„Nationaler Dialog“ auf dem Rücken der Revolution

In Tunesien ist immer was los – nach dem Sturz Ben Alis 2011 und den darauffolgenden Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung kam es immer wieder zu großen Streiks und Demonstrationen – die Mehrheit davon richtete sich gegen die islamistische Regierungspartei Ennahda. Sie bekam bei der Wahl 2011 die meisten Stimmen und stellte somit die Leitung der Versammlung. Jedoch ist sie dem Auftrag der Tunesier*innen, eine neue Verfassung zu entwerfen und Neuwahlen zu organisieren bis jetzt nicht nachgekommen. Die wirtschaftliche Lage des Landes wird immer schlechter, besonders für die Armen werden grundlegende Lebensmittel immer schwerer erschwinglich – zudem steigt der islamistische Terror auf Linke und Oppositionelle, was in den vergangenen Monaten die Massen immer wieder spontan auf die Straße brachte, so im Februar, als Chokri Belaid ermordet wurde, aber auch als Mohammed Brahmi im Juli diesen Jahres vor seiner Haustür auf dieselbe Art und Weise umkam – von bewaffneten Männern auf einem Motorrad erschossen. Beide Male wurde Ennahda von der Öffentlichkeit als verantwortlich erklärt. Wohl um massiveren Druck von der Straße und größere Proteste zu verhindern, einigten sich die hohen Herren der Regierung und Opposition nach monatelangen Verhandlungen nun auf einen „nationaler Dialog“ – unter Einbeziehung aller politischen Lager. Der Fahrplan, der ausgehandelt wurde beinhaltet das Einsetzen einer Technokraten-Regierung, die Fertigstellung eines Verfassungsentwurfs nach einer 4-wöchigen Frist, die Ausarbeitung des Wahlrechts und das Einsetzen einer Wahlkommission.

Der nationale Dialog

Am 25. Oktober gab der Gewerkschaftsverband UGTT bekannt, dass der lange angekündigte „nationale Dialog“ unter seiner Vermittlung begonnen habe. Ministerpräsident Ali Larayedh hat versprochen, drei Wochen später zurückzutreten. Was sich für manche nach einer netten, friedlichen Lösung anhört, kann nichts Gutes bringen – zumindest nicht für die tunesischen Arbeiter*innen. Ein „nationaler Dialog“, der alle politischen und wirtschaftlichen Kräfte der „Nation“ einbezieht, bedeutet die Interessen des Proletariats denen der Bourgeoisie unter zu ordnen. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass es ein gemeinsames Interesse aller Tunesier*innen gäbe und ein nationaler Dialog für alle Verbesserungen beinhalte – wie sollen denn Kapitalist*innen dasselbe wollen wie Arbeiter*innen? Und wie lässt sich die Politik der islamistischen Reaktionären mit der der Säkularen vereinbaren? Leider sind die tunesischen Massenparteien, die die Mehrheit der Arbeiter*innen organisieren, eben keine Kampfinstrumente dieser – die UGTT, der größte Gewerkschaftsdachverband, der eine tragende Rolle inden Verhandlungen spielt, sowie die „Arbeiterpartei“ sind reformistische Kräfte, die im Großen und Ganzen bürgerliche Politik mit sozialem Anstrich betreiben. Im Quartett, das sich um die Ernennung einer „neutralen Person“ zur Durchführung des Fahrplans kümmert, sitzen die UGTT, der Arbeitgeberverband UTICA, die Menschenrechtsliga und die Anwaltskammer. Ein bunter Haufen voller Klasseninteressen. Doch genauso wenig wie das Proletariat Hoffnungen in diesen nationalen Dialog setzen sollte, darf es auch keine Illusionen in die kommenden Wahlen haben – selbst die bürgerliche Demokratie (nach „europäischem Vorbild“), welche das halbkoloniale Land noch nie erleben durfte, ist immer noch eine Herrschaftsform der Bourgeoisie, jener, die die Produktionsmittel in den Händen halten – eine Diktatur also gegen die Lohnabhängigen, gegen Arbeitslose, Jugendliche, Frauen und die arme Landbevölkerung.

Kurzum: Die Krise in Tunesien rührt aus tiefen sozialen Widersprüchen in einem halbkolonialen und kapitalistischen Land her und kann nicht einfach beendet werden, indem sich einfach alle an einen Tisch setzen und mal miteinander reden. Die ursächlichen Probleme der Revolution sind nicht gelöst – Jugendarbeitslosigkeit, Polizeirepression, Armut, Verelendung der Massen, die hohe Inflation usw. Doch darum soll es in dem Dialog gar nicht gehen. Man muss also kein Hellseher sein, um das Ergebnis des „nationalen Dialogs“ vorwegzunehmen: die Interessen der Massen werden sich unter die „nationalen Interessen“ unterordnen, und das sind die Interessen der nationalen Bourgeoisie, der Staatsbürokratie und der imperialistischen Verbündeten. Es stellt sich nur die Frage, warum sich auch die mächtige UGTT in den Versöhnungskurs mit Ennahda einreiht, die eigentlich niemand mehr haben möchte.

Die UGTT-Gewerkschaften haben insgesamt etwa 700.000 Mitglieder – gemessen an der Einwohnerzahl Tunesiens von etwa 10 Mio. und am niedrigen Industrialisierungsniveau eine sehr hohe Zahl. Sie hat eine lange Tradition als politisch kämpfende Gewerkschaftsbewegung – unter der französischen Besatzungsmacht ebenso wie unter dem Regime von Habib Bourgiba von 1956 bis 1987. Gleichzeitig waren aber Führende Gewerkschafter*innen mit dem bürgerlichen Staatsapparat verbunden, und besonders unter Ben Ali wurde die UGTT für die Regierung zum Instrument, um die Arbeiter*innenklasse politisch zu kontrollieren. Das konnte aber nicht verhindern, dass regionale Gewerkschaften gegen diese Kontrolle rebellierten, wie 2008 die Rebellion in Gafsa zeigte. 2011 hat die UGTT erst sehr spät die Proteste gegen Ben Ali unterstützt, als bereits absehbar war, dass er stürzen wird – und hat selbst dann noch die letzten verzweifelten Versuche unterstützt, das Regime mit einer „Übergangsregierung“ von Ben Alis Anhängern zu retten, in der 3 UGTT-Vertreter u.a. als Arbeitsminister vertreten waren.

Die Führer*innen der UGTT vertreten nicht die Interessen der Arbeiter*innenklasse, zu oft hat sie diese in ihrem Kampf verraten und an die Regierung oder die Bourgeoisie verkauft und obwohl sie Massendemonstrationen organisierte, doch nie konsequent den Kampf weitergeführt, sondern schlussendlich nur die Arbeiter*innen demobilisiert und deren unabhängige Organisation verhindert. Auch jetzt arbeitet sie für eine Klassenkollaboration, die das Proletariat ruhig stellen, verstärkte Proteste verhindern und das „Nationalbewusstsein“ stärken soll.

Kampf gegen Islamismus

Auch wenn Ennahda einen großen Teil ihrer Anhänger*innenschaft mittlerweile verloren hat, ist das noch nicht das „Ende des Islamismus“ in Tunesien. Seit dem Sturz Ben Alis hat der islamistische Terror massiv zugenommen. Anschläge auf Gewerkschaften, Frauenorganisationen, sowie Linke und Oppositionelle wurden besonders durch die „Liga zur Verteidigung der Revolution“ zu einer tagtäglichen Bedrohung. Diese, aus den in der Revolution entstandenen Nachbarschaftsmilizen hervorgegangenen, militärischen Einheiten stehen Ennahda nahe und sind für einige reaktionäre Attacken verantwortlich, viele Tunesier*innen sehen in ihnen auch die Verantwortlichen für die Morde an Chokri und Brahmi. Auch liefern sich seit einiger Zeit islamistische Rebellengruppen besonders an den Grenzen zu Algerien und Libyen Scharmützel mit dem Militär, wobei immer wieder Soldaten ums Leben kommen. Vor Kurzem gab es sogar einen Selbstmordanschlag, vermutlich durch einen Anhänger der Ansar Al-Scharia (eine der Al-Qaida nahen Terrororganisation) in dem Urlaubsort Sousse und kurz darauf einen gerade noch verhinderten Anschlag in Monastir vor dem Mausoleum Bourgibas. Der reaktionäre Terror wird immer mehr zu einer Bedrohung für die Zivilbevölkerung, aber besonders auch für fortschrittliche Kräfte. Der tunesische Staat muss hilflos zusehen, wie die Wut über den mangelnden Schutz der Bevölkerung mit jedem Anschlag steigt.

Doch der bürgerliche Staat war noch nie und wird niemals ein geeignetes Mittel darstellen um den Islamismus zu unterdrücken oder gar zu zerschlagen. Die Geschichte Nordafrikas und des Nahen Ostens hat uns gezeigt, dass auch ein noch so „weltliches“ bzw. “westliches“ oder mit dem Imperialismus kooperierendes Regime, das islamistische Organisationen radikal unterdrückte und ihre Führungsmitglieder massenhaft verhaften ließ, es doch nie schaffte ihren Einfluss zu brechen, sondern zum Teil genau das Gegenteil erreichte: den Widerstand gegen das Regime anzuführen oder zumindest ein wichtiges Element dessen zu sein. Gleichzeitig bedeuteten diese Verbote islamistischer Kräfte auch immer Verbote fortschrittlicher Kräfte, vor allem revolutionärer und linker Parteien. Und genauso kann der bürgerliche Staat einen Kampf gegen den Islamismus auf einen Kampf gegen den Kommunismus umlegen und Demonstrationen der Arbeiter*innen und Revolutionär*innen mit derselben Legitimation niederschlagen. Stattdessen müssen es die Betroffenen sein, die am meisten unter dem Terror der Reaktion zu leiden haben –Arbeiter*innen und fortschrittliche Organisationen von Frauen_ und Homosexuellen. Die bürgerlichen Parteien und der Staat können noch so radikale Worte gegen die Reaktion fallen lassen, sie haben weder die Macht noch das wirtschaftliche Interesse die Organisierung der Rechten und Faschist*innen tatsächlich zu zerschlagen. Der reaktionären Ideologie muss auch der Nährboden in der armen Bevölkerung entzogen werden, denn sie sind nicht die Erlöser ihres Elends, ihr Ziel ist es, einen religiösen Staat zu errichten, in dem ihre Moralvorstellungen Gesetz sind und die herrschende Ordnung zu sichern. Die Befreiung der Arbeiter*innen und Unterdrückten kann nur das Werk ihrer selbst sein. Genauso muss der Kampf gegen Islamismus letztendlich ein proletarischer sein – der Sozialismus ist der größte Feind der Reaktion, weil er der bürgerlichen Ideologie, egal ob reaktionär oder liberal, das Wasser abgräbt und die arme Bevölkerung unter einem Banner vereint, unabhängig von Religion, Geschlecht oder Herkunft.

Keine Neuwahlen und kein nationaler Dialog können also die politische Farce in Tunesien beenden. Die bürgerliche Demokratie hat keine Antworten auf die politische und wirtschaftliche Krise. Das Land wird vom Islamismus und der imperialistischen Ausbeutung immer mehr zugrunde gerichtet und die Betroffenen sind die Arbeiter*innen, die immer weiter wachsende Armee der Arbeitslosen, die Jugend, die Frauen, die gegen politische und soziale Unterdrückung und Polizeigewalt kämpfen. Die Bürgerlichen haben lange genug geredet und falsche Versprechungen gemacht, es ist an der Zeit ihnen eine proletarische Partei entgegen zu stellen, die die Interessen der Arbeiter*innen konsequent vertritt – eine Partei, die die fortschrittlichsten Teile der Arbeiter*innenbewegung vereint. Die Revolution die 2011 begonnen hatte muss vollendet werden, sie muss das System tatsächlich radikal verändern und die Herrschaft des Kapitals stürzen.

Dazu bedarf es einer Organisierung der Arbeiter*innen und der Jugend in den Betrieben und Stadtteilen, sowie der armen Landbevölkerung, in Räten – um geeint agieren zu können, um einen Generalstreik zu organisieren und selbst zu entscheiden wie lange gestreikt wird um Forderungen durch zu setzen. Eine auf diese Massenbasis gestützte Regierung muss die dringendsten Probleme der armen Bevölkerung bekämpfen – ein Programm gegen Armut muss umgesetzt werden – Beschäftigung der Arbeitslosen für einen fairen Lohn, Einführung eines Mindestlohns und Enteignung der Großgrundbesitzer*innen und Kapitalist*innen, Besteuerung der Reichen – jede*r in Tunesien muss sich ein gutes Leben leisten können, Schluss mit der Bereicherung einzelner, Schluss mit Hungerlöhnen! Außerdem muss sich eine Regierung um die Versäumnisse der angebrochenen Revolution von 2011 kümmern: Schluss mit Polizeigewalt und Repression gegen Aktivist*innen und Arbeiter*innen – die Polizei und das Militär des alten Regimes müssen zerschlagen werden und durch demokratische Milizen der Arbeiter*innen und armen Massen ersetzt werden. Nur diese können auch die islamistischen Banden tatsächlich zerschlagen, die genauso konterrevolutionär und antiproletarisch sind! Die Generäle und Folterknechte in den Gefängnissen sowie alle Hintermänner und die islamistischen Terrorist*innen, die Mörder Belaids und Brahmis, die korrupten Richter sollen mit ihren Verbrechen nicht davon kommen, sie müssen vor ein von den Massen gewähltes Tribunal gestellt und demokratisch verurteilt werden! Verstaatlichung aller Unternehmen unter Arbeiter*innenkontrolle, egal ob tunesisch oder US-amerikanisch oder europäisch. Die Fabriken denen, die darin arbeiten und das Land denen, die es bewirtschaften.

Ein Artikel von Ilona Szemethy, REVOLUTION Wien