Kapitalismus macht krank! 5 Fragen und 5 Antworten zum Zusammenhang von psychischen Erkrankungen und Kapitalismus

von Leila Cheng

Was sind psychische Erkrankungen?

Es gibt viele verschiedene psychische Erkrankungen. Diese sind immer noch stigmatisiert und es wird öffentlich kaum darüber gesprochen, obwohl jeder zweite Mensch einmal im Leben an ihnen erkrankt. Psychische Erkrankungen sind ebenso vielfältig wie die Krankheiten des Körpers. Sie beinträchtigen Stimmungen und Gefühle, verursachen Ängste und Zwangshandlungen, verzerren die Wahrnehmung oder stören Denkvermögen und Gedächtnis.

Macht uns der Kapitalismus krank?

Wenn man nicht so funktioniert, wie es die Gesellschaft von einem erwartet, ist man halt selbst schuld und sollte das eigenverantwortlich wieder in den Griff kriegen. So ist das allgemeine Bild, das im Kapitalismus von psychischen Erkrankungen vermittelt wird. Die strukturellen Probleme des Kapitalismus selbst, die es eigentlich sind, die uns krank machen, werden dabei verschleiert. Denn unser Sein bestimmt unser Bewusstsein: Was wir täglich erleben, wie wir aufwachsen, was unser Umfeld und die Gesellschaft tun, in welcher sozialen Lage wir uns befinden, all dies prägt unser Bewusstsein, unseren Charakter, unsere Psyche.

Im Kapitalismus befinden wir uns in einem System, was auf ständiger Konkurrenz aufbaut. So bekommt nur eine_r von vielen einen Arbeitsplatz, nur die mit dem besten Notendurchschnitt können studieren. Ständig geht es darum der oder die Beste, Schnellste, Größte, Tollste zu sein. Denn in der kapitalistischen Ideologie sind nur die etwas wert, die auch etwas leisten. Das sorgt für enormen Stress, Streit, Zwietracht, Selbstzweifel, Versagensängste und Mobbing. Viele Menschen arbeiten sich durch diesen Druck ins Burnout oder bekommen vom Stress Panikattacken oder Depressionen. Wer sich nach oben strecken muss, tritt häufig nach unten. So werden laut gewerkschaftlichen Studien ca. 3 bis 5 Prozent aller Beschäftigten am Arbeitsplatz gemobbt. In Schulen ist die Zahl weitaus höher. Diskriminierungsstrukturen verstärken dies noch: Rassismus, Sexismus, Ableismus, LGBTIA-Feindlichkeit, Antisemitismus und vieles mehr sorgen für schlimme Traumata, Mobbing und daraus folgende Angststörungen. Als hätten es sexistisch unterdrückte oder migrantisierte Menschen nicht schon schwer genug. So sind gerade sie es, die oft noch unter Traumata durch sexuelle Gewalt, Krieg und Flucht leiden.

Auch Armut und Geldsorgen verursachen permanenten Stress, Angst und Leid. Auch sie sind ein Auslöser für viele psychische Erkrankungen. Gerade arme Menschen sind überdurchschnittlich oft betroffen. Gleichzeitig werden gerade Jugendliche, die sich nicht anpassen wollen, nicht brav genug sind, sich nicht den autoritären Regeln beugen, häufig mit Diagnosen von Persönlichkeitsstörungen, Entwicklungsstörungen und psychischen Erkrankungen gebrandmarkt und aussortiert.

Warum sind Jugendliche besonders von psychischen Erkrankungen betroffen?

Nach Angaben der World Health Organization sind weltweit etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychisch erkrankt. Der WHO-Chef dazu: „Eine der wichtigsten Ursachen für Depressionen sind Missbrauch, Mobbing oder Schikane im Kindesalter.“ Tatsächlich entstehen die meisten psychischen Erkrankungen bereits in der Kindheit und Jugendzeit, bzw. haben da ihre Ursache.

Das liegt zum einen an unserem Bildungssystem. Um uns auf die Anforderungen der kapitalistischen Verwertungslogik vorzubereiten und vorzusortieren, wer später welche Drecksarbeit macht, baut auch die Schule auf Konkurrenz, Disziplinierung und Leistungsdruck auf. Wir spüren dies durch das Notensystem, Tadel, Versetzungsentscheidungen, unendliche Berge an Schulstoff, Strafarbeiten und viele Prüfungsängste. Dieser große Druck führt teilweise zu erhöhten Selbstmordraten unter Jugendlichen und dazu, dass sich dieser Druck in Mobbing zwischen den Schüler_Innen entlädt. Neben dem Schulstress wirkt auch der gesellschaftlich gemachte Optimierungswahn großen Druck auf uns aus. Einem unerreichbaren Schönheitsideal hinterherrennend, spritzen sich Jugendliche Steroide oder hungern sich magersüchtig. Viele verfallen in Depressionen oder werden zu Mobbingopfern, weil sie den Bildern von angeblich perfekten Körpern nicht entsprechen. Hinzu kommen kapitalistische Statussymbole wie Markenklamotten, iPhones, Sneaker usw. Wer das nicht hat, wird oft zum Außenseiter gemacht.

Doch der Druck kommt nicht nur von Mitschüler_Innen und der Schule, sondern auch aus der Familie, die angeblich ein save space sein soll. Dabei bedeutet Familie im Kapitalismus vor allem die Herrschaft des Mannes über Frau und Kinder. Immer noch kommt es oft zu Gewalt an Kindern oder sexuellem, psychischem und körperlichem Missbrauch. Der Leistungsdruck kommt oft schon vor dem Schulbesuch aus den Elternhäusern und hört nie auf. Da wir von unseren Eltern finanziell abhängig sind, werden wir von ihnen entmündigt. Wir erfahren die ersten Jahrzehnte unseres Lebens, dass wir machtlos sind, unsere Meinung nicht zählt und wir uns unterzuordnen haben. Dabei sorgt die starke Belastung, die der Kapitalismus auf Arbeiter_Innenfamilien durch Reproduktionsarbeit, Zukunftsängste, Kündigungen, Teilzeitverträge, Überstunden, Jobcenter-Sanktionen, Kreditrückzahlungen usw. ausübt, dafür, dass die glückliche Mutter-Vater-Kind-Familie aus dem Kinderbuch in der Realität kaum existiert. Stattdessen existieren Trennungsstreits, Gewalt und Vernachlässigung und all das kann psychische Erkrankungen im frühen Kindesalter auslösen.

Warum können psychische Erkrankungen im Kapitalismus nicht effektiv geheilt werden?

Das liegt zum einen daran, dass der kapitalistische Staat, um wettbewerbsfähig zu bleiben, kontinuierlich im Gesundheitssektor Geld einspart. Zum anderen liegt es daran, dass die angebotenen Therapieformen fast nur Symptome bekämpfen und nicht die dahinterliegenden Ursachen. Denn das Ziel einer Therapie im Kapitalismus ist leider oft nicht die Gesundung, sondern die schnellstmögliche Wiedereingliederung in das System, also das Arbeiten gehen, Hausarbeit machen und Leistungen bringen. Außerdem hält sich der Irrglaube, dass psychische Erkrankungen keine „richtigen“ Erkrankungen seien. Deswegen lässt sich auch nur ein Drittel der Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland behandeln. Ein weiterer Grund dafür ist die schnelle Kategorisierung von Menschen in Krankheitsbilder, die ihnen oft auch aufgepresst werden (zum Beispiel ohne Gespräche über schriftliche Fragebögen). In unserem kaputtgesparten Gesundheitssystem wird zudem häufig zur günstigeren Medikamentenvergabe gegriffen und das Pflegepersonal hat kaum genügend Zeit, um sich angemessen um die Patient_Innen zu kümmern.

Aber das größere Problem ist nicht, dass Leute sich nicht behandeln lassen, sondern, dass es nicht genügend Angebote gibt. Es kommt nämlich zur künstlichen Verknappung von Therapieplätzen durch Krankenkassen, um Geld zu sparen. So kommt es teilweise zu Wartezeiten von 6 Monaten bis 1 Jahr auf einen ambulanten Therapieplatz, noch länger auf Klinikplätze. Wer reich ist, kann sich meist bessere und einfacher zugängliche Privattherapien leisten, während wir lange auf einen staatlich finanzierten Therapieplatz warten müssen. Außerdem kommen jede Menge versteckte Kosten einer Therapie dazu, z.B. therapiebedingter Arbeitsausfall, Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Erkrankung, Krankenhausgeld und Medikamentenzuzahlungen. Für Lohnabhängige ist das alles schwer finanzierbar.

Für Jugendliche unter 18 kommt noch die völlige Abhängigkeit von ihren Eltern als ein weiteres Problem hinzu. Sie können z.B. nicht allein mit dem_der Therapeut_In über die Medikamenteneinnahme oder den Beginn einer Therapie entscheiden. Bei unter 16-Jährigen dürfen die Eltern sogar bei der Therapie dabei sein, obwohl sie oft Teil des Problems sind.

Was können wir tun, um unsere Situation zu verbessern?

Wer einen Therapieplatz ergattert hat, kann sich glücklich schätzen. Es ist gut und wichtig, dass wir uns Hilfe holen, wenn wir selbst nicht mehr weiterwissen. Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass unsere Probleme nicht aus unserem individuellen Versagen herrühren, sondern gesellschaftliche Ursachen haben. Und um diese Ursachen langfristig zu bekämpfen, hilft nur revolutionäre Organisierung, um dieses Scheißsystem endlich in eine gerechtere und menschenwürdigere Gesellschaft zu verwandeln. Trotzdem müssen wir im Hier und Jetzt für Verbesserungen eintreten und diesen Kampf zu einem Kampf gegen den Kapitalismus ausweiten. Wir fordern:

  1. Für eine flächendeckende Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich! Weg mit Hartz IV und ein Mindesteinkommen von 1.600 Euro/Monat für Jugendliche, Arbeitslose und Rentner_Innen!
  2. Für den Ausbau von Schutzeinrichtungen für Gewaltopfer jeder Art, Herkunft und Geschlecht! Kollektive Selbstverteidigungsstrukturen für alle unterdrückten Gruppen!
  3. Für mehr Schulpsycholog_Innen und Sozialarbeiter_Innen! Aufklärung über die menschliche Psyche und eine Entstigmatisierung ihrer Erkrankungen gehört in den Schulunterricht!
  4. Keine Profite auf Kosten unserer Gesundheit! Entprivatisierung des Gesundheitssystems und Enteignung der pharmazeutischen Industrien unter Kontrolle von Patient_Innen, Jugendlichen und Arbeiter_Innen!
  5. Für die Abschaffung der privaten Krankenkassen und die Auflösung der bürokratischen Hürden bei der Therapieplatzvergabe! Kostenlose Therapieplätze und freie Wahlmöglichkeiten der Therapieform und der Therapeut_Innen!