Halle: 4. Jahrestag des faschistischen und antisemitischen Terrorangriffs – Kein Vergeben, kein Vergessen!
von Leonie Schmidt, Oktober 2023
TW Antisemitismus, Mord, Rassismus
Am 9.10.2019 griff der bewaffnete Nazi B. erst eine Synagoge an, in welcher sich ca. 50 Personen befanden, wofür er sich den höchsten jüdischen Feiertag Yom Kippur aussuchte. Da aber die Türen der Synagoge glücklicherweise gegen sein Eindringen standhielten, zog er weiter, um letztendlich zwei scheinbar wahllos ausgesuchte Personen auf offener Straße und in einem Dönerladen zu erschießen. Neben einigen Schusswaffen und scharfer Munition hatte der Nazi auch vier Kilo Sprengstoff in seinem Auto geladen und zudem eine Kampfmontur aus einem Stahlhelm, einer schusssicheren Weste sowie einer Art „Uniform“. Letztendlich wurde er nach einer stundenlangen Verfolgungsjagd von der Polizei gestellt und verhaftet.
Motiv & Hintergründe
Ursprünglich wollte der Täter wohl ein linkes Zentrum angreifen, hatte sich jedoch anders entschieden und sich laut seinem eigenen wirren Manifest vom Attentäter in Christchurch inspirieren lassen, wenngleich dieser Moscheen angriff. Auch der Attentäter von Halle überlegte wohl zuerst eine Moschee anzugreifen, da laut seinem faschistischen Weltbild Muslim_Innen schlimmer als Linke seien. Entsprechend seiner Ideologie wählte er dann aber aus einem antisemitischen Motiv heraus eine Synagoge , da er den Islam nur als Symptom und nicht als Ursache seines eigenen Elends ansehen würde. Da die Person, die er auf offener Straße erschoss, eine Frau war, kann auch vermutet werden, dass ein Motiv hier Frauenhass und Antifeminismus gewesen sein könnte, da er in seinem Manifest auch den Feminismus zu seinem Feind erklärte. Das wurde jedoch nicht im Abschlussbericht der Bundesregierung zur Tat vermerkt, wenngleich Frauenhass ein gängiger Bestandteil rechtsradikaler Ideologien ist. Im Gerichtverfahren erklärte der Täter, Jana L. habe ihn beleidigt und da er seine Tat auf Twitch livestreamte, rechtfertigte er den Mord damit, dass er nicht von seinen Zuschauern ausgelacht werden wollte. Das Mordopfer Kevin S., welches er im Dönerladen erschoss, habe er aufgrund seiner Haarfarbe für einen Muslim gehalten, wie er vor Gericht darlegte. Des Weiteren sagte er im Gerichtsprozess aus, dass er nicht wollte, dass weiße Menschen sterben, er es insofern bedauere und breitete seine rechtsextreme Gesinnung für alle hörbar aus. Das alles untermauert nur das perfide Weltbild des Täters, welches die ideologische Basis für sein Verbrechen bildete. Es darf nicht unbeachtet gelassen werden, dass er definitiv versuchte mehr Personen zu ermorden, es ihm aber glücklicherweise nicht gelang.
Radikalisierung bei der Bundeswehr und im Internet
Der Täter wurde im Grundwehrdienst 2010-2011 an der Waffe ausgebildet. Aussagen im Prozess zufolge habe er bereits da das Wort „Jude“ als Schimpfwort verwendet, was in der Truppe so üblich gewesen sei. Immer wieder verschwinden Waffen bei der Bundeswehr, immer wieder werden rechte Netzwerke aufgedeckt. Dass es sich hier um keinen Einzelfall, sondern mindestens um staatlich geduldeten Rechtsextremismus handelt, muss uns klar sein.
Darüber hinaus radikalisierte sich B. in diversen Internetforen, wo er Hitlers „Mein Kampf“, antisemitische Propaganda und gewaltvolle Mordvideos des IS downloadete. Dort chattete er mit anderen Männern, die ähnlich wie er sozial isoliert waren und sein rechtsradikales Weltbild teilten. So konnten sie sich gegenseitig in ihrer menschenverachtenden Ideologie bestärken und bekamen Anerkennung von Gleichgesinnten, was sie immer weiter radikalisieren konnte. Auch hier ähnelt sich B. dem Attentäter von Christchurch, auch dieser hatte sich in einschlägigen Internetforen herumgetrieben und mit anderen Rechtsradikalen connectet.
Das Versagen der Polizei
Wie immer hat sich die Polizei nicht mit Ruhm bekleckert. Dass es, wenn es um Rechtsradikalismus geht, immer wieder passiert, dass den staatlichen Behörden sehr grobe Fehler unterlaufen, kann wahrlich kein Zufall sein, wie wir schon seit dem NSU-Komplex und dem Attentat in Hanau ahnen können. In Halle war das erste Problem, dass die Polizei nicht die Sorge der jüdischen Community vor Angriffen ernst nahm. Diese hatte seit Jahren die Polizei um Schutz an jüdischen Feiertagen für die Synagogen gebeten, war jedoch in ihrer Sorge ignoriert wurden. Wie spätestens am 9.10.19 zu sehen war: Eine mehr als berechtigte Sorge. Auch vor dem Gerichtsprozess gegen B. kam es wieder vermehrt zu Angriffen und Einschüchterungsversuchen gegen die hallesche jüdische Gemeinde. Am Tag der Tat musste sich der Rabbiner, der die Polizei nach den Schüssen auf die Synagoge anrief, erst unnötigen, zeitverzögernden Fragen stellen, bevor er überhaupt zur Notrufzentrale durchgestellt wurde. Zusätzlich kritisiert wurde das Verhalten der Polizei gegenüber den Jüd_Innen, die sich zum Tatzeitpunkt in der Synagoge aufgehalten hatten. Bei der Vernehmung waren die Beamt_Innen empathie- und insbesondre ahnungslos hinsichtlich der jüdischen Religion, erklärten den Betroffenen nicht, was überhaupt passiert war und hefteten den evakuierten Jüd_Innen Zettel mit Nummern an, was einige von ihnen an die NS-Zeit erinnerte. Das ist natürlich ein Schlag ins Gesicht für die Betroffenen, welche gerade so um Haaresbreite dem antisemitischen Mordanschlag des Täters entkommen konnten.
Des Weiteren unterliefen Fehler beim Sichern von Beweismitteln: So konnte die Polizei nicht alle Online-Aktivitäten in einem Bilderforum von B. vor der Löschung am 11.10.19 sichern, welche von einem Moderator beseitigt wurden. Das inkludiert auch die Interaktion mit anderen Teilnehmern des Forums, sowie Verweise auf sein Manifest und Waffenbauanleitungen. Die Löschung wirft außerdem die Frage auf, welche Verbindungen durch den Moderator vertuscht werden sollten. Immerhin ging die Polizei anfangs nicht von einem Einzeltäter aus. So durchsuchte die Polizei am 14.10.19 eine Wohnung in Mönchengladbach, von welcher IP-Adresse aus B.s Manifest zeitnah zum Anschlag hochgeladen wurden war, die Bewohner bestritten jedoch, B. gekannt und etwas vom Anschlag gewusst zu haben. Auch das Überprüfen der Gaming-Kontakte als Bestandteil von B.s Ideologie und seiner Radikalisierung wurde von der Polizei unzureichend durchgeführt. B. hatte mehrere Steam-Accounts und spielte Egoshooter, der Verfassungsschutz teilte mit, in seiner Kontaktliste wären weitere Ermittlungsansätze vorhanden, welche aber nicht weiterverfolgt wurden. Des Weiteren wurde für die Auswertung des Steam-Accounts eine Beamtin eingesetzt, die angab, wenig Ahnung von den Mechanismen der Plattform gehabt zu haben.
Die Gefahr ist nicht gebannt
Nach dem langwierigen Gerichtsprozess wurde B. im Dezember 2020 zu einer lebenslangen Haftstrafe mit Sicherheitsverwahrung verurteilt. Doch gelöst hat er sich von seiner Ideologie und seiner Gewaltbereitschaft natürlich nicht. Das zeigen auch die Geschehnisse in seiner Haftzeit. So versuchte er mehrmals zu flüchten, einmal 2020, indem er einen Hofbesuch zum Überqueren einer Mauer nutzte, nachdem die JVA eigenmächtig seine Sicherheitsmaßnahme heruntergefahren hatte, und einmal indem er im Dezember 2022 zwei JVA-Beamte mit einer selbstgebauten Waffe über Stunden als Geisel nahm. Danach wurde er in ein Gefängnis in Bayern verlegt, welches auf besonders schwerwiegende Straftäter spezialisiert ist.
Des Weiteren wurden in seiner Zelle Briefe von polizeibekannten Nazis sowie von einer 20-jährigen Kriminalkommissarin aus Dessau-Roßlau gefunden. Diese war aufgefallen, nachdem sie sich gegenüber einem Kollegen positiv auf B.s Taten und Weltanschauung bezog.
Wir können also sehen: Nur weil der Täter im Gefängnis ist, ist die Gefahr nicht gebannt. Er konnte weiterhin seine Kontakte zu anderen Rechtsradikalen aufrechterhalten und so in seiner Ideologie und in seiner Tat weiterhin bestärkt werden. Auch sind in Sachsen-Anhalt weiterhin Nazi-Terrornetzwerke aktiv, so zum Beispiel das aus Großbritannien stammende Netzwerk „Blood and Honour“. Auch die Identitäre Bewegung, deren österreichischer Anführer Martin Sellner mit dem Attentäter von Christchurch in Kontakt stand, hatte bis vor einigen Jahren noch ihr Hausprojekt in der Nähe des Steintor Campus in Halle, wo sie mit Propaganda gegenüber Studierenden, Einschüchterungen in der Mensa und einem Angriff auf Zivil-Polizisten auffielen. Hier hatte auch der AfD-Politiker Hans-Thomas Tillschneider sein Abgeordnetenbüro, obwohl die AfD offiziell eine Unvereinbarkeitserklärung mit der IB hat.
Hier kommen wir auch zu des Pudels Kern: Die Tat von Halle darf nicht als Einzeltat gewertet werden, sie muss im Kontext von erneuter Zunahme von Nazi-Terror in Deutschland verstanden werden, auch wenn nach wie vor nicht bekannt ist, welche Netzwerke den Täter bei seinem Vorhaben eventuell unterstützt haben könnten. Ob Halle, Hanau oder München: Diese Taten nehmen zu. Auch 4 Jahre später finden wir uns in einer Gesellschaft, welche noch weiter nach rechts gerückt ist, wie wir an den hohen Prozenten für die AfD sehen, aber auch an der Teilhabe der Grünen an rassistischer Geflüchtetenpolitik. Dementsprechend können wir auch kein Vertrauen in den bürgerlichen Staat haben, in welchem rechtsextreme Strukturen zum Alltag gehören. Denn dieser bürgerliche Staat als ideeller Gesamtvertreter der Kapitalist_Innenklasse gehört zum Produzenten des Rechtsrucks. Rechte Ideologien und Faschismus sind Produkte der kapitalistischen Produktionsweise und gewinnen häufig nach und während Krisen kräftig an Zulauf. Der Rechtsruck entstand im Zuge der Nachwehen der Weltwirtschaftskrise von 2007/08 und wurde ursprünglich vom Mittelstand, also dem Kleinbürger_Innentum, getragen, welche sich davor fürchten, in die Arbeiter_Innenklasse abzusteigen, da sie in der Krise nicht mehr mit den Großkonzernen mithalten können. Aber auch die desillusionierte und ebenfalls von der Krise geschüttelte Arbeiter_Innenklasse war empfänglich für rechte Propaganda. So war es den rechten Akteuren möglich, ein Feindbild zu schaffen, welches zu begründen versuchte, warum es der Arbeiter_Innenklasse so schlecht geht, obwohl der reale Grund in der Krise selbst und dem Umgang damit lag: Beispielsweise Kürzungen im Sozialbereich, Entlassungen, der Agenda 2010 inkl. Leih- und Zeitarbeit, Privatisierungen, die Schuldenbremse usw. Heute nimmt die kapitalistische Krise erneut an Fahrt auf und ist alles andere als gebannt. Daher ist klar: Wenn wir den Faschismus schlagen wollen, wenn faschistischer Terror der Vergangenheit angehören soll, dann müssen wir auch den Kapitalismus zerschlagen! Dafür müssen wir linke Antworten auf die Krisen unserer Zeit finden und populär machen.
Widerstand und Selbstschutz
Was wir gegen den Rechtsruck im Allgemeinen und gegen faschistischen Terror im Besonderen brauchen, ist eine bundesweit gut vernetzte und lokal verankerte Bündnisstruktur aus allen linken Organisationen und Organisationen der Arbeiter_Innenklasse. Unabhängig von inhaltlichen Differenzen muss eine solche Einheitsfront gemeinsam und massenhaft Widerstand auf allen Ebenen organisieren, auch durch militante Selbstverteidigungsstrukturen. Auf den Staat und seine Behörden, wie Polizei oder Verfassungsschutz, ist dabei kein Verlass. Im Gegenteil, diese sind selbst von faschistischen Netzwerken durchzogen.
- Kampf dem Rassismus und Antisemitismus auf allen Ebenen!
- Für massenhafte gemeinsame Aktionen der gesamten Linken und der Arbeiter_Innenbewegung!
- Kein Vertrauen in staatliche Behörden! Zerschlagt die faschistischen Netzwerke selbst und organisiert militante Selbstschutzstrukturen!