In dieser Gesellschaft laufen Jugendliche Amok – Statement zu Winnenden

In dieser Gesellschaft laufen Jugendliche Amok

Statement von REVO zum Amoklauf in Winnenden

März 2009

Nach dem Amoklauf von Winnenden, bei dem der Täter 15 Menschen tötete, sehen wir wieder die ganze Hilflosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, solche Handlungen zu erklären. Seit dem Amoklauf von Erfurt im Jahr 2003 haben die bürgerlichen Medien und die Politikerkaste bestimmte Teile der heutigen Jugendkultur als verantwortlich für diese Gewalttaten gebrandmarkt. Dazu gehören sog. Gewalt PC-Spiele, die „Ego-Shooter“ – ebenso bestimmte Musikszenen, wie auch bestimmte Entwicklungen heutiger Jugendlicher.

Diese traurige Suche nach „Erklärungen“ brachte der baden-württembergische Innenminister Rech in der Pressekonferenz am Tattag zum Ausdruck. Der Täter hätte ja immerhin einen „mittelmäßigen Schulabschluss“ gemacht am Tatort, der Alberville Realschule, wäre jetzt im berufsvorbereitenden Jahr mit anschließender Ausbildung und war sogar lange Zeit einer der besten jugendlichen Tischtennisspieler in Winnenden gewesen – dem Innenminister Rech wollte es nicht klar werden, warum Tim K so gehandelt hatte.

Diese Pressekonferenz war Sinnbild von Hilflosigkeit, nach den Mustern von Hr. Rech müssten sich also alle Schulabbrecher und Hauptschüler fragen, ob sie auch potentiell gefährlich sind – oder warum sie noch nicht zur Waffe gegriffen haben. Ebenso die „gesitteten“, d.h. kleinbürgerlichen Angestelltenverhältnisse der Eltern von Tim konnten der Justiz und Polizei keinen Anhaltspunkt für seine Tat geben, inzwischen laufen alle Erklärungen auf PC Spiele und Gewaltfilme hinaus, dies verbunden mit der Mitgliedschaft im Schützenverein hätte aus Tim einen gewaltbessenen Jugendlichen gemacht, in dem quasi die „Bombe“ tickte.

Mediengeschäft

Aus der Tat wurde ein Skandal, aus dem Skandal eine Story und zu der kann seitdem jeder was sagen. Die Medien belagern den Tatort, zerrten schon am Tattag örtliche Jugendliche vor die Kameras, um ein zwei Sätze über den Täter der Öffentlichkeit zu präsentieren – der Tischtennistrainer ist inzwischen zur Medienperson geworden, in dem Interview darüber gab er zu, das er bislang noch gar keine Zeit gehabt hätte, die Tat zu verarbeiten, schließlich würden die Medien ja bei ihm Schlange stehen. Eine ganze Armada von bürgerlichen Gesinnungsfratzen hat seitdem eine Meinung zu dem Amoklauf, bzw. ist betroffen und kann die Tat nicht verstehen, sog. Experten berichten seitdem von ihren rudimentären Kenntnisse der Psyche eines Amokläufers und im allgemeinen über den psychischen Zustand der heutigen Jugendlichen.
Die Politik befasst sich mit den Bestimmungen zur Aufbewahrung von Schußwaffen und möglichen Verboten von sog. Gewaltspielen, Medien heucheln Betroffenheit mit den Angehörigen der Opfern und der Gedenkgottesdienst wird live übertragen. So machen die Medien Auflage und Quote mit der Verzweiflungstat eines Jugendlichen.

Warum?

Diese recht einfache Frage wurde am Tattag und danach oft gestellt – warum reagiert ein Jugendlicher so, warum wollte er töten usw. Wir von REVOLUTION würden eine ganz einfache Frage stellen – welche Erfahrungen hat ein heute 17 jähriger mit Gewalt, für was steht Gewalt in dieser Gesellschaft und welche Facetten der Gewalt wirken auf die Jugendlichen?

In der öffentlichen Diskussion stehen die PC Spiele an erster Stelle wenn es um Gewalt und Jugendliche geht. Welche Grundlage haben diese Spiele? Die Spielsituation in zerbombten Städten und Häusern auf „Gegner“ zu schießen, wurde nicht von findigen Softwareentwicklern entworfen, sondern entspringt der Realität in vielen Regionen der Welt. Gewalt ist als Krieg allgegenwärtig, die Bilder von Flugzeugen, Bomben, Panzern, Geschützen und Toten sind bekannt, ebenso die Bilder von Folterknästen, Unterdrückung und Demütigung menschlichen Lebens. Gewalt ist Grundlage der heutigen Ordnung und wird täglich umgesetzt, diese ist kein Hirngespinst von Jugendlichen, sondern elementarer Bestandteil der Welt der Erwachsenen.

Ein heute 17 jähriger Jugendlicher hat in seinem Leben schon viel von dieser Gewalt gesehen, als deutscher Jugendlicher zumeist durch die Medien, von dort ist der 11.9., der „Krieg gegen den Terrorismus“ und Al-Quida, der Krieg gegen Libanon und Gaza, Abu-Ghraib (das Foltergefängnis der USA im Irak) etc. bekannt. Während der Pubertät haben die heutigen Jugendlichen gelernt was „Feindbilder“ sind, wer bekämpft werden muss, wer Terrorist ist und das deswegen der „Westen“ im Nahen und Mittlerem Osten Krieg führen muss. Das heißt nicht, das jeder Jugendliche das vertritt, d.h. dass die Jugendlichen unter dieser herrschenden Ideologie aufgewachsen, sozialisiert sind.

Gewalt ist legitim in unserer Gesellschaft, von der herrschenden gewaltbereiten Ordnung wird diese eingesetzte Gewalt legitimiert und jeglicher Widerstand dagegen als „Terrorismus“ bezeichnet.
Speziell männliche Jugendliche werden gezielt auf Gewalt und Krieg vorbereitet, sei es beim zur Verfügung stehenden Spielzeug oder dem möglichen Waffenfetisch männlicher Erwachsener im sozialen Umfeld. Der heranwachsende Mann lernt in seiner Umgebung die Bedeutung von Gewalt und der sog. „Stärke“ kennen, über die Fähigkeit der Gewaltanwendung, sei es in der Schule, im Ortsteil, im Sportverein oder anderswo, wo sich der männliche Heranwachsende seine soziale Stellung erkämpfen muss. Tut er dies nicht, beginnt für ihn ein Leben als Fußabtreter der anderen, dies ist das Produkt von Konkurrenz und Gewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und Sozialisation.

Damit können wir hier nur anreißen, dass Gewalt für Jugendliche erstmal allgegenwärtig ist und nicht von außen auf die Jugendlichen wirkt, sondern Bestandteil der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung ist. Kinder und Jugendliche werden eingebunden in diese Ordnung, durch Schule und Ausbildung wird die Jugend zueinander in Konkurrenz gesetzt – an diesen „Bildungsinstitutionen“ wird die Jugend „vorbereitet“ auf Arbeitsmarkt und Ausbeutung. Stellvertretend für die Konkurrenz in der Schule steht dieses kleine Beispiel. Von einem Referendar an einer Grundschule ist folgendes übermittelt : die Klassenlehrerin führte ein Punktsystem zur Bewertung der Hausaufgaben ein, diese Punkte wurden in die Gesamtnote eingerechnet – bei den SchülerInnen führte dies dazu, das gezielt Hausaufgaben zerstört wurden, dies traf natürlich die „schwächeren“ in der Klasse, diese konnten sich nicht dagegen wehren.

Die Institution Schule ist Organ der sozialen Spaltung – was heißt das? An der Schule wird schnell darüber entschieden wer zu den „Gewinnern“ und wer zu den „Verlierern“ gehört, zum einen durch die Aufgliederung in Haupt, Real und Gymnasialstufe, welche schon nach der 5. Klasse die Jugend spaltet, zum anderen durch die deswegen auftretende Konkurrenz und die entstehende soziale Rangordnung. Gerade diese Aufteilung wird schon in der Grundschule entschieden, die Kinder lernen direkt, was Konkurrenz um Noten und Leistung bedeutet, als Vorbereitung auf den kapitalistischen Arbeitsmarkt. Unter den Jugendlichen heute gibt es einen Begriff für die „Verlierer“, diese werden oft als „Opfer“ bezeichnet, damit wird ihre soziale Stellung beschrieben – niemand will daher ein „Opfer“ sein, das Gegenteil wäre der „Täter“, der andere zu „Opfern“ machen und dadurch „Stärke“ zur Schau stellen kann.

Die Schule und Ausbildung ist nur Spiegelbild der herrschenden ökonomischen und politischen Verhältnisse. Heute sind die Schulen von zunehmender Konkurrenz und Selektion gezeichnet, Rationalisierungen wie das „Turbo Abi“ in 8 Jahren, weitere Privatisierung und Lernmittelkürzung erhöhen den Leistungsdruck und die Versagensangst bei den SchülerInnen. Die verstärkte Konkurrenz um Ausbildungs -und Studienplätze, die Einführung von Studiengebühren und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit betreffen die Jugendlichen nach der Schule – der soziale Druck nimmt zu. Die zunehmende Konkurrenz zwischen Azubis wird auch verwertet, auf Pro 7 werden bei „Deine Chance“ Jugendliche vor Millionen Zuschauer gegeneinander ausgespielt, hier wird Quote gemacht mit Leistungsdruck und Existenzangst.

In dieser Gesellschaft laufen Jugendliche Amok. Wir kehren zur Überschrift zurück, weil wir unserer Ansicht nach die Rahmenbedingungen genannt haben die zur Verzweiflung von Jugendlichen führen, die sie dazu bringen kann sich und andere zu töten. Es sind keine PC Spiele die Jugendliche an Gewalt gewöhnen, es ist keine Musik, die den Jugendlichen zum töten anleitet, es ist diese Gesellschaft, die ihr Fundament auf der Gewalt gegen andere aufgebaut hat. Sie hat in vielen Bereichen die Kinder und Jugendlichen an Gewalt gewöhnt und gegen sie eingesetzt. Wenn heute die Attentäter von Littleton und andere Amokläufer „Kultstatus“ in der Jugend besitzen, dann weil diese Attentäter als Jugendliche Gewalt eingesetzt haben, sie quasi stellvertretend für ihre Generation Gewalt anwendeten. Sie bedienten sich der Mittel, die die Welt der Erwachsenden täglich einsetzt. Sie schossen auf Menschen die sich nicht wehren konnten, sie entschieden über Leben und Tod – genau wie diese Gesellschaft es auch täglich tut. Nur eine Gesellschaft, die sich nicht auf Konkurrenz und Herrschaft stützt – nur eine Gesellschaft, in der die solidarischen Interessen der übergroßen Mehrheit das Leben und Aufwachsen der Menschen bestimmen, kann die Ursachen von sozialer und physischer Gewalt beseitigen.

Keine neuen Repressionen gegen Jugendliche werden die Jugendlichen vor Gewalt schützen, sei es als Opfer oder als Täter. Nur der Kampf der Jugend für ihre Rechte und für die gemeinsamen Interessen der Unterdrückten in der kapitalistischen Gesellschaft,
ist die Perspektive im Kampf gegen Konkurrenz und Gewalt.