Frankreich: Arbeiter_Innen und Jugendliche in der Wahlfalle

VON FRIEDA ALLESSANDROVA

 

El-Khomri – Klassenkampf 2016

 

Vor einem Jahr erfasste eine Protestwelle Frankreich. Am 14. Juni 2016 marschierten mehr als eine Million Menschen aus Protest gegen den Versuch der PS-Regierung, das bisherige Arbeitsgesetz zu kippen. Mit dem sogenannten El-Khomri-Gesetz sollten Errungenschaften der Arbeiter_Innenbewegung, wie die 35-Stunden-Woche, ein kollektives Verhandlungsrecht und die Überstundenbegrenzung, abgeschafft werden. Unter dem Vorwand, die Beschäftigung zu erhöhen, sollten Arbeiter_Innen leichter entlassen werden und durch Zeitarbeiter_Innen und prekäre Lohnabhängige ersetzt werden können. Das Ziel war die Stärkung des französischen Imperialismus auf europäischer und internationaler Ebene. Der französische Imperialismus befindet sich seit einigen Jahren in der Krise. Große Hotelketten werden beispielsweise von China aufgekauft. El-Khomri ist als ein französisches Äquivalent zur Agenda 2010 zu verstehen, was dazu gedacht ist, die Auswirkungen der Krise abzufedern. Die Agenda 2010 ist ein erheblicher Faktor, durch den Deutschland die Krisen halbwegs unbeschadet überdauern konnte. Derartige Verschärfungen des Klassenkampfes von oben könnten dem französischen Imperialismus aus der Krise heraushelfen. Leittragende sind dabei wie immer die Mehrzahl der Arbeiter_Innen in Frankreich und den Halbkolonien Frankreichs.
Die Protestaktionen waren zahlreich und ausdrucksstark. Durch die Streiks der Eisenbahner_Innen und bei der Müllabfuhr konnte die Empfangszeremonie für den Europokal verhindert werden, weil der Bahnhof von protestierenden Arbeiter_Innen besetzt war. Desweiteren fanden Besetzungen von Raffinerien und das Herunterfahren von Atomreaktoren statt. Wir von REVOLUTION haben auch damals unsere Solidarität mit den Protestierenden ausgedrückt ( solidaritaet-mit-den-franzoesischen-jugendlichen-und-arbeiter_innen)
Doch es war schon früh klar, dass es keine zufriedenstellenden Kompromisse geben würde. Der französische Staat reagierte mit brutaler Härte auf die Proteste. Über 1000 Streikende und Aktivist_Innen der „Nuit debout“-Bewegung wurden festgenommen. Dennoch ist es der Arbeiter_Innenklasse innerhalb weniger Monate gelungen, die Kräfteverhältnisse umzukehren und ihre Macht gegenüber der herrschenden Klasse zu erproben.
Das El-Khomri-Gesetz ist am 09.08.2016 in Kraft getreten. Schuld daran war der Verrat der Gewerkschaften an der Bewegung, indem sie sie haben auflaufen lassen. Durch die Notstandsgesetze, die durch die EM 2016 unter Teppich gekehrt wurden, aber seit dem Anschlag auf Charlie Hebdo in Kraft waren, war es dem Staat ein Leichtes, die Protestbewegung zu unterdrücken und die Gewerkschaftsführungen agierten in vorauseilendem Gehorsam.

 

Polizeigewalt im Februar 2017

 

Erneut wurde Frankreich von Protesten erschüttert. Diesmal ging es um die rassistische Polizeigewalt, unter der viele Jugendliche alltäglich zu leiden haben. Der konkrete Auslöser war die Vergewaltigung des schwarzen, 22-jährigen Theo durch Polizeibeamte in dem Pariser Vorort Aulnay-sous-Bois am 11. Februar 2017. Die Empörung darüber kannte keine Grenzen und bereits am Tag nach dem Übergriff fanden sich 2000 Menschen ein, um gegen die rassistische Gewalt im Staatsdienst zu protestieren.
Für viele Jugendliche, die sich an diesen Protesten beteiligten, war der konkrete Vorfall keine Neuheit. Der Tatort sei ein berüchtigter toter Winkel der staatlichen Überwachung, in den Polizist_Innen regelmäßig Jugendliche verschleppten, um sie dort zu verprügeln. Auch die sexuelle Gewalt der Staatsbeamten kam schon häufiger vor. Die Täter können nach Belieben walten, denn die Jugendlichen scheuen sich vor einer Anzeige aus Angst, danach noch schwerer Arbeit zu finden. Von dem nicht vorhandenen Vertrauen in den Staatsapparat ganz zu schweigen.
Die Proteste erinnerten an 2005, als zwei Jugendliche von der Polizei in den Tod gehetzt wurden, was auch damals für Ausschreitungen gesorgt hat. Ein beliebter Slogan verweist auf die Verbindung zwischen diesen Fällen von Polizeigewalt, und dass das Schicksal von Theo deutlich mache, warum die Jugendlichen damals weggerannt sind. Die Reaktion der Politik 2005 war die Verhängung des Ausnahmezustands. Heute kann die Regierung dieses Verhalten nicht wiederholen, da der Ausnahmezustand sowieso schon seit einem Jahr besteht. Es wurde also „um Ruhe“ geworben. Präsident Hollande soll persönlich im Krankenhaus erschienen sein, um Theo um einen entsprechenden Aufruf an die Protestierenden zu erpressen.
Das Verhalten vonseiten der Bullen macht allerdings alle Versuche, um Ruhe zu werben, zunichte. Das gewaltsame Einführen eines Schlagstocks in den Anus sei nicht etwa eine Vergewaltigung, sondern ein Unfall und die rassistischen Beleidigungen seien in diesem Fall angebracht gewesen, traute sich der Überwachungsbeauftragte zu verkünden.
In den Augen der Bürgerlichen seien die Proteste auch friedlich angelaufen, wurden jedoch „nach Angaben der Polizei“ von mehreren Hunderten gewaltbereiten Personen gestört. Es wurden Menschen und Fahrzeuge mit Geschossen beworfen, Mülleimer und Autos angezündet. Die Polizei reagierte darauf mit Tränengas, noch mehr Kontrollen, Verhaftungen und sogar das Abfeuern scharfer Munition. Diese Darstellung zeigt wieder das Verhältnis der bürgerlichen Klasse zu Widerstandsbewegungen. Die Herabwertung der Protestierenden als „gewaltbereite Chaoten“ ist ein Versuch, das legitime Anliegen der Proteste in den Dreck zu ziehen.
Die Proteste könnten ein neuer Antrieb für eine antirassistische Bewegung sein. Knapp zwei Wochen nach dem Vorfall haben sie auch Paris und andere Städte erreicht. Auch dort kam es zu Ausschreitungen, brennenden Mülltonnen, Festnahmen. Einen Monat später, Anfang März 2017, gingen immernoch Schüler_Innen gegen die Willkür der Polizei auf die Straße. Die Lehrer_Innengewerkschaft kritisierte, dass ein Klima der Gewalt herrsche. Es kam zu Ausschreitungen an Schulen, eine Lehrerin wurde leicht verletzt und eine Supermarktlieferung geplündert.

 

Wessen Gewalt?

 

Nun stellt sich wie immer die Frage nach der Gewalt und die Legitimierung derselben. Die richtige Frage ist aber die, wer denn die Gewalt ausübt. Gewalt kann nicht pauschal verurteilt werden, wenn sie von wütenden Jugendlichen ausgeübt wird, wenn man im selben Atemzug die Gewalt des Staates unterstützt, der seine Macht willkürlich an Schwächeren auslebt. Die Frage ist viel eher, wie die Gegenproteste vergrößert und Gewerkschaften gewonnen werden können, um Schutzeinheiten der antirassistischen Bewegung und der Arbeiter_Innenorganisation aufzustellen. Es geht um die Unterscheidung zwischen Gewalt zur Erhaltung der Macht der Unterdrücker_Innen oder zur Befreiung von Unterdrückung.
Die Gewalt der Jugendlichen ist nicht zu verurteilen. Sie ist ein Ausdruck von Frustration, Machtlosigkeit aber auch Perspektivlosigkeit. Es braucht eine entschlossene Gegenwehr. Diese Gegenwehr sollte sich aber aus einer Bewegung generieren, die die eigenen Kräfte aus der Mobilisierung im Sinne der sozialen Interessen der Arbeiter_Innen, Jugendlichen und deren Verbündeten zieht. Außerdem muss sich diese Gegenwehr auch nicht nur in einer militanten Organisierung sondern auch in einer Programmatik widerspiegeln, die in der Theorie erarbeitet und in der Praxis erprobt wird.

 

Perspektive: Präsident_Innenschaft

 

Die landesweiten Proteste sind längst zum Wahlkampfthema für die etablierten Parteien geworden. Doch welche Perspektive bieten die Wahlen, die vom 23. April (erster Wahlgang) bis zum 7. Mai (Stichwahl) stattfinden werden, den protestierenden Jugendlichen?
Spoiler: nicht viel. Fast alle versprechen mehr Polizei. Die Rechte fordert mehr Härte in „rechtlosen Zonen“ und der Front National redet von „Nulltoleranz“. Doch wir werden hier zunächst auf die aussichtsreichsten Kandidat_Innen für das Präsident_Innenamt eingehen, und dann nochmal auf die Kandidaten links von der Mitte.
François Fillo, Vertreter der Republikanischen Partei, gehört in die bürgerlich-etablierte rechte Ecke. Programmatisch ist Fillon ein Garant für den Klassenkampf von oben: Stellenabbau bei staatlichen Angestellten, Rückkehr zur 39-Stunden-Woche, Heraufsetzung des Rentenalters auf 65 und der Mehrwertsteuer sowie weiteren Deregulierungen des Arbeitsrechts.
Marine Le Pen vom rechtspopulistischen, nationalistischen und rassistischen Front National, gibt sich als „Anwältin der Arbeiter_Innen“, die sich von der PS-Regierung im Stich gelassen fühlen, vor allem in verarmten Industrieregionen im Norden. Sie weiden sich weiterhin an der alten Mär, dass Sozialist_Innen und Migrant_Innen Schuld sein am Abstieg und der Arbeitslosigkeit der „einheimischen Arbeiter_Innen“. Der FN erhält wertvolle Unterstützung von den staatstragenden Organen. Er kann sich etwa 50 % der Wähler_Innenstimmen der Polizei und Armeeangehörigen sicher sein, wurde bereits vom Unternehmer_Innenverband empfangen, um politische Ideen vorzutragen, und bekommt durch die Unterstützung bekannter Intellektueller einen seriösen Anstrich.
Emmanuel Macron, Kandidat der neugegründeten Partei „En Marche“ (Im Gange), war schon früher bekannt als „Genosse der Bosse“. Er hat ausgezeichnete Verbindungen in den Finanzsektor, ist seit 2008 als Investmentbanker tätig und scheint für viele das „kleinere Übel“ angesichts der Schwäche der Linken. Er verspricht die Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere in den Brennpunktkiezen der Jugendarbeitslosigkeit, hat allerdings am
El-Khomri-Gesetz zur Deregulierung des Arbeitsschutzes (s.o.) mitgewirkt.
Doch von links gibt es auch keine echte Alternative. Der Zögling des amtierenden Präsidenten Hollande, Benoît Hamon, vertritt zwar ein Grundeinkommen, dieses läge aber kaum über der jetzigen Sozialhilfe und reicht somit auch nicht zum Leben. Was daraus folgt, wäre eine Lohnsubvention für Billigjobs zugunsten des Kapitals.
Jean-Luc Mélenchon, Parti de Gauche (Linkspartei), vertritt linkreformistische Positionen, allerdings mit einem krassen Hang zum Linksnationalismus. Statt Bezug zu nehmen auf die Arbeiter_Innenklasse, bezieht er sich auf Volk und Nation.
Als vielleicht noch interessantesten Kandidat gäbe es Phillippe Poutou (Neue Antikapitalistische Partei). Der bezieht sich auf die jüngsten Klassenkämpfe, vor allem das El-Khomri-Gesetz, allerdings benennt er nicht den Verrat der Gewerkschaften und reformistischen Politiker_Innen. Außerdem stellt er nicht die Frage nach Selbstverteidigungseinheiten oder die Macht- und Regierungsfrage und hat somit den protestierenden Jugendlichen auch nicht viel zu bieten.

 

Perspektive der Proteste

 

Die Jugendlichen, die zur Zeit auf der Straße sind, haben nicht nur keine Vertreter_Innen ihrer Interessen innerhalb der bürgerlich-parlamentarischen Politik, sie dürfen auch zum großen Teil einfach nicht wählen. Was ist also die Perspektive innerhalb der Proteste?
Mittlerweile haben sich auch bürgerliche Organisationen den Protesten angeschlossen. SOS Racisme zum Beispiel ist eine zivilgesellschaftliche Organisation, die, laut Selbstbeschreibung, seit 1984 „Gleichheit und Brüderlichkeit in Frankreich“ fördern will. Dies gibt den Protesten gleichsam ein zivilgesellschaftlicheres Image, dient jedoch höchstens als Feigenblatt für die regierende „Sozialistische“ Partei, die ihrer repressiven, islamophoben Politik einen antifaschistischen Anstrich geben will.
Doch die teilweise erschreckend brutale Unterdrückung der Streiks und Proteste des letzten Jahres zeigte einer ganzen Generation von Aktivist_Innen in Frankreich das wahre Gesicht der Polizei und was man von ihr zu erwarten hat. Währenddessen stimmt das Parlament über neue Gesetze ab, die der Polizei größere Befugnisse zum Schießen auf Menschen einräumt.
Wir fordern eine Verbindung der Arbeiter_Innenbewegung von 2016 mit den Protesten der Jugendlichen 2017, insbesondere der Jugend in den Banlieues. Es ist offensichtlich kampfstarkes Potenzial vorhanden. Anliegen der Arbeiter_Innen müssen mit sozialen Fragen nach Wohnraum, Schule, soziale Ungerechtigkeit und Flucht und Vertreibung verbunden werden. Es braucht die Organisierung der Proteste an Schulen durch die Bildung von Streikkomitees und einer landesweiten Vernetzung untereinander durch Schüler_Innenvollversammlungen.
Dann können die Proteste an den Schulen mit Aktionen in den Betrieben verbunden werden und zum landesweiten, unbefristeten Generalstreik aufgerufen werden. Es muss eine Bewegung entstehen, die nicht vor hat, die eigenen Probleme auf Geflüchtete, Migrant_Innen, Schwarze, Frauen usw. abzuwälzen, sondern gemeinsam für eine radikale Änderung der Verhältnisse auf die Straße zu gehen. Insbesondere in Frankreich sieht sich die radikale Linke nicht in der Verantwortung, Arbeitskämpfe zu führen, sondern überlässt das den Gewerkschaften. Wir fordern auch die Aufhebung des Ausnahmezustands! Protest muss wieder möglich gemacht werden.
Die Bewegungen der Arbeiter_Innen und der Schüler_Innen müssen sich auch mit der Frage des Rassismus auseinandersetzen! Insbesondere nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo hat sich die Situation von Muslim_Innen in Frankreich enorm verschlechtert. Man muss auf die kämpfenden Jugendlichen in den Banlieues zugehen, um die Kämpfe zu verbinden. Es müssen Selbstverteidigungsstrukturen von Arbeiter_Innen, Schüler_Innen, Geflüchteten und deren Verbündeten gebildet werden, die es ermöglichen, die Forderungen auf die Straße zu tragen und somit die tägliche Erniedrigung und Misshandlung sichtbar zu machen und zu stoppen.
Die Bewegung darf sich nicht entmündigen lassen, indem von „friedlichen Protesten“ gesprochen wird, die von Chaoten gestört werden. Man muss Forderungen aufstellen und für diese einstehen – massenhaft, militant, organisiert!

 

elk