Geschenke, Glühwein und Geschlechterklischees: Sexismus an Weihnachten

Von Erik Likedeeler, Dezember 2023

In vielen Haushalten gilt Weihnachten als die Zeit des Jahres, in der Freude, Harmonie und Geschenke eine kurze Zeit lang dafür sorgen, dass die Probleme des Alltags im Kreis der Familie vergessen werden können. Was dabei außer Acht gerät ist, dass zahlreiche Glaubenselemente und Weihnachtstraditionen die gewaltvollen und unterdrückerischen Elemente der bürgerlichen Kleinfamilie aufrechterhalten. In diesem Artikel wollen wir uns mit drei Beispielen dafür auseinandersetzen.

1. Care-Arbeit und Geschlechterklischees in der Familie

Dass an Weihnachten die Verwandtschaft besucht wird, die man teilweise das ganze Jahr über nicht gesehen hat, gehört quasi zum guten Ton. Diese Erwartung ist so stark, dass viele von uns die Feiertage mit Menschen verbringen, mit denen wir eigentlich keine Gemeinsamkeiten haben und die vielleicht sogar rassistische, sexistische oder queerfeindliche Ansichten haben. Sich dagegen ausgerechnet an Weihnachten zur Wehr zu setzen, geht natürlich gar nicht: Mit dem Zwang zur Harmonie wird jeder Widerstand als peinliche Störung des Ablaufs betrachtet. Außer Lächeln und Nicken ist gerade von uns Jugendlichen keine Reaktion erwünscht.

Für die meisten Frauen bedeutet die Weihnachtszeit tonnenweise zusätzliche Care-Arbeit: Adventskalender müssen gefüllt werden,  Kekse müssen gebacken und die Wohnung dekoriert werden. Ein einfaches Essen reicht nicht aus, stattdessen werden aufwändig zubereitete Gerichte erwartet. Mütter besorgen Geschenke für die eigene Familie und für die Familie des Ehemannes und bekommen teilweise kein einziges Geschenk zurück. Während die Männer der Familie sich am Tisch mit Glühwein besaufen, wird diese Arbeit den Frauen ganz selbstverständlich zugeschoben, so dass von besinnlichen, freien Tagen keine Rede mehr sein kann.

Die Vorbereitung auf diese stets sanfte, geduldige und fürsorgliche Rolle der Hausfrau und Mutter beginnt schon früh. So bekommen Mädchen zu Weihnachten oft Puppen oder vielleicht eine Spielküche geschenkt, während es für Jungen eher Baustellenfahrzeuge oder eine Ritterburg gibt. Der erzieherische Anspruch von Weihnachtsgeschenken für jüngere Kinder wurde schon häufig kritisiert, aber deutlich seltener wird die fortgeführte Ungleichheit im Jugendalter unter die Lupe genommen:

In zahlreichen Haushalten ist immer noch die Tradition der Aussteuer verbreitet. Während Jungen Geld geschenkt bekommen, z.B. für den Führerschein oder um sich „einen Grundstock aufzubauen“, ist es üblich, Mädchen Haushaltsgegenstände wie Bettwäsche, Besteck oder ein Bügelbrett zu schenken, teilweise schon ab dem Kindesalter.

Von der tendenziell älteren Verwandtschaft wird dabei erwartet, dass diese Gegenstände irgendwann mal „mit in die Ehe“ genommen werden, damit der Mann „direkt sieht, was die Frau zu bieten hat“. Der zukünftige Haushalt soll dank einer gefüllten Aussteuer-Truhe bereits perfekt ausgestattet sein für die lebenslängliche Verpflichtung der Frau zur Care-Arbeit.

Teilweise gibt es von Verwandten sogar aufreizende Unterwäsche geschenkt – ob diese bequem ist oder dem individuellen Geschmack entspricht, ist egal, solange sie ansprechend für den Freund oder Ehemann ist. Sich über derart sexistische Geschenke zu beschweren, geht natürlich gar nicht: Gegenüber der Verwandtschaft muss Dankbarkeit geheuchelt werden, bevor die ungewollte Flut an Handtüchern, Topflappen und Bettwäsche („für das Ehebett“) dann für immer auf dem Dachboden verstaubt.

Also Weihnachten abschaffen?

Um nicht nur die Enttäuschung beim Geschenkeauspacken, sondern auch die dahinterstehende Ausbeutung zu beenden, müssen wir aufhören, die Care-Arbeit in den Privathaushalt zu verschieben. Nur, wenn wir die täglich anfallenden Aufgaben wie Wäschewaschen und Kochen vergesellschaften, können wir Männer effektiv zur Verantwortung ziehen. Auch emotionale Arbeit wie das Vorbereiten von Festen sollte die Aufgabe der Gemeinschaft sein.

Damit Jugendliche nicht länger gezwungen sind, die Feiertage in einem unterdrückerischen Umfeld zu verbringen, brauchen wir für sie die finanzielle Unabhängigkeit von der Familie in Form eines staatlichen Taschengeldes in ausreichender Höhe, unter der Kontrolle der Arbeiter:innen und der Jugendlichen selbst. Nur so können wir den goldenen Käfig der bürgerlichen Kleinfamilie zerbrechen und zu einem wahrhaft besinnlichen Zusammenleben finden.

2. Krampuslaufen: Keine Kindererziehung, sondern rohe Gewalt

Eine Weihnachtstradition, in der die Werte der bürgerlichen Familie besonders deutlich zum Ausdruck kommen, ist das Krampuslaufen. „Wenn du nicht brav warst, dann holt dich der Krampus!“ ist eine Drohung, die vielen Kindern aus Bayern, Österreich, Südtirol und einigen osteuropäischen Ländern bekannt sein dürfte. Beim Krampus handelt es sich um eine Art „Gehilfen“ des Nikolaus. Während der gute Nikolaus die braven Kinder belohnt, bestraft der Krampus die bösen Kinder – die, die sich nicht das ganze Jahr über an die strengen, christlichen Moralvorstellungen gehalten haben. Durch solche fiktiven, urteilenden Instanzen wird der erzieherische Anspruch des weihnachtlichen Schenkens auf die Spitze getrieben.

Im November und Dezember ist das Krampuslaufen in zahlreichen Regionen eine beliebte Tradition. Auch wenn die Krampusfigur teilweise auf vorchristliche, pagane Mythen zurückgeführt wird, funktioniert sie heute als eine alternative Version des christlichen Teufels, die besonders in Österreich als Teil der „abendländischen Kultur“ gilt. In der heutigen Zeit des zunehmenden nationalistischen Bewusstseins steigt auch die Zahl der Krampusläufe, nicht nur auf dem Dorf, sondern auch in Großstädten wie Wien.

Manche dieser Umzüge verlaufen problemlos und bleiben als schöne Veranstaltungen mit in die Menge geworfenen Süßigkeiten in Erinnerung. Immer wieder kommt es im Kontext dieser Umzüge jedoch zu Gewalttaten: Erst vor wenigen Wochen wurde ein zwölfjähriger Junge aus Niederösterreich mit einem Schleudertrauma ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem er von einem erwachsenen Mann zu Boden gerissen worden war. Auch Blutergüsse, Platzwunden und Knochenbrüche werden immer wieder dokumentiert – ganz zu schweigen von den Traumata, die bei Kindern zurückbleiben, nachdem sie z.B. verschleppt und in Käfige gesperrt wurden.

Hauptsächlich sind es junge Männer, die sich die furchterregenden Masken mit Hörnern aufsetzen, um Kinder einzuschüchtern. Der Krampus ist eine Verkleidung, die es Männern erlaubt, die Rolle des wilden, ungebändigten und sadistischen Patriarchen zu festigen.  Damit geht einher, dass Männer miteinander mackerhafte Schaukämpfe aufführen, während Frauen festgehalten, mit Reisigbündeln geschlagen und sexuell belästigt werden. Erst vor kurzem wurde eine Frau bei einem Krampuslauf in Tirol zu Boden geworfen und schwer verletzt. Die Rolle der Frau ist in dieser Konstellation nur die des sexuellen Objekts und des Opfers – während die Täter davonkommen, versteckt unter ihren Masken. Das führt so weit, dass manche Frauen und Kinder zu dieser Zeit Angst davor haben, das Haus zu verlassen.

Diese romantisierte Kombination aus einem übermächtigen, gewalttätigen Mann, einer hilflosen Frau und einem hörigen Kind setzt das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie auf brutale Weise durch. Was häufig als „schwarze Pädagogik“ bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit ein Mittel, um Frauen und Kinder durch Erniedrigung und Gewalt zur Unterordnung zu zwingen. Von klein auf wird Kindern, vor allem Mädchen, beigebracht, dass sie nicht frech und ungehorsam gegenüber Autoritätspersonen sein dürfen. Doch genau dazu müssen Kinder das Recht haben, wenn sie zu eigenständig denkenden und handelnden Erwachsenen heranwachsen sollen!

Natürlich befürworten wir die Religionsfreiheit und damit auch das Recht auf die Ausübung religiöser Traditionen – aber nur, solange damit keine Unterdrückung einhergeht! Genauso sind wir gegen den Zwang, bei religiösen Veranstaltungen mitmachen zu müssen, und für die strikte Trennung von Kirche und Staat! Religion sollte Privatsache sein, keine „Leitkultur“, die allen aufgezwungen wird, um Rassismus gegenüber Andersgläubigen zu rechtfertigen.

Wenn es um den Umgang mit Tätern  geht, können wir uns allerdings weder auf die Kirche noch auf den Staat verlassen. Auch auf das Individuum dürfen wir die Verantwortung nicht verschieben, da insbesondere Kinder und pflegebedürftige Menschen nicht vollends in der Lage sind, sich vor Übergriffen zu schützen. Was wir brauchen, um die gewalttätigen Eskalationen der Krampus-Macker zu durchkreuzen, sind Selbstverteidigungsstrukturen, mit dem Fokus auf dem gemeinsamen Handeln von Unterdrückten und Arbeiter:innen. Denn in der Weihnachtszeit, in der viele von uns sowieso schon dank des Sonnenuntergangs um 16:00 mit Winter Blues zu kämpfen haben, sollte niemand Angst davor haben müssen, das Haus zu verlassen!

3. Die Jungfrau Maria: Die perfekte Mutter?

Für viele Menschen gehört es in Weihnachten dazu, sich die Weihnachtsgeschichte zu erzählen oder an einem Krippenspiel teilzunehmen. Dabei ist besonders die Figur der Maria wichtig, um das Ideal der bürgerlichen Familie zu verstehen. Maria verkörpert für die katholische Kirche ein heiliges, niemals erreichbares weibliches Idealbild: die liebevolle und sich aufopfernde Mutter, die zugleich rein und ewig „jungfräulich“ bleibt.

Jungfräulichkeit war für Mädchen und Frauen lange der einzige Weg, um Ansehen von Männern zu gewinnen, während sexuell aktive Frauen beschämt und erniedrigt wurden. Auch heute ist es noch das Idealbild, dass Mädchen und Frauen sich für „den Richtigen“ aufsparen sollen – für eine feste monogame Beziehung mit einem Mann, in der sie dann Sex haben und Kinder zur Welt bringen sollen.

In einer festen Partnerschaft oder Ehe angekommen, dürfen Frauen sich nicht mehr negativ über Schwangerschaft, Fortpflanzung und Mutterschaft äußern. Besonders unangenehm wird das beim Weihnachtsessen, wenn die Verwandten sich erkundigen, ob denn eigentlich schon Kinder geplant sind. An dieser Stelle müssen Frauen dann das übliche Programm abspulen und versichern, wie süß und toll Babys doch sind – sonst müssen die damit rechnen, mit vorwurfsvollen Blicken und Kommentaren gestraft zu werden.

Der Bezug zum Christentum ist allerdings nicht die Ursache für die bürgerliche Sexualmoral, sondern eher ein Vorwand zu ihrer Rechtfertigung. Aus der Bibel geht nicht einmal hervor, ob Maria wirklich eine Jungfrau im heutigen Sinne war. Früher wurde dieser Begriff genutzt, um junge, unverheiratete Frauen zu beschreiben, erst später wurde er mit der sexualisierten Bedeutung aufgeladen. Vielmehr geht es bei diesem sexistischen Märchen darum, die Unterdrückung der Frau und damit die geschlechtergetrennte Arbeitsteilung von Produktion und Reproduktion aufrecht zu erhalten. Durch diese können Kapitalist:innen mehr Profit generieren, da sie für diese unbezahlte Arbeit im Privaten nicht zahlen müssen. Eine hohe Geburtenrate garantiert ebenfalls einen Nachschub an zukünftigen Arbeitskräften.

Daher spielt der Glaube an „Jungfräulichkeit“ im Christentum immer noch eine große Rolle, und das hat fatale Auswirkungen: In manchen Ländern hält sich der Glaube daran, dass der Sex mit einer „Jungfrau“ einen Mann vor sexuell übertragbaren Krankheiten heilen könnte – dadurch sollen Vergewaltigungen gerechtfertigt werden. Des Weiteren soll der Glaube an die Jungfräulichkeit es in einigen Ländern legitimieren, das Heiratsalter von Mädchen bis zur Kinderehe herabzusenken. Selbst vor Gericht kommen noch medizinische Gutachten über „intakte Jungfernhäutchen“ zum Einsatz, und in Europa war das Ausbleiben von Blut beim „Ersten Mal“ lange ein gültiger Scheidungsgrund.

Aus der Angst vor Beschämung und Bestrafung hat sich ein profitabler Jungfräulichkeitsmarkt entwickelt, bestehend aus biologischem Unsinn wie „Jungfräulichkeits-Zertifikaten“, künstlichen „Jungfernhäutchen“, die mit Rinderblut gefüllt werden, überteuerten und lebensgefährlichen Operationen, in denen das „Jungfernhäuten“ wieder hergestellt werden soll, und einer beliebten Entjungferungs-Porno-Kategorie.

Da selbst im Medizinstudium falsche Fakten gelehrt werden, setzt sich erst langsam die Erkenntnis durch, dass Jungfräulichkeit ein kultureller Mythos ist und dass es kein „Jungfernhäutchen“ gibt, das beim Sex reißen kann. Im Sexualkundeunterricht wird Jugendlichen immer noch beigebracht, es wäre normal, beim Sex zu bluten und Schmerzen zu haben – ein Mythos, der durch Kinderehen und Zwangsheirat entstanden ist. Wer beim Sex blutet, hat eindeutig eine Verletzung erlitten, und solange das nicht an den Schulen gelehrt wird, werden Jugendliche weiterhin davon abgehalten werden, ihrem Körper zu vertrauen und im richtigen Moment „Stopp“ zu sagen!

Die willkürliche Einteilung in „Heilige“ und „Hure“ ist es, die das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie am Laufen hält. Damit wir alle das Weihnachtsessen ohne Scham und Schuldgefühle genießen können, fordern wir das Ende der Hetero-Norm und des Drucks, Kinder zu bekommen. Wir stehen ein für die freie Entfaltung der romantischen und sexuellen Orientierung, sowie der Geschlechtsidentität und des Lebensentwurfs!

Was wir brauchen, ist kein christlicher Religionsunterricht, der uns Slut Shaming und Rape Culture unter dem Deckmantel der Anatomie lernt, sondern ein Sexualkundeunterricht, der uns das Handeln nach Konsensprinzipien beibringt. Denn die gegenseitige Anerkennung unserer Bedürfnisse ist ein wichtiger Schritt, damit unser Weihnachtswunsch vom Kommunismus endlich in Erfüllung gehen kann.




6 Mythen über Weihnachten, die wir dem Kapitalismus zu verdanken haben

Von Leonie Schmidt, Dezember 2023

Weihnachten: Besinnlichkeit, Liebe und tolle Geschenke – oder?! Vielen dürfte klar sein, dass es sich hier um Mythen handelt, die für die meisten Menschen in der Realität komplett anders aussehen. Denn die unbeschwerte Weihnachtszeit voller Magie und Vorfreude, wie wir sie aus Erzählungen kennen und auf die wir jedes Jahr erneut hoffen, ist eine sorgfältig fabrizierte Illusion des Kapitalismus.

So schön und erstrebenswert sie auch erscheinen mag: Gerade jene kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen halten uns davon ab, im Dezember (und auch im Rest des Jahres) eine wirklich schöne Zeit zu verbringen. In diesem Artikel wollen wir uns sechs Mythen konkret anschauen.

Mythos 1: Weihnachten ist das Fest der Liebe und der Familie

In Werbungen und Weihnachtsfilmen können wir es sehen: die liebende Familie, die sogar für den rassistischen Onkel noch einen Platz am Tisch frei hat, in der sich niemand streitet (schon gar nicht über Politik) und alle zufrieden sind. Klingt zu schön um wahr zu sein, und so ist es auch, wenn wir uns die Zahlen dazu anschauen: 30% der Familien berichten von großen Streitigkeiten und 60% von massiven Beziehungsproblemen.

Wenn der Stress, die Überreiztheit und die enthemmende Wirkung von Alkohol aufeinandertreffen, können lebensbedrohliche Situationen entstehen. Um Weihnachten herum ist die Zahl der Femizide so hoch wie während keiner anderen Jahreszeit, niemals gibt es so viel Gewalt gegen Kinder. Die räumliche Enge, die Abschottung von sozialen Kontakten und Rückzugsorten außerhalb der Familie, sowie der erschwerte Zugang zu medizinischer Versorgung führen dazu, dass die Überfüllung der Frauenhäuser jetzt gerade ihren jährlichen Höchststand erreicht.

Diese Umstände sind auf die Veränderungen innerhalb der kapitalistischen Strukturen zurückzuführen: Früher wurde das Fest in der Dorfgemeinschaft begangen, nicht abgelegen im trauten Familienheim. Doch die Industrialisierung und der Wegzug vieler Arbeiter:innen in die Städte führte zu einer immer größeren Entfremdung von der Gemeinschaft und einem Rückzug in die Familie. Für die kleinbürgerliche Familie konnte ein besonders schönes, pompöses Weihnachtsfest zu einer Abgrenzung gegenüber dem ärmlichen Industrieproletariat werden. Während die Kinder der bürgerlichen Haushalte mit neuen Spielzeugen überschüttet wurden, bekamen die ärmeren Kinder nichts Vergleichbares. Besonders die Spielzeugindustrie hatte einen großen Einfluss darauf, dass Weihnachten zum „Fest des Kindes“ werden konnte, denn kaum eine andere Zeit im Jahr bietet so viele Möglichkeiten, den Umsatz anzukurbeln.

Dabei muss hinzugefügt werden, dass die Erfindung von Kinderspielzeug ihre Grundlage in der Wegentwicklung von den feudalen Lebensverhältnissen hat. Erstmals wurde die Kindheit als ein eigener, beachtenswerter Lebensabschnitt begriffen, den es mit Erziehung und Bildung zu füllen galt. Die Kinder der städtischen Gesellschaft sollten vom „echten Leben“ ferngehalten werden, wohingegen sie früher ein normaler Teil davon sein durften, und wenn sie noch so klein waren.

Um der Entmündigung, Vereinsamung und der Abhängigkeit vom Familienfrieden entgegen zu wirken, treten wir für die Vergesellschaftung von Hausarbeit und Wohnraum ein, um zu einem neuen, solidarischen Gemeinschaftsgefühl zu kommen, bei dem niemand auf der Strecke bleiben, geschweige denn in den Wintermonaten auf der Straße erfrieren muss.

Mythos 2: Früher gab es mehr Schnee an Weihnachten!

Weiße Weihnachten gibt es nicht mehr und Schuld ist der Klimawandel – oder? Wir wollen hier sicherlich nicht leugnen, dass sich die Durchschnittstemperaturen im Dezember in den letzten Jahren und Jahrzehnten erhöht haben. Aber mit dem Mythos der weißen Weihnachten müssen wir trotzdem brechen. Denn in vielen Regionen war es schon früher eine Ausnahme, wenn an Weihnachten Schnee lag.

Klassischerweise wird auch vom „Weihnachtstauwetter“ gesprochen, während der Januar der schneereichste Monat des Jahres ist. Deshalb waren viele Weihnachtskartenmotive bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher herbstlich bis frühlingshaft, bis es möglich wurde, Postkarten zu verschicken. Motive aus Neuengland wurden populär, wo Ende Dezember Schnee lag. Außerdem nahm in Europa der Alpentourismus zu, und zur Weihnachtszeit wurden aus diesen Regionen Postkarten mit Schneemotiven verschickt. Durch das Schüren der Sehnsucht nach Schnee wurde das Tourismus-Marketing weiter angekurbelt. Wer Lust auf weiße Weihnachten hatte, musste wegfahren. Die alpine Wirtschaft freut sich nach wie vor, wenn die Umsätze in die Höhe schießen, während die Natur in den Bergen unter dem Skitourismus leidet.

Heute kann die Besinnung auf weiße Weihnachten auch konservativ angehaucht sein, in Form der Romantisierung der „guten, alten Zeiten“, in denen das Leben noch in den richtigen Bahnen zu verlaufen schien, ohne öffentliche Liebesbekundungen von queeren Personen oder gar „gendern“. Auch die romantische Verklärung des Weihnachtsfests durch Weihnachtslieder und Romane wie „Eine Weihnachtsgeschichte“ von Charles Dickens führten zu dem Bild, dass an Heiligabend dicke Schneeflocken fallen und der Weihnachtsmann mit dem Schlitten kommen muss.

Mythos 3: Der Weihnachtsmann trug schon immer rot!

Apropos Weihnachtsmann: Klassischerweise trägt der ja rot und erinnert aufgrund seines Bartes manche von uns an Karl Marx. Doch der Weihnachtsmann ist alles andere als ein Marxist, denn jedes Jahr aufs Neue bringt er den reichen Kindern viel mehr und teurere Geschenke als den armen Kindern. Das führt nicht nur zu Enttäuschung unterm Weihnachtsbaum und einem schlechten Gewissen bei den Eltern, sondern auch zu Ausgrenzung in der Schulklasse für viele, die nicht mit Markenklamotten oder den neuesten technischen Geräten glänzen können.

Das Bild des Weihnachtsmannes in Rot ist eine Leistung der Marketing-Abteilung von Coca-Cola, welche dieses Bild seit vielen Jahrzehnten mit globalen Werbekampagnen prägt. Den Weihnachtsmann selbst gab es schon vorher: Er wurde im 16. Jahrhundert zum Leben erweckt und anschließend mit einem anderen Volksmärchen verbunden: dem Sankt Nikolaus, einem griechischen Bischof, der angeblich Nonnen aussendete, um den Armen Geschenke für ihre Familien zu überbringen. Daher stammt auch der englische Name „Santa Claus“.

Von diesem Gedanken ist heute wenig übrig geblieben, doch im Geiste dieser Tradition (Achtung: Ironie!) sollten wir uns für ein Mindesteinkommen für Jugendliche, Schüler:innen und Studierende einsetzen, angepasst an die Lebenssituation im jeweiligen Land, durch die Besteuerung von Reichtum und Kapital, sowie für die Enteignung der Betriebe unter Arbeiter:innenkontrolle, damit es der Armut nicht nur an Weihnachten an den Kragen geht!

Mythos 4: Die Weihnachtszeit ist besinnlich und friedlich

Die Weihnachtszeit ist ja sooo besinnlich, klar: Geschenke, Deko, Essen planen und organisieren, putzen und nebenbei auch noch Überstunden machen – läuft! Das trifft hinsichtlich der Hausarbeit und des Mental Load besonders Frauen, aber dazu erfahrt ihr in dem morgigen Artikel mehr.

Was noch hinzukommt ist, dass Frauen aufgrund ihrer Verpflichtungen im Haushalt auch oft im Niedriglohnsektor angestellt sind, oft auch mit mehreren Mini- oder Teilzeitjobs, um flexibel für die Kinder sorgen zu können. Die Arbeiter:innen in diesem Sektor müssen während der Weihnachtszeit besonders hart ackern. Denn wo sollen die Geschenke herkommen, wenn nicht aus den Läden, die in manchen Städten auch noch zum verkaufsoffenen Sonntag einladen? Das Gleiche gilt natürlich auch für die Gastronomie, die Logistik- und Paketdienste. Schlechte Arbeitsbedingungen, wenig Lohn, Überstunden und im schlimmsten Fall auch noch Kund:innen, die wütend werden, wenn irgendetwas nicht funktioniert, wie sie es möchten. Das ist die Realität von vielen, damit Weihnachten für alle anderen zum Erfolg werden kann.

Hier sollten wir für Lohnerhöhungen und Inflationsausgleiche eintreten, sowie, wie bereits erwähnt, die Frage der Enteignung unter Arbeiter:innenkontrolle aufwerfen. Denn nur im Sozialismus wäre es anschließend möglich, die gesamtgesellschaftliche Arbeitszeit zu verringern, damit nicht nur Weihnachten ruhig und besinnlich werden kann. Wir können zwar jetzt schon beispielsweise für eine 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich eintreten, jedoch ermöglicht erst die demokratisch-geplante und bedarfsorientierte Wirtschaftsweise einen derartigen Fortschritt, da auch viel weniger produziert werden müsste, wenn nicht “der Markt“ (aka die Kapitalist:innen) die Produktion bestimmt, sondern die Arbeiter:innen. Des Weiteren können auch so Ressourcen für Innovationen in der Produktion frei gemacht werden, um die Prozesse noch effektiver zu gestalten.

Auch für Schüler:innen bedeutet die Weihnachtszeit Stress: Kurz vor den Ferien stehen zahlreiche Klausuren an, und schon kurz nach den Ferien geht es weiter mit den Halbjahreszeugnissen. Von Leistungsdruck, Notenterror und dem ständigen Lernen gibt es kaum eine Verschnaufpause. Kann da wirklich noch von Besinnlichkeit die Rede sein?

Mythos 5: Selbstlosigkeit und Mitgefühl gehören zum Weihnachtsfest dazu!

Frieden und gute Taten gehören für viele zu den Weihnachtstraditionen dazu, besonders für wohlhabende Menschen. Dann schauen sie Filme mit rührseligen Botschaften an, packen Geschenke für Kinder aus bedürftigen Familien ein, sind besonders nett zu Obdachlosen und spenden an NGOs.

Was erst einmal toll klingt, hat natürlich einen konkreten Zweck: Wer sich einmal im Jahr durch eine Spende an die Tafel oder das Tierheim das Gewissen reinwäscht, braucht nicht wirklich für Veränderungen eintreten. Dann kann man weiterhin die SPD wählen und Kürzungen des Bürgergeldes befürworten, anstatt für gesellschaftliche Veränderungen einzutreten, mit denen Obdachlosigkeit und Armut auf den Scheiterhaufen der Geschichte geworfen werden können.

Eine solche Perspektive können uns NGOs nicht bieten, denn wenn sie im Kapitalismus bestehen wollen, dann müssen sie zu einem gewissen Grad auch nach dessen Regeln spielen. Auch, wenn nicht alle von ihnen nur Kapitalinteressen vertreten, dienen Stiftungen wie die Bill & Melinda Gates Foundation dazu, den Kapitalist:innen ein menschlicheres Antlitz zu verleihen und das System dadurch zu stabilisieren. Wir brauchen keine privaten Vereine, die sich mit ihrer Wohltätigkeit inszenieren und sich dabei große Teile der Spenden in die eigene Tasche stecken, sondern eine konsequente Verstaatlichung der Bildungs- und Gesundheitssektoren, damit unser Wohlergehen eben nicht länger von willkürlicher Spendenbereitschaft abhängt!

Auch Geschenke, mit deren Einnahmen vermeintlich soziale Zwecke unterstützt werden, wie beispielsweise handgefertigte Kerzen oder andere Produkte aus Behindertenwerkstätten, sollen nur die dortige Überausbeutung verschleiern. Anstatt eines Lohns bekommen die Arbeiter:innen dort ein sogenanntes „Taschengeld“ in Höhe von 1,46€ die Stunde. Zynischer geht es also gar nicht!

Ebenso zynisch ist es, wenn Arbeiter:innen in der Weihnachtszeit den einen oder anderen Happen von den Kapitalist:innen vorgeworfen bekommen: Weihnachtsfeiern, bei denen Essen und Getränke auf den Nacken des Chefs gehen sowie 20 Euro Wunschgutscheine statt Weihnachtsgeld dienen nur der kleinstmöglichen Befriedung der Arbeiter:innen, um den Frust aufgrund der Krise und Inflation etwas abzuschwächen, anstatt einfach mal ein höheres Gehalt zu zahlen. Altruismus sieht anders aus!

Mythos 6: Die Weihnachtszeit macht dick!

Über die Weihnachtszeit nimmt man zu – logisch, wenn man die ganze Zeit von Leckereien und fettigen Speisen umgeben ist. Aber Moment mal, die Statistiken zeichnen ein ganz anderes Bild: Die „Weihnachtspfunde“ betragen im Durchschnitt 370 Gramm, das ist weniger als ein halbes Kilo und damit wirklich nicht der Rede wert.

Warum hält sich dieser Mythos dennoch so hartnäckig?! Dafür sollten wir einen Blick darauf werfen, was direkt nach Weihnachten ansteht: Richtig, der Jahreswechsel. Zu einem der beliebtesten Neujahrsvorsätzen gehört es, abzunehmen. Deshalb schießen die Mitgliedszahlen in den Fitnessstudios zu Beginn des Jahres massiv in die Höhe: um ca. 30% steigen die Neuanmeldungen im Januar und Februar. Damit die Diätindustrie mitsamt Abnehmpillen, Schönheits-OPs, Fitnessstudio-Mitgliedschaften und Sport-Equipment was reißen kann, wird der Irrglaube der „Weihnachtspfunde“ in unsere Köpfe gepflanzt.

Neujahr ist die perfekte Gelegenheit, um die christlichen Tugenden der Mäßigung, des Fastens und des Verzichts zu Geld zu machen. Nicht umsonst wird Schokolade mit Vokabeln wie Sünde, Verführung und Versuchung beworben. Erst sollen wir zu Weihnachten die Waren kaufen und essen, und anschließend sollen wir uns dafür schlecht fühlen und Buße leisten, weil wir uns durch die christliche Todsünde der „Völlerei“ von Gott abgekehrt haben.

Es wird verlangt, dass wir außer Acht lassen, dass Essen ein Grundbedürfnis ist, und uns von unserem eigenen Körper entfremden, indem wir unser Hungergefühl als einen bösen Trieb verstehen, der bezwungen werden muss, um näher am „Heiligen“ und weniger abhängig vom „Weltlichen“ zu sein.

Wir sind dagegen, dass die Marketing-Abteilungen der Schönheitsindustrie uns einreden, unsere Körper wären nicht gut genug. Daher sagen wir: Gegen die unterdrückerischen Schönheitsideale in Werbung und Medien! Enteignet die großen Medienhäuser und die kulturschaffende Industrie!




Care-Arbeit: Eine unsichtbare Form patriarchaler Gewalt?

Von Erik Likedeeler, November 2023

Im Zuge des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen wollen wir uns nicht nur die offensichtlichen Formen von patriarchaler Gewalt anschauen, sondern auch das Verhalten, das erst auf den zweiten Blick als Gewalt erkennbar ist. Beispielsweise kann der lebenslange Zwang zur Care-Arbeit, unter dem proletarische Frauen stehen, als eine Form der Gewalt betrachtet werden – genauso wie sämtliche Strategien, die Männer anwenden, um sich vor dieser Arbeit zu drücken. In diesem Artikel wollen wir uns anschauen, welches Verhalten in Bezug auf Care-Arbeit in heteronormativen Beziehungen, Ehen und Familien vorherrschend ist und welche schädlichen Folgen das mit sich bringen kann.

Wer trägt die Verantwortung im Haushalt?

Wenn Frauen ihren Partnern mitteilen, dass diese zu wenig im Haushalt arbeiten, bekommen sie häufig folgende Antwort: „Du hättest mich einfach fragen müssen.“ Doch wenn jemand erwartet, dass man ihm Aufgaben überträgt, dann weigert er sich, seinen Teil der Planung und Verantwortung zu übernehmen.

Denn das Organisieren von Care-Arbeit, auch Mental Load genannt, ist bereits ein Vollzeit-Job. Es ist keine gerechte Aufteilung gewährleistet, wenn eine Person die gesamte Planung macht und die Arbeit selbst dann auch nochmal 50/50 aufgeteilt wird. In seinem eigenen Haushalt „hilft“ man nicht – man macht einfach seine Aufgaben.

Das Wegschieben der Verantwortung zeigt sich zum Beispiel dann, wenn Männer nur mit Schlüssel und Handy aus dem Haus gehen, während Frauen in ihrer Tasche alles mitschleppen, was sie selbst, der Mann, das Baby oder der Hund potentiell brauchen könnten. Männer machen sich gern darüber lustig, dass Frauen so „kompliziert“ seien und alles tausend Mal überdenken würden. Die Wahrheit ist: Frauen sind dazu gezwungen, gedanklich alle möglichen Katastrophen durchzuspielen, weil sie die Verantwortung für so vieles tragen müssen und Männer sich keine Mühe machen, ihnen diese Last abzunehmen.

Zudem zeigt sich die Tendenz, dass Männer das überschätzen, was sie im Haushalt tun. Viele von ihnen glauben, sie würden mehr machen als das, was sie eigentlich leisten. Sie nehmen den Haushalt als gleichberechtigt aufgeteilt wahr, doch das können nur die wenigsten Frauen bestätigen.

Emotionale Arbeit ist Care-Arbeit

Teil der Care-Arbeit ist auch die emotionale Arbeit, also alle unsichtbaren Aufgaben, die mit Rücksicht, Einfühlung und Empathie zu tun haben. Dazu gehören zum Beispiel Streitschlichten, ein Geschenk besorgen, einen Ausflug organisieren, bei Problemen zuhören, ein Zimmer schön dekorieren, eine Massage geben oder jemanden trösten.

Emotionale Arbeit lässt sich schwer messen und vergleichen, weil sie nicht wie Care-Arbeit in einer bestimmten Zeit geleistet wird, sondern immer im Hintergrund existiert. Wenn man sich über fehlende emotionale Arbeit beschwert, fühlt man sich schnell, als würde man übertreiben, da es ja nur um „kleine Dinge“ geht, die man halt mal „aus Nettigkeit“ macht.

Die Feststellung, dass es häufig Frauen sind, die diese Aufgaben übernehmen, wird von Männern oft so gekontert, dass ja niemand Frauen dazu zwingen würde, emotionale Arbeit zu leisten, dass sie das quasi freiwillig machen würden und einfach damit aufhören könnten.

Aber ist es nicht ein erschreckender Gedanke, dass manche Männer lieber in einer Welt ohne intime Gespräche und Geburtstagskuchen leben würden, als sich selbst darum zu kümmern?

Antrainierte Zuständigkeit

Ob man sich für bestimmte Aufgaben zuständig fühlt oder nicht, hängt natürlich nicht mit irgendwelchen Körperteilen, Hormonen oder angeborenen Fähigkeiten zusammen, sondern damit, ob einem vermittelt wird, dass man für eine Aufgabe zuständig ist.

Es gibt den sogenannten Priming-Effekt: Wenn wir einen bekannten Gegenstand sehen, wird unser Gehirn geprimet, also darauf vorbereitet, ihn schneller zu erkennen, weil eine Verbindung zwischen dem Gegenstand und unserem Gedächtnis hergestellt wird. Ein Gegenstand, den wir schon mal gesehen und benutzt haben, ist uns vertraut und wir können ihn schneller erkennen. Wir haben ein mentales Bild davon in unserem Gedächtnis eingespeichert und das Gehirn benötigt weniger Zeit, um Informationen darüber zu verarbeiten.

Das führt uns zur sogenannten Affordanz-Auffassung: So wird es genannt, wenn wir eine Situation wahrnehmen und darin eine Aufgabe erkennen, die erledigt werden muss. Bei Jungs und Männern bildet sich durch die Sozialisation ein unerfahrener Blick auf Haushaltsgegenstände und Care-Arbeit heraus. Eine Ratlosigkeit, aber auch die Unfähigkeit, zu erkennen, dass man gerade etwas machen sollte – häufig in Kombination mit dem arroganten Glauben, dass es ja gar nicht sein könnte, dass man etwas nicht auf den ersten Blick erfasst.

Wenn man im gemeinsamen Haushalt einen vollen Wäschekorb sieht, reicht es also nicht, zu denken: „Ah, ein Wäschekorb“. Sondern es muss der Gedanke einsetzen: „Ich sollte die Wäsche waschen, am besten gleich heute.“

Unterschiedliche Standards oder ästhetische Arbeit?

Leider haben Männer sich zahlreiche Strategien und Ausreden angeeignet, um in ihrer  Bequemlichkeit auszuharren. Diese zu entlarven ist ein wichtiger Schritt, um sie zur Verantwortung ziehen zu können.

Ein beliebter Trick, um sich aus der Care-Arbeit herauszuwinden, ist es, unterschiedliche Standards vorzutäuschen. Wer kennt es nicht?  Männern ist es halt einfach „nicht so wichtig“, dass das Bett alle paar Wochen bezogen wird oder der Abfluss gereinigt wird. Sie haben halt „nicht so hohe Standards“. Aber wieso kann es Männern eigentlich egal sein, wenn sie in einem Drecksloch hausen?

Das liegt zum Beispiel daran, dass sie für diese Nachlässigkeiten nicht befürchten müssen, gesellschaftlich abgestraft zu werden. Frauen hingegen müssen viel öfter erleben, dass vorwurfsvolle Kommentare zur unordentlichen Wohnung an sie gerichtet werden. Scham und Schuld bleiben an ihnen hängen.

Denn spätestens seit der bürgerlichen Revolution gehört auch die ästhetische Arbeit zum weiblichen Rollenbild. Der Haushalt soll nicht nur praktisch geführt werden, sondern auch repräsentativ. Als „Angel in the House“ hat die Frau nicht nur essbare Mahlzeiten zu kochen, sondern liebevoll zubereitete Menüs. Sie soll nicht nur kurz den Boden fegen, sondern schicke Teppiche besorgen und diese aufwändig reinigen.

In den letzten Jahren ist auch noch die Anforderung des „nachhaltigen Konsums“ obendrauf gekommen, denn auch dieser ist mit weiblich konnotierter Care-Arbeit verbunden: Hauptsächlich Frauen waschen Stoffwindeln, stecken Zeit und Energie in die Auswahl der „richtigen“ Produkte, um eine pflanzliche Ernährung zu gewährleisten oder Dinge selbst herzustellen, die man einfach fertig kaufen könnte.

Inkompetenz ist kein Zufall

Eine weitere Strategie ist die Weaponized Incompetence oder auch strategisch eingesetzte Inkompetenz. Diese liegt vor, wenn jemand die Tatsache, dass er eine Aufgabe im Haushalt nicht beherrscht, als Ausrede benutzt, um sie jemand anderen machen zu lassen. Oder auch, Dinge gar nicht erst zu lernen, weil sie ja sowieso jemand anders übernimmt und man es eh nur falsch machen würde.

Diese Weigerung, dazuzulernen, kommt Frauen teuer zu stehen: Sie verbringen durchschnittlich 3 Stunden pro Woche damit, Arbeiten noch einmal auszuführen, die eigentlich ihrem Partner zugeteilt waren. Das Gespräch, in dem man Männern mitteilen muss, dass sie nicht gut genug waren, ist oft anstrengender, als die Arbeit selbst zu machen.

Als Paternal Underperformance wird es bezeichnet, wenn Männer, insbesondere Väter, Aufgaben absichtlich in den Sand setzen, einfach nur, damit sie beim nächsten Mal nicht mehr danach gefragt werden. Gern stellen sie sich als ein Opfer ihrer eigenen Sozialisation dar, weil sie nie beigebracht bekommen haben, wie man einen Backofen anschaltet oder den Boden wischt.

Der „Idiot Dad“ ist zu einer richtigen Kulturtechnik geworden. Aber ist es nicht eigentlich erbärmlich, wenn Frauen ihren Ehemann als ein „zusätzliches Kind“ bezeichnen, oder wenn Väter so tun, als wüssten sie nicht, wann ihr Kind Geburtstag hat oder wie man es wickelt?

Kein lustiges Klischee, sondern Gewalt

In diesem Verhalten kann man wirklich nur dann Unterhaltungswert sehen, wenn man nicht selbst darunter leidet und sämtliche Fehler ausbaden muss. Es handelt sich bei dieser Arbeitsverweigerung nicht um eine sympathische, gemütliche Faulheit oder Entspanntheit, sondern um psychische Gewalt. Die bittere Realität zeigt sich anhand einer Studie aus den USA, wo 21% der Männer ihre Frau verlassen, wenn diese schwerkrank ist. Umgekehrt sind es nur 3% der Frauen.

Außerdem hat die sich ständig wiederholenden Aufgaben Einfluss auf die geistige und körperliche Gesundheit. Personen mit repetitiven Aufgaben neigen stärker zu geistiger und körperlicher Ermüdung. Außerdem können Stress und Angstzustände sich verstärken. Ein Mangel an Abwechslung führt zu Langeweile, Unruhe und Unzufriedenheit. Es ist ein sich selbst verstärkender Prozess aus Leistungsabfall und Erschöpfung. Ebenso kann der ausgeübte Druck, der Rolle als Mutter oder Hausfrau zu entsprechen, eine explizit ausgeübte Form der psychischen Gewalt sein.

Care-Arbeit ist ein Skill!

Natürlich darf der Diskus über Care-Arbeit nicht damit enden, dass diese einfach nur als nervig, unnütze und überflüssig abgewertet wird. Nicht jede Care-Arbeit ist intellektuell einfach. Auch im Haushalt gibt es komplizierte Aufgaben, wie zum Beispiel Feiertage planen oder im Supermarkt Preise vergleichen und ausrechnen, ob das Geld bis zum Ende des Monats reicht. 

Zudem birgt Care-Arbeit einige Gefahren: Als Pfleger_In hebt man teils schwerere Gewichte als auf der Baustelle und setzt sich multiresistenten Keimen aus. Beim Putzen kommt man mit toxischen Substanzen in Berührung, die zu Atemproblemen, Hirnschäden und Krebs führen können – doch auch körperliche Folgen von Care-Arbeit werden kaum anerkannt.

Natürlich kann man den Haushalt jetzt immer noch nervig finden. Aber noch nerviger ist es, wenn man ihn komplett allein machen muss – und wenn man als zickig und nörgelnd abgestempelt wird, nur weil man Beteiligung einfordert. Denn ausschließlich im Haushalt gilt man als pingelig, überkorrekt oder hat einen „Fimmel“, wenn man ihn richtig macht und sich Mühe gibt. Bei allen anderen Themen von Technik bis Finanzen hingegen gilt Genauigkeit als ein nützlicher Skill.

Weiblich kategorisierte Arbeit darf hingegen niemals als Skill gelten, der gelernt werden muss – sonst müsst ja als nächstes die Anerkennung erfolgen. Nach wie vor gilt Wissen über Care-Arbeit nicht als richtiges Wissen, so wie auch das ganze Thema als „Frauenthema“ gilt, welches mit „richtiger“ Politik nichts zu tun hätte.

Der unabhängige Mann: Ein Mythos

Dabei ist es Care-Arbeit, welche die gesamte Gesellschaft am Laufen hält. Immer noch hält sich die gesellschaftliche Vorstellung eines unabhängigen männlichen Künstlers, Wissenschaftlers, Herrschers oder Sportlers. Ein self-made Millionär, ein einsames Genie. Was unsichtbar bleibt, ist, dass all diese männlichen „Helden“, egal ob Berthold Brecht oder Karl Marx, im Hintergrund Frauen hatten, die ihre Termine verwaltet haben, ihre Entwürfe Korrektur gelesen haben und ihnen das Klo geputzt haben, teilweise auch für wichtige Erkenntnisse in ihren Werken verantwortlich waren und dafür nie Anerkennung bekommen haben.

Care-Arbeit und Mental Load hindern Frauen daran, eigene Arbeiten zu veröffentlichen. Das hat sich während der Corona-Lockdowns verstärkt gezeigt, als die wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Frauen um 30% zurückgingen.

Warum ist Care-Arbeit überhaupt privatisiert?

Diese strikte Rollenaufteilung ist natürlich kein Zufall, genauso wenig, wie sie sich auf irgendeine steinzeitliche Jäger_Innen-Sammler_Innen-Gesellschaft zurückführen lässt. Vielmehr liegt die Ursache in der Klassengesellschaft. In marxistischen Theorien wird Care-Arbeit auch als Reproduktionsarbeit bezeichnet, denn sie dient dazu, die Arbeiter_Innen wieder fit für einen weiteren Arbeitstag zu machen.

Bei der Reproduktionsarbeit wird allerdings kein Mehrwert erzeugt, den Kapitalist_Innen für sich selbst einstreichen könnten. Weil sie also kein Interesse daran haben, die Kosten für die Care-Arbeit zu tragen, wird diese in die Privathaushalte ausgelagert. Um diesen Zwang zu festigen, bildete sich die bürgerliche Kleinfamilie heraus, bestehend aus den Kindern, der Mutter als Zuständige für den Haushalt und dem Vater als Familienoberhaupt.

Wenn Frauen durch sozialen Druck und Gewalt eine feste Zuständigkeit dafür aufgedrückt wird, bedeutet das im Umkehrschluss, dass Männer mehr Lohnarbeit leisten können, was den Kapitalist_Innen mehr Gewinn gibt. Sozialleistungen werden insbesondere in wirtschaftlichen Krisen gekürzt, um Frauen im Privathaushalt die Kosten tragen zu lassen. Gleichzeitig verdienen Frauen durch diese Doppelbelastung meist weniger und sind somit vom Einkommen ihres Partners abhängig.

Aus der Care-Arbeit herauskaufen können sich nur bürgerliche Frauen, welche für diese Aufgaben proletarische Frauen anstellen. So sind die Global Care Chains entstanden, bei denen z.B. osteuropäische Frauen nach Westeuropa kommen, um unter miserablen Arbeitsbedingungen und für einen Hungerlohn Care-Arbeit für andere verrichten.

Die bürgerliche Familie abschaffen!

Unsere Vorstellung davon, wie Care-Arbeit gerecht aufgeteilt werden kann, sieht völlig anders aus. Natürlich ist es wichtig, dass Männer lernen, endlich ihren Anteil zu übernehmen, aber am Ende bleiben wir damit immer noch von ihrer individuellen Motivation abhängig.

Damit das nicht so bleibt, müssen wir die bürgerliche Familie abschaffen und die Care-Arbeit vergesellschaften. Durch den Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung und die Einführung von gemeinsamen Wäschereien und Kantinen können wir der Isolation entgegenwirken. Auch eine massive Investition in das Gesundheitssystem ist nötig, um die Angehörigen von pflegebedürftigen Menschen zu entlasten.

Diese Vergesellschaftung kann nur durch eine soziale Revolution erreicht werden. Die Kontrolle über Lohn und Arbeitsbedingungen muss bei den Arbeiter_Innen liegen, welche diese Beschlüsse in Räten umsetzen. Nur so ist es möglich, sich von dem ausbeuterischen und gewaltvollen System der privatisierten Care-Arbeit zu verabschieden.




Toxische Beziehung? Nein, psychische Gewalt!

Von Leonie Schmidt, November 2023

Heute ist der 25.11., der Tag gegen patriarchale Gewalt. Und während auch heute wieder viel über körperliche Gewalttaten bis hin zu Femiziden gesprochen wird, bleibt psychische Gewalt eher im Dunkeln zurück. Und das obwohl den Schlägen, Tritten und Messerstichen oftmals Verbote, Verhöhungen und Drohungen zuvorkommen (BMFSJ 2014: 91f). Auch wird psychische Gewalt oft unter das Deckmäntelchen der „toxischen Beziehung“ gesteckt. Das passiert auch in linken Kreisen, wenn feministische Gruppen Dinge verlauten lassen wie: „Uns liegt kein Tätervorwurf vor, nur der Vorwurf einer toxischen Beziehung.“ Warum ist das aber so gefährlich? Im folgenden Beitrag wollen wir herausarbeiten, warum der Begriff der toxischen Beziehung die Machtverhältnisse verschleiert und Täter davor schützt, zur Verantwortung gezogen zu werden.

Laut einer Studie des BMFSJ ist in Deutschland ca. jede 5. Frau Opfer psychischer Gewalt in einer bestehenden Paarbeziehung (2014: 207). Eine andere Studie führte zu dem Ergebnis, dass 42 % der befragten Frauen im Erwachsenenalter bereits unter psychischer Gewalt litten (Schröttle & Müller 2004: 7). Hierbei ist natürlich anzumerken, dass die Dunkelziffer höher sein dürfte, denn viele Betroffene erkennen oftmals nicht die Gewalt, die ihnen angetan wird, oder trauen sich nicht, diese auszusprechen. 87,5 % der Frauen, die „lediglich“ psychischer Gewalt in Form von Drohungen ausgesetzt waren, ohne darauffolgend auch noch körperliche Gewalt zu erleben, gaben an, dass sie das als belastend empfinden und unter erheblichen psychischen Beschwerden leiden würden (BMFSJ 2014: 24). Psychische Gewalt ist also alles andere als harmlos. Was aber genau wird unter psychische Gewalt gezählt? Bei der erwähnten Studie wurde das unter den folgenden Begriffen zusammengefasst: Extreme Eifersucht, Kontrolle & Dominanz, verbale Aggressionen & Drohungen, Demütigungen, sexuelle Übergriffigkeiten und ökonomische Kontrolle. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass der Täter der Betroffenen den Kontakt zu Freund_Innen verbietet, finanzielle Ausgaben überwacht oder einschränkt, verbietet, was die Betroffenen anziehen dürfen, Drohungen ausspricht, die Betroffenen beleidigt, als dumm bezeichnet, vor anderen runtermacht, ihre Anwesenheit komplett ignoriert und nicht auf sie reagiert oder auch explizit einfordert, dass die Betroffene ihrer Geschlechterrolle als Hausfrau oder Mutter nachkommen solle. Es gibt natürlich noch viele weitere Beispiele, mit denen man unzählige Seiten füllen könnte. Wichtig ist aber noch, dass das Ganze natürlich im Ausmaß variieren kann und es nicht alles Genannte auf einmal auftreten muss und die verschiedenen Formen auch abwechselnd auftreten können.

Toxische Beziehung? Was soll das überhaupt sein?

Seit das Modewort „toxisch“ einen Einzug in unseren Sprachgebrauch gefunden hat, hören wir es ständig, so auch, wenn beschrieben werden soll, dass eine Beziehung vor allem verbale Gewalt beinhaltet. Aber die „toxische Beziehung“ ist überhaupt kein Fachbegriff, und so ist es schwierig, näher zu definieren, was das alles konkret beinhalten soll. Jedoch wird das Wort „toxische Beziehung“ oftmals gleichbedeutend mit psychischer Gewalt verwendet. Allerdings wird es noch mit einer zusätzlichen Bedeutung versehen, und zwar: Es gibt nicht einen Haupttäter, sondern beide Parteien sind irgendwie einfach „toxisch“ füreinander und das Zusammenspiel aus ihrem Verhalten führt zu diesem explosiven, giftigen Gebräu. Wir wollen an dieser Stelle nicht leugnen, dass es diese Konstellationen auch gibt. Jedoch dürfte die Mehrheit der Fälle einen zumeist männlichen Haupttäter haben und der Begriff der „toxischen Beziehung“ macht aus einem gesamtgesellschaftlichen strukturellen Problem ein individuelles. Studien kommen zwar immer wieder zu unterschiedlichen Ergebnissen, ob die Haupttäter_Innen psychischer Gewalt nun Männer oder Frauen sind, aber Verzerrungen basieren oftmals ebenso auf Geschlechterrollen, insofern, dass Frauen in ihrer Sozialisierung eher lernen, Fehler einzugestehen, oder eher etwas als psychische Gewalt kategorisieren, als Männer das tun. So spricht das BMFSJ in einer Pressemitteilung von 2023 davon, dass 80,1% der Betroffenen von Partnerschaftsgewalt im Jahr 2022 weiblich sind, während 78,3 % der verdächtigten Täter männlich sind. Offensichtlich kann es auch an dieser Stelle zu Verzerrungen kommen, denn diese Zahlen basieren auf den kriminalstatistischen Auswertungen des Bundeskriminalamts, und viele Fälle, insbesondere psychischer Gewalt, werden natürlich nicht gemeldet, teilweise auch, weil sie nach deutschem Recht keine Straftat darstellen.

Weswegen entsteht (psychische) Gewalt in Partnerschaftsbeziehungen?

Um uns der Antwort zu nähern, warum wir von mehrheitlich männlichen Tätern ausgehen, gilt es, sich anzuschauen, weswegen (psychische) Gewalt überhaupt entsteht. Beziehungsgewalt basiert nämlich auf einem ungleichen Machtverhältnis, denn all die vorher beschrieben Formen der psychischen Gewalt zielen darauf ab, dass sich die betroffene Person (weiterhin) unterordnet. Macht in zwischenmenschlichen Beziehungen ist aber nichts, was einfach in einem Vakuum entsteht, genauso wie der Anspruch, Macht ausüben zu dürfen. Denn häusliche Gewalt findet im Rahmen der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung statt, welche als Institution elementar für das Fortbestehen des Kapitalismus ist.

Während die bürgerliche Familie in der herrschenden Klasse eine andere Funktion hat, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, übernimmt sie in der Arbeiter_Innenklasse wesentliche Aufgaben zur Reproduktion der Klasse selbst und somit letztendlich auch des Kapitalismus. Denn hier findet die Reproduktion der Ware Arbeitskraft statt, was alle Tätigkeiten meint, die notwendig sind, damit die Arbeitenden am nächsten Tag wieder am Arbeitsplatz erscheinen und ihrer Arbeit nachgehen können. Darunter zählt also Kochen, Putzen, Wäsche waschen, aber auch emotionale Sorgearbeit. Auch die Erziehung von Kindern fällt mit unter diese Kategorie, damit sich so die Arbeiter_Innenklasse als Ganzes neu reproduzieren kann.

Um eine für das Kapital so günstig wie mögliche Reproduktion durchzusetzen, wird diese ins Private gedrängt. Die Arbeiten werden vor allem von Frauen unentlohnt verrichtet. Dies bildet die Basis für reaktionäre Rollenbilder, so dass diese ihrerseits stetig zur Reproduktion der geschlechtlichen Arbeitsteilung beitragen. Das beginnt schon im Kleinkindalter durch Sozialisierung und erstreckt sich über das ganze Leben.

Die Familie existierte aber nicht schon immer, sondern entwickelte sich über die Klassengesellschaften zur heutigen Form hin, und die konkrete Ausprägung heutzutage ist von der jeweiligen Gesellschaftsverfassung abhängig. Im Allgemeinen gilt der Mann als Ernährer der Familie, wohingegen die Frau als Hausfrau tätig wird. Das ist natürlich ein Ideal, was besonders für die Arbeiter_Innenklasse schwer zu erreichen ist, jedoch zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs zumindest für die bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen ansatzweise etabliert werden kann. Zugleich wird sowohl mit der Expansion des Kapitalismus wie auch in der Krise die ökonomische Basis der lohnabhängigen Familie massiv unterhöhlt.

Die Krise der Familie bildet die strukturelle Grundlage der Gewalt gegen Frauen in der Arbeiter_Innenklasse innerhalb von Familien oder partnerschaftlichen Beziehungen, welche der Familie ähneln. Denn durch diese hat der Mann das Problem, dass er der Rollenerwartung als Ernährer der Familie nicht mehr nachkommen kann, während die Frauen einerseits in die Lohnarbeit gezwungen werden und andererseits aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor, in welchem sie oft tätig sind, nicht die Möglichkeit haben, dem Täter zu entfliehen. Dieses widersprüchliche Verhältnis zwischen Idealbild, Geschlechterrolle und Notwendigkeit der Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht im Rahmen des Kapitalismus aufzulösen und sorgt letzten Endes in seiner Unabdingbarkeit und Perspektivlosigkeit auch dafür, dass die extremste Form der häuslichen Gewalt, der Femizid, zu Tage tritt.

Hinzukommt, dass aggressives Verhalten in der männlichen Sozialisation und im männlichen Rollenbild nicht geahndet, sondern eher bestärkt wird. Kontrolle und Eifersucht werden gar als romantisch angesehen, Vorschreiben der Kleidung als Sorge um die Sicherheit, eine nichtarbeitende Hausfrau haben zu wollen als „provider mindset“, usw.

Betroffene wehren sich – und werden selbst zu Täter_Innen?!

Manche Betroffene, welche nicht aus der gewaltvollen Situation fliehen können und Tag ein Tag aus missbräuchlichem Verhalten ausgesetzt sind, haben irgendwann genug und beginnen sich zu wehren, denn es gibt immer eine Grenze hinsichtlich dessen, was eine Person ertragen kann. Das wird auch als reactive abuse bezeichnet. Die Bezeichnung ist aber eigentlich eher ungenau, da es sich in diesem Moment viel mehr um eine Art Selbstverteidigung handelt, da die Betroffenen durch die andauernde Gewalt in einen „Fliehen oder Kämpfen“-Modus gebracht werden. Diese Reaktion auf konstante Gewaltausübung wird vom Täter aber genutzt, um eine Täter-Opfer-Umkehr durchzuführen oder auch um den Begriff der toxischen Beziehung zu verwenden. Denn immerhin hat die betroffene Person sich ja jetzt auch mal falsch verhalten. Hier zeigt sich auch wieder, was wir gesamtgesellschaftlich als Bild von dem „perfekten Opfer“ haben. Das „perfekte Opfer“ soll stillsitzen, ertragen, schüchtern und am Boden zerstört sein, damit die Gesellschaft ihr wirklich Glauben schenken kann. Wenn sie dann aber nach monate- oder jahrelanger psychischer Gewalt anfängt, nicht alles hinzunehmen, hat sie jegliche Chance darauf vertan, dass zumindest anerkannt wird, dass es sich wirklich um ein missbräuchliches Verhältnis handelt. Hier wird eben auch der Begriff der „toxischen Beziehung“ zum Mittel für den Täter, um sich aus der Verantwortung zu ziehen. Denn der Begriff kann schließlich beschreiben, dass es sich nicht um Missbrauch, sondern um ein gegenseitiges falsches Verhalten handelt.

Es heißt psychische Gewalt!

Als Marxist_Innen dürften wir die Augen nicht davor verschließen, dass Beziehungsgewalt, auch wenn sie so vermeintlich unsichtbar daherkommt wie psychische Gewalt, ein patriarchal geprägtes Phänomen ist. Da es sich um kein individuelles Problem handelt, sollten Begriffe wie „toxische Beziehung“, die diesen Missbrauch verharmlosen und Täter-Opfer-Umkehr begünstigen, zwingend hinterfragt und geprüft werden. Um Beziehungsgewalt also zu beenden, müssen wir den Kapitalismus mitsamt seinen patriarchalen Strukturen überwinden. Aber es gilt selbstverständlich, im Hier und Jetzt anzusetzen, weswegen wir den massiven Ausbau von Beratungsstellen und Unterkünften für Betroffene von partnerschaftlicher und/oder häuslicher Gewalt fordern. Diese sollen bezahlt werden durch die Gewinne der Kapitalist_Innen und der Enteignung ihrer Betriebe. Des Weiteren setzen wir uns ebenso für massive Investitionen in den Gesundheitssektor ein, damit es genügend Therapiemöglichkeiten gibt. Natürlich braucht es auch massive Aufklärungskampagnen in den Gewerkschaften und Organisationen der Arbeiter_Innenklasse und Jugend. Ebenso relevant ist die Vergesellschaftung der Hausarbeit, um einen Grundstein zu legen, das gesellschaftliche Zusammenleben zu transformieren. Einerseits würde das die Isolation aufheben, in der partnerschaftliche und häusliche Gewalt oftmals erst möglich wird, und andererseits wäre es ein wichtiger Schritt, dem Ideal der bürgerlichen Familie und somit den Geschlechterrollen an den Kragen zu gehen.

Quellen:

BMFSJ (2014): Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen. Eine sekundäranalytische Auswertung zur Differenzierung von Schweregraden, Mustern, Risikofaktoren und Unterstützung nach erlebter Gewalt,
https://www.bmfsfj.de/resource/blob/93968/f832e76ee67a623b4d0cdfd3ea952897/gewalt-paarbeziehung-langfassung-data.pdf.

BMFSJ (2023): Häusliche Gewalt im Jahr 2022: Opferzahl um 8,5 Prozent gestiegen – Dunkelfeld wird stärker ausgeleuchtet,
https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/haeusliche-gewalt-im-jahr-2022-opferzahl-um-8-5-prozent-gestiegen-dunkelfeld-wird-staerker-ausgeleuchtet-228400.

Laderer, Ashley (2022): If you’ve ever lashed out against your abuser, it doesn’t make you abusive — here’s why, https://www.insider.com/guides/health/sex-relationships/reactive-abuse.

Schröttle, M. & Müller, U. (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland,
https://www.bmfsfj.de/resource/blob/84316/10574a0dff2039e15a9d3dd6f9eb2dff/kurzfassung-gewalt-frauen-data.pdf




Warum Feminizide kein Zufall sind: Die Rolle von Staat und Kapital

von Martin Suchanek, November 2023, zuerst erschienen in der Neue Internationale der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Für das Jahr 2022 meldete die UN so viele Femizide wie seit 20 Jahren nicht, und das obwohl die Tötungsdelikte im Allgemeinen international zurückgingen. 50.000 oder mehr Femizide registrieren internationale Organisationen und Forschungsinstitute jährlich – und dies umfasst nur jene Morde, die in Partnerschaften oder durch Verwandte verübt wurden, und auch nur jene Länder, die gesonderte Statistiken überhaupt erstellen. Doch schon diesen Zahlen zufolge werden weltweit täglich mehr als 135 Frauen getötet. In Deutschland fällt jeden dritten Tag eine Frau oder ein Mädchen diesem Verbrechen zum Opfer.

Wir sprechen von Feminiziden, wenn es sich um geschlechtsbezogene Morde handelt, welche mit der Durchsetzung privatkapitalistischer, neokolonialer oder staatlicher Interessen verbunden sind und von Femiziden, wenn diese innerhalbe einer partnerschaftlichen, intimen oder verwandtschaftlichen Beziehung auftreten. Dabei ist der Täter in der Regel männlich, steht zum Opfer in einer persönlichen Beziehung. Er will seine Tat nicht öffentlich zur Schau stellen, sondern hofft vielmehr, der Strafverfolgung zu entkommen. Phänomene wie Ehrenmorde, die in der Regel dieser Form von Femiziden zugerechnet werden, stellen in gewisser Hinsicht ein Übergangsphänomen dar, als die Täter keineswegs Partner des Opfers sein müssen und ein, wenn auch tradierter Zweck verfolgt wird, nämlich die „Ehre“ der Familie auch öffentlich wiederherzustellen. Darüber hinaus verfolgt das aber keinen ökonomischen oder herrschaftlichen Anspruch.

Mord als Botschaft

Zu Feminiziden, die mit direkt ökonomischen Interessen verbunden sind, gehören beispielsweise Gewalt und Ermordung von Frauen im Zuge von Frauenhandel und Zwangsprostitution. Frauen oder trans Personen wird Gewalt bis zum Feminizid angetan, um ein Zeichen zu setzen: Wer sich gegen Verschleppung und Versklavung wehrt, muss damit rechnen, getötet zu werden. Der Mord ist also eine Botschaft an weitere potentielle Opfer, die für einen ökonomischen Zweck gefügig gemacht werden sollen – die Bereicherung des Zuhälters, anderer Krimineller und illegaler Geschäftemacher_Innen, die daraus Profit schlagen und die Prostitution und den Frauenhandel kontrollieren. Es gehört damit zum Zweck dieser Feminizide, dass die Täter als zuordenbare Gruppe anderen bekannt sind. Die Einschüchterung anderer funktioniert schließlich nur, wenn potentielle Opfer wissen, wer über sie Macht ausübt und durchsetzen kann.

Diese betrifft auch weitere Kapitaloperationen. So dienen Feminizide beispielsweise auch als Mittel zur Aneignung von Land indigener oder agrarischer Gemeinden durch das Agrobusiness oder extraktive Unternehmen in Lateinamerika oder Afrika. Vergewaltigungen oder Mord an Frauen sollen in diesen Fällen der Gemeinde, den zu Vertreibenden vor Augen führen, dass jeder Widerstand mit äußerst brutaler Gewalt niedergeschlagen wird. Die Täter führen so den Unterdrücken ihre Ohnmacht vor, knüpfen an einer patriarchalen Rollenverteilung an, indem sie auch den männlichen Mitgliedern des Dorfes oder der indigenen Gemeinde deutlich machen, dass sie nicht einmal in der Lage sind, „ihre“ Frauen zu schützen. Diese Form des Feminizids weist eine lange, koloniale Geschichte auf, die sich heute in neokolonialer und imperialistischer Ausbeutung fortsetzt. Mögen die Täter auch gedungene Mörder sein, so agieren sie nicht auf eigene Rechnung, sondern im Auftrag einer bestimmten Kapital- und Unternehmensgruppe, eines Grundbesitzers, eines multinationalen Konzerns oder von deren Mittelsmännern.

Weniger direkt, aber nichtsdestotrotz auf die Durchsetzung einer sozialen und ökonomischen Stellung bezogen sind Feminizide durch kriminelle Gangs, beispielsweise wenn es um die Kontrolle eines Stadtviertels geht. Diese verfolgen damit einen wirtschaftlichen Zweck. Der öffentliche Mord dient der Abschreckung.

Eine weitere Form des öffentlichen Feminizids stellt die Zunahme von Hexenmorden in einigen Ländern Afrikas und Indien dar. Um sich das Eigentum einer zumeist älteren, verwitweten Frau anzueignen, wird diese der Hexerei beschuldigt und mit dem Tod bestraft. Das Eigentum der Frau (z. B. Grund und Boden) geht nach der Tat an jüngere Angehörige oder an lokale Unternehmer über. Auch in diesem Fall erfolgt der Feminizid öffentlich, als Resultat einer (illegalen) Anklage, die von einem reaktionären Mob getragen wird.

Bei all diesen Formen ist nicht nur eine enge Verbindung zu Geschäfts- und Kapitalinteressen feststellbar, sondern oft auch zu staatlichen Institutionen wie der Polizei – sei es, indem diese selbst in unterdrückten Gemeinden ihre Stellung durch Mord zu unterstreichen suchen oder Feminizide an Marginalisierten, Sexarbeiter_Innen, trans Personen oder schwarzen und migrantischen Menschen nicht oder nur am Rande verfolgen.

Darüber hinaus finden wir indirekte oder direkte Formen staatlich sanktionierter Feminizide. Dazu gehören entweder durch reaktionäre, oft religiöse Institutionen und Kräfte forcierte öffentliche Tötungen von Frauen – z. B. Steinigung durch islamistische Mobs, aber auch Hexenverbrennungen, die von evangelikalen Fundamentalisten oder Hinduchauvinisten ermutigt werden. Andere Formen bilden Vergewaltigungen und Feminizide an national oder religiös unterdrückten Frauen. In bestimmten Fällen kann die Todesstrafe ein Feminizid sein, z. B. eine öffentliche Steinigung. In all diesen Fällen findet die Tat offen und öffentlich statt. Die Täter bilden eine reaktionäre, aggressive und mörderische Masse oder eine jubelnde Menge bei einer staatlich inszenierten Hinrichtung.

In diesen Fällen bildet der Feminizid ein Element zur Sicherung von Herrschaft, sei es, um durch die Mobilisierung einer kleinbürgerlichen Masse die politischen und gesellschaftlichen Gegner_Innen einzuschüchtern und eine erzreaktionäre politisches Kraft an die Macht zu bringen oder ein bestehendes Regime durch ritualisierten Mord zu festigen. Die sicherlich brutalste und extremste Form stellen dabei Vergewaltigung, Folter und Frauenmord als gezielt eingesetzte Mittel im Krieg und Bürger_Innenkrieg dar.

Die Verknüpfung mit Kapitalinteressen und staatlichen Institutionen erklärt auch, warum zu diesen viel weniger verlässliche Zahlen vorliegen. Deren Veröffentlichung ist selbst oft erst das Resultat von Kämpfen und durch Bewegungen erzwungenen öffentlichen Untersuchungen. Dass diese Frauenmorde überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein gelangen, als solche „anerkannt“ werden müssen, verdeutlicht, wie hartnäckig gerade der Feminizid politisch tabuisiert wird.

Folgerungen und Programm

Der Kampf gegen Femizide, Feminizide und deren Ursachen stellt eindeutig eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen Frauenunterdrückung weltweit dar. Zweifellos bildet dabei der Kampf um die Ächtung dieser Morde, was in vielen Ländern schon mit dem um die öffentliche Anerkennung ihrer Existenz beginnt, einen unerlässlichen Ausgangspunkt. Femizide müssen in ihrer gesamten Dimension oft überhaupt erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und das heißt vor allem auch der Arbeiter_Innenklasse gerückt werden. Damit verbunden stellt auch der Kampf um die effektive Verfolgung dieser Straftaten einen wichtigen Bezugspunkt dar.

Vom Standpunkt der Arbeiter_Innenklasse geht es dabei jedoch nicht um möglichst drakonische Strafsysteme, wohl aber darum, dass Täter nicht straflos davonkommen dürfen oder bei sexistischer und rassistischer Polizei und Gerichten recht milde Behandlung finden. Daher treten wir dafür ein, dass Untersuchungen von Femiziden unter Kontrolle von Frauenorganisation durchgeführt, Richter_Innen von Frauen, also potentiellen Opfern, gewählt werden und mindestens die Hälfte aus Frauen besteht. Zugleich muss sichergestellt werden, dass vor allem Frauen aus der Arbeiter_Innenklasse, der Bäuer_Innenschaft, von rassistisch und national Unterdrückten voll repräsentiert sind.

Nicht weniger wichtig ist der Schutz möglicher Opfer und die Prävention. Dazu gehören dringende Sofortmaßnahmen wie der massive Ausbau von möglichen Schutz- und Rückzugsräumen für Frauen, deren Kinder und für geschlechtlich Unterdrückte, die vom Staat finanziert und unter Kontrolle von Frauenorganisationen selbstverwaltet betrieben werden.

Diese Forderungen dienen letztlich den Frauen aller Klassen, vor allem aber natürlich jenen aus der Arbeiter_Innenklasse und der Bäuer_Innenschaft.

Der Kampf gegen Femizide muss darüber hinaus aber auch mit dem zur Sicherung der Reproduktion der Arbeiter_Innenklasse und Unterdrückter, von Indigenen oder Minderheiten gemeinsam mit Ersteren verbunden werden. Die zunehmende Verarmung und Verelendung breiter Schichten, die Ausbreitung von Arbeitsbedingungen und Löhnen, die die Existenz immer weniger sichern, bedeuten, dass der Kampf gegen Femizide wie überhaupt gegen jede Form der häuslichen Gewalt eng verbunden werden muss mit dem gegen Armutslöhne, informelle und Kontraktarbeit, Tagelöhnerei und die Zerschlagung sozialer Sicherungssysteme. Daher fordern wir Mindestlöhne, die die Existenz sichern und an die Inflation angepasst werden; die Abschaffung aller informellen und prekären Beschäftigung und ihre Umwandlung in tariflich gesicherte, von den Gewerkschaften und Arbeiter_Innenkomitees kontrollierte; Arbeitslosen-, Krankengeld und Renten in der Höhe des Mindestlohns; ein Programm öffentlicher, gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, das den massiven Ausbau von Kitas, Schulen, öffentlichen Betreuungseinrichtungen, Krankenhäusern, der Altenpflege, von Kantinen und anderen Einrichtungen zur Vergesellschaftung der Hausarbeit inkludiert.

Diese Forderungen richten sich gegen das Kapital als Klasse und stehen grundsätzlich im Interesse aller Unterdrückten, unabhängig von ihrem Geschlecht. Dennoch wäre es mechanisch und naiv, dass die proletarischen Männer in ihre Gesamtheit automatisch auf ihre Privilegien verzichten oder sexistische Verhaltens- und Denkweisen, die eng mit ihrer Geschlechterrolle verbunden sind, ablegen würden. Die proletarischen Frauen müssen daher das Recht haben, innerhalb der Arbeiter_Innenbewegung eigene Treffen zu organisieren, um den Kampf voranzutreiben und männlichen Chauvinismus zu bekämpfen. Sie müssen eine proletarische Frauenbewegung aufbauen, um so Rückständigkeit und Chauvinismus zu bekämpfen, aber auch die Führung im Kampf um die Befreiung der Frauen aller unterdrückten Schichten einzunehmen.

Diese vier Punkte bezogen sich vor allem auf den Kampf gegen intime und verwandtschaftliche Femizide und ihre gesellschaftlichen Ursachen. Wie wir gerade aus den beiden letzten Kapiteln ersehen, sind sie eng mit dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung verbunden. Dies trifft ebenso auf den Kampf gegen Feminizide im Herrschaft- und Kapitalinteresse zu.

Da hier die Auftraggeber der Morde oft auch ökonomische Interessen verfolgen, steht der Kampf auch hier im engen Zusammenhang mit der Frage nach Kontrolle ökonomischer Ressourcen und des Eigentums.

Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie bei der zweiten Form der Feminizide eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung. Um solchen Kräften entgegentreten zu können, bedarf es einer organisierten, von Massen oder Massenorganisationen getragenen Selbstverteidigung, letztlich des Aufbaus von bewaffneten Milizen der Arbeiter_Innen und Unterdrückten.

Die Verhinderung des Feminizids erfordert den Aufbau von Organen der Gegenmacht – und wirft somit die Machtfrage selbst auf. Dies betrifft letztlich auch die Frage der Sicherung der Reproduktionsbedingungen der Gesamtklasse wie der Enteignung von Kapital oder großer, illegaler Geschäftemacher, die systematisch in Frauenmorde verwickelt sind. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern, können Reformen im Interesse der Arbeiter_Innenklasse nur eine vorübergehende Besserung schaffen. Um Banden der Großgrundbesitzer, rechtspopulistischer oder protofaschistischer Kräfte das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.




TRANS DAY OF REMEMBRANCE

November 2023

Der Transgender Day of Remembrance (TDoR), deutsch „Tag der Erinnerung an die Opfer von Trans*feindlichkeit“, ist ein jährlich am 20. November stattfindender Gedenktag, an dem transgender Opfer transphober Gewalttaten gedacht und auf diese Problematik aufmerksam gemacht wird.

2022 wurden 327 trans Menschen ermordet. 65% davon BIPOC – 48% Sex Arbeiter*innen – 95% trans-feminin – 36% in Europa ermordeten waren migrantisch – 25% wurden Zuhause ermordet.

LILI ELBE

TW! Suizid Gedanken, Homophobie

Lili Elbe (1882-1931) war eine dänische Malerin der Landschafts- und Architekturmalerei. Sie studierte an der Königlich Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen, wo sie Gerda Gottlieb kennenlernte. Die beiden verliebten sich und heirateten kurz darauf. 1912 zogen sie gemeinsam nach Paris, um ihre queeren Identitäten offener ausleben zu können. Dabei stand Lili Elbe auch Modell für die „Femme Fatale“ Portraits ihrer Ehefrau. Im Jahr 1930 plante Lili Elbe, sich das Leben zu nehmen, weil sie es nicht mehr ertrug, mit ihrer Geschlechtsdysphorie zu leben. Doch als sie von dem bekannten deutschen Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld erfuhr, entschied sie sich dagegen. Sie begab sich nach Berlin in das Institut für Sexualwissenschaften und wurde eine der ersten Personen, die die Möglichkeit zu geschlechtsangleichenden Operationen bekamen. Da die Operationen damals noch selten und experimentell waren, wurde sie international in den Medien bekannt. Dieser Aufmerksamkeit stand Lili Elbe kritisch gegenüber: „Ich kämpfe gegen die Voreingenommenheit des Spießbürgers, der in mir ein Phänomen, eine Abnormität sucht. Wie ich jetzt bin, so bin ich eine ganz gewöhnliche Frau.“Aufgrund der Transition wurde die Ehe zwischen Gerda Gottlieb und Lili Elbe vom dänischen König aufgelöst.

Diesen Zwang zur Scheidung gab es auch im deutschen Transsexuellengesetz noch bis ins Jahr 2009. Lili begann daraufhin eine Beziehung mit dem Kunsthändler Claude Dejeune, mit dem sie sich auch Kinder wünschte. In einem Zeitraum von 2 Jahren wurden 4 Operationen an Lili Elbe durchgeführt, zunächst in Berlin, später in der Dresdner Frauenklinik. Nach der vierten Operation, vermutlich einer Uterustransplantation, kam es zu einer Infektion, an der Lili Elbe verstarb. Ihre Autobiographie „Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Eine Lebensbeichte“ erschien 1931 in deutscher Übersetzung.

BRIANNA GHEY

TW! Mord, Hassverbrechen, Transphobie

Brianna Ghey wurde am 7. November 2006 geboren. Gemeinsam mit ihrer Mutter (Esther Ghey) Und ihrer Schwester, lebte sie in Culcheth, Warrington, einer Kleinstadt im Nordwesten Englands. Dort besuchte Brianna Ghey die Birchwood High School. Mit 14 Jahren outete sich Brianna Ghey als Trans. Ihre Mutter unterstützte sie sehr bei ihrer Transition. Nach ihrem Coming-Out wurde Brianna Ghey als @gingerpuppyx ziemlich aktiv auf TikTok, wo sie regelmäßig Videos postete. In der Schule musste Brianna Ghey leider sehr viel transphobes Mobbing erfahren. Nach angaben ihrer Freund*Innen lief es sogar darauf hinaus, dass sie öfter von mehreren Leuten verprügelt wurde.

Am 11. Februar 23, einem Samstag-Nachmittag, ging die 16 jährige Brianna Ghey alleine im Culcheth Linear Park (ein Park in ihrer Heimatstadt) spazieren. Diesen Park verließ sie nie wieder lebend. Um 15.13 Uhr wurde der Rettungsdienst gerufen. Vorbeigehende Passant*Innen hatten den leblosen Körper von Brianna Ghey mit einer Menge brutaler Stichwunden auf einem Weg im Park aufgefunden. Zwei 15-jährige Verdächtige, ein Junge und ein Mädchen, wurden einen Tag später von der Polizei verhaftet. Die Polizei erklärte diesen brutalen Mord zunächst nicht als Hassverbrechen. Nach Ihrem Tod wurde Brianna Ghey von der Presse und anderen öffentlichen Medien misgendert und gedeadnamed, (also Ihr alter Name genannt, den sie nicht mehr benutzt.) Das ist extrem respektlos und transfeindlich. Tausende Personen kommentierten nach Brianna Gheys Tod ihre TikToks und zeigten Solidarität. Ihr TikTok Account wurde allerdings inzwischen schon von TikTok gelöscht. Trotzdem gibt es immer noch einige Fan-Accounts, im Gedenken an Brianna Ghey. Auch wir wollen uns heute an Brianna erinnern!

RITA HESTER

TW! Mord, Hassverbrechen, Transphobie

Rita Hester war eine afro-amerikanische trans Frau aus Boston. Sie war als kontakfreudig, glamourös und Performerin in Kabaretts und Bars in Boston bekannt. Sie war außerdem als Prostituierte unter dem Namen Naomi tätig. Eine Bekannte erzählt von Rita: „Wann immer sie bei Jacques [einer Bar in Downtown Boston] eintraf, wurde ihre Anwesenheit von allen bemerkt. Sie war so elegant und so schön sie doch war, so versuchte sie nicht, andere schlechter aussehen zu lassen.“ Am 28 November 1998 wurde Rita mit mindestens 20 Messerstichen ermordet, sie wurde nur 34 Jahre alt. Das Motiv des Angriffs ist bisher ungeklärt, Ritas Schwester meint aber das am Vorabend zwei Männer, welche Rita kannten ihr mit nach Hause gefolgt sind. Auffällig ist auch, dass keine von Ritas Wertsachen gestohlen wurden und wie brutal der Angriff war, es liegt also nahe das es sich um Hassverbrechen mit transphoben Hintergrund handelt. Als Reaktion auf Ritas Mord wurde am 4. Dezember eine Mahnwache veranstaltet, zu der 250 Menschen kamen. Trotzdem gab es wenig Reaktion von den amerikanischen Nachrichten und dem Staat. Im darauffolgenden Jahr gründete die trans Aktivistin Gwendolyn Ann Smith das Internetprojekt „Remembering Our Dead“ woraus der internationale Transgender Day of Remembrance entstand. Jedes Jahr am 20. November erinnern wir an Rita Hester und alle anderen ermordeten und verstorbenen trans Menschen.

MARTHA P. JOHNSON

TW! Polizeigewalt, Rassismus, sexualisierte Gewalt, Transphobie, Homophobie

Martha P. Johnson (1945-1992) war eine der bekanntesten Aktivist*innen im Gay Rights Movement der 1960er-70er, Drag Queen und Mitbegründerin der Street Transvestite Action Revolutionaries (STAR), einem Hilfsnetzwerk. Mit 18 zog Jonson aus Elizabeth, New Jersey nach New York, um dort ihre Identität als Drag Queen auszuleben (der Begriff transgender wurde erst nach ihrem Tod weithin bekannt). Selbst dort konnte sie als Genderrollen durchbrechende, Schwarze Person durch heftige Diskriminierung kaum Arbeit finden und sah sich gezwungen, neben den Shows als Drag Queen auch durch Prostitution Geld zu verdienen. Wie viele andere queere und gerade nicht Weiße Menschen wurde sie also an den Rand der Gesellschaft gedrängt, ausgebeutet und dann dafür auch noch durch die Polizei kriminalisiert, die sie unzählige Male verhaftete. Bei den Stonewall Riots (Auftständen) im Juni 1969 entlud sich die Wut der queren Community und ihrer Unterstützer*innen gegen die Polizei und den Staat der sie so unterdrückte. Johnson nahm in den folgenden Protesten eine führende Rolle ein und konnte so – mit vielen anderen – einen Kampf für queere Rechte in den USA und weltweit anfachen. Johnson erinnert uns, dass dieser Kampf weitergehen muss: “No pride for some of us without liberation for all of us.” (“Kein Pride für einige von uns ohne Befreiung für uns alle.”)

Amelio Robles Ávila

Amelio Robles Ávila war ein trans Mann der in der mexikanischen Revolution gekämpft hat. Er wurde im Jahr 1889 geboren und lebte seit er 24 Jahre alt war bis zu seinem Tod als Mann. Er starb mit 95 Jahren und wurde als Amelia Robles Ávila begraben, seine männliche Identität wurde jedoch von der Regierung akzeptiert. Er kämpfte in der mexikanischen Revolution auf der Seite der sozialistischen Zapatistas bis zum Aufstand der Konstitutionalisten in 1923, bei dem er half gegen diese zu kämpfen, welche aber letztenendes ihre demokratische (aber nicht sozialistische) Verfassung durchsetzten konnten. Er heiratete Ángela Torres nach seiner Zeit bei den Zapatistas und adoptierte später eine Tochter mit ihr. Er war dafür bekannt seine Identität als Mann sehr zu beschützen und bedrohte oft Menschen, die seine Identität auffliegen lassen wollten, mit seiner Pistole, jedoch akzeptierten die meisten Menschen in seinem Umfeld ihn von allein. Er selbst benutzte oft beide Versionen seines Namens und seiner Pronomen und wird heutzutage sowohl als männlicher Held und kämpferische Frau erinnert. Er wurde auch zu einem Vorbild für queere Menschen, seine Uniform ist nun eine Inspiration für Drag Shows in denen Soldaten verkörpert werden. Nach seinem Tod veröffentlichte einer seiner Verwandten einen Text:

„Sein Name war Amelio Robles, geweihter Oberst, vergesst seinen Namen nicht, bringt Blumen an sein verlassenes Grab.”

Erinnern heißt kämpfen!

  • Organisierte Selbstverteidigung von LGBTIAQ+-Menschen gegen jegliche queerfeindliche Übergriffe, auch gemeinsam mit anderen unterdrückten Gruppen und der Arbeiter_Innenbewegung!

  • Das Recht auf medizinische Geschlechtsangleichung an die soziale Geschlechtsidentität – kostenfrei und ohne unnötigen bürokratischen Akt!

  • Reproduktionsarbeit muss vergesellschaftet werden und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung beendet werden!



5 Dinge, die wir heute von der Oktoberrevolution lernen können

Von Jona Everdeen, Oktober 2023

Vor nun 106 Jahren stürzte das russische Proletariat unter Führung der Bolschewiki die bürgerliche Kerenski Regierung und errichteten den ersten langlebigen Arbeiter_Innenstaat der Geschichte: Die Sowjetunion. Dass diese mit der Zeit immer stärker degenerierte und schlussendlich als direkte Folge ihrer Fehler unterging, schmälert diesen Triumph Lenins und seiner Genoss_Innen kaum. So ist die Oktoberrevolution noch immer DAS inspirierende Beispiel für uns als Kommunist_Innen dafür, wie es gelingen kann, die bourgeoise Klassenherrschaft endlich zu brechen, den bürgerlichen Staat in einer Revolution des Proletariats hin fortzufegen und auf seinen Trümmern eine neue Gesellschaft zu errichten. Doch warum genau ist die Oktoberrevolution für uns, abgesehen von Folklore, heute noch so relevant? Welche zentralen Erkenntnisse können wir aus ihr für die heutige Zeit und somit auch für einen neuen Anlauf zum Sozialismus ziehen?

1. Der Hauptfeind steht im eigenen Land

Die erste zentrale Lehre der Oktoberrevolution zeigt sich bereits anhand ihres Zustandekommens selber. So geschah sie als Folge der sich abzeichnenden Niederlage des russischen Zarenreichs gegen das ökonomisch deutlich stärkere und somit mächtigere deutsche Kaiserreich im 1. Weltkrieg. Die Soldaten waren nicht mehr bereit, weiter für die imperialistischen Ziele des Zaren und der russischen Bourgeoisie zu sterben. So kam es zunächst zur Februarrevolution, die den Zaren entmachtete und später, als die bürgerlich-liberale Kerenski Regierung den Krieg fortführen wollte, schließlich zur Oktoberrevolution. Statt Krieg und Imperialismus wählten die russischen Arbeiter_Innen, Bäuer_Innen und Soldaten Frieden und Sozialismus.

Dies kam jedoch keineswegs aus dem Nichts. So waren die Bolschewiki unter Lenin von Beginn des Krieges an, neben der italienischen Sozialdemokratie, die einzige Sektion der 2. Internationale, die sich gegen die Kriegsanstrengungen des eigenen Imperialismus stellte und keinen Burgfrieden mit diesem schloss. Stattdessen warf Lenin die Losung des revolutionären Defätismus auf. Das bedeutet, dass die Niederlage des eigenen imperialistischen Staates für die Arbeiter_Innen besser ist als die Unterstützung dessen Kriegsanstrengungen, dass der Hauptfeind der Arbeiter_Innen im eigenen Land steht und nicht im gegenüberliegenden Schützengraben und dass der imperialistische Raubkrieg in einen Bürgerkrieg gegen die eigene Kapitalistenklasse und ihren Staat verwandelt werden muss.

Diese Erkenntnis ist für uns heute, wo die Imperialist_Innen, ob sie nun Putin, Biden, Baerbock oder Sunak heißen, den Militarismus anheizen und aufrüsten, wichtiger denn je und muss unsere Politik bestimmen in einer sich möglicherweise anbahnenden Phase neuer Kriege.

2. Die Revolution muss international sein oder sie ist nichts

Anknüpfend daran zeigte die Oktoberrevolution ebenfalls eine weitere Tatsache, die auch in Zukunft von unschätzbarem Wert sein wird: Nämlich die Tatsache, dass die sozialistische Revolution nur siegen kann, wenn sie als internationale Revolution gedacht und geführt wird. Dies beweist der Sieg der jungen Sowjetunion über die ausländische Intervention. So besetzten die verschiedenen imperialistischen Großmächte in Folge der Oktoberrevolution sowie der weißen Konterrevolution mehrere, teils große, Gebiete des ehemaligen russischen Zarenreichs, wobei der im Krieg gegen das Zarenreich siegreiche deutsche Imperialismus zunächst die Hauptrolle einnahm. Deutschland und sein Verbündeter Österreich-Ungarn besetzten das Baltikum, Belarus, die Ukraine und Teile des Kaukasus. Lenin wusste, dass er die riesige Übermacht der Mittelmächte nicht militärisch brechen konnte, er wusste aber auch, dass es in Berlin, Wien und Budapest bereits brodelte und dass die Chance bestand, dass das Proletariat auch dort den Imperialismus zu Fall bringen könnte. Während sich Lenin den Forderungen der Mittelmächte im Frieden von Brest-Litowsk formal unterwarf, spekulierte er auf die Unterstützung der deutschen, österreichischen und ungarischen Arbeiter_Innen. Diese enttäuschten ihn nicht. Als die Niederlage Deutschlands an der Westfront abzusehen war, kam es zum deutschen Gegenstück der Oktoberrevolution: der Novemberrevolution und auch in Österreich und Ungarn, angeführt von ehemaligen Kriegsgefangenen der K.U.K.-Armee, die die Revolution in Russland miterlebt hatten, kam es zu Revolutionen, die das Habsburgerreich zersprengten.

Auch die Interventionsarmeen der Entente-Mächte Frankreich und Britannien mussten vor allem abgezogen werden, da diese nicht mehr für die Loyalität ihrer Truppen und die Akzeptanz des Kriegseinsatzes in der Heimat garantieren konnten.

Die Oktoberrevolution, die Etablierung der Sowjetunion, war somit nicht nur ein Sieg des russischen Proletariats, sondern Resultat des vereinten Klassenkampfes des Weltproletariats. Der nationalistische-kriegsbefürwortende Sozialchauvinismus der 2. Internationale war praktisch besiegt worden.

3. Die Etappentheorie ist Quatsch

Eine weitere These widerlegte die Oktoberrevolution, auch wenn dies bei vielen nicht richtig ankam und die falsche These noch immer von vielen stalinistischen oder maoistischen Kräften für wahr gehalten wird: die Etappentheorie.

So zeigte der Sieg der Oktoberrevolution, dass es sehr wohl möglich war, auch in einem rückständigen, nicht voll entwickelt kapitalistischen Land wie Russland eine sozialistische Revolution durchzuführen und einen Arbeiter_Innenstaat aufzubauen.

Ein Flügel der Bolschewiki, dem auch Stalin angehört hatte, hatte für eine Anpassung an die Politik der Menschewiki und somit die Akzeptanz eines Stadiums der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung gestimmt, da dieses laut ihm nötig sei, um die Bedingungen für die sozialistische Revolution zu schaffen. Die Mehrheit der Bolschewiki, angeführt von Lenin und Trotzki, hingegen hatte für die Revolution gestimmt. Sie konnten mit der Oktoberrevolution aufzeigen, dass die Bedingungen für diese bereits da waren und dass es möglich war, in direkter Folge der siegreichen bürgerlichen Revolution eine sozialistische durchzuführen. Somit hatte sich Trotzkis Theorie der „Permanenten Revolution“ bestätigt.

Damit war die Etappentheorie jedoch leider noch lange nicht tot und wurde von stalinistischen Kräften immer wieder angewandt, so z.B. im chinesischen Bürgerkrieg der 20er Jahre sowie später im Iran. Dadurch, dass die stalinistische Tudeh Partei dort behauptete, der Iran bräuchte zuerst eine unabhängige bürgerlich kapitalistische Entwicklung und entsprechend zu einer Zusammenarbeit mit der „nationalen“, und in diesem Fall religiösen Bourgeoisie aufrief, konnten die Mullahs überhaupt an die Macht gelangen und ihre bonapartistische Terrorherrschaft etablieren nachdem die iranische Revolution 1973 den Schah gestürzt hatte. Umso wichtiger ist es, in Zukunft stets für die Losung der permanenten Revolution zu werben und aufzuzeigen, dass es sehr wohl möglich und nötig ist, in einem weniger entwickelten Land einen Arbeiter_Innenstaat zu errichten.

4. Nur der Sozialismus schlägt den Nationalismus!

Kürzlich erst kam es erneut zu einer Eskalation des jahrzehntealten Konfliktes zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach. Doch während 1917/18 und 1993/94 zwei brutale Kriege stattfanden, war es viele Jahre dazwischen ruhig in Bergkarabach und es war möglich, dass Armenier_Innen und Aseris friedlich nebeneinanderlebten. So konnten sich die linken Bolschewiki durchsetzen, die die Sowjetunion als eine Konföderation verschiedener Sowjetrepubliken aufbauen wollten, während andere rechte Kräfte eher eine Art großrussischen Arbeiter_Innenstaat anstrebten.

Dadurch konnten sich nationale Gruppen selber verwalten. Zusätzlich zu den Sowjetrepubliken gab es auch Regionen mit Autonomiestatus, wie eben Bergkarabach, die sich auch innerhalb der Sowjetrepublik, in der sie sich befanden, selbst verwalten konnten. Zwar sorgte die stalinistische Bürokratie später für eine undemokratische Zentralisierung, die sie benötigte, um ihre Macht zu sichern. Jedoch entschärfte die Selbstverwaltung der Republiken sowie das vereinende Element des Aufbaus des Arbeiter_Innenstaates, der durch eine extrem schnelle nachholende wirtschaftliche Entwicklung für viele Jahre das Lebensniveau drastisch anheben konnte, die nationalen Konflikte sowie das Entstehen von Rassismus und Chauvinismus. Erst als die stark degenerierte Sowjetunion in den 80er Jahren in ihre finale Krise geraten war, entluden sich alte nationale Konflikte wieder und es kam zu erneutem Hass, der in Bergkarabach in einen brutalen Krieg mündete.

5. Queer und Frauenbefreiung heißt Sozialismus!

Nicht nur gegen Nationalismus und Rassismus konnte die frühe Sowjetunion Erfolge verbuchen, auch in der Frage der selbstbestimmten Sexualität wurde sie in Folge der Oktoberrevolution zum fortschrittlichsten Land der Welt. Während in der BRD 50 Jahre später noch ausnahmslos jede homosexuelle Handlung (zwischen Männern) unter Strafe stand, legalisierten die Bolschewiki unter Lenin Anfang der 20er Jahre Homosexualität in den Ländern der Sowjetunion.

Damit war allerdings die gesellschaftliche Unterdrückung von queeren Menschen bei weitem noch nicht beseitigt, da das rückschrittliche Bewusstsein der Bevölkerung diesbezüglich mit der progressiven Gesetzeslage in Widerspruch stand und es keine organisierte Bewegung der Homosexuellen gab, wie es zum Beispiel eine proletarische Frauenbewegung gab. Jedoch war ein riesiger erster Schritt gemacht, dem vermutlich, wenn die Sowjetunion nicht bürokratisch degeneriert wäre, auch noch weitere Schritte gefolgt wären.

Stalin jedoch machte diesen ersten Schritt zur queeren Befreiung 1934 wieder zu Nichte, in erster Linie als Zugeständnis an die orthodoxe Kirche und sie umgebene konservative Kräfte, stellte er Homosexualität wieder unter Strafe.

Dennoch bleibt die Erkenntnis: Sozialismus schafft die Bedingungen, die für queere Befreiung notwendig sind. Auch die im Vergleich zu den kapitalistischen Staaten deutlich bessere Lage von queeren Menschen in der DDR im Vergleich zur BRD zeigt das auf, auch wenn hier ebenso wie in der UDSSR keine vollständige Befreiung und Akzeptanz durchgesetzt wurde und auch diesbezüglich ein rückschrittliches Bewusstsein in vielen Köpfen zurückblieb.

Auch die Frauenbefreiung war Teil der Oktoberrevolution. Die Beschlüsse, die 1918 bezüglich Ehe, Familie und Vormundschaft getroffen wurden, sind vermutlich die fortschrittlichsten, die die Welt je gesehen hat. Die Abtreibung wurde legalisiert, Ehen konnten viel leichter geschlossen und wieder geschieden werden, wobei beide Ehepartner gleichberechtigt waren. Des Weiteren wurden erste Schritte zur Vergesellschaftung von Hausarbeit gemacht, was die Frauen aus der doppelten Ausbeutung ansatzweise befreien konnte und dazu führte, dass die Reproduktionsarbeit in der Gesellschaft effektiver organisiert werden konnte.

Doch auch die Frauenpolitik blieb nicht von der stalinistischen Bürokratie verschont. Die Umgestaltung der Partei 1924 benachteiligte nicht nur die, die offene Kritik äußern wollten, um Fortschritte zu erzielen, sondern es waren auf einmal auch weniger Frauen, die Posten bekleideten. Man erklärte die Befreiung der Frau für bereits abgeschlossen und sah deshalb keine Notwendigkeit mehr für Einrichtungen, die nur für Frauen bestimmt waren. Es ging sogar soweit, dass es besondere Straftatbestände gab, die nur Frauen begehen konnten, wie Teil einer Familie zu sein, die „ein Feind des Volkes“ ist. Trotzki meinte daher, dass die Bürokratie es geschafft habe, den reaktionärsten Kern der Klassengesellschaft wieder herzustellen: die bürgerliche Familie.




Safe Abortion Day 2023: Abtreibungsgegner_Innen bekämpfen! Für einen sicheren und kostenlosen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen!

Von Erik Likedeeler, September 2023

Von Köln bis Berlin: Abtreibungsgegner_Innen auf dem Vormarsch

Vor wenigen Wochen zog der sogenannte „Marsch für das Leben“ zum ersten Mal durch Köln – eine Demonstration von Rechtskonservativen, welche rigoros gegen Abtreibungsrechte vorgehen. Die Pro-Choice-Gegendemonstrant_Innen, die ihnen den Weg mit einer Blockade erfolgreich versperrten, wurden von der Polizei mit Schlagstöcken verprügelt.

So beunruhigend das bereits klingt: Abtreibungsgegner_Innen belassen es selten bei symbolischem Protest, sondern betreiben organisierte Gewalt. Sie bedrohen Ärzt_Innen, greifen Schwangere auf dem Gehweg an und arbeiten beharrlich an neuen Gesetzen, um den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu verkomplizieren.

In diesem Moment plant Berlin, das Geld für Schwangerschaftsberatungen für die nächsten 2 Jahre um 1,5 Millionen Euro zu kürzen. Der Stellenabbau wird vom Berliner Senat schulterzuckend in Kauf genommen, obwohl bereits jedes Jahr hunderte Beratungssuchende abgewiesen und tausende Termine abgesagt werden, weil es an Kapazitäten fehlt.

Bis Dezember wird über diesen Entwurf noch verhandelt. Deshalb ist es höchste Zeit, dass wir am Safe Abortion Day auf die Straße gehen, um für unser Recht auf einen sicheren, informierten und kostenlos zugänglichen Schwangerschaftsabbruch zu kämpfen!

Brustkrebs und Unfruchtbarkeit: Die Mythen der Abtreibungsgegner_Innen

Um sich Abtreibungsgegner_Innen auch abseits der Straße in den Weg stellen zu können, ist es unerlässlich, zu wissen, wie genau diese vorgehen. Eine ihrer wirksamsten Taktiken ist das gezielte Verbreiten von Fehlinformationen, um Schwangere, angehende Mediziner_Innen und alle anderen Menschen zu verunsichern und zu verstören.

Das fängt schon damit an, dass sie sich selbst „Pro Life“ oder „Lebensschützer_Innen“ nennen, obwohl noch immer jedes Jahr zehntausende Menschen an illegalisierten und selbst durchgeführten Abbrüchen sterben – von Lebensschutz kann also keine Rede sein.

Wenn sie fachgerecht und hygienisch durchgeführt werden, gehören Schwangerschaftsabbrüche zu den sichersten medizinischen Eingriffen. Die Sterblichkeitsrate ist 13-mal geringer als bei einer Geburt. Dennoch behaupten Gegner_Innen, Abtreibungen würden das Brustkrebsrisiko erhöhen oder die Fruchtbarkeit senken. Das wird jedoch von sämtlichen seriösen medizinischen Vereinigungen ausgeschlossen.

Die größte Gefahr für Schwangere ist nicht eine sichere Abtreibung, sondern Gewalt. US-Studien zufolge geschieht männliche Gewalt gegen Schwangere häufiger als jede Schwangerschaftskomplikation. Unter dem eigenen Dach getötet zu werden, ist für Schwangere die wahrscheinlichste Todesursache. Da 72% der Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, Arzttermine und Screenings vermeiden, erhöht sich durch erlebte Gewalt die Gefahr von unentdeckten Komplikationen massiv.

Verschwörungsmythos Post-Abortion-Syndrom

Seit den 1970ern gibt es für Schwangere kaum noch körperliche Folgen nach einem professionell durchgeführten Abbruch. Deshalb haben die Gegner_Innen angefangen, den angeblichen Schaden in die Psyche zu verfrachten.

Das „Post-Abortion-Syndrom“ ist die angebliche emotionale Folge einer Abtreibung und soll zu Symptomen wie Depressionen und erhöhter Drogennutzung führen. Die Existenz dieses Syndroms wird von der Wissenschaft und den Gesundheitsbehörden nicht anerkannt. Tatsächlich ist das vorwiegende und langfristige Gefühl nach einem Abbruch bei den meisten Menschen Erleichterung – 99% bereuen den Abbruch später nicht.

Selbst wenn die Zahlen nicht so eindeutig wären: Es ist ein unsinniges Argument, einen medizinischen Eingriff zu verbieten, weil er Schmerzen oder Reue verursachen könnte. Eine selbstbestimmte Entscheidung zu gewährleisten bedeutet auch, potentielle Schmerzen und Reue in Kauf zu nehmen, so wie es auch bei anderen möglichen Lebensentscheidungen der Fall ist.

Das „Post-Abortion-Syndrom“ wird durch eine verschwörungsmythische Argumentation am Leben erhalten: Wer es nicht hat, der bekommt es bestimmt später noch, oder will es sich bloß nicht eingestehen. Schwangere werden für unmündig erklärt, sobald ihre Emotionen sich nicht nach einem festgelegten Skript äußern. Letztlich werden sie als rhetorisches Mittel instrumentalisiert, um Abbrüche auf bloße Gefühlserfahrungen zu reduzieren.

Auch viele Pro-Choice-Aktivist_Innen tappen in diese Falle und schaffen es nicht, sich von individuellen Befindlichkeiten zu lösen. Dadurch wird die politische Komplexität des Themas ausgeblendet.

Von Fake-Beratung bis Shoah-Relativierung

Die Anti-Abtreibungs-Bewegung sorgt dafür, dass Schwangere in die Irre geführt werden und eine informierte, selbstbestimmte Entscheidung unmöglich wird. Dafür bieten sie manipulierende Fake-Beratungen an, die nicht mit der Ausstellung des benötigten Beratungsscheins enden – mit dem Ziel, dass die gesetzlich vorgeschriebene 12-Wochen-Frist verpasst werden soll. Immer wieder fordern diese Organisationen Schwangere dazu auf, ihre Telefonnummern und Emailadressen herauszugeben, um sie zu belästigen.

Gerade, wenn nur noch wenige Tage Zeit für einen Abbruch bleiben, ist es notwendig, Fake-Beratungsstellen sofort zu erkennen. Doch das ist schwierig, denn ihre Websites ähneln seriösen Angeboten sowohl im Namen als auch im Design. Natürlich sind sie sich auch nicht zu schade, sich Begriffe wie „Entscheidungsfreiheit“ anzueignen oder leere Versprechungen für angebliche Unterstützungsangebote zu machen.

Wer sich von solchen Ködern in die Irre führen lässt, der stößt schnell auf eine andere, düstere Welt: Erbarmungslos konfrontieren Abtreibungsgegner_Innen Hilfesuchende mit brutaler Gewaltdarstellung und Gore-Bildern von toten Babys. Mit politischen Kampfbegriffen von „Infantizid“ bis „Babycaust“ fantasieren sie einen Massenmord an Babys herbei und vergleichen Abtreibungskliniken mit Konzentrationslagern.

Dass Abtreibung in den Köpfen der meisten Menschen in der gleichen Schublade wie Kindermord steckt, liegt nicht nur an Papst Franziskus, der Abtreibung einmal als „Auftragsmord“ bezeichnete. Auch die deutsche Gesetzgebung spiegelt dieses moralische Urteil wieder, denn die Abtreibungsparagraphen stehen im Strafgesetzbuch genau zwischen denen für fahrlässige Tötung und Totschlag.

In Deutschland stellen Abtreibungsgegner_Innen ihre realitätsferne Propaganda ungestraft ins Netz, während fundierte Aufklärung bis vor einem Jahr noch durch den Paragraphen 219a eingeschränkt wurde. Anders sieht es in Frankreich aus, wo die Behinderung von Schwangerschaftsabbrüchen strafbar ist und aktiv gegen Websites mit Falschinformationen vorgegangen wird.

An Schule und Uni: Aufklärung zu Schwangerschaftsabbrüchen!

Doch ein Verbot wie in Frankreich reicht nicht aus, solange wir den mit Photoshop bearbeiteten Fötus-Bildern keine umfassende und vertrauenswürdige Bildung entgegengehalten. Das ist unter anderem nötig, damit Schwangere in Kliniken und Praxen wissen, welche Rechte sie haben: Zum Beispiel das Recht darauf, den Ultraschallmonitor wegdrehen zu lassen oder auf Ultraschallbilder zu verzichten.

Informationen über Schwangerschaftsabbrüche dürfen nicht mehr verschämt unter der Hand verbreitet werden. Sie müssen Teil des Lehrplans werden, sowohl in der Schule als auch im Medizinstudium. Hier sind Studierende nach wie vor gezwungen, sich selbst Workshops zu organisieren, um den Eingriff an Papayas zu lernen, weil im offiziellen Teil des Unterrichts höchstens aus moralischer Perspektive über das Thema diskutiert wird.

Das Informations-Defizit der Mediziner_&Innen machen Abtreibungsgegner_Innen sich zunutze. Beispielsweise behaupten sie, Föten würden mit einer Spritze ins Herz abgetrieben werden. Solche Mythen hindern Ärzt_Innen daran, Abbrüche durchzuführen, weil sie glauben, sich dazu nicht überwinden zu können. Dass der Gewissensfrage mehr Raum zugesprochen wird als dem technischen Erlenen des Eingriffs, sorgt dafür, dass solche Mythen am Leben erhalten werden.

Auch Dokumentationen, Spielfilme, Bücher und weitere Medien müssen Abtreibung als legitimen Teil des Alltags darstellen, so wie viele andere medizinische Eingriffe es auch sind. Solange die ekelerregenden Fake-Bilder der Abtreibungsgegner_Innen in unseren Köpfen gepflanzt werden, müssen wir ihnen eine realistische und neutrale Perspektive entgegensetzen!

Spätabtreibung: Eine populistische Nebelkerze

In der DDR war Abtreibung in den ersten 12 Wochen bei voller Kostenübernahme legal gewesen. Deshalb kam in den 1990er Jahren Druck für eine Reform der BRD-Paragraphen auf. 1993 wurde der §218a um die sogenannte Fristenlösung ergänzt. Seitdem ist der Abbruch in den ersten 12 Wochen nicht mehr strafbar.

Häufig erzählen Abtreibungsgegner_Innen das Märchen, ohne diese Frist würde es zu massenhaft Spätabtreibungen an lebensfähigen Föten kommen. Doch ein Blick nach Kanada zeigt das Gegenteil: Dort gibt es keinerlei Fristen, und dennoch finden fast alle Abbrüche innerhalb der ersten 12 Wochen statt. Für diejenigen, die diese 12 Wochen verpassen, muss es auch danach noch möglich sein, die Schwangerschaft abzubrechen! In den ersten 22 Schwangerschaftswochen kann ein Fötus ohnehin nicht außerhalb des menschlichen Körpers überleben, keinen Schmerz empfinden und hat kein Bewusstsein.

Abtreibungsgegner_Innen geht es ohnehin nicht um die konkrete Woche des Abbruchs, sondern darum, Unwahrheiten zu skandalisieren. So sollen gemäßigte und verunsicherte Teile der Bevölkerung von erzkonservativen Ansichten überzeugt werden. Die meisten überzeugten Abtreibungsgegner_Innen sind ohnehin der Meinung, dass ein Embryo schon ab der Befruchtung oder ab der Einnistung in den Uterus über „Menschenwürde“ eine „Seele“ oder ähnliches verfüge.

Doch ausgerechnet diesen Zeitpunkt als den Beginn des Lebens zu definieren ist ein kulturelles Konstrukt, keine biologische Tatsache. In den Niederlanden ist es beispielsweise so, dass Abbrüche in den ersten 6 Wochen als „Blutungsregulierung“ bezeichnet werden. Es geht darum, die Menstruation wiederherzustellen und das Schwangerschaftsgewebe zu entfernen – mehr nicht.

Lasst uns selbst entscheiden! Abtreibungsrecht auch für Jugendliche!

Dass es sich bei dem Abtreibungsparagraphen 218 um einen Klassenparagraphen handelt, ist Arbeiter_Innen schon seit seiner Einführung im Jahr 1871 klar. In Deutschland sind die Kosten nicht einheitlich reguliert: Meist kann mit Preisen zwischen 350 und 600 Euro gerechnet werden.

Nach wie vor gilt das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 1993: „Die Tötung des ungeborenen Lebens steht so sehr im Vordergrund, dass die Inanspruchnahme der Sozialversicherung nicht in Betracht kommt.“ Dass ein Ausdruck wie „ungeborenes Leben“ überhaupt in Gerichtsurteilen verwendet wird, ist der Anti-Abtreibungs-Bewegung zu verdanken, die diesen Begriff in den 1970er Jahren erfunden und popularisiert hat.

Eigentlich sind die Bundesländer gesetzlich dazu verpflichtet, ein ausreichendes Angebot von Einrichtungen für Schwangerschaftsanbrüche sicherzustellen. Wie wir aktuell am Berliner Senat sehen können, wird das nicht gewährleistet – und in den ländlichen Gegenden Süddeutschlands ist die Lage noch weitaus alarmierender als in der Hauptstadt.

Aufgrund der miserablen Versorgungslage erfordern Abtreibungen meist einen weiten Anreiseweg und sind daher eine finanzielle und emotionale Belastung. Das bedeutet, dass es nur für die herrschende Klasse leicht ist, nach Ablauf der 12 Wochen eine Möglichkeit für den Abbruch zu finden – zur Not fliegt man eben schnell ins Ausland. Arbeiter_Innen hingegen werden in die Illegalität gedrängt.

Für Jugendliche kommt zusätzlich zur wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeit auch die rechtliche Benachteiligung dazu. Die Gesetzeslage bei minderjährigen Schwangeren ist vage: Ärzt_Innen urteilen individuell über die „geistige Reife“. Bei unter 14-Jährigen müssen sogar die Eltern miteinbezogen werden. Dass das Recht eines Fötus ohne Bewusstsein oder Schmerzempfinden im Zweifel höher steht als die Selbstbestimmung über unsere eigenen Körper, ist eine Dreistigkeit, die wir nicht akzeptieren können!

Fazit und Forderungen

Wie immer im Kapitalismus müssen wir uns fragen: Wozu das alles, wer hat etwas von diesen Verboten? Die Behinderung des Rechtes auf Abtreibung bedeutet die Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts über den gebärenden Körper, dem im Kapitalismus die weibliche Rollenvorstellung zugewiesen wird. Diese nutzt in erster Linie der herrschenden, besitzenden Klasse. Denn die bürgerliche Familie, die Monogamie und geschlechtliche Arbeitsteilung mit sich bringt, hat für sie die Aufgabe, Eigentum zu vererben. Dass sich Frauen und andere gebärfähige Personen dieser Aufgabe verweigern, soll unterbunden werden. Das hat aber auch Auswirkungen auf die Arbeiter_Innenklasse. In der Regel haben diese wenig zu vererben, aber gleichzeitig haben die Kapitalist_Innen Interesse an immer mehr Nachwuchsarbeitskräften, die für sie arbeiten und die sie ausbeuten können. Nicht zufällig stammt der Artikel 219a aus dem Jahr 1933. Vor allem aber geht es darum, dass die auf geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung basierende Unterdrückung der Frau in der Familie durch repressive Sexualmoral, Geschlechternormen, Einschränkungen der Kontrolle über den eigenen Körper, Fixierung der weiblichen Sexualität auf das Gebären von Kindern usw., kurz gesagt, die repressiven, frauenfeindlichen Strukturen auch in der Arbeiter_Innenklasse reproduziert werden.

Schwangerschaftsabbrüche ausdrücklich abzulehnen, ist in Deutschland zum Glück eine Minderheitenposition. Dennoch ist die Anti-Abtreibungsbewegung auf dem Vormarsch: bürgerliche Parteien wie CDU und AfD schließen sich mit Kirchenverbänden zusammen, um in Großstädten für Zwangsgeburt und Unterdrückung zu marschieren. Doch was setzen wir dem entgegen, und welchen Platz sollte Abtreibung in unserer Gesellschaft haben?

  • Für die Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränkter, flächendeckender und barrierefreier Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen und Verhütungsmitteln als Teil der öffentlichen Gesundheitsvorsorge, ohne Mindestalter. Abtreibungen müssen von den Krankenkassen finanziert werden!
  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Für uneingeschränkten und transparenten Zugang zu Informationen, Ärzt_Innen und Kliniken! Schwangerschaftsabbrüche müssen in die Lehrpläne aufgenommen werden – sowohl im Sexualkundeunterricht an Schulen, als auch im Medizinstudium.
  • Schluss mit der Bevormundung ungewollt Schwangerer: Weg mit der 12-Wochen-Fristenlösung, der Zwangsberatung, der dreitätigen Wartepflicht und der Krankenhauspflicht für den medikamentösen Abbruch.
  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer häuslicher Gewalt! Für Selbstverteidigungsstrukturen gegen Gehsteigbelästigung, Angriffe auf Beratungsstellen, sowie Hass und Falschinformationen im Netz. Für die Zerschlagung der Anti-Abtreibungs-Bewegung, Hand in Hand mit der Arbeiter_Innenklasse!



Einen Safe Space gibt es nicht! Was ist eigentlich das Caucusrecht und wozu brauchen wir es?

von Erik Likedeeler, September 2023

Wer sich unser Programm durchliest, wird schnell auf den Begriff des Caucusrechts stoßen. Aber was ist das eigentlich?

Bei einem Caucus handelt es sich um ein gesondertes Treffen von Menschen, die auf eine spezifische Weise unterdrückt werden, zum Beispiel durch Sexismus, Queerfeindlichkeit, Rassismus oder Behindertenfeindlichkeit.

In diesem Artikel wird erklärt, wie ein Caucustreffen ablaufen kann, warum wir Unterdrückung auch innerhalb linker Organisationen bekämpfen müssen und warum es „Safe Spaces“ im Kapitalismus nicht geben kann. Als Beispiel wird in diesem Text der Kampf gegen Sexismus genutzt, das alles lässt sich aber auch auf andere Unterdrückungsformen übertragen.

Was passiert bei einem Caucustreffen?

Ein Caucustreffen bietet die Möglichkeit, sich in einem geschützteren Rahmen über konkrete Probleme, Missstände und Vorfälle von Sexismus innerhalb der Organisation auszutauschen. Es werden Fragestellungen im Zusammenhang mit Sexismus diskutiert und gemeinsame Ideen und Lösungen ausgearbeitet. Der inhaltliche Aufbau des Treffens kann selbst bestimmt werden. Wichtig ist, dass alle Betroffenen vorher über das Treffen informiert werden und die Möglichkeit bekommen, sich zu äußern.

Anschließend können organisatorische, politische oder analytische Empfehlungen und Forderungen zurück in die Organisation getragen werden. Die Maßnahmen werden der Mitgliedschaft oder der Leitung vorgelegt, um den Kampf gegen Sexismus voranzutreiben. Ein Vetorecht gegen Beschlüsse der Leitung oder abgestimmte Entscheidungen der Mitgliedschaft hat der Caucus jedoch nicht. Prinzipiell bleibt aber erst einmal alles, was im Rahmen des Caucus besprochen wird, unter Verschluss. Den Teilnehmenden ist es nicht erlaubt, mit Außenstehenden oder Genoss_Innen, die nicht am Caucus teilnehmen dürfen, über dessen Inhalt zu sprechen. Am Ende einigen sich die Teilnehmenden gemeinsam auf die Punkte, die sie in die Organisation tragen wollen.

Wo könnte es überall ein Caucusrecht geben?

Einen Caucus könnte es fast überall geben – zum Beispiel in einer politischen Organisation, aber auch in Gewerkschaften, Parteien, an Schulen und in Betrieben. Das Recht auf solche Treffen gehört immer wieder zu unseren politischen Forderungen, denn es gibt kaum Institutionen, die dieses Recht verankert haben.

Manchmal gibt es zwar an Schulen oder Unis Treffen von Unterdrückten, aber diese haben meist keinen Caucus-Charakter. Vielmehr dienen sie der gegenseitigen Vernetzung und existieren abgespalten vom Rest der Studierenden oder Schüler_Innen. Sie werden von diesen nicht anerkannt und machen es sich nicht zum Ziel, politische Forderungen an sie heranzutragen.

Ein Caucus sollte so oft einberufen werden dürfen, wie es Bedarf danach gibt – am besten während der Arbeits- oder Unterrichtszeit, damit die antisexistische Arbeit nicht von der Freizeit abgeht.

Das Caucusrecht ist auch in unserem Programm abgedeckt, welches die Grundlage unseres politischen Handelns bildet. Dadurch erfahren neue Mitglieder von Anfang an von dieser Möglichkeit, und die Treffen bleiben nicht in einer „rechtlichen Grauzone“.

„Sexismus? Bei uns doch nicht!“

Viele Menschen sind davon überzeugt, sie selbst seien nicht sexistisch – oder wenn sie es einmal waren, dann haben sie das alles längst wegreflektiert. Als Marxist_Innen vertreten wir das Prinzip: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ In diesem Fall bedeutet das, dass wir in sexistische Verhaltensmuster zurückfallen können, solange wir in einer Gesellschaft leben, welche dieses Verhalten hervorbringt, fördert und belohnt. Das beweisen die vielen unaufgeklärten Fälle von Machtmissbrauch und Täterschutz innerhalb der linken Szene.

Sich über ein Problem bewusst zu werden bedeutet nicht, dass dieses Problem damit gelöst ist. Wir können uns nicht vollständig aus unserem Umfeld und unserer Sozialisation herausdenken. Deshalb behaupten wir auch nicht von uns selbst, dass wir frei von Sexismus wären. Die Augen vor Problemen zu verschließen, bedeutet im schlimmsten Fall, dass diese Probleme sich ungehindert weiter ausbreiten können.

Das heißt natürlich nicht, dass wir uns selbst einen Freifahrtschein ausstellen und mit dem Antisexismus warten, bis der Sozialismus kommt. Wir wollen nicht so tun, als wären wir unserer Sozialisation völlig hilflos ausgeliefert, oder als hätten wir gar keine Handlungsmöglichkeiten.

Damit wir als gesamte Arbeiter_Innenklasse zusammenarbeiten können, müssen wir unser Bestes geben, um Sexismus auch innerhalb der Arbeiter_Innenbewegung zu bekämpfen. Denn Unterdrückung dient auch dazu, uns zu spalten, uns gegeneinander aufzuhetzen und uns von unserem wahren Feind abzulenken: den Kapitalist_Innen.

Deshalb müssen wir sowohl präventiv arbeiten, als auch bereits geschehene Vorfälle aufarbeiten. Dabei ist uns immer bewusst, dass die Arbeit an uns selbst nicht ausreicht. Wir müssen das Problem an der Wurzel packen und patriarchale Strukturen mitsamt der Klassengesellschaft zerschlagen.

Separate Treffen – ist das keine Spaltung?

Um die Klassengesellschaft abzuschaffen, braucht es ein revolutionäres Programm mit Forderungen, hinter denen wir alle vereint stehen. Dauerhafte Vereinzelung je nach Identität ist dabei nicht hilfreich.

Aber es gibt Situationen, in denen es mehr Erfolg bringt, sich als Unterdrückte separat zu treffen: Sich eine eigene Vernetzung aufzubauen ermöglicht erst den Rahmen, in dem alle Aktivist_Innen gemeinsam handeln können. Dadurch kann auch verhindert werden, dass der Kampf gegen Sexismus zu einem unwichtigen Nebenziel erklärt wird.

Außerdem schützt das Caucusrecht unsere Organisationsform, den demokratischen Zentralismus. Das bedeutet, dass wir untereinander frei diskutieren und demokratisch über unsere Forderungen abstimmen, während wir nach außen gemeinsam auftreten und vereint hinter unseren Positionen stehen. Dieses gemeinsame Auftreten könnte zum Zerbrechen einer Gruppe führen, falls die demokratischen Rechte nicht abgesichert werden.

An wem bleibt die antisexistische Arbeit hängen?

Häufig bleibt die politische Arbeit zum Thema Antisexismus an denjenigen hängen, die selbst von Sexismus betroffen sind. Dadurch wird die Unterdrückung nicht gebrochen. Sie kann sich sogar noch verstärken, wenn unterdrückte Personen dadurch an ihrer politischen Arbeit gehindert werden und weniger präsent sind.

Deshalb ist es wichtig, dass sich nicht nur Unterdrückte zusammenfinden, sondern auch diejenigen, die nicht betroffen sind. Auch sie müssen Treffen einberufen, um sich mit der Rolle auseinanderzusetzen, die ihnen der Kapitalismus zuweist, sowie mit den Forderungen und Vorschlägen, die an sie herangetragen wurden. Oft finden deshalb bei uns zeitgleich zum Caucus antisexistische Reflexionstreffen statt, in welchem sich männliche Genossen mit ihrem Verhalten auseinandersetzen und gemeinsam Perspektiven aufwerfen.

Caucustreffen: Ein Safe Space?

Es bleibt die Frage, ob ein Caucus tatsächlich den geschützten Rahmen bieten kann, den man sich von ihm verspricht. Dazu sei Folgendes gesagt: Auch wenn ein Caucus die Möglichkeit gibt, offener und ungehemmter zu diskutieren, sollte nicht die Illusion entstehen, dass ein Caucus so etwas wie ein Safe Space oder eine Selbsthilfegruppe sein könnte.

Es gehört zum Wesen des Kapitalismus, dass man seine Ideologien nicht einfach abstreifen kann wie einen zu klein gewordenen Mantel. Unterdrückung kann auch verinnerlicht sein, das heißt zum Beispiel, auch Frauen können sich sexistisch verhalten. Und innerhalb eines antisexistischen Caucus könnte es weiterhin zu transfeindlichen, rassistischen oder behindertenfeindlichen Vorfällen, sowie zu Belästigung aller Art kommen.

Außerdem kann das Sprechen über Unterdrückung für alle Betroffenen belastend sein und unangenehme Emotionen und Erinnerungen an die Oberfläche bringen.

Fazit und Ausblick

Bisher haben sich Caucustreffen in unserer Organisation in der Praxis bewährt. Sie haben geholfen, das Bewusstsein für bestimmte Themen zu stärken, Debatten in neue Richtungen zu lenken, neue Positionen auszuarbeiten und das alltägliche Miteinander zu erleichtern.

Deshalb rufen wir auch andere linke Organisationen dazu auf, ihren Mitgliedern das Caucusrecht zu gewähren – denn nur so kann all ihren Mitgliedern und Sympathisant_Innen die politische Arbeit uneingeschränkt ermöglicht werden.




JIN JIYAN AZADΖ die Flamme der Revolution im Iran brennt weiter!

Von Pauline P., September 2023

Der Mord an der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini durch die „Sittenpolizei“ jährt sich heute zum ersten Mal. Er war der Funke, der das Feuer einer neuen Massenbewegung im Iran entfachte. Seither versucht das diktatorische, islamistische Regime, die Proteste im Blut zu ertränken. Mit über 500 Ermordungen, über 20.000 Festnahmen und öffentlichen Hinrichtungen versuchen die bewaffneten Kräfte der Staatsmacht, die Massen einzuschüchtern – die Bewegung im Keim zu ersticken und die Anhänger_Innen des Regimes zu stärken. Aus Angst vor einer Masse, die mehr und mehr revolutionären Charakter annimmt, gehen die Repressionen immer weiter und erkämpfte Fortschritte werden wieder rückgängig gemacht. So marschiert und fährt die Sittenpolizei wieder durch die Straßen Irans und die Strafen bei Verstößen gegen die Kleidervorschriften werden sogar erhöht. Auch heute – am Todestag Aminis – fürchtet sich das Regime vor einem erneuten Aufflammen der Proteste. Das Polizeiaufgebot in den Städten ist verdoppelt und im Vorhinein wurden 6 Personen festgenommen, die Proteste geplant haben sollen. Auch wenn es auf den Straßen wieder ruhiger geworden ist, das Feuer brodelt weiterhin unter der Oberfläche. Das Regime kann zwar die Proteste niederschlagen – das erwachende Bewusstsein der Menschen und die Ursachen für die revolutionäre Erhebung von Millionen können sie aber nicht aus der Welt schaffen. Denn es ist das reaktionäre, ausbeuterische, frauen- und menschenfeindliche Regime selbst – die spezifische Mischung aus Kapitalismus, Nepotismus und islamistischer Diktatur, die immer wieder den Widerstand hervorbringen wird, den sie mit aller Gewalt – und letztlich nur noch mit Gewalt – blutig unterdrückt.

Von bürgerlichen Protesten zum bewussten Klassenkampf

 Seit 2017 hat sich eine Sache grundlegend geändert: Während vorher, auch bei der sogenannten grünen Revolution im Jahre 2009, vor allem die städtischen Mittelschichten die Basis der Massendemonstrationen bildeten, so ist heute vor allem die Arbeiter_Innenklasse Trägerin des Kampfes. Seit einem Jahr allen voran Frauen, Studierende, die Jugend sowie die unterdrückten Nationalitäten. Die Hoffnungen und Illusionen in den „reformorientierten“ Teil des Regimes sind bei den Massen verflogen. Soziale Fragen rücken in den Vordergrund. Und dies ist ein Fortschritt, der sehr zu begrüßen ist.  Ein Fortschritt mit dem Potential, das Blatt ein für alle mal zu wenden. Denn langsam wird immer mehr klar, dass iranischer Kapitalismus und islamistisches Regime von Anfang an eng miteinander verbunden waren und nur gemeinsam bekämpft werden können.

Das islamistische Mullahregime

Die Unterdrückung der Frauen gehörte von Beginn an zur politischen DNA des islamistischen Regimes. Der Sieg von Khomeini und den Mullahs bei der iranischen Revolution in den 1970ern bedeutete für alle Frauen im Iran eine Katastrophe. Die Elemente formaler Gleichheit, die unter dem Schah errungen und in den ersten Monaten der Revolution faktisch sogar ausgeweitet worden waren, wurden rigoros abgeschafft. Natürlich hatten Khomeini und die Mullahs die Frauenunterdrückung und das Patriarchat nicht erfunden, sie institutionalisierten sie jedoch im extremen Ausmaß. Die Scharia, als islamisches Gesetz, wurde zu deren rechtlich-ideologischer Grundlage, welche Frauen auf verschiedensten Ebenen unterdrückt, entrechtet und schikaniert. Die extreme Form der Entrechtung seit Beginn der Mullahherrschaft ging mit einer widersprüchlichen Entwicklung der Lage der Frauen im Bildungswesen und in der Arbeitswelt einher. Heute gibt es im Iran rund 4,5 Millionen Studierende, eine für ein halbkoloniales Land beachtliche Zahl und Quote. Fast jede/_r zweite Studierende ist eine Frau. Dies spiegelt den Versuch des Mullahregimes wider, nach der Machtergreifung eine staatskapitalistische Industrialisierung voranzutreiben, was sich auch im Zwang, vermehrt Frauen als Lohnarbeiterinnen zu beschäftigen oder professionell zu qualifizieren, ausdrückt. Somit entstand im Iran einerseits eine sehr qualifizierte Schicht von Frauen, die zugleich weiter politisch und kulturell entrechtet blieb. Über Jahre versprach das Regime den Frauen und der Jugend im Gegenzug für soziale Unterdrückung Jobs, Einkommen und sogar einen gewissen Aufstieg. All das entpuppte sich nach anfänglichen ökonomischen Erfolgen in den 1990er Jahren mehr und mehr als Fiktion. Die neoliberalen Reformen und Privatisierungen des letzten Jahrzehnts, vor allem seit dem Einbruch 2012/13, verschlechterten die Lage weiter. Für die Frauen und die Jugend sieht die Zukunft düster aus. Die Arbeiter_Innen bilden mittlerweile die zahlreichste Klasse der iranischen Gesellschaft. Zugleich lebt ein großer Teil dieser Klasse heute in Armut. Für die Lohnabhängigen repräsentierte die Diktatur der Mullahs immer eine brutale Herrschaft der Ausbeuter_Innen. Proletarische, aber auch junge, akademisch gebildete Frauen trifft dies besonders. Die Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt sind beachtlich. Das verdeutlicht auch die Arbeitslosenquote von Frauen mit offiziell 18,96% im Jahr 2021, die fast doppelt so hoch ist wie jene der Männer (9,89%). Noch höher liegt sie bei Jugendlichen – und das heißt insbesondere auch bei jungen Frauen – mit 27,21%. Mit fast 89% extrem stark von Arbeitslosigkeit – und damit von Armut – betroffen ist die ohnedies stigmatisierte Gruppe von alleinerziehenden Frauen. Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig. Einerseits natürlich die Inflation und die ökonomische Stagnation selbst, die die gesamte Klasse der Lohnabhängigen betrifft. Zweitens ziehen viele, natürlich männliche Unternehmer, vor, junge Männer statt Frauen zu beschäftigen, selbst wenn diese z. B. einen weit besseren Hochschulabschluss vorweisen. Darüber hinaus nutzen Unternehmen bewusst die reaktionäre Gesetzgebung, um gewerkschaftlich aktive oder einfach Widerstand leistende Arbeiterinnen unter dem Vorwand „unislamischen“ Verhaltens oder „unsittlicher“ Bekleidung zu entlassen.

Unterdrückungsformen können nur mit dem Kapitalismus zusammen untergehen!

All dies verdeutlicht, wie eng der Kampf gegen Frauenunterdrückung mit dem gegen Ausbeutung verbunden ist und einen essentiellen Teil des Klassenkampfes bildet, da Frauen im Kapitalismus durch die ins Private gedrängte Reproduktionsarbeit doppelt ausgebeutet werden und die Existenz des Kapitalismus dieser Reproduktion bedarf. Die Verbesserung der Lage der Massen – und insbesondere der Frauen und der unterdrückten Nationen – ist unmöglich, ohne die Profite, den Reichtum, die Privilegien, das Privateigentum der herrschenden Klasse im Iran anzutasten. Ihre Unterdrückung mag unter einer anderen bürgerlichen Herrschaftsform oder einer anderen Elite allenfalls elastischere Formen annehmen (und selbst das ist keineswegs sicher). Eine politische Kraft, die konsequent die Interessen der lohnabhängigen Frauen, der Student_Innen und Arbeiter_Innenklasse insgesamt zum Ausdruck bringt, muss mit allen unterdrückerischen Klassen und ihren Parteien brechen. Und das heißt zuerst, sie darf ihre Ziele nicht auf rein demokratische, rein bürgerliche beschränken. Entscheidende gesellschaftliche Fragen müssen mit der Enteignung des Kapitals und der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden werden. Ansonsten wird das Proletariat – unabhängig vom Geschlecht – weiter eine Klasse von Ausgebeuteten bleiben. Entscheidend ist außerdem internationale Solidarität mit den Kämpfen im Iran und der gemeinsame Aufbau von Massenbewegungen, um den Kapitalismus und mit ihm auch die Frauenunterdrückung weltweit zu schlagen!