entstehen und
geben ihm Kraft.“ (Fanon, Die Verdammten dieser Erde, suhrkamp,
Frankfurt/Main 1981, S. 202)

Und weiter: „Wenn die Kultur eine Äußerung des
Nationalbewusstseins ist, so zögere ich für unseren Fall nicht zu
sagen, dass das Nationalbewusstsein die am meisten entwickelte Form
der Kultur ist.“ (Ebenda, S. 208)

Er versucht, einen „revolutionären Nationalismus“ zu
begründen, der ihm zufolge qualitativ anders als der Nationalismus
alter Prägung sei, insofern er eine „internationale Dimension“
besitze. Anders als der Marxismus, der auch den Nationalismus der
unterdrückten Nationen als bürgerliche Ideologie betrachtet und
kritisiert und daher den Kampf um nationale Befreiung scharf von
allen Zugeständnissen an den Nationalismus abgrenzt, imaginiert
Fanon einen „internationalen“ Befreiungsnationalismus. Für
diesen will er in der Realität Anknüpfungspunkte finden, ihn aus
den „positiven“ Traditionen des nationalen Kampfes ziehen. Im
konkreten Fall des Befreiungskampfs in Algerien waren dies die linke,
bürgerlich-nationalistische Befreiungsfront FLN und die entstehende
panafrikanische Bewegung.

Die Verallgemeinerung einer aus unmittelbaren Erfahrungen
gewonnenen „Identität“, selbst wenn sie sich von Beginn an von
problematischen hergebrachten Formen abgrenzt, führt also auch bei
Fanon dazu, dass er auf eine reale, vorgefundene, von der
Gesellschaft geprägte Identität zurückgreifen muss.

Für die Bildung eines kollektiven Subjekts reicht auch beim
„Befreiungsnationalismus“ eine rein negative Bestimmung letztlich
nicht aus. Es muss an etwas, das „spontan“ in den
Auseinandersetzungen, Erfahrungen auftritt, angeknüpft werden, das
dann die gemeinsame Identität bildet. Diese kann entweder
„essentialistisch“ im biologischen Wesen, der Natur des Menschen
gefunden oder muss scheinbar spontan auftretenden, in Wirklichkeit
jedoch gesellschaftlich vermittelten objektiven Bewusstseinsformen
entnommen werden. Im Fall Fanons ist Letzteres der kämpfende
Nationalismus. Letztlich entrinnt diese „nicht-essentialistische“
Identitätspolitik den Problemen ihres Konterparts nicht, sondern
ideologisiert vielmehr das Klasseninteresse der bürgerlichen
Führungen der Befreiungsbewegungen der 1960er Jahre.

Ökonomismus

Neben Autor_Innen wie de Beauvoir oder Fanon präsentieren einige
Verteidiger_Innen einer linken Identitätspolitik auch die
Arbeiter_Innenbewegung als eine solche. „Denn auch all jene
praktischen wie theoretischen Versuche, unter den Lohnabhängigen
(und über diese hinaus) Klassenbewusstsein zu formieren, sind Formen
von Identitätspolitik: Schließlich ging es nicht zuletzt darum,
dass die einzelnen Individuen sich kollektiv über die Arbeit und
über ihre Klassenposition identifizieren.“ (Susemichel/Kastner,
Identitätspolitiken, UNRAST-Verlag, Münster, 2018, S. 13)

Das Problem mit dieser Auffassung besteht aber gerade darin, dass
das „spontane“, im Rahmen des Lohnabhängigkeitsverhältnisses
und der Identifikation mit der Arbeit hervorgebrachte Bewusstsein
längst noch kein Klassenbewusstsein darstellt – jedenfalls nicht
für Marx, Lenin und andere Autor_Innen der
revolutionär-marxistischen Arbeiter_Innenbewegung. Im Gegenteil:
Marx verweist im „Kapital“ auf die Problematik des spontanen
Arbeiter_Innenbewusstseins. So zeigt er beispielsweise im Kapitel
über den Arbeitslohn, dass die Lohnform notwendigerweise bei den
Kapitalist_Innen wie bei den Arbeiter_Innen ein verkehrtes
Bewusstsein über das Klassen- und Ausbeutungsverhältnis
hervorbringt.

In der kapitalistischen Produktionsweise muss der Wert der Ware
Arbeitskraft notwendigerweise die Form des Arbeitslohns annehmen. Es
erscheint, als würde der/die KapitalistIn nicht die Arbeitskraft
kaufen, sondern die gesamte, vom/von der Lohnabhängigen für ihn
verrichtete Arbeit bezahlen. Daher verschwinden mit der Lohnform auch
Mehrarbeit und -wert und damit die eigentliche kapitalistische
Ausbeutung im Bewusstsein von Kapitalist_Innen und
Lohnarbeiter_Innen. Wie Marx zeigt, stellt dieses Verschwinden des
grundlegenden Ausbeutungsverhältnisses im Bewusstsein
antagonistischer Klassen ein notwendiges Resultat der
kapitalistischen Produktionsweise selbst dar, eine Verkehrung, die
mit der Wertform der Waren untrennbar verbunden ist. Es handelt sich
bei der Lohnform also um eine objektive Gedankenform, eine
Mystifikation wesentlicher Verhältnisse. Die unmittelbare Erfahrung
der Arbeiter_Innenklasse und der nur-gewerkschaftliche Kampf zwischen
Lohnarbeit und Kapital bewegen sich innerhalb dieser Gedankenform, ja
bestärken diese sogar bis zu einem gewissen Grad. Im
Alltagsbewusstsein der Arbeitenden drückt sich das z. B. darin
aus, dass nur schlecht bezahlte, prekäre Arbeit als „Ausbeutung“
zu einem Hungerlohn erscheint, während ein Lohn, der die
Reproduktionskosten deckt oder sogar etwas höher als diese bezahlt
wird, als „gerecht“ wahrgenommen wird.

Auch der rein ökonomische Klassenkampf verbleibt, wie Lenin an
Marx anknüpfend in „Was tun“ deutlich macht, noch auf der Ebene
des Aushandelns der Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft. Diese
Auseinandersetzung kann zwar eine Schärfe erreichen, die
Lohnabhängige empfänglich für revolutionäre Agitation und
Propaganda macht, z. B. wenn bestimmte Kämpfe wie Streiks, die
vom Staat unterdrückt werden, Fragen aufwerfen, die über den
Bewusstseinshorizont der gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen
hinausgehen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das politische
Klassenbewusstsein nicht spontan in diesen Auseinandersetzungen
entsteht. Es kann vielmehr, wie es Lenin ausdrückt, „dem Arbeiter
nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich
außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der
Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern.“ (Lenin, Was tun?,
LW 5, S. 436)

Wenn die Arbeiter_Innenbewegung als identitätspolitische, also
auf der spontanen, naturwüchsig entstehenden Identifikation mit der
Arbeit, dem Arbeiter_Innensein und der Lohnbewegung beruhende
begriffen, ja fixiert wird, so wird hier nur der Fehler des
Ökonomismus wiederholt, den gewerkschaftlichen Konflikt und dessen
reformpolitische, gesetzgebende Verlängerung im Ringen gegen
„soziale Ungleichheit“ zum eigentlichen Arbeiter_Innenkampf zu
verklären.

Das Problem besteht aber gerade darin, dass dieses spontane
Arbeiter_Innen- kein revolutionäres Klassenbewusstsein bilden kann,
sondern eine Form bürgerlichen Bewusstseins darstellt. Dasselbe
trifft auch auf eine solcherart geprägte „Arbeiter_Innenidentität“
zu. Wenn wir beispielsweise die Kultur und Identität betrachten, wie
sie z. B. der Austromarxismus, der „Sozialstaat“, aber auch
die vom Stalinismus beherrschten Staaten hervorbrachten, so waren
diese wesentlich Formen verbürgerlichter „Arbeiter_Innenkultur“
und dementsprechender Identitäten. Diese gingen zwar mit der
Anerkennung der Lohnarbeiter_Innen als gesellschaftlicher Kraft
einher. Zugleich jedoch wurden mit dieser nicht nur Identifikation
mit „der Arbeit“ und ein gewisser Stolz vermittelt, sondern auch
ein in den gesellschaftlichen Zusammenhang eingegliedertes
„Arbeiter_Innensein“, das dann nicht auf die Aufhebung der
Arbeiter_Innenklasse (oder gar den revolutionären Sturz des
Kapitalismus oder der Herrschaft einer Staatsbürokratie) abzielte.
Im Gegenteil, Sozialdemokratie, Gewerkschaftsbürokratie und
Stalinismus drängten und drängen danach, eine bestimmte
„Arbeiter_Innenkultur“ zu verewigen. Diese geht notwendigerweise
mit einer Anpassung an die bürgerliche Kultur, eine Übernahme von
reaktionären Elementen einher, so z. B. einer Idealisierung der
bürgerlichen Familie, von reaktionären Geschlechterrollen, aber
auch der jeweiligen nationalen Kultur. Wie die Identitätspolitik
fassen auch Reformismus und Ökonomismus die
„Arbeiter_Innenidentität“ als etwas Gegebenes, Statisches.

Für den revolutionären Marxismus hingegen ist revolutionäres,
das eigentliche proletarische Klassenbewusstsein grundlegend
verschieden von demjenigen, das an der Oberfläche der Gesellschaft
entsteht. Das spontane Bewusstsein ist ein bürgerliches. Dem
Marxismus geht es darum, die Arbeiter_Innenbewegung in eine Richtung
zu lenken, die Verhältnisse erkämpfen kann, in denen nicht nur
diese Bewusstseinsformen aufgehoben werden können, sondern vor allem
die Bedingungen, die sie notwendig hervorbringen.

In der Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“
formuliert Marx die Forderung, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in
denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein
verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, S. 385).

Die revolutionäre Kraft der Arbeiter_Innenklasse besteht nicht
darin, die Identität, die der aktuelle Zustand hervorbringt, einfach
positiv bejahend aufzunehmen, sondern sich vielmehr als ein im Werden
begriffenes Subjekt zu verstehen. Dies erfordert aber, dass die
Arbeiter_Innenklasse (wie auch sozial Unterdrückte) nicht bloß als
bestehende Gruppe von Menschen mit ähnlichen Erfahrungen (oder auch
einem/r gemeinsame GegnerIn) begriffen werden darf, sondern auch von
ihrem Ziel, von ihrer Bestimmung als revolutionärer Kraft verstanden
werden muss. Das Wesen der Arbeiter_Innenklasse, das sie überhaupt
erst zu einer revolutionären Klasse macht, besteht also nicht darin,
wie sie ist, sondern wie sie werden kann und muss, um sich selbst und
die gesamte Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien.

Die Identitätspolitik hingegen vertritt einen statischen, aus dem
Hier und Jetzt, sei es nun „essentialistisch“ oder
„nicht-essentialistisch gewonnenen Begriff von Identität. Da sie
Identität als etwas Gegebenes, Statisches oder Konstruiertes
auffasst, verstrickt sie sich in die Dialektik des Wesens und kann zu
keiner Aufhebung vorgefundener Identitäten kommen. Hier erweist sich
das philosophische Verharren auf dem Empirismus, Pragmatismus,
Existenzialismus, Postmodernismus oder auch einem mechanischen
Materialismus als fatal.

Gegenüber diesen letztlich antidialektischen Theorien besteht der
Fortschritt in der Hegel’schen Bestimmung des Wesensbegriffs gerade
darin, dass es selbst als etwas erst im Entstehen Begriffenes,
Nicht-Fertiges aufgefasst ist, das gerade und trotz dieser
Unbestimmtheit und Offenheit der Entwicklung im Zusammenhang des
Ganzen zentral für die Gesamtbewegung ist. Wie es in der
Phänomenologie heißt: „Das Ganze aber ist nur das durch seine
Entwicklung sich vollendende Wesen.“ Und weiter: Es ist „wesentlich
Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in
Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches,
Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“ (Hegel, Phänomenologie des
Geistes, Werke, Bd. 3, S. 24)

Das Subjekt der Befreiung liegt daher in diesem Sinn nicht fertig
vor. Seine Wirklichkeit und Erfahrungen sind vielmehr notwendig
widersprüchlich und erst in Bildung begriffen. Die
dekonstruktivistische Kritik am „Essentialismus“ beraubt das
Subjekt gerade um das, was Voraussetzung seines Werdens als
Geschichtssubjekt ist – seine Kollektivität, seinen
Massencharakter –, während letztlich jede Form von
Identitätspolitik verkennt, dass sich das Subjekt überhaupt erst
herausbilden muss.

Genau diesen Punkt greift der Marxismus auf, wenn er von der
Entwicklung der Klasse an sich zu einer für sich spricht. Als eine
Klasse für sich bildet sich die Arbeiter_Innenklasse jedoch nur als
revolutionäre, wenn sie sich als Geschichtssubjekt der Umwälzung
und Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung konstituiert, also
die Bedingungen schafft für das Abstreifen aller reaktionären,
rückschrittlichen Seins- und Bewusstseinselemente sowie ihrer
Aufhebung als Klasse, ihr Aufgehen in einer vom Joch der
Klassenherrschaft befreiten Menschheit. Das Ziel der revolutionären
Bewegung der Arbeiter_Innenschaft besteht schließlich nicht in der
nachrevolutionären Verewigung als nun herrschende Klasse, sondern in
der Überwindung der Klassenspaltung selbst und dem Schaffen einer
klassenlosen Gesellschaft, in der erst die Menschen endgültig das
Erbe ihrer Erniedrigung, Versklavung, Vereinseitigung abgeschafft
haben werden.

Wurzeln der Identitätspolitik unter
Unterdrückten

Abschließend wollen wir noch einige wesentliche
Schlussfolgerungen unserer Betrachtung und Kritik zusammenfassen:

Erstens muss eine marxistische Kritik der linken Identitätspolitik
verstehen, warum diese ideologisch so prägend werden konnte. Dies
liegt zu einem guten Teil auch an den traditionell vorherrschenden
Strömungen und Ideologien in der Arbeiter_Innenklasse. Stalinismus,
Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie negieren letztlich die
subjektiven Erfahrungen der Lohnabhängigen als handelnde Subjekte.
Daher machen viele Unterdrückte, darunter auch sozial unterdrückte
Teile der Arbeiter_Innenklasse mit den verkrusteten,
verbürokratisierten und reformistischen Führungen die Erfahrung,
dass ihre Unterdrückung, ihre verstärkte Ausbeutung auch von der
Arbeiter_Innenbewegung nicht ernst genommen wird. Sie werden – oft
nicht viel anders als in der bürgerlichen Gesellschaft – auf einen
„späteren“ Zeitpunkt vertröstet, weil jetzt angeblich
Wichtigeres auf der Tagesordnung stünde. Sie werden
paternalistisch-wohlwollend behandelt, als Objekt, um das man sich
schon kümmern würde. Ihre Subjektivität, zumal eine aktive,
rebellische, gilt als suspekt. Die Tatsache, dass die
Arbeiter_Innenbürokratie auch alle anderen Teile der Klasse passiv
und unter Kontrolle hält, kann darüber nicht hinwegtrösten.

Im Gegenteil: Die Arbeiter_Innenbürokratie stützt sich in der
Regel auf die relativ privilegierten Lohnabhängigen in den
imperialistischen Ländern, auf die Arbeiter_Innenaristokratie, die
ihrerseits oft männlich, weiß, heterosexuell geprägt ist.
Natürlich sind auch deren Bewusstseinsformen oft von reaktionären
Ideologien – Chauvinismus, Sexismus, teilweise sogar Rassismus –
geprägt. Die vorherrschende Politik der Gewerkschaften und
reformistischen Parteien, sich auf rein ökonomische Kämpfe bzw.
Wahlkämpfe und Sozialreform zu beschränken, bedeutet, dass der
gesellschaftlich vorherrschende Bewusstseinszustand der Klasse nicht
nur in Kauf genommen wird. Oft stützen sich gewerkschaftliche
Apparate und reformistische Parteien direkt auf diese Formen. Im
schlimmsten Fall verhalten sie sich gegenüber Kämpfen der
Unterdrückten passiv oder vertreten Formen von Chauvinismus,
Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie, wie sie
auch im bürgerlichen Mainstream vorherrschen.

Daher erfordert eine politische Auseinandersetzung mit
Identitätspolitik in fortschrittlichen Bewegungen einen
unversöhnlichen Kampf gegen alle Formen repressiver,
unterdrückerischer Politik in der Arbeiter_Innenbewegung selbst. Nur
so werden die besten Kämpfer_Innen von den inneren Grenzen und der
Notwendigkeit des Bruchs mit der Identitätspolitik überzeugt werden
können. Nur so werden sie überzeugt werden können, dass die
marxistische Kritik am bürgerlichen Charakter dieser Ideologie
nichts mit einer passiven Haltung zu ihrer Unterdrückung und ihren
persönlichen und kollektiven Erfahrungen zu tun hat.

Im Gegenteil, Revolutionär_Innen müssen dafür kämpfen, dass
diese gehört werden, diese Kraft Eingang in den Kampf findet. Eine
Erscheinungsform jeder sozialen Unterdrückung wie auch der
kapitalistischen Ausbeutung besteht schließlich tatsächlich darin,
dass ihre Erfahrungen (und noch vielmehr spontane Formen von
Rebellion, Aufbegehren und Widerstand) in dieser Gesellschaft
marginalisiert werden.

Der Marxismus erkennt an, dass Subjektwerdung der Klasse auch eine
viel breitere, umfassende Artikulation der Erfahrungen mit Ausbeutung
und Unterdrückung beinhaltet. Die Arbeiter_Innenkorrespondenzen in
den Zeitungen der Zweiten und Dritten Internationale verdeutlichten
auch, wie wichtig diese für die Formierung einer kämpfenden
Bewegung und den kollektiven Austausch waren. Die Betonung dieser
Erfahrung in der Identitätspolitik inkludiert somit ein richtiges
Moment, das die Arbeiter_Innenbewegung insgesamt – und zwar nicht
nur hinsichtlich der Erfahrung von Lohnabhängigen, sondern aller
Unterdrückten forcieren muss.

Zweitens muss die Arbeiter_Innenbewegung alle fortschrittlichen
Kämpfe von gesellschaftlich Unterdrückten, sei es gegen die
Unternehmer_Innen, den Staat oder die Rechten, sei es gegen
imperialistische Ausbeutung und Besatzung, ohne Wenn und Aber
unterstützen. Dass die Identitätspolitik bei vielen
Auseinandersetzungen und Bewegungen eine bedeutende, wenn nicht sogar
vorherrschende Ideologie spielen mag, ändert daran nichts. Es geht
schließlich nicht darum, eine falsche politische Konzeption zu
unterstützen, sondern die legitime Gegenwehr. Wenn die
Arbeiter_Innenbewegung und vor allem deren revolutionärer Flügel
wirklich zeigen will, dass sie jedes Aufbegehren gegen Unterdrückung
als integralen Bestandteil des Klassenkampfes um eine andere,
sozialistische Gesellschaft begreift, so muss sie dies z. B. den
Aktivist_Innen der Frauenbewegung, in antirassistischen Kämpfen,
Geflüchteten, sexuell Unterdrückten auch praktisch zeigen.

Kritik der Identitätspolitik

Diese praktische Politik muss aber einhergehen mit eine
unversöhnlichen Kritik der Identitätspolitik selbst. Diese geht
letztlich von einem bürgerlichen Verständnis der Subjektbildung
aus. Im Grunde betrachtet sie das Individuum oder Identität und
damit Bewusstsein nicht als gesellschaftliches, geschichtliches,
veränderbares Produkt.

Entweder tut sie das in der kruden Form, dass aus der eigenen
Erfahrung/Empfindung unmittelbar auf die Richtigkeit der
gesellschaftlichen Einschätzung Rückschluss gezogen wird (Teile des
Feminismus, Antikolonialismus, Ökonomismus) oder diese Politik wird
komplexer gedacht und begründet. So wird anerkannt, dass auch das
Bewusstsein der Unterdrückten „entstellt“, vom
Unterdrückungsverhältnis geprägt sein kann. Aber statt den
widersprüchlichen Charakter der persönlichen und kollektiven
Erfahrung selbst zu begreifen, wird auf eine eigentliche, aber
dahinter liegende, weniger unmittelbare Erfahrung rekurriert, die
gewissermaßen nur freigelegt werden müsse, oder es wird eine
gewisse Relativierung wie im Intersektionalismus vorgenommen, wenn
verschiedene Erfahrungen gegeneinander abgewogen werden.

Auch wenn die eigene bzw. kollektive Erfahrung für den Kampf
gegen Ausbeutung oder Unterdrückung einen unerlässlichen
Ausgangspunkt für Handeln, Rebellion, Infragestellung scheinbarer
Selbstverständlichkeiten darstellt, so kann aus ihr selbst heraus
sicher nie die Richtigkeit einer Analyse, eines Verständnisses des
Gesamtzusammenhangs hergeleitet werden.

Im Gegenteil, im Kapitalismus kann, ja wird bei den Unterdrückten
notwendig und spontan ein falsches Verständnis reproduziert werden.
Das tut z. B. der bürgerliche Feminismus, indem er die
Frauenunterdrückung auf eine Gleichheitsfrage reduziert; das tut der
Nationalismus von Befreiungsbewegungen, denn der Nationalismus ist
auch dann noch eine bürgerliche Ideologie; das tut der Ökonomismus,
indem er Arbeiter_Innenpolitik als Verlängerung des
nur-gewerkschaftlichen Klassenkampfes betrachtet.

Für den Marxismus stellt der Mensch hingegen ein „Ensemble
gesellschaftlicher Verhältnisse“ dar. D. h. die
Individualität, auch die Identität der Einzelnen z. B. ist
selbst ein historisches Produkt.

Damit ist nicht nur gemeint, dass wir in eine bestimmte Welt mit
bestimmten Möglichkeiten hineingeboren worden sind. Bestimmte
Klassengesellschaften bringen auch verschiedene Klassenindividuen
hervor und je nach Typus spezifische objektive Gedanken- und
Bewusstseinsformen, damit auch bestimmte Formen der Identität.

Aber die Identität stellt sich im Kapitalismus spezifisch dar.
Und zwar selbst in doppelter Weise als bürgerliches 
(WarenbesitzerIn) und Klassenindividuum (Klasse an sich).

Das Bewusstsein, bestimmte Bewusstseinsformen der Individuen sind
schon in der Form davon geprägt, dass die gesellschaftlichen
Verhältnisse in ihnen verschleiert werden, verkehrt erscheinen oder
überhaupt ihr Wesen verschwindet – und zwar mit Notwendigkeit. So
z. B. in der Lohnform – und das hat auch Auswirkungen auf die
Frage der Hausarbeit, privaten Arbeit, damit auch des Verhältnisses
zwischen den Geschlechtern.

D. h. die Identität der Ausgebeuteten und Unterdrückten ist
nicht einfach nur in dem Sinne „geformt“, dass sie z. B.
herrschaftskonforme Stereotypen nachvollziehen (z. B. Gehorsam,
moralische Werte, Geschlechternormen), sondern auch in dem, dass ihre
spontanen moralischen Ziele (Gleichheit, Gerechtigkeit, …) selbst
ideologische Formen darstellen und eine dem System selbst
entsprechende, wenn auch widersprüchliche Identität gebildet wird.
Diese enthält bewusste und unbewusste Komponenten und auch in sich
widersprüchliche Momente – nicht zuletzt weil auch die
Gesellschaft, deren subjektive Reflexion sie darstellt,
widersprüchlich ist.

Eine nicht gesellschaftsbezogene Betrachtung führt das dazu, dass
die Ungleichheit von Mann und Frau in der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung als Effekt biologischer „natürlicher“
Unterschiede erscheint oder als Auswirkung eines Diskurses, Narrativs
betrachtet wird.

Dieser Biologismus sitzt ebenso wie Identitätspolitik und
Queerfeminismus gesellschaftlichen Oberflächenphänomen auf. Er
nimmt die Identität (oder im Fall des Letzteren den Diskurs), also
eine bewusstseinsmäßige Widerspiegelung der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung zum Ausgangspunkt, nicht die materiellen, alltäglichen
Grundlagen der Gesellschaft: die herrschenden
Produktionsverhältnisse.

Wenn aber die gesellschaftlichen Verhältnisse (Ausbeutung,
Unterdrückung) nur vermittelt, ideologisiert im Bewusstsein und in
Rollen„zuweisungen“ erscheinen können, so kann auch nicht aus
der eigenen Erfahrung unmittelbar auf die Wurzeln oder die
gesellschaftliche Bedeutung der eigenen Unterdrückung/Ausbeutung
geschlossen werden.

Das Verhältnis von kapitalistischer Ausbeutung zu
Frauenunterdrückung lässt sich aus der unmittelbaren Erfahrung
nicht ableiten. So stellt das Kapitalverhältnis (und damit die
Ausbeutung der Lohnarbeit) das grundlegende gesellschaftliche dar.
Das bedeutet jedoch keineswegs immer, dass die Lebenslage der
Arbeiter_Innenklasse am schlechtesten wäre. In etlichen Ländern
oder ganzen Perioden kann die der Kleinbauern/-bäuerinnen und
Landlosen deutlich schlechter sein. Nichtsdestotrotz vermögen diese
keine konsequent revolutionäre Kraft zu konstituieren aufgrund ihrer
gesellschaftlichen Lage als, wenn auch in Auflösung begriffener,
Teile des Kleinbürger_Innentums.

Auch der Unterschied zwischen Ausbeutungs- und
Unterdrückungsverhältnis lässt sich nicht aus der Erfahrung
erkennen und verstehen, lässt sich nicht aus der Identität der
Ausgebeuteten oder Unterdrückten herleiten, weil die Identität
selbst objektiv gesellschaftlich geprägt ist, also „funktionale“
unterm Kapitalismus spezifische objektive Bewusstseinsformen,
Fetischformen (nicht nur im Sinn von falschen Zuschreibungen)
hervorbringt.

Identitätspolitik geht nicht vom Menschen als „Ensemble
gesellschaftlicher Verhältnisse“ aus, sondern vom Individuum. Die
gesellschaftlichen Verhältnisse werden nicht als konstitutiv
eingeführt, sondern bei der Analyse erst nachträglich (z. B.
in Form von Kritik an Privilegien, diskursiven Zuschreibungen usw.)
hinzugefügt und auch dann in der Regel auf der Ebene von
Verteilungsverhältnissen, nicht des ihnen zugrundeliegenden
kapitalistischen Produktionsverhältnisses und eines Verständnisses
der Totalität der bürgerlichen Gesellschaftsformation.

Damit werden zwar reale Erscheinungsformen zur Kenntnis genommen
und betont, aber auf einer falschen methodischen Grundlage, in der
z. B. Klassenverhältnisse nur als ein weiteres Attribut von
Diskriminierung und (autoritärer) Herrschaft erscheinen, nicht als
grundlegendes Ausbeutungsverhältnis.

Daher kann ein Programm auf Basis der Identitätspolitik
bestenfalls eklektisch sein, nicht revolutionär.

Daher muss der Marxismus Identitätspolitik grundsätzlich und in
jeder Form ablehnen, insbesondere  auch die Vorstellung,
Klassenpolitik als eine Form der Identitätspolitik zu begreifen. Das
würde bedeuten, Marxismus auf Ökonomismus zu reduzieren.

Die Ablehnung der Identitätspolitik bedeutet dabei nicht, die
Wichtigkeit eigener Erfahrung und der Bedeutung kollektiver Identität
abzulehnen. Im Gegenteil: Deren Betonung stellt ein wichtiges Element
revolutionärer Politik dar. Aber diese kann nicht spontan zu
revolutionärer Politik führen. Revolutionäres Klassenbewusstsein
erfordert vielmehr eine Verbindung kollektiver Erfahrung mit dem
Marxismus. Dies wiederum bedeutet den Aufbau einer revolutionären
Partei und Internationale, eines internationalen Kampfverbandes der
entschlossensten und bewusstesten Teile der Arbeiter_Innenklasse und
aller Unterdrückten auf der Basis eines Programms, dem eine
wissenschaftlich fundierte Verallgemeinerung geschichtlicher
Erfahrung zugrunde liegt.




Check your privileges – aber reicht das aus?

Leonie Schmidt, Revolution Deutschland, Fight! Revolutionäre
Frauenzeitung Nr. 9

„Check your privileges“/ „Check mal deine Privilegien“:
ein Satz, den du bestimmt schon mal irgendwo gehört hast. Gerade im
Zuge der BLM- und Antira-Proteste der letzten Jahre kam er vermehrt
auf und fordert Menschen, die nicht oder weniger unterdrückt werden,
dazu auf, sich ihrer Stellung in der Gesellschaft bewusst zu werden.
Dafür gibt es extra Checklisten im Internet oder in Büchern. Zu den
Unterdrückungsformen, die hier erforscht und verglichen werden,
gehören bspw. Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit, Ableismus
(bezeichnet die Beurteilung von Menschen anhand ihrer Fähigkeiten
und ist behindertenfeindlich) und auch Klassismus (Abwertung aufgrund
der Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse, insbesondere Vorurteilen
gegenüber Armen, aber ungleich dem Klassenwiderspruch). Viele der
Fragen auf den Checklisten beziehen sich auf strukturelle Probleme,
die die Unterdrückten alltäglich erleben. Manche beziehen sich
natürlich auch auf die Jobsuche und andere wichtige Bereiche wie zum
Beispiel das Familienleben.

Erstmals entwickelt wurde der Begriff des „male privilege“
(männliches Privileg) von Feminist_Innen in den 1970er Jahren, wo
besonders die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Vordergrund
stand. Später wurde die Untersuchung aber auch intersektionaler,
denn die Feministin Peggy McIntosh begann auch das „white
privilege“ mit zu untersuchen. So beschrieb sie diese Privilegien
als etwas, was bspw. Männer nicht direkt erkennen, da sie ihre
gesellschaftliche Stellung als etwas Persönliches und Individuelles
wahrnehmen. Aufgrund ihres eigenen Schicksals erkennen sie gar nicht,
dass sie gewisse Privilegien gegenüber anderen Personen genießen
oder aber aufgrund des bereits lange andauernden patriarchalen
Systems daran gewöhnt sind, weswegen die Vorteile und Rechte als
normal angesehen werden. Des Weiteren war ihr auch wichtig, dass
nicht alle Männer aktiv und bewusst zur Unterdrückung beitragen,
aber alle davon profitieren würden.

Das klingt ja eigentlich ganz plausibel, oder?

Sie mögen ein hilfreiches Werkzeug darstellen, um sich des
Ausmaßes von Unterdrückung bewusst zu werden, jedoch zählen diese
Checklisten lediglich Symptome auf und helfen uns nicht wirklich, die
strukturellen Unterdrückungsmechanismen zu verstehen, und vor allem
nicht, wie wir sie letztlich bekämpfen können, denn dazu gibt es
keine klaren Aussagen in der „Privilege Theory“
(Privilegientheorie). Wenngleich gerade in Bezug auf „male
privilege“ von einem patriarchalen System ausgegangen wird, so wird
dieses doch nicht näher in einen Kontext gesetzt und schon gar nicht
in den, dass es mit dem Kapitalismus und der Klassengesellschaft
zusammenhängt.

Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die „Privilege Theory“
wurde ähnlich wie die heute vorherrschenden Formen der
Identitätspolitik im Rahmen des Postmarxismus groß und verbreitete
sich, nachdem der Marxismus als gescheitert erklärt wurde.
Dementsprechend ist sie auch nicht darauf ausgelegt, Unterdrückung
im gesellschaftlich-strukturellen Sinne zu erläutern, sondern
fokussiert sich stattdessen lieber auf die individuelle Person. Und
wenngleich tatsächlich Personen, die kaum oder gar nicht unterdrückt
werden, bevorzugt werden in unserer Gesellschaft, müssen wir uns
doch fragen, wer am Ende WIRKLICH profitiert.

Und das ist in der Klassengesellschaft nun mal die herrschende
Klasse, im Kapitalismus die Bourgeoisie. Einerseits profitieren sie
von der Spaltung der Gesellschaft, insbesondere der
Arbeiter_Innenklasse, welche durch Unterdrückungsmechanismen
verstärkt wird und mit dafür sorgt, dass die Unterdrückten nicht
ihre gemeinsame Unterdrückung durch die Ausbeutung der Arbeitskraft
erkennen. Andererseits dient die Unterdrückung besonders von Frauen
und Queerpersonen der weiteren Aufrechterhaltung des Idealbilds der
bürgerlichen Familie. Diese ist im Kapitalismus unter anderem dafür
da, dass die Ware Arbeitskraft (also die Arbeiter_Innen) so günstig
wie möglich (re)produziert werden. Das mag abstrakt klingen, aber in
diesen Bereich fallen vor allem Erziehung, Haus- und Carearbeit,
welche im klassischen Rollenbild den Frauen aufgetragen werden. Das
lohnt sich für die Kapitalist_Innen insofern, dass sie so wenig wie
möglich dafür bezahlen müssen, also einen höheren Profit
erwirtschaften können.

Es ist zwar dem Kapital an sich egal, welches Geschlecht die
Hausarbeit letztendlich übernimmt. Aber im Kapitalismus wird das
nach wie vor den Frauen aufgetragen, nachdem eine schon vorgefundene
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung fortgeschrieben wird. Faktisch
kümmern sich auch heutzutage mehr Frauen um die Hausarbeit. So
verrichten im EU-Durchschnitt 79 % der Frauen täglich
Hausarbeit, aber nur 34 % der Männer. In vielen halbkolonialen
Ländern fällt das noch deutlicher aus – allerdings im Gegensatz
zum klassischen Bild der bürgerlichen Familie meist zusätzlich zu
der klassischen Lohnarbeit, so entsteht eine doppelte Ausbeutung.
Außerdem existiert weiterhin der Gender Pay Gap
(geschlechtsspezifischer Lohnunterschied; Frauen verdienen im
Durchschnitt 20 % weniger als Männer). Dadurch, dass Männer
mehr Lohn erhalten, manifestiert sich auch ihre Macht und das
passiert auch in der Arbeiter_Innenklasse. Dadurch helfen die
Privilegien auch die Klassengesellschaft zu stützen, denn viele
wollen sie nicht einfach aufgeben.

Bewusstsein und Kampf

Aber letztlich ist das nicht nur eine Frage des individuellen
Bewusstseins. Was z. B. den Gender Pay Gap betrifft, so lässt
sich das auf individueller Ebene auch nicht so leicht
bewerkstelligen. Würde sich z. B. eine proletarische Familie
dafür entscheiden, dass die Frau mit geringerem Stundenlohn Vollzeit
arbeitet und der Mann mit höherem teilzeitbeschäftigt ist, so
müssten sie und ihre Kinder unter den bestehenden Verhältnissen
signifikante Einkommenseinbußen hinnehmen. Gerade für ärmere
ArbeiterInnenfamilien ist das unmöglich, da sie ohnedies schon an
der Untergrenze der Reproduktionskosten leben. Um diese Unterdrückung
und doppelte Ausbeutung aufzuheben, brauchen wir also kollektive
Lösungen, die erkämpft werden müssen wie gleiche Löhne für
gleiche Arbeit und  die Vergesellschaftung der Hausarbeit, so
dass sie aus dem privaten Rahmen geholt und gesellschaftlich
organisiert wird. Solange die Hausarbeit noch nicht vergesellschaftet
ist, treten wir auch für die gleichmäßige Verteilung der
Hausarbeit auf alle Geschlechter im privaten Bereich ein.

Auch Rassismus ist hilfreich für die herrschende Klasse, denn so
kann das imperialistische System weiter aufrechterhalten werden. Er
liefert auch eine „Rechtfertigung“, warum bspw. migrantische
Menschen in Jobs im Niedriglohnsektor arbeiten müssen. Um Rassismus,
Sexismus usw. also gänzlich abzuschaffen, müssen wir ihnen die
materielle Voraussetzung nehmen: nämlich die Klassengesellschaft.
Erst im Sozialismus wird es möglich sein, effektiv diese Mechanismen
abzuschaffen, allerdings sind sie keine „Nebenfrage“, sondern
integraler Bestandteil des Klassenkampfes. Im Hier und Jetzt müssen
diese Kämpfe miteinander verbunden werden.

Wenngleich Klassismus auch eingebaut ist in der „Privilege
Theory“, so wird der Klassenkampf dadurch längst doch nicht zum
Dreh- und Angelpunkt der sozialen und politischen
Auseinandersetzungen. Die Ungleichheit der Klassen wird nur als ein
gleichgeordnetes Unterdrückungsverhältnis angesehen. Des weiteren
ist Klassismus in dieser Theorie auch nicht als letztlich nur
revolutionär aufhebbarer Klassenwiderspruch verstanden worden,
sondern bedeutet lediglich, dass (zumeist) die unteren Schichten mit
negativen Vorurteilen und Nachteilen im Bildungssektor und auf dem
Arbeitsmarkt zu kämpfen haben. Platt gesagt, soll man, nur weil man
aus einer niedrigen Schicht kommt, nicht respektlos behandelt oder
für unfähig erklärt werden, intellektuelle Kopfarbeit auszuführen.
Das berücksichtigt allerdings keinesfalls die Klassenunterdrückung
im Kapitalismus, in welcher die Bourgeoisie das Proletariat
ausbeutet. Somit ist dieser Ansatz unzureichend und präsentiert als
Lösung bloß, netter zu den unteren Schichten zu sein, weniger
Vorurteile zu haben, aber nicht die Klassengesellschaft an sich
abzuschaffen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass es, um effektiv seine
Privilegien zu „checken“, schon einen gewissen Grad an
Bewusstsein braucht, denn man muss ja erkennen, dass es diese Formen
von Unterdrückung gibt. Außerdem ist die Einsicht, dass es
Privilegien gibt, noch lange keine Garantin dafür, dass Personen
ihre auch ablegen wollen. Manche wollen sie im Gegenteil eher
verstärken (bspw. Konservative, die Abtreibungen verbieten wollen).
Grundsätzlich geht es natürlich beim Begreifen von Ungleichheit und
Unterdrückung innerhalb der eigenen Klasse immer auch um Bewusstsein
und Bewusstwerdung. Aber diese sind nicht losgelöst von den
materiellen Bedingungen. Das gesellschaftliche Sein bestimmt unser
Bewusstsein und nicht andersherum. Demnach kann diese gedankliche,
kritische Auseinandersetzung nicht alleine zu einer Lösung führen.
Des Weiteren verläuft die Bewusstseinsentwicklung nicht linear und
stellt auch nicht bloß ein persönliches, sondern vor allem auch ein
gesellschaftliches Phänomen dar. Das Massenbewusstsein kann Sprünge
machen – und zwar aufgrund gemeinsamer Kämpfe und Erfahrungen.
Umgekehrt kann es auch wieder zurückfallen, bspw. durch einen
Rechtsruck. Außerdem kann man bspw. in einer Reflektionsrunde viel
sagen, solange man nicht auch so handelt, hat das nur wenig Gewicht
und dient im schlimmsten Fall lediglich der Selbstbeweihräucherung.

Was tun?

Wir müssen den Chauvinismus und Sexismus in der Klasse bekämpfen,
um die Spaltung zu überwinden und die gemeinsame Kampfkraft zu
entfalten. Deshalb treten wir bspw. für das Caucusrecht von
Unterdrückten in den Organisationen der Arbeiter_Innenklasse ein.
Das bedeutet, dass sie das Recht haben, in einem gesonderten Raum,
allein unter ihresgleichen, über ihre Unterdrückung zu sprechen,
Probleme in der eigenen Organisation kollektiv aufzugreifen und
Empfehlungen an das Kollektiv auszusprechen, wie diese überwunden
werden können oder welche gemeinsamen Forderungen und Aktionen im
Kampf vorangetrieben werden sollen.

Wir treten für den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung
ein. In bestimmten Situation kann die Bildung einer kommunistischen
Frauenorganisationen sinnvoll sein, sowohl, um den Chauvinismus in
der Arbeiter_Innenklasse zu bekämpfen, die Arbeit unter
proletarischen Frauen zu systematisieren und so Frauen, die noch
nicht der revolutionären Partei (oder ihrer Vorform) beitreten
wollen, auf der Basis eines revolutionären Aktionsprogramms gegen
Frauenunterdrückung in einer möglichst engen Kampfgemeinschaft
näher an diese heranzuführen. Des Weiteren müssen wir auch in den
Organisationen dafür kämpfen, dass sich nicht nur die Unterdrückten
mit ihrer eigenen Unterdrückung theoretisch auseinandersetzen,
sondern auch alle anderen.

Alles in allem dürfen wir uns nicht darauf verlassen, dass wir,
wenn wir uns alle nur selber genug reflektieren, die
Unterdrückungsmechanismen abschaffen können. Auch die Vereinzelung
der Unterdrückungsformen und Unterdrückten sind nicht hilfreich,
denn wenn wir wirklich die Klassengesellschaft abschaffen wollen, ist
es nötig, dass wir ein revolutionäres Programm mit gemeinsamen
Forderungen aufstellen und zusammen für eine sozialistische Zukunft
kämpfen, die wir nicht durch Reform des kapitalistischen Systems,
sondern nur durch einen revolutionären Umsturz auf Basis einer
breiten Massenbewegung unter kommunistischer Führung erreichen!




Pan y Rosas: Zwischen Reform und Revolution?

Aventina Holzer, Arbeiter*innenstandpunkt, REVOLUTION
Österreich, Fight 9, März 2021

Seit Jahren nehmen nicht nur Angriffe auf Frauenrechte zu, sondern
stellen sich auch Bewegungen in unterschiedlichen Ländern dieser
Realität. Dies hat auch zu einer Wiederbelebung linker Strömungen
geführt, die darauf eine Antwort geben wollen. Auf der einen Seite
wird versucht, die Bewegungen zu unterstützen und zu analysieren,
auf der anderen sie loszutreten, sie zu befeuern und in eine richtige
Richtung zu lenken. Was die wenigsten Organisationen und Strömungen
aber begreifen, ist die Notwendigkeit, Frauenkämpfe nicht nur
abstrakt im Zusammenhang mit dem Kapitalismus zu sehen, sondern auch
dementsprechend revolutionäre und klassenspezifische Organisierung
zu erreichen. Deshalb halten wir es für zentral, in eine politische
Debatte mit jenen Kräften zu treten, die diesen Anspruch an sich
selbst und die Bewegung stellen. Schon in früheren Publikationen
haben wir uns mit programmatischen Manifesten und Theorien
beschäftigt, die selbst einen antikapitalistischen, sozialistischen
oder marxistischen Anspruch formulieren. So diskutierten wir in der
letzten Ausgabe von Fight!
das Manifest Feminismus der 99 %. Im Revolutionären
Marxismus 53
beschäftigten wir uns mit Lise Vogels
Marxismus und Frauenunterdrückung und der Social
Reproduction Theory.

Brot und Rosen

Im Folgenden besprechen wir das 2013 in Argentinien erschienene
Buch Brot und Rosen: Geschlecht und Klasse im Kapitalismus
(1) von Andrea D’Atri, dessen deutsche Übersetzung 2019
veröffentlicht wurde. Andrea D’Atri ist eine Aktivistin der
argentinischen Frauenbewegung und eine Genossin der
Frauenorganisation Pan y Rosas (Brot und Rosen) sowie der Partido de
los Trabajadores Socialistas (Partei der sozialistischen
ArbeiterInnen, PTS). Als eine der Gründerinnen von Brot und Rosen
hat sie auch einen beachtlichen theoretischen Beitrag ihrer
Organisation geleistet. Im Folgenden werden wir ihr Buch hinsichtlich
ihres historischen Verständnisses und ihrer Programmatik
untersuchen, aus denen sich maßgeblich ihre Vorstellungen für den
anvisierten politischen Kampf ergeben. Im Anschluss werden wir daher
auch auf  die programmatischen Grundlagen und
Schlussfolgerungen  des Internationalen Manifests von Brot
und Rosen
eingehen.

Auch wenn Andrea D’Atris Buch nicht das Produkt eines
gemeinsamen Beschlusses der gleichnamigen Organisation ist, so kann
man es durchaus als die politische Grundlage des Manifests von
Brot und Rosen
betrachten. Es beginnt mit einer Geschichte von
Frauenkämpfen. Mit einer Mischung aus historischem Gesamtblick und
einzelnen biographischen Erzählungen sollen aus einer proletarischen
Perspektive die Zugänge zum Kampf um Frauenbefreiung und Feminismus
erläutert werden. Beginnend mit Getreideaufständen in Europa und
gefolgt von der Französischen Revolution, über die
Industrialisierung, die Pariser Commune bis hin zum Kampf für die
demokratischen Rechte der Frau wird an episodischen Einzelschicksalen
die Situation und die Notwendigkeit der Kämpfe verdeutlicht. Danach
werden des Weiteren die Kriegssituation und auch die Kämpfe der
sozialistischen Frauenbewegung anhand der Organisationen und Debatten
der Zweiten Internationale dargestellt. Ein eigenes Kapitel
beschäftigt sich mit der Sowjetunion und Frauenrechten. Im weiteren
Verlauf wird auch deren stalinistische Degeneration beleuchtet.
Schließlich werden die Lage nach dem Zweiten Weltkrieg, der
Aufschwung der Linken nach 1968, das damit verbundene Anwachsen und
die Radikalisierung des Feminismus betrachtet. Am Ende findet sich
eine Kritik des institutionalisierten Feminismus wie des mit
Postmodernismus, Dekonstruktivismus und Postmarxismus einhergehenden
Vordringens von Individualismus und Skeptizismus.

Dieser Überblick verdeutlicht schon, worum es sich beim Buch
handelt – und worum nicht. Brot und Rosen ist sowohl eine
geschichtliche Darstellung der Frauenunterdrückung und der
Entwicklung des Kampfes dagegen wie der Entwicklung des Feminismus.
Oft erscheinen auch die linken Strömungen des Feminismus als synonym
mit revolutionärer, marxistischer Politik. Anders als der Untertitel
des Buches – Geschlecht und Klasse im Kapitalismus
suggeriert, stellt es keine theoretische Ausarbeitung des
Verhältnisses von kapitalistischer Ausbeutung zu systematischer
Unterdrückung der Frauen dar. Das Buch betont zwar immer wieder zu
Recht, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung nicht vom
Klassenkampf getrennt begriffen werden darf, dass die
ArbeiterInnenklasse das zentrale Subjekt im Kampf für Sozialismus
und die Überwindung aller Unterdrückungsformen darstellt. Es
verweist auch immer wieder berechtigter Weise darauf, dass das
Kapital von der Fesselung der proletarischen Frau an die Hausarbeit
unmittelbar ökonomisch profitiert und die Spaltung der Klasse seine
Herrschaft politisch festigt. Auf analytischer Ebene allerdings
bleibt die Darstellung im Wesentlichen bei diesen allgemeinen
Wahrheiten stehen, die sowohl der Marxismus wie auch Teile des
sozialistischen Feminismus anerkennen. Die spannende, für
MarxistInnen zu beantwortende Frage wäre allerdings, wie die private
Hausarbeit, und damit die spezifische Form der Frauenunterdrückung,
mit dem Kapitalverhältnis zusammenhängt, wie das
 Lohnarbeitsverhältnisses der Reproduktionsarbeit seinen
Stempel aufdrückt. Diese theoretischen Schwächen werden
insbesondere dann deutlich, wenn die Konzeptionen verschiedener
feministischer Strömungen betrachtet werden. Im Buch wird sich
ebenfalls mit der zweiten Welle des Feminismus und weiteren neueren
Strömungen beschäftigt. Diese werden auch stärker politisch
analysiert und eingeordnet. Hier können wir auf die politische
Position der Autorin selbst Rückschlüsse zu ziehen und die
Abgrenzung zum bürgerlichen Feminismus besser verstehen. Es werden
dabei speziell die Unterschiede zwischen Gleichheitsfeminismus, zu
denen D’Atri auch einige Strömungen des sozialistischen Feminismus
zählt, und des Differenzfeminismus herausgearbeitet.

Gleichheitsfeminismus und Differenzfeminismus

D’Atri beschreibt in diesem Kontext die feministische Bewegung
Ende der 1960er Jahre sehr unkritisch: „Die generelle
Perspektive der feministischen Bewegung der 70er Jahre ist
anti-institutionell. Deshalb ist sie nur im Rahmen der weltweiten
aufständischen Bewegungen zu verstehen […].“
  (S. 175)
Dies geht für sie – auch mit einem gewissen historischen Recht –
mit einer Radikalisierung des Feminismus einer. Der
Gleichheitsfeminismus betritt die Bühne. Dieser beschäftigt sich
mit Geschlecht als Konstrukt, worauf auch die Unterscheidung in sex
und gender, also zwischen biologischem und sozialem
Geschlecht, aufbaut. Diesbezüglich schreibt D’Atri:

„Der Gleichheitsfeminismus hat das Verdienst, Geschlecht als
soziale Kategorie zu begreifen […]. Er macht sichtbar, dass die
Unterdrückung der Frauen einen historischen Charakter hat und keine
„natürliche“ Konsequenz aus anatomischen Unterschieden ist. Der
Differenzfeminismus wiederum widersteht der Anpassung an ein System,
das auf der Unterordnung, Diskriminierung und Unterdrückung all
dessen basiert, was vom „universellen“ Modell abweicht, welches
unter patriarchaler Herrschaft geschaffen wurde.“
(S. 196)

Die Radikalität der zweiten Welle des Feminismus verortet die
Autorin also darin, dass sie an den Versprechen der bürgerlichen
Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – anknüpfe
und diese gegen Patriarchat und Kapitalismus wende. D’Atri entgeht
dabei zwar nicht, dass auch der bürgerliche und liberale Feminismus
genau daran ansetzen. Sie geht jedoch nicht auf die Grenzen der
Methode ein, die Kritik an Ausbeutung und Unterdrückung durch einen
Abgleich mit den uneingelösten Freiheitsversprechen zu begründen.
Es entgeht ihr damit, dass diese selbst zu einer reformerischen
Lösung drängt, wie sie in der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft
selbst noch in deren Idealen befangen bleibt, statt diese selbst als
Ideologie zu begreifen.

Innerhalb des Gleichheitsfeminismus unterscheidet sie drei Formen:
Den liberalen, den radikalen und den sozialistischen. Ersterer wolle
den Kapitalismus reformieren, um die Lage der Frauen zu verbessern.
Zweiterer betrachte das Patriarchat als die grundlegende
Gesellschaftsstruktur, die es abzuschaffen gelte. Der Zugang, den die
radikalen Feministen wählen, macht den Feminismus zu einer
politischen Theorie, die die Gesamtheit des politischen Systems
beschreiben soll. Hier werden die Frauen selbst als eigene Klasse
betrachtet. Die sozialistischen Feministen konzentrieren sich, so
D’Atri, währenddessen auf die Verbindung von marxistischer
Gesellschaftsanalyse mit Frauenunterdrückung.

„Er (der sozialistische Feminismus; d. Red.) setzt den
Schwerpunkt auf das Konzept des Patriarchats und auf die historische
Entwicklung der Art und Weise, wie Familienverhältnisse in den
verschiedenen Produktionsweisen organisiert sind. Die sozialistischen
Feministinnen verstehen die Ungleichheit als eine ganz und gar
gesellschaftliche Frage: Sie beschäftigen sich vor allem mit dem
Konzept der gesellschaftlichen Arbeitsteilung – eine Teilung, die
für sie die Ursache für die soziale Ungleichheit zwischen den
Geschlechtern ist. Sie definieren das Patriarchat als die Gesamtheit
der gesellschaftlichen Verhältnisse der menschlichen Reproduktion,
die von der männlichen Dominanz über Frauen und Kinder strukturiert
sind.“
(S. 180)

Für einige, so D’Atri weiter, stellt das Patriarchat den Fokus
und auch den Ausgangspunkt aller anderen Unterdrückung dar, der aus
historisch-materialistischer und dialektischer Perspektive
aufgearbeitet werden muss. Für andere besteht die Hauptaufgabe
darin, Frauenunterdrückung mit der Entstehung der
Klassengesellschaft zu begreifen und sie im Hinblick auf Produktion
und Reproduktion zu analysieren. Die Autorin belässt es bei dem
Verweis, dass sozialistische Feministen das Verhältnis von
Patriarchat und kapitalistischer Ausbeutung verschieden fassen. Dabei
liegt das Grundproblem des sozialistischen Feminismus gerade darin,
dass er eine methodisch-theoretische Versöhnung zwischen radikalem
Feminismus und Marxismus versucht, bei ihm Patriarchat und
Kapitalverhältnis als mehr oder weniger gut miteinander verbundene,
parallele, die gesellschaftliche Dynamik strukturierende Verhältnisse
dargestellt werden.

Für den Marxismus stellt allerdings das Kapitalverhältnis den
grundlegenden gesellschaftlichen Widerspruch dar, der die
spezifischen Formen der modernen Reproduktion und damit auch die
Frauenunterdrückung formt (2). Der sozialistische Feminismus
vertritt hingegen letztlich eine dualistische Auffassung. Diese muss
logisch und politisch-praktisch zu einem unterschiedlichen Begriff
des revolutionären Subjekts führen. Für den Marxismus ist dies die
ArbeiterInnenklasse, für den sozialistischen Feminismus gibt es
hingegen letztlich zwei Befreiungssubjekte, die Lohnabhängigen und
die Frauen. Unterschiedliche Strömungen innerhalb des
sozialistischen Feminismus legen ein stärkeres Augenmerk auf das
eine oder andere Subjekt. Tatsächlich ist dies im Endschluss
allerdings eine Negation Zetkins vollkommen korrekter Bemerkung, dass
es eine „Frauenfrage für die Frauen des Proletariats, des
Mittelbürgertums und der Intelligenz und der oberen Zehntausend


[gibt]

; je nach der Klassenlage dieser Schichten nimmt sie eine
andere Gestalt an.“ (Zetkin,
Nur mit der proletarischen Frau wird der Sozialismus siegen
)

Von dieser grundsätzlichen Problematik des sozialistischen
Feminismus findet sich im Buch kein Wort. D’Atri unterstellt
vielmehr, dass der sozialistische Feminismus eigentlich auf dem Boden
der revolutionären ArbeiterInnenpolitik stehen würde: „die
sozialistischen Feministinnen – strategisch und mit verschiedenen
Nuancen – [bestehen] auf der Notwendigkeit einer
antikapitalistischen Revolution.“
(S. 181) Wir möchten
keinesfalls in Frage stellen, dass einige sozialistische
FeministInnen durchaus subjektiv revolutionäre Ambitionen hegen.
Allerdings verwischen solche Formulierungen die eigentlich
fundamentalen Unterschiede zum Marxismus. Anstatt sozialistische
FeministInnen für den historisch-dialektischen Marxismus zu
gewinnen, werden letztlich gewichtige Positionen des letzteren
aufgegeben. Unterschiedliche Theorien, oft auch mit unterschiedlichen
praktischen Resultaten, erscheinen als reine Nuancen. Logischerweise
wird daher auch der Niedergang des Gleichheits- und die Krise des
sozialistischen Feminismus ohne Bezug auf deren eigene, innere
Problematik erklärt. Er erscheint einzig als Resultat einer
geschichtlichen Epochenwende:

„Während die bürgerliche Restauration voranschreitet, kann
weder die Integration in die kapitalistische Demokratie des
Gleichheitsfeminismus noch die widerspenstige Gegenkultur des
Differenzfeminismus verhindern, dass sich Gewalt und Unterdrückung
von Millionen Frauen auf der ganzen Welt fortwährend reproduzieren
[…].“
(S. 197)

Richtig ist sicherlich die kritische Haltung gegenüber dem
institutionalisierten Gleichheits- und zum Differenzfeminismus.
Stärker wird außerdem mit der Intersektionalität und
Identitätspolitik abgerechnet, obwohl diese nur am Rande erwähnt
werden. Die Kritik konzentriert sich darauf, dass eine
Individualisierung der Unterdrückung nicht der Weg sein kann, um sie
kollektiv zu überwinden. Es sei gefährlich, Ausbeutung auf eine
Stufe mit Unterdrückung zu setzen, damit also auch die Ursprünge
der Unterdrückung im Kapitalismus unscharf zu machen. Während dies
der richtige Ansatzpunkt ist, wundern wir uns, warum diese Erkenntnis
nicht auf die eigene Analyse der gesellschaftlichen Rolle von Frauen
konsequent angewandt wird. Die Auseinandersetzung mit postmodernen
Strömungen ist vor allem auf Judith Butler bezogen und kritisiert im
weiteren Verlauf vor allem deren individualistische und idealistische
Ansprüche, keine Theorie für die Massen schaffen zu können und zu
wollen, daher auch teilweise keinen Anspruch zu hegen, das
kapitalistische System zu überwinden. Neben dieser sehr berechtigten
Kritik an unterschiedlichen Strömungen des Feminismus stellt sich
für die LeserInnen ein bisschen die Frage, was denn nun die eigene
Perspektive der Autorin ist. Das ist zwar nicht unbedingt die
Fragestellung des Buches, wird aber auch im Manifest nicht
ausreichend beantwortet, das am Ende des Buches veröffentlicht ist.

Brot und Rosen als Manifest

Das Internationale Manifest von Brot und Rosen stammt aus
dem März 2017. Die Genossinnen dieser Organisation sind zugleich
Teil der Trotzkistischen Fraktion für die Vierte Internationale.
Ähnlich wie das Buch beginnt das Manifest mit einem kurzen Abriss
von Frauenkämpfen, von einzelnen Biografien revolutionärer Frauen
und von Kämpfen, die langfristige Veränderungen und Verbesserungen
für die ArbeiterInnenbewegung gebracht haben. Es wird damit versucht
zu erklären, in welcher Tradition Brot und Rosen sich sieht. Mit
diesen historischen Verweisen wird im weiteren Verlauf auch die
Notwendigkeit einer Abgrenzung von neoliberalen Lösungsversuchen und
vom bürgerlichen Feminismus begründet, die sich auf individuelle
statt kollektive Lösungsversuche verlassen. Zeitgleich wird aber
auch betont, wie die Kämpfe der Vergangenheit zu einer kompletten
Veränderung der Situation von Frauen weltweit führten, speziell was
die Frage von demokratischen Rechten angeht. Dies wirft, laut dem
Manifest, auch ein besonders schlechtes Licht auf den Stalinismus,
der nicht nur eine reaktionäre Rolle in Frauenkämpfen spielte,
sondern damit auch die Abkehr vieler Frauen vom Sozialismus zu
verantworten hatte.

Die weitere Analyse leitet den Existenzgrund der Gruppierung aus
dem speziellen Faktor der Gewalterfahrung aufgrund sexistischer
Diskriminierung ab, was mit der Bewegung „Ni una menos“ auch ein
wichtiger Ausgangspunkt der Entstehung der Organisation ist. Hierbei
geht es in der Analyse speziell um die Ohnmacht, die Frauen fühlen
und ihre Rolle als Opfer, wogegen sich Brot und Rosen stark machen
möchte. Frauen sollen ihren Subjektstatus wiedererlangen. Zeitgleich
wird argumentiert, dass man sich nicht auf den bürgerlichen Staat
verlassen könnte, um dieses Problem zu lösen und stattdessen der
Hass gegen Unterdrückung und unfaire Behandlung auf den wahren
Übeltäter, den Staat, gerichtet werden muss.

Im nächsten Abschnitt werden die ersten Forderungen mit den
vorhergehenden Analysen verbunden. Es geht auf der einen Seite um den
Kampf um politische Freiheiten und demokratische Rechte. An dieser
Stelle wird zu Recht eine ultralinke Politik abgelehnt und
argumentiert, dass man durchaus auch im Parlament für Verbesserungen
und  Frauenrechte kämpfen kann. Andererseits wird für die
breiter gefächerten Forderungen wie „gegen Gewalt an Frauen“
auch konkret vorgeschlagen, Frauenkommissionen in Betrieben,
Wohnorten und Ähnlichem zu gründen, die sich selbst organisieren.
Was diese Kommissionen dann aber konkret tun müssen, um aktiv gegen
Gewalt an Frauen anzukämpfen, wird nicht weiter ausgeführt.
Schlussfolgerungen wie Selbstverteidigung und demokratische Kontrolle
an und über Arbeitsplätze/n werden nicht erwähnt. Weitere
Forderungen beziehen sich auf antiimperialistische Positionen und ein
„Ende von Rassismus“, Selbstbestimmungsrecht über den eigenen
Körper, Ausbau von Kinderbetreuung und Trennung von Staat und
Kirche. Auch arbeitsrechtliche Verbesserungen haben ihren Platz im
Manifest wie das Ende von prekärer Arbeit und einzelne
Übergangsforderungen wie die nach Aufteilung der Arbeit auf alle
Hände.

Der Ursprung der Frauenunterdrückung?

Es wird sich zwar immer wieder auf klassenkämpferische Politik
bezogen, aber zeitgleich eine Ebene etabliert, auf der sexistische
Unterdrückung zusätzlich, daher letztlich auch begriffslogisch
unabhängig vom Kapitalverhältnis existiert. Folglich werden also
die Fragen von Reproduktionsarbeit und der Vergesellschaftung dieser
sowie zur Einbeziehung der gesamten Klasse in gemeinsame politische
Kämpfe um diese herum nicht als zentraler programmatischer
Ausgangspunkt gesehen – weder im Buch noch im Manifest.

Dieser Mangel führt auch dazu, dass wichtige Teilforderungen nach
sozialer und politischer Gleichheit nicht mit der eigentlich
strategischen Frage verbunden werden, in welche Richtung denn die
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung überwunden werden muss. Eine
Reihe von Minimalforderungen aufzustellen, ist zwar gut und richtig,
führt aber zu keiner nachhaltigen Überwindung des Systems und
entwickelt auch keinen Ansatz dazu, wie nach einer erfolgreichen
Revolution Frauenunterdrückung überwunden werden kann.

Der ganze Text wirkt eher wie eine Aneinanderreihung von
Ungerechtigkeiten als eine systematische Analyse, aus der sich
logisch der gemeinsame Kampf gegen Staat und Kapital ergibt. Am Ende
wird anerkannt, dass die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus
die Aufgabe der ArbeiterInnenklasse ist. Diese Schlussfolgerung wird
aber davor kaum argumentiert. Sätze wie: „Denn in der
unbezahlten Hausarbeit ruht ein Teil der Profite der
Kapitalist_Innen, die so den Arbeiter_Innen nicht die Tätigkeiten
entlohnen müssen, die für ihre eigene tägliche Reproduktion als
Arbeitskräfte […] nötig sind“
(S. 252) beinhalten auch ein
einseitiges Verständnis der Ökonomie der privaten Hausarbeit. Es
wird suggeriert, dass diese immer mit einer Senkung des Werts der
Ware Arbeitskraft einhergehen würde. Dies ist aber keineswegs immer
der Fall. Unter bestimmten Bedingungen können die
Akkumulationsbedürfnisse sogar eine begrenzte Sozialisierung der
Reproduktionsarbeit erfordern, die ihrerseits mit einer Senkung des
Werts der Ware Arbeitskraft einhergeht, wenn z. B. die Kosten
für Lebensmittel sinken und Teile der Reproduktionsarbeit staatlich
organisiert werden. Die Steigerung des Profits ist in diesem Fall
nicht auf  Vermehrung privater Hausarbeit zurückzuführen, ja
kann sogar mit deren Abnahme einhergehen.

Ein Übergangsprogramm zur Frauenbefreiung?

Schlussendlich betont das Manifest, dass Klassenunabhängigkeit
erreicht werden muss. Die logische Schlussfolgerung ist die Schaffung
einer unabhängigen Arbeiter_Innenbewegung, die am Aufbau einer
revolutionäre Massenpartei und Internationale beteiligt sein müsse.
Das Programm endet mit der Betonung auf einem klaren Bruch mit dem
Reformismus und einem Bekenntnis zur ArbeiterInnenbewegung. Damit
steht es weit links von den meisten feministischen Strömungen. Die
Frage ist freilich, ob das Manifest selbst eine konsequente
programmatische Antwort liefert. Brot und Rosen steht in einer
trotzkistischen Tradition und vielen Forderungen lässt sich das auch
anmerken. Es fehlt aber eine Systematik, die versucht, ein
schlüssiges Programm miteinander verbundener Übergangsforderungen
zu entwickeln. Letztlich bleibt die Verbindung zwischen den heutigen
Kämpfen und der Revolution hölzern. Vielmehr handelt es sich beim
Manifest um eine Reihe an Minimal- und Maximalforderungen, die ohne
einen roten Faden mit sporadischen Einsprengseln einzelner
Übergangsforderungen aufgezählt werden.

Am augenscheinlichsten ist dabei, dass die Frage nach
Arbeiter_Innenkontrolle kaum erwähnt wird. Die Forderung
aufzuwerfen, dass es „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ braucht
oder auch eine Aufteilung der Arbeit auf alle Hände notwendig ist,
ist sicher richtig, beantwortet aber nicht, wer das kontrolliert und
wie diese Forderungen umgesetzt werden sollen. Die häufiger
erwähnten Frauenkommissionen, die an Arbeitsplätzen, Schulen und
Wohnorten gegründet werden sollen, bleiben relativ zahnlos. Es wird
nicht erklärt, wie sie zu einem Interaktionspunkt einer militanten
und von den kapitalistischen Institutionen unabhängigen
Frauenbewegung werden können. Hierfür müssten sie sowohl Organe
der  Selbstverteidigung einerseits sowie andererseits der
Kontrolle am und über den Arbeitsplatz, Wohnort etc. sein. Es müsste
außerdem dargestellt werden, in welchem Verhältnis sie zu den
bestehenden Massenorganisationen stehen sollten. Es erscheint, als
würden Gewerkschaften, reformistische oder links-populistische
Parteien sich zu solchen Organen nicht verhalten oder diese gar
kontrollieren falls sie morgen geschaffen würden.

Inwiefern sollen und können diese Frauenkommissionen mit dem
vorherrschenden Bewusstsein brechen? Unter welchen Umständen können
sie Gegeninstitutionen des bürgerlichen Staates verkörpern? Vor
allem aber bleibt auch unklar, ob solche Kommission als Organe der
proletarischen Einheitsfront oder Organe einer Minderheit der Klasse
auftreten sollen.

Richtigerweise wird im Manifest die Notwendigkeit des Bruchs mit
dem bürgerlichen Staat, dessen Institutionen und den bürgerlichen
Parteien gefordert. Aber dies bleibt abstrakt ohne Bezugnahme auf die
sehr reale Bewegung von Arbeiter_Innen, die organisatorisch oft von
reformistischen Parteien und bürokratischen Gewerkschaften
kontrolliert, ideologisch von unterschiedlichen nicht-revolutionären
feministischen Ideologien beeinflusst werden. In solchen Situationen
sind Einheit in der Aktion und revolutionäre Kritik von oberster
Bedeutung. Eine prinzipienfeste Anwendung der Einheitsfronttaktik
kann sogar zeitweilige Bündnisse mit bürgerlichen oder liberalen
Feministinnen wie mit Vertreter_Innen des Differenz- oder
Queerfeminismus als auch dem Reformismus erlauben. Aber natürlich
tragen solche Formationen einen Klassencharakter. Eine Schwäche von
Brot und Rosen ist die fehlende theoretische Tiefe, welche wiederum
kein breites taktisches Reservoir bietet. Das beinhaltet auch die
Gefahr, dass praktischer Kontakt mit z. B. einer bürokratischen
Gewerkschaft, die Arbeiter_Innen organisiert, oder liberalen
Feminist_Innen, die eine kämpfende kleinbürgerliche Frauenbewegung
anführen, impressionistisch bleiben muss.

Dies wird umso deutlicher, wenn wir uns vor Augen halten, dass die
subjektiv revolutionären Linke – und dazu gehört auch Brot und
Rosen – eine kleine Minderheit innerhalb der Arbeiter_Innenklasse
und der Frauenbewegung darstellt. Erfolgreiche Kämpfe sind auch auf
dem Gebiet der Verteidigung der Rechte der Frauen nur möglich, wenn
es gelingt, die Anhänger_Innen von Massenbewegungen zu gewinnen,
wenn wir die Forderung nach Einheit im Kampf sowohl an deren
Mitglieder als auch an deren Führungen systematisch stellen. Diese
methodische Schwäche bezüglich der Einheitsfront betrifft sicher
nicht nur Brot und Rosen alleine, sondern bildet eines der
Kernprobleme der zentristischen Politik der Trotzkistischen Fraktion
für die Vierte Internationale.

So erscheint das Entstehen einer revolutionären Kraft, der Bruch
mit der Bourgeoisie vor allem als deklamatorische Übung. Natürlich
kann es einer solchen Politik manchmal gelingen, eine beträchtliche
Minderheit von Radikalen zu versammeln. Aber welche Richtung wird
diese Minderheit einschlagen, um die Tore der gesamten Klasse zu
stürmen? Wir fürchten, dass Brot und Rosen eine theoretische
Schwäche innewohnt, die die Gefahr einer scharfen Wendung zum
Opportunismus oder einer Fortsetzung des Sektierertums in sich birgt,
sobald eine solche Organisation auf die Probe gestellt wird, wenn sie
sich tatsächlich in der größeren Arena des Klassenkampfes
praktisch verhalten muss. Dies ist verbunden mit einer Konzeption,
die leicht als idealistischer Ansatz missverstanden werden kann, der
erklärt, dass die Erfahrung der Unterdrückung und des radikalen
Bruchs an sich das Potenzial für die revolutionäre Überwindung des
Kapitalismus bieten würde.

Revolution, aber wie?

Neben diesen programmatischen Unklarheiten ist auch die
Schwerpunktsetzung etwas undurchsichtig. Für ein Programm, das sich
selbst auf die Fahne schreibt, für eine Überwindung des
Kapitalismus zu stehen, wird über diese letztlich kaum konkret
geschrieben. Vielleicht sieht sich Brot und Rosen nicht in der
Verantwortung, als Vorfeldorganisation eine eigenständige
konsequente, revolutionäre Programmatik vorzuschlagen, sondern
überlässt das lieber der Trotzkistischen Fraktion.
Nichtsdestotrotz: Für eine Organisation, die sich in Worten so stark
auf die Revolutionärin Luxemburg bezieht, wäre  eine
Revolutionskonzeption durchaus angebracht. Das Manifest erklärt das
Ziel der Schaffung einer Internationalen, aber auch hier erscheint
dies vor allem als eine Willensbekundung.

Die Forderungen des Manifests spiegeln weitestgehend den Inhalt
des Buches wider. Während wir mit den meisten konkreten Forderungen
übereinstimmen, fallen diese jedoch recht knapp aus. Ein wichtiger
blinder Punkt ist der Kampf um LGBTQIA+-Rechte, die vor allem in den
letzten Jahren ein essenzieller Bezugspunkt für Frauenkämpfe
geworden sind. Es wird weder klar, warum diese Kämpfe erneut an
Bedeutung gewonnen haben, noch wie diese in der revolutionären
Konzeption von Brot und Rosen zusammengeführt werden können.

Wie bereits erwähnt, fehlt ein zentraler programmatischer Punkt:
die Vergesellschaftung der Hausarbeit und zentrale damit verbundene
Forderungen. Leider fehlt auch eine Positionierung zu den
Frauen*streiks, immerhin eine Massenbewegung unserer Zeit, die die
Trennung von reproduktiver und produktiver Arbeit in den Vordergrund
gestellt hat.

Sowohl Buch als auch Manifest übersehen oder bestreiten, dass der
sozialistische Feminismus eine dualistische Interpretation des
gesellschaftlichen Grundwiderspruchs darstellt. Zumindest implizit
akzeptieren Brot und Rosen die Grundannahme aller feministischen
Strömungen, dass es eine spezielle Frauenfrage gibt, die mit den
Werkzeugen des historisch-dialektischen Materialismus nicht adäquat
erklärt werden kann. Statt den Marxismus weiterzuentwickeln, auch
durch kritische Auseinandersetzung mit empirischen, historischen oder
theoretischen Konzepten des Feminismus, wird der Marxismus dem
sozialistischen Feminismus angepasst.

So erklärt sich die dargestellte Dichotomie zwischen Feminismus
und Arbeiter_Innenbewegung, der die Leser_Innen nur schwer entkommen
können. Dies mag auch mit der Schwäche des Buches und des Manifests
zusammenhängen, unterschiedliche analytische Ebenen zu etablieren:
Theoretische Abstraktionen, historische Realitäten und zukünftige
Interventionen erscheinen nebeneinander. Während die
Auseinandersetzung mit der Historiografie und konkrete persönliche
Beispiele das Verständnis und die empathische Beziehung zu einem
Thema stärken können, wird es aber problematisch, wenn sich eine
solche Methode im Manifest widerspiegelt.

Buch und Manifest schwanken stark zwischen Proklamationen,
Geschichtsschreibung, persönlichen Erzählungen, theoretischen
Zusammenfassungen, Forderungen und einer Kritik am liberalen
Feminismus. Ein konsistentes Programm und zentrale Taktiken unserer
Zeit werden jedoch kaum entwickelt. Der implizite Fokus, so scheint
es, ist, den Feminismus wieder (?) sozialistisch zu machen. Dies
scheint der Weg zu sein, auf dem eine proletarische, eine
revolutionäre Frauenbewegung aufgebaut werden kann.

Letztlich ist es daher nicht verwunderlich, dass sowohl eine
theoretische als auch eine programmatische Trennung zwischen dem
Marxismus und den verschiedenen Spielarten des sozialistischen
Feminismus fehlen, wo diese notwendig wären. Dies wird durch eine
mangelnde Konzeption für die Intervention der revolutionären
Organisationen gegenüber den Massenorganisationen ergänzt. Der
Aufbau der proletarischen Frauenbewegung erscheint daher, wenn
überhaupt, als ein ambivalenter und diskursiver Prozess des
subjektiven sozialistischen Flügels innerhalb des Feminismus, nicht
aber als eine theoretisch klärende Intervention des Marxismus
gegenüber Strömungen des Feminismus.

Damit soll der wichtige Beitrag in den täglichen Kämpfen der
Genossinnen von Brot und Rosen nicht unterschätzt werden. Ganz im
Gegenteil. Gerade aufgrund der Impulse, die die Genossinnen gegeben
haben, sind wir der Meinung, dass theoretische und programmatische
Schwächen diskutiert werden sollten, bevor der gewonnene Fortschritt
durch die bevorstehenden größeren praktischen Tests rückgängig
gemacht wird. In diesem Sinne hoffen wir, dass diese Kritik auch als
eine solidarische verstanden wird. Wir haben unsererseits ein großes
Interesse sowohl an einem gemeinsamen Klärungsprozess als auch an
einer gemeinsamen Praxis beim Aufbau der heutigen Bewegungen.

Endnoten

(1) Andrea D’Atri, Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im
Kapitalismus, Argument Verlag, Hamburg 2019; Zitate aus dieser
Ausgabe

(2) Ausführlicher dazu: Bewegung für eine
revolutionär-kommunistische Internationale, Keine Frauenbefreiung
ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung, in:
Revolutionärer Marxismus 42 und Stefan
Katzer, Kritik des Feminismus
, in: Fight! Revolutionärer
Frauenzeitung Nr. 6




Vergesellschaftung der Hausarbeit

Ella Mertens, REVOLUTION Österreich, Fight! Revolutionäre
Frauenzeitung Nr. 9

Obwohl Frauen rund 60 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Haus- und
Sorgearbeit – Kochen, Putzen, Kinder- und Krankenbetreuung –
aufbringen als Männer, werden weder diese Arbeit noch die sie
Ausübenden besonders geschätzt. Nicht nur nicht gewürdigt wird die
Hausarbeit, sie wird größtenteils nicht einmal als Arbeit
wahrgenommen. „Niemand bemerkt sie, es sei denn, sie wird nicht
gemacht.“ (Barbara Ehrenreich, 1975)

Dieses Ungleichgewicht in der geschlechtlichen Aufteilung der
Hausarbeit geht mit einem Ungleichgewicht in der Aufteilung der
bezahlten Arbeit einher: In Deutschland ist rund die Hälfte aller
Frauen teilzeitbeschäftigt – unter Müttern ist diese Zahl noch
höher. Gleichzeitig arbeiten 88,8 % der Männer ausschließlich
in Vollzeit – eventuelle Vaterschaft beeinflusst diese Zahl kaum.
Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bildet die Grundlage für
ein Machtgefälle innerhalb der bürgerlichen Familie: die
(Haus-)Frau ist finanziell von ihrem Mann abhängig, während
gleichzeitig ein Großteil der Reproduktionsarbeit von ihr verlangt
wird.

Die Pandemie hat diese Doppelbelastung nochmal massiv verstärkt.
Gleichzeitig gibt es einige Stimmen, die glauben, dass Homeoffice die
Situation für Frauen verbessert, da sich diese dann „flexibler“
aussuchen können, wann sie denn die unbezahlte Mehrarbeit erledigen
können. An dieser Stelle wollen wir aufzeigen, dass das nur eine
Scheinlösung ist und was wirklich hilft, das Problem zu lösen. Doch
bevor wir dazu kommen, wollen wir klären, warum es überhaupt diese
Form der unbezahlten Arbeit gibt.

Was ist Reproduktionsarbeit?

Der Begriff der Reproduktionsarbeit geht auf Karl Marx zurück und
bezeichnet die Wiederherstellung der Arbeitskraft (also die Fähigkeit
produktive Arbeit zu verrichten), sowohl im individuellen als auch im
gesellschaftlichen Bereich. Es zählen dazu alle Tätigkeiten, die
direkt zum Erhalt des menschlichen Lebens dienen (Waschen, Kochen,
Pflegen, Erziehen). Sie kann gegen Lohn oder unbezahlt stattfinden.
Die Reproduktionsarbeit stellt in der Regel keine produktive Arbeit
für das Kapital dar, weil sie meist keinen Mehrwert generiert
(obwohl es auch Unternehmen gibt, wo Reproduktionsarbeit einen Profit
für das Kapital schafft wie z. B. bei privaten
Krankenhauskonzernen). Produktiv bedeutet hier vor allem die Stellung
welche die Arbeit zum Kapital hat und keine moralische Wertung.

Auch wenn die Reproduktionsarbeit in bestimmten Entwicklungsphasen
(z. B. Expansion nach dem 2. Weltkrieg) selbst Tendenzen zur
Vergesellschaftung unterliegt, so verbleiben wesentliche Teile im
privaten Haushalt. Gerade in Krisenperioden wird versucht, diese
Arbeiten ins Private zurückzudrängen, wo sie nicht entlohnt werden
muss. Das trifft besonders die Tätigkeit, die wir tagtäglich zum
Überleben brauchen: jene unsichtbare, selbstverständliche
Angelegenheit der Hausarbeit, die mehrheitlich von Frauen verrichtet
wird.

Die für den Kapitalismus typische Struktur stellt dabei die
bürgerliche Kleinfamilie dar. Dabei erfüllt sie unterschiedliche
Aufgaben. So dient sie für die Familien der Arbeiter_Innenklasse
dazu, die Ware Arbeitskraft zu reproduzieren. Gleichzeitig wird
dadurch die geschlechtliche Arbeitsteilung zwischen Männern und
Frauen reproduziert und an die nächste Generation vermittelt.

Aber was ist mit Kindergärten, Krankenhäusern und Schulen? Ist
das nicht widersprüchlich, dass es die gibt, wenn versucht wird,
alle Kosten zu sparen? Diese Teile der Care-Arbeit, die
gesellschaftlich organisiert werden, resultieren aus Kämpfen der
Arbeiter_Innenbewegung, verstärkter Nachfrage nach (weiblicher)
Lohnarbeit sowie den gestiegenen Anforderungen an die Arbeitskraft.
Beispielsweise Schulbildung ist ein Bereich, der (zumindest
teilweise) staatlich organisiert wird, u. a. damit die einzelnen
Kapitalist_Innen nicht die Ausbildungskosten tragen müssen, was
einen Konkurrenznachteil gegenüber ihrer Konkurrenz mit sich bringen
würde, die ausgebildete Arbeitskräfte einstellt, aber nicht für
ihre Ausbildung bezahlt. Deswegen tritt an ihrer Stelle der Staat als
ideeller Gesamtkapitalist und trägt die Kosten, welche auch durch
Steuern von der Arbeiter_Innenklasse eingetrieben werden.

Insgesamt sind diese Care-Bereiche oftmals schlecht bezahlt und
unterliegen wie beispielsweise die Arbeit im Krankenhaus dem Druck,
profitabel zu wirtschaften. Generell werden Frauen nicht nur in
schlechter bezahlter Berufe gedrängt, sondern verdienen auch bei
gleicher Arbeit deutlich weniger, was wiederum die
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Haushalt der
Arbeiter_Innenklasse insgesamt reproduziert.

Was tun?

Individuelle Lösungen wie Homeoffice, Putzhilfen, Absprachen mit
dem männlichen Partner oder Einbeziehung von Freund_Innen mögen
vielleicht unmittelbar helfen. Aber sie sind keine
gesamtgesellschaftliche Lösung, ja sie können, wenn wir z. B.
den überausgebeuteten Sektor weiblicher Haushaltshilfen betrachten,
sogar die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertiefen.

Oft sind sie nur für jene möglich, die sich des Problems
überhaupt bewusst sind und es sich „leisten“  können, weil
sie entweder Geld haben, sich von dieser Arbeit freizukaufen oder
über ein Umfeld verfügen, das genügend Zeit dafür bietet. 
Es gibt auch Feminist_Innen, die eine Lösung versucht haben zu
finden. Mit ihrem Werk „Die Macht der Frauen und der Umsturz der
Gesellschaft“ prägten  Mariarosa Dalla Costa und Selma James
die Debatte um die Hausarbeit entscheidend. Aus dieser Theorie
entstand erstmals 1974 in Italien die Forderung nach Lohn für
Hausarbeit. Diese ist allerdings ebenfalls problematisch. Anstatt die
Rolle der Hausfrau abzuschaffen und eine neue Verteilung der
reproduktiven Arbeit zu bieten, institutionalisiert sie sie und
festigt sie somit. Die geschlechtliche Arbeitsteilung  bleibt
erhalten und somit kämpft diese Forderung nicht für eine
konsequente, langfristig Verbesserung für Frauen. Was also tun? Wenn
wir die Doppelbelastung von Frauen beenden wollen, dann müssen wir
das Problem an der Wurzel packen: der bürgerlichen Familie.

Wie stellen wir uns das vor?

Das heißt nicht, dass wir als Kommunist_Innen die Familie
verbieten wollen. In der kapitalistischen Gesellschaft dient, sie wie
oben beschrieben, für die Arbeiter_Innenklasse als Ort, wo die
eigene (und zukünftige) Arbeitskraft reproduziert werden kann. Sie
ist trotz all ihrer Widersprüchlichkeit der Raum, in dem man sich
auch erholen kann. Statt also individuelle Absprachen zu treffen oder
zu hoffen, dass man irgendwann genug Geld verdient, sich
Haushaltshilfen zu leisten, macht es Sinn, gesamtgesellschaftliche
Lösungen zu finden – also die Reproduktionsarbeit auf alle Hände
aufzuteilen.

Dazu braucht man nicht an eine utopische Zukunft in mehreren
Jahrzehnten zu denken, um sich eine vergesellschaftete Hausarbeit
vorstellen zu können. Bereits 1930 gab es in Wien ein Wohnprojekt,
das – zumindest im kleinen Stil – diese Forderungen aufgriff: den
Karl-Marx-Hof. In dem Gemeindewohnbau gab es zusätzlich zu Wohnungen
mehrere gemeinschaftliche Einrichtungen wie kommunale Waschküchen,
Jugendheime und Kinderbetreuungsstellen, die von den Bewohner_Innen
gemeinsam organisiert und genutzt wurden. Für diese Einrichtungen
sprechen gleich mehrere Sachen: Erstens wird die Zeit, die wir
individuell in die Reproduktion stecken, gesenkt, die wir dann
woanders nutzen können. Zweitens beenden wir damit ebenso die
geschlechtliche Arbeitsteilung und damit die Grundlage für die
nervigen Geschlechterrollen, in die wir im Kapitalismus gedrängt
werden.

Wie ist das realisierbar?

Im Kapitalismus hat das Ganze Grenzen. Schließlich geht’s den
Kapitalist_Innen nicht darum, dass wir glücklich sind, sondern um
ihre Profite. Zwar gibt es Tendenzen, wie beispielsweise in
Kriegszeiten, in denen mehr Bereiche der Reproduktion kollektiviert
wurden. Dies diente aber nur kurzfristig dazu, mehr Frauen in die
Produktion zu ziehen. Nach dem Kriegsende wurde das Ganze wieder
geändert und die Frauen entlassen.

Damit es also nach unserem Interesse läuft, müssen wir die
Vergesellschaftung der Hausarbeit selber kontrollieren. Konkret heißt
das, dass wir alle Kürzungen im Bereich der öffentlichen
Reproduktionsarbeit und alle Privatisierungen bekämpfen müssen.
Stattdessen müsste ein massiver Ausbau von
Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen, des Gesundheitswesens und
der Freizeiteinrichtungen erkämpft werden.

Ebenso unterstützen wir im Hier und Jetzt den Kampf für einen
Mindestlohn, angepasst an die Inflation für alle Arbeiter_Innen. Für
alle, die keine Arbeit haben, fordern wir ein Mindesteinkommen in
derselben Höhe. Damit kann auch sichergestellt werden, dass niemand
aufgrund ökonomischer Abhängigkeit gezwungen ist, bei seiner
Familie zu leben, und so Gewalt, Druck oder Mehrarbeit ausgesetzt
sein muss.

Auch wenn im Kapitalismus einzelne Verbesserungen erkämpft werden
können, erfordert eine konsequente Vergesellschaftung der Hausarbeit
die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft. Warum? Eine
Vergesellschaftung der Hausarbeit würde auch bedeuten, dass die
Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft vergesellschaftet wird,
ihr Warencharakter und die Konkurrenz innerhalb der Klasse
eingeschränkt würden.

Daher ist die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit
untrennbar mit gesamtgesellschaftlicher Planung und Organisation
verbunden. Nur so kann die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in
Produktion und Reproduktion dauerhaft durchbrochen werden.
Pädagogische und andere versorgende Einrichtungen müssen
umstrukturiert und anders geplant werden, und die Neuaufteilung der
Hausarbeit muss durch Räte, die die Arbeiter_Innen selbst
repräsentieren und ihre Beschlüsse umsetzen, in Angriff genommen
und abgesichert werden.

Wir müssen also weiter kämpfen und das Ausbeutungssystem des
Kapitalismus revolutionär überwinden, um allen Menschen eine freie,
selbstbestimmte Zukunft gewährleisten zu können!

Quellen

https://arsfemina.de/rassismus-und-sexismus/vergesellschaftung-der-hausarbeit
https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-unbezahlte-arbeit-frauen-leisten-mehr-3675.htm
https://www.zeitschrift-luxemburg.de/wiedergelesen-die-frauen-und-der-umsturz-der-gesellschaft/
http://www.dasrotewien.at/seite/karl-marx-hof



Gewalt gegen Frauen bekämpfen – Ursachen abschaffen!

Veronika Schulz, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9,
März 2021

Dass während der Corona-Pandemie häusliche und sexualisierte
Gewalt gegen Frauen drastisch angestiegen ist, wird mittlerweile
allgemein anerkannt. Eine Studie der UN-Frauenorganisation (Einheit
der Vereinten Nationen für Gleichstellung und Ermächtigung der
Frauen, kurz: UN Frauen; United Nations Entity for Gender Equality
and the Empowerment of Women, UN Women) verweist auf eine Zunahme der
Hilferufe bei nationalen Hotlines von 25–30 %.

Das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen und Mädchen war schon vor der
Pandemie erschreckend. Nach internationalen Studien wird jede dritte
Frau mindestens einmal geschlagen, vergewaltigt oder ist auf andere
Weise Gewalt ausgesetzt.

Naturgemäß sind diese Zahlen Indikatoren und Schätzungen, weil
ein großer Teil der erfahrenen Gewalt nie öffentlich gemacht wird.
Schon vor Corona fand Gewalt gegen Frauen und Mädchen vor allem im
engsten Umfeld, im Heim und der Familie statt, die oft als Orte der
Geborgenheit und des Schutzes idealisiert werden. Häusliche Gewalt
gegen Frauen bildete also schon in den letzten Jahren deren häufigste
Form – und das in vielen Ländern (darunter auch in Deutschland)
mit einer steigenden Tendenz.

Der weitere dramatische Anstieg im letzten Jahr wird oft mit der
räumlichen Nähe und Enge sowie größerem Stress durch Homeoffice
und soziale Isolation begründet. Offensichtlich hat die Pandemie den
Fokus auf diese privateste aller Sphären richten müssen, um zu
verdeutlichen, dass die Wohnung allzu oft keinen Schutzraum für
Frauen (und Kinder), sondern für den Täter darstellt, der
Gewaltverbrechen vor der Öffentlichkeit verbirgt.

Dennoch bleibt die Frage: Ist Gewalt gegen Frauen ein Phänomen,
das mit einer prekärer werdenden Situation zunimmt und somit
ökonomische, sicherlich auch psychologische Gründe hat? Oder ist
sie per se mit Männlichkeit verbunden und in deren Natur angelegt?
Wie hängt Gewalt gegen Frauen mit Kapitalismus, Ausbeutung und
systematischer Unterdrückung zusammen?

Diesen Fragen wollen wir uns im folgenden Artikel widmen, weil
davon auch abhängt, welche Politik, welches Programm zur Bekämpfung
dieser Gewalt und ihrer Ursachen notwendig ist.

Gewalttätigkeit des Mannes: genetisch bedingt?

Unterdrückung von und Gewalt gegen Frauen hat aus
radikal-feministischer Sicht ihre Grundlage oftmals in Faktoren wie
der Rolle der Frau bei der Reproduktion auf der einen und dem Wesen
des Mannes bzw. der Frau auf der anderen Seite. Essentialistische
Argumente, wonach Männer „aggressiver“ sind und „ihre Dominanz
ausnutzen“, blenden soziale Gegebenheiten zugunsten biologischer
nahezu vollständig aus. Einige gehen sogar so weit, Frauen und
Männer als eigenständige Klassen anzusehen, losgelöst von ihrer
Stellung im Produktionsprozess oder ihrem Zugang zu
Produktionsmitteln.

Die deterministische Perspektive, wonach Männer „von Natur aus“
zu Gewalt neigen und aggressives Handeln im männlichen Geschlecht
verwurzelt ist, lehnen wir als Marxist_Innen aus verschiedenen
Gründen ab. Wenn dem so wäre, hätten wir es mit biologischen
Konstanten zu tun. Unabhängig von allen äußeren Umständen und
somit sozialen Gegebenheiten würden Männer zu allen Zeiten der
Geschichte per Geburt den Hang zu Gewaltbereitschaft in sich tragen,
im vermeintlichen Gegensatz zur „weiblichen Natur“. Ein Ende des
Geschlechterkampfes wäre, folgt man diesem Denkschema in aller
Konsequenz, schwer möglich, da die gegebene „männliche Natur“
unveränderbar wäre.

Janet Sayer widerlegt solche und ähnliche Annahmen in ihrem Buch
„Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist Perspectives“.
Schon die simple Tatsache, dass durch die Mechanisierung körperliche
Kraft eine geringere Rolle im Produktionsprozess spielte,
verdeutlicht, dass „natürliche“ Kraftunterschiede spätestens
seit der Industrialisierung nicht mehr als (alleiniges/primäres)
Argument für die althergebrachte Arbeitsteilung, anhaltende
Unterdrückung und Gewaltausübung gegen Frauen herangezogen werden
können.

Rezepte des liberalen Feminismus

Am einfachsten wird die Unzulänglichkeit der Argumentation des
liberalen Feminismus offenbar: persönliche Freiheit und rechtliche
Gleichstellung würden gewissermaßen automatisch zur Emanzipation
der Frau führen. Abgesehen von bis heute geführten Debatten um
Frauenquoten, die sich oft nur auf eine Minderheit ohnehin
privilegierter Vorstandsposten beziehen, hat sich die liberale
Gleichheitsillusion nicht bestätigt. Dennoch lohnt ein Blick auf das
Argumentationsmuster liberaler Feminist_Innen.

Anders als der biologisch-deterministische Ansatz radikaler
Feminist_Innen vertritt der liberale Feminismus, wie Sayers
hervorbebt, vorrangig die Sichtweise, dass die geschlechtliche
Unterdrückung ein Hindernis für den freien Markt und dessen
Entfaltung darstellt. Dieser Aspekt kann nicht genug betont und
ebenso kritisiert werden: Es geht bei dieser Idee weder um die
Befreiung der Frau als Selbstzweck oder
humanistisch-emanzipatorischen Akt, sondern vor allem um das
„Funktionieren“ der Ökonomie und die rein formelle Gleichheit.
Liberaler Feminismus kann nicht erklären, weshalb trotz formell
verankerter Gleichberechtigung der Geschlechter in den Verfassungen
„liberaler“ Demokratien Ungleichheit weiterhin existiert, Gender
Pay Gap, Teilzeitfalle und „Gläserne Decke“ seien hier nur als
Schlagworte genannt.

Idealismus, Strukturalismus und historischer Materialismus

Die Mehrzahl feministischer Theorien ist entweder
strukturalistisch (Männer sind unabänderlich gewalttätig) oder
idealistisch (der Wille der Männer stiftet allein Geschichte), führt
somit zu einem „umgekehrten“ Geschlechterkampf. Darüber hinaus
sind diese Ansätze allesamt ungeschichtlich, d. h. sie lassen
außer Acht, dass Frauenunterdrückung und Gewalt gegen Frauen ein
Resultat menschlicher Geschichte, also menschengemacht sind.

Frauenunterdrückung ebenso wie jedwede soziale Unterdrückung
muss geschichtlich erklärt werden. Als Marxist_Innen orientieren wir
uns bei der Analyse an einer Geschichtsschreibung,  die
ausgehend vom grundlegenden Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur,
der Arbeit und der von ihr eingegangenen Gesellschaftsverhältnisse
die Gesamtheit aller Gesellschaftsbeziehungen untersucht
(Totalitätsverständnis). Diesem Verständnis gemäß ist die
Geschichte nicht nur die von Staaten und Politik, nicht nur die
„großer Männer“ und ihres Willens, ihrer
Charaktereigenschaften, sondern aller Gesellschaftsmitglieder, v. a.
der arbeitenden Klassen, der Frauen, Jugendlichen und Kinder.

Marxistische Erklärung

Wir als Marxist_Innen können Phänomene wie Gender Pay Gap
erklären, was liberaler und radikaler Feminismus nicht können: Sie
liegen darin begründet, dass Frauen und Männer dem
Produktionsprozess verschiedenartig ausgesetzt sind. Frauen sind
aufgrund Jahrtausende währender geschlechtlicher Arbeitsteilung seit
Beginn der Sesshaftigkeit, die die Voraussetzungen für den Übergang
zur Klassengesellschaft im Ackerbau schuf (neben der auch
nomadisierend betriebenen Viehzucht, die von Beginn an eine männliche
Domäne war), ans Haus gefesselt.

Damit konzentrieren sie sich auf den inneren Kern der Reproduktion
des unmittelbaren Lebens (Kindererziehung, Hausarbeit für den
privaten Bedarf der einzelnen Familien), während Männer den
„Gesellschaft stiftenden“ Teil der Arbeit (Hofarbeit als
wesentliche Quelle des Mehrprodukts, der Revenue für die jeweils
ausbeutenden Klassen, Handel, Handwerk – also gesellschaftliche
Tauschoperationen bedingende Tätigkeiten) überwiegend verrichten.
Innerhalb der Lohnarbeiter_Innenfamilie, in der die Urproduktion
eigener Lebensmittel mangels Besitz an Grund und Boden weitestgehend
weggefallen ist, fehlt sogar jeglicher Produktionsanteil der
proletarischen Hausfrau im eigenen Zuhause. Sie ist „nur“ noch
für die unentlohnte Subsistenzreproduktion und den darüber
vermittelten Anteil an der (Wieder-)Herstellung der Ware Arbeitskraft
verantwortlich.

Ihre Diskriminierung in einer Gesellschaft wie der bürgerlichen,
die nur die Produktion von (mehr) Geld und v. a. Kapital als
sozial wertvoll im wahrsten Sinne des Wortes anerkennt, ist also noch
umfassender als in vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Ihre
Arbeitskraft gilt nicht nur als quantitativ geringer, sondern
qualitativ: sie schöpft keinen Tauschwert. Bei der Proletarierin im
Produktionsprozess wirkt sich zusätzlich die geschichtlich ererbte
und ans Wertgesetz angepasste geschlechtliche Arbeitsteilung als
strukturell ungleicher Lohn aus.

Bürgerliche Demokratie schafft unterdrückerische
Spaltungslinien nicht ab

Auch in Gesellschaften mit bürgerlicher Demokratie und formaler
Gleichstellung der Geschlechter stößt diese Gleichheit in der
kapitalistischen Produktionsweise und der damit einhergehenden
Ausbeutung der Arbeiter_Innenklasse an ihre Grenzen.

Der Kapitalismus profitiert von einer zementierten Ungleichheit
der Geschlechter wie auch von der Konkurrenz entlang weiterer
Spaltungslinien: Jung gegen Alt, Stadt- gegen Landbevölkerung, Volk
und Nation gegen Migrant_Innen, um nur einige zu nennen. Der Fokus
auf immer nur einen dieser Teilaspekte bzw. eine Spaltungslinie
verschleiert die eigentlichen Klassenwidersprüche, deren Dynamiken
die jeweiligen Geschichtsepochen prägen. Schon bei oberflächlicher
Betrachtung zeigt sich, dass eben nicht alle, d. h. nicht alle
Frauen, gleichermaßen von Gewalt betroffen sind. Bestimmte Formen
von (sexualisierter) Gewalt treffen hauptsächlich oder besonders
stark Frauen aus der Arbeiter_Innenklasse oder der
Bauern-/Bäuerinnenschaft – und hier wiederum aus den unteren
Schichten: z. B. Frauenhandel, Zwangsprostitution, systematische
Gewalt von kriminellen Banden in Slums und Armenvierteln,
Vergewaltigungen und Gewalt als Mittel in (Bürger-)Kriegen. Hinzu
kommt, dass die ökonomische Abhängigkeit der Frauen aus der
Arbeiter_Innenklasse, aber auch aus Teilen des Kleinbürger_Innentums
von ihren Männern viel größer ist – nicht, weil die Männer
schlechter als jene der Bourgeoisie wären, sondern aufgrund ihrer
Klassenlage.

Es handelt sich also auch bei diesem Themenkomplex um eine
Klassenfrage, die nicht isoliert vom Gesamtsystem betrachtet werden
darf. Der Kapitalismus ist für uns Marxist_Innen nicht nur ein
Produktionssystem, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Seine Logik
wirkt in alle Lebensbereiche, prägt unser Denken und Handeln und
formt unsere Gesellschaft demnach auch abseits des Arbeitsplatzes
mehr, als uns oftmals bewusst ist.

Soziale Unterdrückung und Ideologie

Der Kampf gegen Gewalt muss sich gegen die Ursachen der
Unterdrückung wenden. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Rolle
von Ideologie, die den Fortbestand der kapitalistischen Gesamtordnung
sichert. Gemeinhin werden die gegebenen gesellschaftlichen
Verhältnisse – auch von den Ausgebeuteten – als legitim
erachtet. Opfer und Täter werden individualisiert, was dazu führt,
dass selbst bei konkreten Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen
kein organisiertes Handeln aus dem Kollektiv heraus erfolgt, sondern
Vereinzelung vorherrscht. Allein das erschwert schon das Erstatten
einer Anzeige enorm. So individualisiert der Untersuchungs- und
Rechtsprechungsprozess durch bürgerliche Polizei und Justiz die
Frauen und reproduziert strukturell die Ohnmachtserfahrung des
Opfers.

Aus marxistischer Sicht ist eine der Hauptursachen von
Frauenunterdrückung die dem Kapitalismus inhärente Trennung von
gesellschaftlicher Produktion und privater Haus- und Sorgearbeit.
Diese schafft neben schlechterer Position für Frauen auf dem
Arbeitsmarkt (s. o.) Abhängigkeiten – beispielsweise vom
Lebenspartner oder Ehemann.

Wesentlich zur Aufrechterhaltung der Unterdrückungsverhältnisse
tragen subtil wirkende gesellschaftliche Mechanismen bei wie z. B.
geschlechtsspezifische Sozialisierung und damit die Reproduktion
stereotyper Verhaltensweisen. Es sind eben keine natürlichen
Vorprägungen, die automatisch für geschlechtliche Unterdrückung
verantwortlich sind. Physische Gewalt ist dabei „nur“ ein Extrem,
die sichtbarste Spitze des Eisberges von (Frauen-)Unterdrückung.

Zunahme der Gewalt und Klassenkampf

Aber wie die Zahlen zeigen, handelt es sich um eine gigantische
„Spitze“. Die Zunahme von Gewalt gegen Frauen – auch im
öffentlichen Bereich – muss vor dem Hintergrund aktueller
gesellschaftlicher Entwicklungen verstanden werden, die die inneren
Spaltungen der Arbeiter_Innenklasse und die geschlechtsspezifische
Arbeitsteilung noch prekärer machen.

Die letzten Jahrzehnte waren hinsichtlich der Lage der Frauen im
Berufsleben durch eine widersprüchlichen Entwicklung geprägt.
Einerseits wurden öffentlich organisierte Teile der
Reproduktionsarbeit zurückgefahren oder privatisiert (und damit
verteuert), andererseits nahm aber die Zahl der erwerbstätigen
Frauen, wenn auch oft in Teilzeitstellen, zu – in manchen
halbkolonialen Ländern wie z. B. Indien sogar in einem sehr
großen Ausmaß. Frauen leisten also nicht nur den größten Teil der
privaten Hausarbeit, auch ihr Anteil an der gesamten Lohnarbeit
steigt.

Dies unterminiert die bestehende Arbeitsteilung. Vor dem
Hintergrund einer strukturellen Krise des Kapitalismus und erst recht
der Verheerung durch die Pandemie bringt diese Entwicklung die Kräfte
der Reaktion auf verschiedene Weise auf den Plan, die sie als
angebliche „Feminisierung“ und einen imaginierten „Genderwahn“
brandmarken. Den aggressiven Antifeminismus des Rechtspopulismus
können wir dabei nur verstehen, wenn wir die Klassenlage des
Kleinbürger_Innentums und der von Deklassierung bedrohten
Mittelschichten in der Krise begreifen. Die Ausweitung von Lohnarbeit
der Frauen wird – obwohl zumeist auf schlechter entlohnte, prekäre
Arbeitsverhältnisse konzentriert und in den „besseren“ Berufen
noch immer krass unterpräsentiert – zur angeblichen „Förderung“
oder gar Bevorzugung von Frauen (und rassistisch Unterdrückten)
verkehrt. Die reale und durchaus berechtigte Abstiegsangst angesichts
verschärfter Konkurrenz und Krise wird nicht den kapitalistischen
Verhältnissen, sondern „den Frauen“ oder „den Minderheiten“
angelastet. Der Feminismus erscheint als Gefahr, die die hart
arbeitenden Männer in den Ruin treiben würde. Da die Führungen der
Arbeiter_Innenklasse zumeist eine passive, wenn nicht gar
chauvinistische Haltung gegenüber lohnabhängigen Frauen einnehmen,
können rechtspopulistische oder gar (halb-)faschistische Kräfte
auch rückständige Arbeiter_Innen für ihre reaktionäre Demagogie
gewinnen.

Die aktuelle Zunahme von Gewalt gegen Frauen muss auch in diesem
Kontext begriffen werden. Die in den letzten Jahren entstehenden
Frauen*streiks und die Bewegung Ni una menos, die in Argentinien
ihren Ausgang nahm, weisen dem Kampf gegen Femizide sowie Gewalt
gegen Frauen und sexuell Unterdrückte zu Recht eine zentrale Stelle
zu.

Dieser inkludiert notwendigerweise den Schutz vor den Tätern.
Dabei dürfen sich die Frauen nicht auf den bürgerlichen Staat
verlassen, sondern es müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet
werden, die von der gesamten Arbeiter_Innenbewegung und der
Unterdrückten getragen werden.

Gegen häusliche Gewalt braucht es als direkte Maßnahme
öffentlich finanzierte, selbstverwaltete Frauenhäuser und
Beratungsangebote.

Eine weitere politische Forderung muss sich auf den
flächendeckenden Ausbau an Kinderbetreuungsangeboten beziehen, damit
Frauen eine Erwerbstätigkeit ermöglicht wird, deren Lohn zum Leben
reicht und nicht durch Teilzeit in Aufstockung und später
Altersarmut durch Mindestrente endet, was überproportional
Alleinerziehende trifft. Daran zeigt sich auch, mit welch
finanziellen Einbußen eine Trennung vom Partner oftmals verbunden
ist und warum viele Frauen trotz Gewalterfahrung in einer toxischen
Beziehung verharren.

In den Gewerkschaften, in den Betrieben wie auch in den
Wohnvierteln müssen Kampagnen und Beratungsstellen organisiert
werden, die sich gegen jede Form von männlichem Chauvinismus und
Gewalt gegen Frauen richten, die Opfer unterstützen und für eine
Verhaltens- und Bewusstseinsänderung der Männer wirken.

Damit eine solche Kampagne erfolgreich sein kann, darf sie nicht
nur als Frage individuellen Verhaltens begriffen werden, sondern auch
als eine des kollektiven Ringens gegen den Einfluss reaktionärer
Bewusstseins- und Verhaltensformen in der Arbeiter_Innenklasse.

Der Kampf gegen diese Gewalt muss daher verbunden werden mit dem
um gleiche Rechte, gleichen Lohn und Arbeitsbedingungen. Er muss
verbunden werden mit der Forderung nach Vergesellschaftung der
Reproduktionsarbeit, d. h. einer doppelten Überwindung der
Vereinzelung – sowohl der häuslichen Tätigkeiten als auch der
Gebundenheit der Frau an die (Klein-)Familie.

Zur Umsetzung dieser Forderungen müssen wir uns zusammenschließen
und eine proletarische Frauenbewegung aufbauen, die sich als Teil
einer neuen revolutionären Internationale sieht und für die
Befreiung aller Menschen eintritt.

Literaturquellen

Engels, Friedrich (1878): Gewaltstheorie, in: Herrn Eugen Dührings
Umwälzung der Wissenschaft. Online verfügbar unter
http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_136.htm

Sayers, Janet (1982): Biology and the Theories of contemporary
feminism, in: Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist
Perspectives. Tavistock Publications: New York, S. 173–203.

Sayers, Janet (1982): Physical strength, aggression, and male
dominance, in: Biological Politics. Feminist and Anti-Feminist
Perspectives. Tavistock Publications: New York, S. 65–83.




Gewalt gegen Frauen in Bolsonaros Brasilien

Raquel Silva, Liga
Socialista/Brasilien
, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9,
März 2021

Der erste Jahrestag der Covid-19-Pandemie verging in Brasilien
ohne jegliche Feierlichkeiten. Tatsächlich gibt es in der aktuellen
Situation nichts zu feiern. Wie Studien ergeben, hat die soziale
Isolation, in der wir seit März 2020 leben, zu einem Anstieg der
Vorfälle an häuslicher Gewalt und Femiziden geführt. Im Oktober
2020 zeigten Erhebungen, dass in Brasilien zwischen März und August
497 Frauen getötet wurden. Das bedeutet, dass alle neun Stunden eine
Frau ermordet wurde. Die Bundesstaaten mit den höchsten Gewalt- und
Mordraten sind São Paulo, Minas Gerais und Bahia. Die von sieben
Journalistenteams durchgeführten Erhebungen weisen auf einen Anstieg
der Zahlen während der Pandemie hin. Sie verdeutlichen auch, dass
die niedrigen Zahlen gewaltbezogener Vorfälle in einigen
Bundesstaaten tatsächlich auf ihre Untererfassung zurückzuführen
sind. Die Daten zeigen, dass die Mehrheit der Opfer schwarze und arme
Frauen sind. In Minas Gerais zum Beispiel sind 61 % der Opfer
schwarze Frauen.

Indigene Frauen

Seit dem Putsch gegen Dilma Rousseff von der Partido dos
Trabalhadores (PT; Partei der Arbeiter_Innen) hat die Intensität der
Angriffe auf indigene Bevölkerungsgruppen stark zugenommen. Mit der
Zerstörung von Hilfs- und Unterstützungseinrichtungen für indigene
Völker wie Fundação Nacional do Índio (FUNAI; wörtlich:
Nationale Stiftung des Indios) sind die Dörfer nun noch
verwundbarer. Indigene Gemeinden werden auch durch illegalen Bergbau,
Brände und Agrobusiness angegriffen. Zudem hat die Gewalt gegen ihre
Vertreter_Innen zugenommen. Mehrere ihrer Sprecher_Innen wurden in
den letzten Jahren getötet.

Daten über die Situation indigener Frauen fehlen generell. Einige
Berichte deuten jedoch darauf hin, dass sich ihre Situation
verschlechtert hat, da häusliche Gewalt und Vergewaltigungen in den
Dörfern während der Pandemie zugenommen haben. Illegaler Bergbau
führt zu einer Situation der Verwundbarkeit und Gewalt in den
indigenen Gemeinden. Wie eine/r der Anführer_Innen berichtet, führt
die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten und ihre/seine Kinder zu
ernähren, oft dazu, dass indigene Frauen der gleichen oder sogar
noch härteren Gewalt ausgesetzt sind als nicht-indigene Frauen der
Arbeiter_Innenklasse. Sie alle leiden unter einem Mangel an
finanzieller und anderer Unabhängigkeit, was sie anfälliger für
Verbrechen wie häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung und in den
schlimmsten Fällen Femizid macht.

Zurücknahme von Errungenschaften

Wir sind uns bewusst, dass nicht erst die Regierung Bolsonaro
Gewalt gegen Frauen hervorgebracht hat. Der Kampf gegen Gewalt gegen
Frauen reicht Jahrzehnte zurück. Obwohl die Errungenschaften der
letzten 30 Jahre seit der Verfassung von 1988 unzureichend waren,
bedeuteten sie einen Schritt in die richtige Richtung, ebenso wie
alle anderen Fortschritte, die durch den Kampf sozialer Bewegungen
erreicht wurden.

Nach dem Putsch haben jedoch reaktionäre Sektoren, die mit der
Rechten und rechtsextremen evangelikalen Gruppen verbunden sind, die
die so genannte „Bibelbank“ (in den Parlamentskammern) bilden,
versucht, den Frauen ihre Rechte und Errungenschaften zu nehmen,
indem sie der großen Mehrheit der Frauen der Arbeiter_Innenklasse
ein reaktionäres und gewalttätiges Programm aufzwingen wollen. Dies
geht einher mit der kapitalistischen neoliberalen Agenda der Angriffe
auf die Rechte von Arbeiter_Innen. Zusätzlich zu Gesetzesänderungen,
die den Arbeiter_Innen verschiedene Rechte und Garantien entzogen
haben, ist der Angriff auf Frauen noch heftiger. Das liegt daran,
dass Frauen, ohnehin der Doppelbelastung von Lohn- und Hausarbeit
ausgesetzt, in der Arbeitswelt um ein Vielfaches mehr unter noch
niedrigeren Löhnen und verlängerten Arbeitszeiten leiden. Die
Rentenreform hat die Frauen der Arbeiter_Innenklasse noch stärker
getroffen, da sie nun mit einer Erhöhung der notwendigen
Lebensarbeitszeit konfrontiert sind, um länger in die Rentenkassen
einzuzahlen, wodurch der Rentenanspruch noch schwieriger zu erreichen
sein wird.

Die Regierung Bolsonaro hat bereits in ihrem ersten Amtsjahr 2019
die Mittel zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen drastisch gekürzt.
Sie schaffte das Sekretariat für Frauenpolitik ab und schuf
stattdessen das Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte
(das die LGBTQ+-Agenda ausschloss). Ein Ministerium, dessen
ideologische Agenda darin besteht, „Moral und gutes Benehmen“ zu
bewahren, hat sogar die begrenzten verfassungsmäßigen Rechte und
Garantien angegriffen wie z. B. den Zugang zur assistierten
Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung, Lebensgefahr für die
Mutter oder Anenzephalie (schwere Missbildung des embryonalen bzw.
fötalen Gehirns).

Der reaktionäre Charakter der gegenwärtigen Regierung und derer,
die sie unterstützen, wurde vor allem durch die skandalöse
Behandlung eines 10-jährigen vergewaltigten Kindes im Juli 2020
entlarvt. Das Recht auf Abtreibung dieses Vergewaltigungsopfers wurde
in Frage gestellt, sein Name veröffentlicht und es erlitt ein
schweres psychologisches Trauma, da Extremist_Innen versuchten, eine
Abtreibung zu verhindern. Ministerin Damares Alves vom Ministerium
für Frauen, Familien und Menschenrechte, eine evangelikale Pastorin,
erließ zwei Gesetze, die den Zugang zur assistierten Abtreibung
erschweren und peinliche und restriktive Maßnahmen für weibliche
Vergewaltigungsopfer schufen.

Ele Nao! Nicht er!

Unter den Bedingungen der Pandemie 2020 wurden viele der Angriffe
der Regierung Bolsonaro auf Frauen und die LGBTQ+-Community massiv
spürbar, da die Mobilisierung schwieriger wurde. Doch schon während
des Präsidentschaftswahlkampfes 2018 ist klar geworden, dass uns im
Falle eines Sieges von Bolsonaro schwere Rückschläge bevorstehen
würden. Seine Aussagen als Parlamentarier zeigten bereits, dass die
Angriffe auf Frauen, Schwule, Schwarze und Indigene hart ausfallen
würden.

Bolsonaro widmete seine Stimmabgabe für Dilmas Amtsenthebung dem
Oberst Brilhante Ustra, der während der Militärdiktatur für die
Folterung inhaftierter linker, militanter Frauen verantwortlich war.
Dilma war eine von ihnen gewesen. Bolsonaro griff auch eine
PT-Abgeordnete in der Abgeordnetenkammer an und rief: ,,Ich würde
sie nicht vergewaltigen, weil sie es nicht verdient hat.“ In einer
anderen Kampagne machte er deutlich, dass er die Quilombola-Schwarzen
angreifen würde, womit er sich auf die Dörfer der Schwarzen bezog,
die aus der Sklaverei geflohen sind, um ein selbstbestimmtes Leben zu
führen. Ihr Kampf wird im rassistischen Narrativ mit Chaos
gleichgesetzt. Er drohte auch damit, die Linke und die sozialen
Bewegungen anzugreifen.

Im Angesicht dieser Drohungen wurde die Bewegung „Ele Nao!“
(Nicht er!) in den sozialen Medien populär, die eine beeindruckende
Demonstration gegen die Wahl Bolsonaros organisieren konnte. In einem
erbitterten Kampf gewann Bolsonaro die Wahl. Es war eine Wahl, die
von einer Politik des Hasses gegen die PT, dem Verbot der Kandidatur
Lulas und vielen Enthaltungen geprägt war.

In der neuen Regierung gingen Sparmaßnahmen gegen die
Arbeiter_Innen Hand in Hand mit der Weiterführung der konservativen
Agenda der rechtsextremen Evangelikalen. Die Frauenbewegung hat in
verschiedenen Kollektiven, die sich im ganzen Land ausbreiten,
versucht, diese Angriffe zu stoppen. Aber die aktuelle Situation
führte dazu, dass die Pandemie eine entmutigende Wirkung auf die
Bewegungen ausübte. Die soziale Isolation hat viele
Straßenbewegungen gelähmt. Viele Kollektive agieren virtuell,
andere gehen in extremen Fällen auf die Straße (wie im Fall des
vergewaltigten Mädchens, als Rechtsextremist_Innen versuchten, eine
Abtreibung zu verhindern und das Frauenkollektiv das Recht des
Mädchens wahrte, indem es die Extremist_Innen von der Krankenhaustür
vertrieb).

Die Linke und soziale Bewegungen

Generell finden Aktionen gegen die Angriffe der Regierung
Bolsonaro seit letztem Jahr über soziale Medien statt. Die soziale
Isolation schafft eine sehr starke Barriere gegen Aktionen. Die Angst
vor Ansteckung, aber auch die, als „Corona-Leugner_In“ wie
Bolsonaro zu erscheinen, hindert Bewegungen daran, außerhalb des
Internets zu agieren.

Bei den landesweiten Kommunalwahlen 2020 (in Brasilien finden sie
alle am selben Tag statt), bei denen Tausende von Stadträt_Innen und
Bürgermeister_Innen gewählt wurden, konzentrierte sich die Linke
oft auf Kandidaturen, die die Unterdrückten repräsentieren –
Frauen, Schwarze und Trans-Personen.

Die Webseite der Deutschen Welle Brasilien bewertet die Vielfalt
in Bezug auf Geschlecht, sexuelle und ethnische Identität bei den
Wahlen 2020 als Fortschritt. Der Anstieg der Kandidaturen von
Unterdrückten war höher als 2016. Von den 503 Trans-Kandidat_Innen
wurden 82 gewählt. In Hauptstädten wie Belo Horizonte (Minas
Gerais) und Aracaju (Sergipe) erhielten Trans-Kandidat_Innen die
meisten Stimmen. Die Zahl der Frauen im Allgemeinen sowie die Zahl
der schwarzen Frauen, die in gesetzgebende Ämter gewählt wurden,
hat ebenfalls zugenommen. In 18 Städten gibt es 16 % weibliche
Abgeordnete. Parteien wie Partido Socialismo e Liberdade (PSOL;
Partei für Sozialismus und Freiheit) und PT stellten die größte
Anzahl von Kandidat_Innen aus den sozial unterdrückten Schichten
auf, aber auch die konservativen und liberalen Mainstream-Parteien
erhöhen die Anzahl der Kandidaturen von Frauen und rassistisch
Unterdrückten. Kommentator_Innen führen diese Veränderung auf eine
Reaktion gegen die Wahl Bolsonaros und seine rechtsextreme Plattform
zurück. Sie sehen darin einen Versuch der Reorganisation von Teilen
der Linken, indem Kandidat_Innen der sozialen Bewegungen aufgewertet
werden. Darüber hinaus wird vielen Kandidat_Innen zugesprochen, dass
sie über die LGBTQ+- und Frauenagenda hinausgehen und sich auf
Fragen des Wohnungsbaus, der Bildung und Gesundheit der
Arbeiter_Innen zubewegen.

Verstärkte Polarisierung

Analyst_Innen weisen aber auch darauf hin, dass rechtsextreme
Kandidaturen zugenommen haben und es in den gesetzgebenden Kammern zu
vielen Auseinandersetzungen kommen wird.

Die Situation hat sich während der Pandemie für verschiedene
Schichten verschlechtert. Die Versäumnisse, vor allem nach der Krise
in Manaus (Amazonas), als Patient_Innen wegen Sauerstoffmangels zu
sterben begannen, sowie das Ende der Katastrophenhilfe, ein Anstieg
der Arbeitslosigkeit (allein die Schließung von Ford Brasilien
führte zum Verlust von 55.000 direkten und indirekten
Arbeitsplätzen), Korruptionsskandale und die Veruntreuung von
Geldern aus der Covid-Hilfe, beginnen die Regierung Bolsonaro immer
mehr zu zermürben. Angriffe auf die Presse haben Unzufriedenheit
erzeugt, sogar bei Teilen, die die PT angegriffen und Bolsonaro zum
Wahlsieg verholfen haben.

Viele harte Kämpfe liegen noch vor uns. Ohne Impfstoffe werden
die Kämpfe jeden Tag härter, besonders jetzt, wo wir mit einer sehr
starken zweiten Welle der Pandemie und der neuen Variante des Virus
konfrontiert sind. Die PT und PSOL, linke Parteien mit
parlamentarischer Vertretung, agieren zaghaft im Aufruf zu Protesten
auf der Straße, während sie sich darauf konzentrieren,
Unterstützung für „moderate“ Parteien im Rennen um die
Präsidentschaft des Bundeskongresses zu sammeln (obwohl diese
Parteien Teil des Putsches gegen die Linke waren!).

Gleichzeitig können wir aber auch Anzeichen für ein mögliches
Wiederaufleben von Massenmobilisierungen sehen. Die 8M
(Weltfrauenstreik) und Kollektive, die Teil des „World March of
Women“ (Weltfrauenmarsch) sind, nehmen an den aktuellen
Mobilisierungen gegen Bolsonaro teil, die in den „Carreatas“
(Autokorsos) der Gewerkschaften ihren Mittelpunkt haben. Dies sind
wichtige Schritte für die Frauenbewegung, sich mit den
Mobilisierungen und Kämpfen der Arbeiter_Innen zu verbinden.

Nieder mit Bolsonaro!

In diesem Zusammenhang sehen wir die Notwendigkeit, den Kampf mit
dem Aufbau einer Einheitsfront gegen die Regierung Bolsonaro, den
rechten Flügel und die Angriffe der Bosse voranzutreiben. Die
Bewegung müsste für drastische Maßnahmen zur Bekämpfung der
Pandemie und gegen die Versuche der Bosse, die Arbeiter_Innen für
die Krise zahlen zu lassen, kämpfen. Aber eine solche Einheit wird
nur erreicht werden, wenn der Kampf für die Rechte der Frauen, gegen
Gewalt im Haus und in der Öffentlichkeit und gegen Femizide ein
zentraler Teil dieser Auseinandersetzung wird, der die Frauen der
Arbeiter_Innenklasse an die Spitze der Frauenbewegung sowie des
breiteren Kampfes der Arbeiter_Innenbewegung gegen den
brasilianischen Kapitalismus bringt.

Versuche, eine Einheitsfront aufzubauen, sind bereits im Gange mit
der Autokorso-Kampagne, die Impfstoffe für alle und die
Amtsenthebung Bolsonaros fordert. Aber Autokorsos allein können
diese Ziele nicht erreichen. Wir müssen mehr Autokorsos und
Straßendemonstrationen organisieren, mit dem klaren Ziel, einen
Generalstreik auszurufen, der ein Ende der Regierung Bolsonaro
fordert.

Trotz der Untätigkeit der Führung der linken Parteien darf die
Einheitsfront niemals vor echten militanten Aktionen gegen die
Regierung zurückschrecken und muss die bewusstesten und
kämpferischsten Schichten der sozial Unterdrückten zusammen mit den
militanten Teilen der Gewerkschaftsbasis und der Linken einbeziehen.

  • Für einen Generalstreik!
  • Nieder mit Bolsonaro!
  • Für eine Regierung der Arbeiter_Innen und Bauern/Bäuerinnen!



Polen: Der Kampf um Abtreibung und Selbstbestimmung

Von Melli Vogt

In Polen wurde letzten Herbst das Abtreibungsrecht durch das Verfassungsgericht weiter verschärft. Während Abtreibungen seit 1993 erlaubt waren, wenn Schädigungen am Fötus vorhanden sind und dieser krank oder schwer behindert ist, oder wenn das Leben von Mutter und ungeborenem Kind in Gefahr ist, hat das Verfassungsgericht dieses Gesetz nun für “verfassungswidrig“ erklärt und Abtreibungen komplett verboten- außer bei Schwangerschaften, die durch Vergewaltigung entstanden sind. Dahinter steckt auch die polnische Regierungspartei PiS, welche extrem homo- und transphob und im Zuge des Rechtsrucks aufgestiegen ist. Die Verschärfung des Abtreibungsrechts ist nicht die einzige sexistische Regelung die durch die PiS-Partei entschieden wurde: So richtete die Partei LGBTIA+- freie Zonen in Polen ein und verbot Sexualkundeunterricht, weil sie der Meinung sind, dieser „verführe die Jugend.“ Für die Frauen in Polen und auch generell ist die Verschärfung des Abtreibungsrechts katastrophal. Sie sind nun gezwungen, selbst Kinder zur Welt zu bringen, die krank sind oder schwere Behinderungen haben. Dies führt dazu, dass Frauen aus Verzweiflung versuchen werden, Abtreibungen heimlich selbst durchzuführen, was schwere Verletzungen oder sogar den Tod von Mutter und ungeborenem Kind bedeuten kann. Alternativ können diese im Ausland durchgeführt werden, was für die Frauen sehr unsicher und teuer ist, unter schlechten Bedingungen stattfindet und ein hohes Gesundheitsrisiko darstellt. Für die Selbstbestimmung der Frauen über ihren Körper und ihr Leben ist das verschärfte Abtreibungsrecht ein katastrophaler Rückschritt, der die minimalen Erfolge, die schon erreicht wurden, wieder auf null setzt. Dass diese Verschärfung gerade jetzt in Zeiten von erstarkendem Rechtsruck und Coronakrise passiert, in welcher die Lage für Frauen sowieso verstärkt schwer ist und sie noch mehr von Unterdrückung, Gewalt und Reproduktionsarbeit betroffen sind, ist kein Zufall. Dass die Reproduktionsarbeit, also die unbezahlte Hausarbeit und Kindererziehung, die meist Frauen leisten müssen, durch die Coronakrise und das bürgerliche, patriarchale System derzeit zunimmt, ist ebenso wie das Abtreibungsverbot im Interesse des Kapitalismus und nützlich für die herrschende Klasse. Kapitalist_Innen profitieren davon, wenn Arbeiterinnen nicht abtreiben, da sie immer neue Arbeitskräfte für den Markt brauchen, die sie billig ausbeuten können. Aber auch in Familien der herrschenden Klasse ist Abtreibung kein objektives Interesse, denn die Kapitalist_Innen müssen ihr Eigentum an Nachkommen vererben, um ihre Familie in der herrschende Klasse zu halten. Daher schadet es der herrschenden Klasse, wenn Frauen abtreiben. Das Abtreibungsverbot ist also eine weitere Auswirkung des Kapitalismus, die nochmal deutlich macht, dass dieses kapitalistische, patriarchale und sexistische System endlich überwunden werden muss.

Als Reaktion auf das verschärfte Abtreibungsrecht gab es in Polen Massenproteste mit mehreren zehntausend Menschen. In Warschau hatte die Organisation “allpolnischer Frauenstreik“ zu einer Demonstration durch Warschau aufgerufen, welche der Höhepunkt der Proteste und Demonstrationen sein sollte. Insgesamt wurde täglich in mehr als 100 Städten des Landes protestiert. Auch zu einem Generalstreik hatten Frauen in Polen aufgerufen. Daran beteiligten sich unter anderem viele junge Frauen im Gesundheitswesen, Landarbeiter_Innen, weitere Berufsgruppen und auch Schüler_Innen. Wir begrüßen diese Initiative, sehen aber auch, dass man hier einen stärkeren Schulterschluss mit den Gewerkschaften hätte suchen müssen, um wirklich Massen in diesen politischen Streik zu mobilisieren. Aufgrund der vielen Proteste und Streiks wurde das Gesetz zwischenzeitlich erstmal ausgesetzt. Trotzdem gingen die Proteste weiter und brachen im Dezember 2020 wieder aus, wo erneut tausende Menschen auf die Straße gingen. Somit halten die Proteste gegen das verschärfte Abtreibungsgesetz nun schon seit Oktober an. Trotz der monatelangen Massenproteste ist das verschärfte Abtreibungsgesetz jetzt, drei Monate nach der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts, rechtskräftig und somit in Kraft getreten. Damit sind Schwangerschaftsabbrüche zukünftig in fast allen Fällen verboten, auch Abtreibungen bei schweren Fehlbildungen. Laut dem obersten Gericht von Polen ist Abtreibung bei Fehlbildungen “unvereinbar“ mit der Verfassung. Als Reaktion darauf brachen im ganzen Land erneut Proteste aus, unter anderem bildeten sich in den letzten Tagen spontane Protestzüge vor dem Sitz des Verfassungsgerichts und in vielen polnischen Städten.

Der Ursprung des Abtreibungsverbots in
Polen ist der Kapitalismus, welcher überwunden werden muss. Um
Kapitalismus und somit auch Sexismus und Rechtsruck zu überwinden,
braucht es einen gemeinsamen Kampf und die Verknüpfung von Frauen-
und LGBTIA- Rechten mit dem Kampf gegen Kapitalismus, Generalstreiks
und Massenproteste, die Einbindung von Arbeiter_Innen durch
Gewerkschaften und eine internationale Antikrisenbewegung. Das liegt
daran, dass gerade jetzt in der Krise Frauen- und
Arbeiter_Innenrechte besonders angegriffen werden. Nur wenn der
Kapitalismus überwunden wird, können Sexismus und jede
Unterdrückung der Frau bekämpft werden. Im kapitalistischen System
ist dies nicht möglich.

Daher fordern wir:

  • Frei zugängliche, sichere und
    kostenlose Abtreibungen für alle Frauen, unter allen Umständen!

  • Auflösung der LGBTIA-freien Zonen
    in Polen!
  • Aufhebung des Verbots von
    öffentlichem Sexualkundeunterricht!
  • Freien
    und kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln und Beratungsstellen
    für alle Frauen!
  • Aufbau
    eines internationalen Antikrisenbündnisses aus Arbeiter_Innen zur
    Überwindung des Kapitalismus!