Gewalt gegen Frauen in Bolsonaros Brasilien

Raquel Silva, Liga
Socialista/Brasilien
, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9,
März 2021

Der erste Jahrestag der Covid-19-Pandemie verging in Brasilien
ohne jegliche Feierlichkeiten. Tatsächlich gibt es in der aktuellen
Situation nichts zu feiern. Wie Studien ergeben, hat die soziale
Isolation, in der wir seit März 2020 leben, zu einem Anstieg der
Vorfälle an häuslicher Gewalt und Femiziden geführt. Im Oktober
2020 zeigten Erhebungen, dass in Brasilien zwischen März und August
497 Frauen getötet wurden. Das bedeutet, dass alle neun Stunden eine
Frau ermordet wurde. Die Bundesstaaten mit den höchsten Gewalt- und
Mordraten sind São Paulo, Minas Gerais und Bahia. Die von sieben
Journalistenteams durchgeführten Erhebungen weisen auf einen Anstieg
der Zahlen während der Pandemie hin. Sie verdeutlichen auch, dass
die niedrigen Zahlen gewaltbezogener Vorfälle in einigen
Bundesstaaten tatsächlich auf ihre Untererfassung zurückzuführen
sind. Die Daten zeigen, dass die Mehrheit der Opfer schwarze und arme
Frauen sind. In Minas Gerais zum Beispiel sind 61 % der Opfer
schwarze Frauen.

Indigene Frauen

Seit dem Putsch gegen Dilma Rousseff von der Partido dos
Trabalhadores (PT; Partei der Arbeiter_Innen) hat die Intensität der
Angriffe auf indigene Bevölkerungsgruppen stark zugenommen. Mit der
Zerstörung von Hilfs- und Unterstützungseinrichtungen für indigene
Völker wie Fundação Nacional do Índio (FUNAI; wörtlich:
Nationale Stiftung des Indios) sind die Dörfer nun noch
verwundbarer. Indigene Gemeinden werden auch durch illegalen Bergbau,
Brände und Agrobusiness angegriffen. Zudem hat die Gewalt gegen ihre
Vertreter_Innen zugenommen. Mehrere ihrer Sprecher_Innen wurden in
den letzten Jahren getötet.

Daten über die Situation indigener Frauen fehlen generell. Einige
Berichte deuten jedoch darauf hin, dass sich ihre Situation
verschlechtert hat, da häusliche Gewalt und Vergewaltigungen in den
Dörfern während der Pandemie zugenommen haben. Illegaler Bergbau
führt zu einer Situation der Verwundbarkeit und Gewalt in den
indigenen Gemeinden. Wie eine/r der Anführer_Innen berichtet, führt
die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten und ihre/seine Kinder zu
ernähren, oft dazu, dass indigene Frauen der gleichen oder sogar
noch härteren Gewalt ausgesetzt sind als nicht-indigene Frauen der
Arbeiter_Innenklasse. Sie alle leiden unter einem Mangel an
finanzieller und anderer Unabhängigkeit, was sie anfälliger für
Verbrechen wie häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung und in den
schlimmsten Fällen Femizid macht.

Zurücknahme von Errungenschaften

Wir sind uns bewusst, dass nicht erst die Regierung Bolsonaro
Gewalt gegen Frauen hervorgebracht hat. Der Kampf gegen Gewalt gegen
Frauen reicht Jahrzehnte zurück. Obwohl die Errungenschaften der
letzten 30 Jahre seit der Verfassung von 1988 unzureichend waren,
bedeuteten sie einen Schritt in die richtige Richtung, ebenso wie
alle anderen Fortschritte, die durch den Kampf sozialer Bewegungen
erreicht wurden.

Nach dem Putsch haben jedoch reaktionäre Sektoren, die mit der
Rechten und rechtsextremen evangelikalen Gruppen verbunden sind, die
die so genannte „Bibelbank“ (in den Parlamentskammern) bilden,
versucht, den Frauen ihre Rechte und Errungenschaften zu nehmen,
indem sie der großen Mehrheit der Frauen der Arbeiter_Innenklasse
ein reaktionäres und gewalttätiges Programm aufzwingen wollen. Dies
geht einher mit der kapitalistischen neoliberalen Agenda der Angriffe
auf die Rechte von Arbeiter_Innen. Zusätzlich zu Gesetzesänderungen,
die den Arbeiter_Innen verschiedene Rechte und Garantien entzogen
haben, ist der Angriff auf Frauen noch heftiger. Das liegt daran,
dass Frauen, ohnehin der Doppelbelastung von Lohn- und Hausarbeit
ausgesetzt, in der Arbeitswelt um ein Vielfaches mehr unter noch
niedrigeren Löhnen und verlängerten Arbeitszeiten leiden. Die
Rentenreform hat die Frauen der Arbeiter_Innenklasse noch stärker
getroffen, da sie nun mit einer Erhöhung der notwendigen
Lebensarbeitszeit konfrontiert sind, um länger in die Rentenkassen
einzuzahlen, wodurch der Rentenanspruch noch schwieriger zu erreichen
sein wird.

Die Regierung Bolsonaro hat bereits in ihrem ersten Amtsjahr 2019
die Mittel zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen drastisch gekürzt.
Sie schaffte das Sekretariat für Frauenpolitik ab und schuf
stattdessen das Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte
(das die LGBTQ+-Agenda ausschloss). Ein Ministerium, dessen
ideologische Agenda darin besteht, „Moral und gutes Benehmen“ zu
bewahren, hat sogar die begrenzten verfassungsmäßigen Rechte und
Garantien angegriffen wie z. B. den Zugang zur assistierten
Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung, Lebensgefahr für die
Mutter oder Anenzephalie (schwere Missbildung des embryonalen bzw.
fötalen Gehirns).

Der reaktionäre Charakter der gegenwärtigen Regierung und derer,
die sie unterstützen, wurde vor allem durch die skandalöse
Behandlung eines 10-jährigen vergewaltigten Kindes im Juli 2020
entlarvt. Das Recht auf Abtreibung dieses Vergewaltigungsopfers wurde
in Frage gestellt, sein Name veröffentlicht und es erlitt ein
schweres psychologisches Trauma, da Extremist_Innen versuchten, eine
Abtreibung zu verhindern. Ministerin Damares Alves vom Ministerium
für Frauen, Familien und Menschenrechte, eine evangelikale Pastorin,
erließ zwei Gesetze, die den Zugang zur assistierten Abtreibung
erschweren und peinliche und restriktive Maßnahmen für weibliche
Vergewaltigungsopfer schufen.

Ele Nao! Nicht er!

Unter den Bedingungen der Pandemie 2020 wurden viele der Angriffe
der Regierung Bolsonaro auf Frauen und die LGBTQ+-Community massiv
spürbar, da die Mobilisierung schwieriger wurde. Doch schon während
des Präsidentschaftswahlkampfes 2018 ist klar geworden, dass uns im
Falle eines Sieges von Bolsonaro schwere Rückschläge bevorstehen
würden. Seine Aussagen als Parlamentarier zeigten bereits, dass die
Angriffe auf Frauen, Schwule, Schwarze und Indigene hart ausfallen
würden.

Bolsonaro widmete seine Stimmabgabe für Dilmas Amtsenthebung dem
Oberst Brilhante Ustra, der während der Militärdiktatur für die
Folterung inhaftierter linker, militanter Frauen verantwortlich war.
Dilma war eine von ihnen gewesen. Bolsonaro griff auch eine
PT-Abgeordnete in der Abgeordnetenkammer an und rief: ,,Ich würde
sie nicht vergewaltigen, weil sie es nicht verdient hat.“ In einer
anderen Kampagne machte er deutlich, dass er die Quilombola-Schwarzen
angreifen würde, womit er sich auf die Dörfer der Schwarzen bezog,
die aus der Sklaverei geflohen sind, um ein selbstbestimmtes Leben zu
führen. Ihr Kampf wird im rassistischen Narrativ mit Chaos
gleichgesetzt. Er drohte auch damit, die Linke und die sozialen
Bewegungen anzugreifen.

Im Angesicht dieser Drohungen wurde die Bewegung „Ele Nao!“
(Nicht er!) in den sozialen Medien populär, die eine beeindruckende
Demonstration gegen die Wahl Bolsonaros organisieren konnte. In einem
erbitterten Kampf gewann Bolsonaro die Wahl. Es war eine Wahl, die
von einer Politik des Hasses gegen die PT, dem Verbot der Kandidatur
Lulas und vielen Enthaltungen geprägt war.

In der neuen Regierung gingen Sparmaßnahmen gegen die
Arbeiter_Innen Hand in Hand mit der Weiterführung der konservativen
Agenda der rechtsextremen Evangelikalen. Die Frauenbewegung hat in
verschiedenen Kollektiven, die sich im ganzen Land ausbreiten,
versucht, diese Angriffe zu stoppen. Aber die aktuelle Situation
führte dazu, dass die Pandemie eine entmutigende Wirkung auf die
Bewegungen ausübte. Die soziale Isolation hat viele
Straßenbewegungen gelähmt. Viele Kollektive agieren virtuell,
andere gehen in extremen Fällen auf die Straße (wie im Fall des
vergewaltigten Mädchens, als Rechtsextremist_Innen versuchten, eine
Abtreibung zu verhindern und das Frauenkollektiv das Recht des
Mädchens wahrte, indem es die Extremist_Innen von der Krankenhaustür
vertrieb).

Die Linke und soziale Bewegungen

Generell finden Aktionen gegen die Angriffe der Regierung
Bolsonaro seit letztem Jahr über soziale Medien statt. Die soziale
Isolation schafft eine sehr starke Barriere gegen Aktionen. Die Angst
vor Ansteckung, aber auch die, als „Corona-Leugner_In“ wie
Bolsonaro zu erscheinen, hindert Bewegungen daran, außerhalb des
Internets zu agieren.

Bei den landesweiten Kommunalwahlen 2020 (in Brasilien finden sie
alle am selben Tag statt), bei denen Tausende von Stadträt_Innen und
Bürgermeister_Innen gewählt wurden, konzentrierte sich die Linke
oft auf Kandidaturen, die die Unterdrückten repräsentieren –
Frauen, Schwarze und Trans-Personen.

Die Webseite der Deutschen Welle Brasilien bewertet die Vielfalt
in Bezug auf Geschlecht, sexuelle und ethnische Identität bei den
Wahlen 2020 als Fortschritt. Der Anstieg der Kandidaturen von
Unterdrückten war höher als 2016. Von den 503 Trans-Kandidat_Innen
wurden 82 gewählt. In Hauptstädten wie Belo Horizonte (Minas
Gerais) und Aracaju (Sergipe) erhielten Trans-Kandidat_Innen die
meisten Stimmen. Die Zahl der Frauen im Allgemeinen sowie die Zahl
der schwarzen Frauen, die in gesetzgebende Ämter gewählt wurden,
hat ebenfalls zugenommen. In 18 Städten gibt es 16 % weibliche
Abgeordnete. Parteien wie Partido Socialismo e Liberdade (PSOL;
Partei für Sozialismus und Freiheit) und PT stellten die größte
Anzahl von Kandidat_Innen aus den sozial unterdrückten Schichten
auf, aber auch die konservativen und liberalen Mainstream-Parteien
erhöhen die Anzahl der Kandidaturen von Frauen und rassistisch
Unterdrückten. Kommentator_Innen führen diese Veränderung auf eine
Reaktion gegen die Wahl Bolsonaros und seine rechtsextreme Plattform
zurück. Sie sehen darin einen Versuch der Reorganisation von Teilen
der Linken, indem Kandidat_Innen der sozialen Bewegungen aufgewertet
werden. Darüber hinaus wird vielen Kandidat_Innen zugesprochen, dass
sie über die LGBTQ+- und Frauenagenda hinausgehen und sich auf
Fragen des Wohnungsbaus, der Bildung und Gesundheit der
Arbeiter_Innen zubewegen.

Verstärkte Polarisierung

Analyst_Innen weisen aber auch darauf hin, dass rechtsextreme
Kandidaturen zugenommen haben und es in den gesetzgebenden Kammern zu
vielen Auseinandersetzungen kommen wird.

Die Situation hat sich während der Pandemie für verschiedene
Schichten verschlechtert. Die Versäumnisse, vor allem nach der Krise
in Manaus (Amazonas), als Patient_Innen wegen Sauerstoffmangels zu
sterben begannen, sowie das Ende der Katastrophenhilfe, ein Anstieg
der Arbeitslosigkeit (allein die Schließung von Ford Brasilien
führte zum Verlust von 55.000 direkten und indirekten
Arbeitsplätzen), Korruptionsskandale und die Veruntreuung von
Geldern aus der Covid-Hilfe, beginnen die Regierung Bolsonaro immer
mehr zu zermürben. Angriffe auf die Presse haben Unzufriedenheit
erzeugt, sogar bei Teilen, die die PT angegriffen und Bolsonaro zum
Wahlsieg verholfen haben.

Viele harte Kämpfe liegen noch vor uns. Ohne Impfstoffe werden
die Kämpfe jeden Tag härter, besonders jetzt, wo wir mit einer sehr
starken zweiten Welle der Pandemie und der neuen Variante des Virus
konfrontiert sind. Die PT und PSOL, linke Parteien mit
parlamentarischer Vertretung, agieren zaghaft im Aufruf zu Protesten
auf der Straße, während sie sich darauf konzentrieren,
Unterstützung für „moderate“ Parteien im Rennen um die
Präsidentschaft des Bundeskongresses zu sammeln (obwohl diese
Parteien Teil des Putsches gegen die Linke waren!).

Gleichzeitig können wir aber auch Anzeichen für ein mögliches
Wiederaufleben von Massenmobilisierungen sehen. Die 8M
(Weltfrauenstreik) und Kollektive, die Teil des „World March of
Women“ (Weltfrauenmarsch) sind, nehmen an den aktuellen
Mobilisierungen gegen Bolsonaro teil, die in den „Carreatas“
(Autokorsos) der Gewerkschaften ihren Mittelpunkt haben. Dies sind
wichtige Schritte für die Frauenbewegung, sich mit den
Mobilisierungen und Kämpfen der Arbeiter_Innen zu verbinden.

Nieder mit Bolsonaro!

In diesem Zusammenhang sehen wir die Notwendigkeit, den Kampf mit
dem Aufbau einer Einheitsfront gegen die Regierung Bolsonaro, den
rechten Flügel und die Angriffe der Bosse voranzutreiben. Die
Bewegung müsste für drastische Maßnahmen zur Bekämpfung der
Pandemie und gegen die Versuche der Bosse, die Arbeiter_Innen für
die Krise zahlen zu lassen, kämpfen. Aber eine solche Einheit wird
nur erreicht werden, wenn der Kampf für die Rechte der Frauen, gegen
Gewalt im Haus und in der Öffentlichkeit und gegen Femizide ein
zentraler Teil dieser Auseinandersetzung wird, der die Frauen der
Arbeiter_Innenklasse an die Spitze der Frauenbewegung sowie des
breiteren Kampfes der Arbeiter_Innenbewegung gegen den
brasilianischen Kapitalismus bringt.

Versuche, eine Einheitsfront aufzubauen, sind bereits im Gange mit
der Autokorso-Kampagne, die Impfstoffe für alle und die
Amtsenthebung Bolsonaros fordert. Aber Autokorsos allein können
diese Ziele nicht erreichen. Wir müssen mehr Autokorsos und
Straßendemonstrationen organisieren, mit dem klaren Ziel, einen
Generalstreik auszurufen, der ein Ende der Regierung Bolsonaro
fordert.

Trotz der Untätigkeit der Führung der linken Parteien darf die
Einheitsfront niemals vor echten militanten Aktionen gegen die
Regierung zurückschrecken und muss die bewusstesten und
kämpferischsten Schichten der sozial Unterdrückten zusammen mit den
militanten Teilen der Gewerkschaftsbasis und der Linken einbeziehen.

  • Für einen Generalstreik!
  • Nieder mit Bolsonaro!
  • Für eine Regierung der Arbeiter_Innen und Bauern/Bäuerinnen!



Brasilien: Tage des Feuers

übernommen von der Gruppe ArbeiterInnenmacht, ein Artikel von: Markus Lehner, Neue Internationale 240, September 2019

Seit Beginn der Trockenzeit in der Amazonasregion ist dieses Jahr dort ein wahres Inferno an Waldbränden ausgebrochen. Allein im August handelt es sich jede Woche um Tausende. Diese sind zwar sehr unterschiedlich in der Größe, summieren sich aber zu einem Katastrophenzustand, von dem inzwischen die vier brasilianischen Bundesstaaten Rondônia, Pará, Mato Grosso und Amazonas betroffen sind. Aufnahmen von Satelliten zeigen, dass pro Minute Regenwald in der Größe von etwa 1,5 Fußballfeldern abbrennt.

Verbrecherische Politik

Die Mitschuld der verbrecherischen Bolsonaro-Regierung an diesem ökologischen Desaster mit globalen Auswirkungen ist unbestreitbar. Agro-Business und extraktive Industrien (wie der Bergbaukonzern Vale) haben für ihre globalen Geschäfte ein starkes Interesse an der rücksichtslosen Ausbeutung der Amazonasregion. Durch die Vorgängerregierungen und internationalen Druck war das enorme Entwaldungstempo seit 2004 von jährlich über 20.000 Quadratkilometer auf unter 10.000 zurückgegangen. Offensichtlich ist es die „Entwicklungsstrategie“ der Bolsonaro-Regierung, im Interesse ihrer wesentlichsten GeldgeberInnen diese „Zurückhaltung“ wieder vollständig aufzugeben. Die „Umweltbedenken“ wurden als Behinderung der wirtschaftlichen Interessen Brasiliens verunglimpft, internationale Kritik als „Neokolonialismus“ abgetan und jede nur erdenkliche Hetze gegen UmweltaktivistInnen, Landlosenbewegung und indigene AmazonasbewohnerInnen vom Zaun gebrochen.

Gleich zu Beginn der Präsidentschaft von Bolsonaro wurden IBAMA (Brasilianisches Institut für Umwelt und erneuerbare natürliche Ressourcen; Umweltbundesamt Brasiliens) „gesäubert“, 21 der 27 Regionaldirektoren abgesetzt und ihre Mittel drastisch gekürzt. Mit Tereza Cristina, der Landwirtschaftsministerin, bekam eine direkte Lobbyistin des Agrobusiness die Verantwortung für die Amazonasregion übertragen. Der „Umweltminister“ Ricardo Salles erklärte, dass es die oberste Pflicht seines Ministeriums ist, die „Rechte der LandbesitzerInnen zu schützen“. Daher werden nicht nur die Aktionen gegen illegale Landbesetzungen jetzt rechtzeitig angekündigt, es gibt auch die niedrigsten Strafen für illegale Brandrodungen seit Jahrzehnten. Die 980 Millionen Dollar, die die EU für die Wiederaufforstung im Amazonas zur Verfügung gestellt hat, werden von Salles zur „Entschädigung“ von Agrounternehmen verwendet (die die jetzt freigegebenen Gebiete sich zumeist illegal angeeignet hatten). Schließlich brachte Flávio Bolsonaro, der Sohn des Präsidenten, der selbst Senator ist, ein Gesetz ein, das die Verpflichtung zum Schutz bestimmter Pflanzenarten, die LandbesitzerInnen bisher einhalten mussten, lockert.

Was auch immer die Regierung bisher an Maßnahmen gesetzt hat: klar ist, dass sich LandbesitzerInnen, Konzerne und ihr gesellschaftliches Umfeld in der Amazonasregion durch Bolsonaro ermutigt fühlten, alle Schranken fallen zu lassen. Seit dem Amtsantritt von Bolsonaro im Januar wurden bis Juni 79.000 neue Brände gezählt, ein Anstieg um 82 % gegenüber dem Vorjahr. Die kriminelle Energie der LandeigentümerInnen wird am Beispiel des Überfalls auf das indigene Volk der Wajapi im Bundesstaat Amapá deutlich: Am 24. Juni drangen Bewaffnete eines Bergbaukonzerns für Rodungsarbeiten in das als „geschützt“ ausgezeichnete Gebiet ein, vertrieben die EinwohnerInnen und töteten dabei mehrere Menschen, darunter deren Sprecher Emyra: ein Mord, der unter den Indigenen-AktivistInnen großes Entsetzen verbreitete. Dies ist Ausdruck des Charakters der Bolsonaro-Bewegung: von GroßgrundbesitzerInnen unterstützt, gibt es in den ländlichen Regionen Mittelschichten und HandlangerInnen, die sich rassistisch aufgeladen mit mörderischer Energie auf die Hindernisse für das „echte Brasilianertum“ stürzen: Indigene, landlose LandarbeiterInnen und KleinbäuerInnen (meist durch die MST vertreten), UmweltaktivistInnen und Linke: eine mit Bolsonaro verbundene Bewegung, die durchaus Ähnlichkeiten mit den italienischen FaschistInnen der 1920er Jahre im Klassenkampf um die Latifundien der Po-Ebene hat. Daher sind die Waldbrände nicht nur ein ökologisches Desaster, sie sind auch Teil einer gewalttätigen Bewegung gegen alle, die Interesse an einem nachhaltigen Umgang mit dem Regenwald haben. So stellt es auch die Erklärung der MST (die von Bolsonaro als „Terrororganisation“ bezeichnet wird) zu den jüngsten Bränden fest: Die Abschaffung der bisherigen (schwachen) Schutzbestimmungen im Amazonasgebiet ist das eine, aber „zur selben Zeit wächst die Verfolgung und Kriminalisierung der Teile der Bevölkerung, die traditionellerweise die Biome Brasiliens erhalten: die einfache Landbevölkerung und die Indigenen“ (Queimar a Amazonia e crime contra humanidade, MST, 23.8.). [Biom: Großlebensraum der Erde; Makro-Ökosystem]

So ist es auch kein Wunder, dass kürzlich bekannt wurde, dass über einen Whatsapp-Verteiler der bolsonaristischen LandeigentümerInnen für den 10. August zu einem „Tag des Feuers“ aufgerufen wurde entlang der Bundesstraße 163, die die jetzt besonders betroffenen Regionen Mato Grosso und Pará (beim Rio Tapajós) verbindet. Nachdem diese Whatsappgruppe von 70 LandeignerInnen durch die Zeitschrift Globorural geleakt worden war, konnte das lächerliche Ablenkungsmanöver von Bolsonaro, dem zufolge die Umweltorganisationen die Brände selber legen würden, um ihm zu schaden, nicht mehr aufrechterhalten werden. Inzwischen muss selbst der Bolsonaro zutiefst ergebene Justizminister Moro gegen die tatsächlichen BrandstifterInnen ermitteln lassen (Globorural, Grupo usou whatsapp para convocar „dia do fogo“ no Para; 25.8.).

Entwicklung der letzten Jahre

Natürlich sind Waldbrände am Rand des Amazonasgebiets und in der angrenzenden Savannenlandschaft (Cerrado) speziell in der Trockenzeit nichts Ungewöhnliches, haben sich jedoch durch bestimmte Umstände in den letzten Jahren periodisch verstärkt. Zu beachten ist, dass normalerweise selbst in der „Trockenzeit“ im Amazonasgebiet durchschnittlich mehr Regen fällt als in unseren Breiten in den regenreichsten Monaten. Das Gebiet lebt einerseits vom Abregnen der feuchten Luftmassen der äquatorialen Nord-/Südostpassatwinde, die sich in der zweiten Jahreshälfte entsprechend abschwächen. Andererseits erzeugt der Regenwald selbst ein Mikroklima, das auch in der Trockenzeit noch für ausreichend Regen sorgt. In den Millionen-Jahren, in denen sich der Regenwald gebildet hat, haben speziell die Regenwaldbäume aufgrund der nährstoffarmen Böden die Fähigkeit zu enormem Wasserumsatz entwickelt. Zur Aufnahme von Kohlendioxid und Abgabe von Wärme über Wasserdampf haben sie ein Kreislauf-, Wurzel- und Porensystem entwickelt, das sie pro Tag 1000 Liter aus Bodenwasser umsetzen und in die Atmosphäre abgeben lässt (die Bäume unserer Breitengrade schaffen durchschnittlich um die 400 Liter). Dies senkt die Temperatur im Waldgebiet (durch die über das Wasser dem Boden entnommene Wärmeenergie), bewässert große Gebiete und sorgt durch die Sonnenabstrahlung der großen Wolkenbänke (Albedo-Effekt) für einen zusätzlichen Klimaschutz.

Die schon bisher betriebene Abholzung hat messbare langfristige Auswirkungen auf das regionale und globale Klima. Seit 1970 wurden 800.000 Quadratkilometer (von ursprünglich 4 Millionen) abgeholzt, mit einem gemessenen Effekt von 0,6 Grad Erwärmung im Amazonasbecken. Die abgeholzten Gebiete sind noch mal im Durchschnitt um 4,3 Grad wärmer, was bei landwirtschaftlicher Nutzung wiederum gesteigert wird (ohne die Wirkungsweise der Waldflora kann nur ein Bruchteil des Regenwassers im Boden gehalten werden, der Großteil fließt ab). Die nährstoffarmen so gewonnenen Böden sind nach 4–5 Jahren zumeist unbrauchbar. Viele werden aufgegeben und versteppen (was den Hunger nach immer neuen Abholzungen erklärt). Diese immer größeren Schneisen des Cerrado in den Regenwald untergraben das Mikroklima in immer mehr Bereichen des Waldes – und ab einer bestimmten Gesamttemperatur (beim heutigen Tempo wird die Erwärmung bis 2050 seit 1970 um 1,5 Grad gestiegen sein) funktioniert die „Wasserpumpe“ Baum in diesen Bereichen nicht mehr. Dann werden selbst Regenwaldbäume zu leichter Beute von Funkenflügen und Wind. Nach unterschiedlichen Modellen wird daher inzwischen von bestimmten „Kipppunkten“ des Waldsterbens im Amazonasbecken gesprochen. Seit langem wird davon gesprochen, dass mit 40 % Verlust (relativ zur Größe 1970) ein Punkt erreicht wäre, wo die Selbstregeneration und der Mikroklimaschutz zusammenbrechen und der Wald als Ganzes bedroht ist (also der Region die Versteppung drohen könnte). Inzwischen werden Modelle mit 20–25 % diskutiert, die schon nahe an den heute erreichten 17 % Waldvernichtung sind (https://advances.sciencemag.org/content/4/2/eaat2340).

Die Auswirkungen der Erreichung dieses Kipppunktes wären nicht nur für das regionale Klima, und damit für die natürlichen Grundlagen der Landwirtschaft in Südamerika, verheerend. Das Amazonasbecken enthält 40 % des Weltbestandes an Regenwäldern und 10–15 % der globalen Biodiversität. Vor allem aber ist der Regenwald auch eine riesige Kohlenstoffsenke: In der Biomasse der Regenwälder steckt so viel Kohlenstoff, wie die Menschheit derzeit in 10 Jahren verbrennt. In „normalen“ Jahren (ohne extreme Dürreereignisse) nimmt der Amazonasregenwald etwa 1,5 Milliarden Tonnen Kohlendioxid aus der Atmosphäre auf und wirkt damit der Erderwärmung durch Treibhausgase entgegen. In den letzten Dürrejahren mit großen Brandereignissen, die seit den 2000er-Jahren im 5-Jahresrhythmus stattfanden (das letzte war 2015), kehrte sich dies um. Dann bewirkt die Verbrennung der Kohlenstoffreservoirs des Waldes, dass in so einem Jahr mehr Treibhausgase entstehen, als zur selben Zeit von China und den USA zusammen hervorgebracht werden. Dabei sind diese Dürreereignisse selbst ein Produkt des Klimawandels. Es lässt sich ein Zusammenhang mit den El-Ninjo-Phänomenen nachweisen (die Erwärmung im Ostpazifik führt zu einer Umkehr der Konvektionsströme über Südamerika, was zu einer Abschwächung der für den Regenwald lebenswichtigen Passatwinde führt). Entscheidend ist derzeit aber, dass in diesem Jahr dieses Wetterphänomen noch nicht sein Maximum erreicht hat – dieses ist erst im nächsten Jahr wahrscheinlich (die Auswirkungen können wir uns heute noch gar nicht vorstellen!). Gerade dies zeigt deutlich, wie sehr menschengemacht das derzeitige Ausmaß der Brandkatastrophe ist. Sollten die Vorhersagen für die nächsten beiden Jahre stimmen und die brasilianische Politik sich nicht grundlegend ändern, so wären die Auswirkungen auf den Regenwald und das Weltklima beängstigend!

Reaktionen

Sehr zum Unmut von Bolsonaro ließ sich die Katastrophe in Amazonien vor der Weltpresse und globalen Umweltverbänden nicht verbergen – auch die Entlassung des Direktors der Satellitenüberwachung half nichts mehr, nachdem die NASA diesem „Nestbeschmutzer“ auch noch in allen Punkten recht gegeben hatte. Bolsonaros Politik steht jetzt weltweit am Pranger – und dies ist angesichts der großen Exportpläne speziell des Agrobusiness keine gute Publicity. Hatte man sich doch gerade durch das Mercosur/EU-Abkommen riesige Geschäfte mit Fleisch und Tierfutter nach den zu erwartenden Zollsenkungen versprochen. Sicherlich hat besonders der französische Präsident sein Herz für den Amazonas speziell auch aufgrund der Bedenken seiner heimischen Agrarlobby entdeckt. Klar ist jedoch, dass jetzt auch die brasilianische Agroindustrie „Maßnahmen“ fordert und erkennt, dass Bolsonaro ihrem Geschäft gerade schadet. In vielen Punkten muss jetzt zurückgerudert werden. Der Einsatz der brasilianischen Armee zur Brandbekämpfung muss jedoch auch als Element des inneren Klassenkampfes verstanden werden.

Die Armee wirkt dort nicht nur als erweiterte Feuerwehr, sondern als Unterstützung im Kampf gegen die dortigen „TerroristInnen“ (UmweltschützerInnen, Indigene, Landlose,…). Ebenso werden die „Hilfsaktionen“ aus Europa und den USA, besonders die zur „Wiederaufforstung“, sicher wieder als „Entschädigung“ zum Verzicht auf weitere Brandrodungen eingesetzt werden. Aus Deutschland und Co. sind diese PR-Aktionen vor allem als Instrumente zu verstehen, das Mercosur-Abkommen in jedem Fall zu retten.

Trotz der großen Bekenntnisse zum Klimaschutz und der Ermahnungen an den „bösen“ Bolsonaro wollen deutsche Industrie und Politik ihr großes Brasiliengeschäft („ein unheimlich interessanter Zukunftsmarkt“ nach einem Anlagefondsmanager, der der deutschen Bank nahesteht) nicht durch „so etwas Nebensächliches“ in Frage stellen lassen. Hatten doch wichtige VertreterInnen der deutschen Konzerne (von Daimler, VW, Bayer bis zur Deutschen Bank) ihre unverhohlene Unterstützung für Bolsonaro schon vor dessen Wahl zum Ausdruck gebracht. Auch gegenseitige Besuche von WirtschaftsvertreterInnen nach der Wahl zeigen deutlich, dass man gegenseitig große Geschäfte und Investitionen erwartet. Dazu passt dann auch, dass der SPD-Außenminister bei seinem Besuch in Brasilien vor allem von Bolsonaros Bereitschaft zur Zusammenarbeit gegenüber Venezuela sprach – aber kaum die semi-faschistische Politik dieses Gangsters noch die sich abzeichnende Amazonas-Katastrophe erwähnte. Da wurde selbst der CSU-Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Müller deutlicher, als er den ökologisch bedenklichen Anstieg von billigem Soja-Futtermehl aus den Amazonas-Brandregionen anprangerte.

Ablenkungsmanöver

Natürlich werden jetzt wieder vor allem „die VerbraucherInnen“ in die Verantwortung genommen, die durch ihren Fleischkonsum und Kauf billiger Agrarimporte die VerursacherInnen des Ganzen seien. Abgesehen wird davon, dass die Preise auf den internationalen Agrarmärkten nur zum Teil von den ErzeugerInnen bestimmt werden, sondern durch eine Kette von MitprofiteurInnen von Lebensmittelkonzernen, Handelsketten bis zu Warenterminbörsen. Verkannt wird auch die globale Dimension der beteiligten Märkte: der Handelskrieg zwischen den USA und China führt gerade jetzt zu einem enormen Anstieg der Nachfrage nach Soja und Fleisch aus Brasilien für China. „Verhaltensänderungen“ einiger tausend MarktteilnehmerInnen aus europäischen Mittelklassefamilien werden angesichts dieser Struktur der globalen Agrar- und Rohstoffmärkte nichts bewirken – schon gar nicht angesichts der Schnelligkeit, mit der auf die dramatische Situation des Regenwaldes reagiert werden muss. Es ist eine billige Masche der eigentlichen VerursacherInnen, die Verantwortung auf „die VerbraucherInnen“ abzuschieben, die dann auch noch durch das Green-Washing von Produkten mittels fragwürdiger Ökolabels zur Kasse gebeten werden.

Tatsächlich ist die Klimakatastrophe wie auch die Gefährdung grundlegender Biotope ein klarer Fall von Marktversagen, von der Unmöglichkeit in diesem System, solche Probleme über „den Markt“ (etwa durch Zertifikatehandel, indirekte Steuern oder Produktbewertungen) zu lösen. Denn der Markt ist nur die Vermittlung der eigentlich problematischen Kapitalverwertungsinteressen, die – wie auch das brasilianische Beispiel zeigt – die drohende ökologische Katastrophe wesentlich mit hervorbringen. Daher kann dieser Katastrophe nur entgegengewirkt werden, wenn man radikal die Eigentumsfrage stellt. Die genannten Probleme erfordern einen globalen Plan von Wiederaufforstung bis zur systematischen Umstellung auf klimaneutrale Produktion auch im Agrarsektor.

Perspektive

Natürlich ist auch die Durchsetzung eines solchen globalen Planes angesichts des Zeithorizonts der Probleme und der erwiesenen Langsamkeit globaler Klimapolitik keine Soforthilfe. Daher müssen heute die weltweiten Umweltbewegungen im Zusammenkämpfen mit den sozialen Bewegungen vor Ort die jeweiligen Staaten zu radikalen Maßnahmen zwingen. Im Fall von Brasilien heißt dies: Enteignung der Agro- und Bergbaukonzerne, Agrarreform zur Umverteilung des Großgrundbesitzes an die Bevölkerung auf dem Land und Entwicklung eines Planes zur Wiederaufforstung des Regenwaldes sowie zu seiner ökologischen Bewirtschaftung – alles unter Kontrolle der sozialen und ökologischen Bewegungen, vor allem der LandarbeiterInnen und KleinbäuerInnen. Nein zu den aus Massensteuern finanzierten „Geldfonds“ von G7, EU & Co., die nur wieder in die Kassen der GroßgrundbesitzerInnen fließen werden. Stattdessen sollen die imperialistischen Konzerne Steuern aus ihren Gewinnen für die Regenwaldprojekte unter Kontrolle der armen Landbevölkerung zahlen! Nein zu jeder Unterstützung von Bundesregierung und deutschen Konzernen für das Bolsonaro-Regime – es wird keine Rettung des Regenwaldes ohne den Sturz dieses rechts und marktliberalen Regimes geben! Daher: vor allem Unterstützung für die Bewegung zum Sturz von Bolsonaro, die im Kampf gegen dessen sozialen und gesellschaftlichen Amoklauf schon mehrere Generalstreiks durchgeführt hat! Sofortiger Abbruch der Ratifizierung des Mercosur/EU-Abkommens, das den Interessen der deutschen Konzerne in Brasilien wie auch dem der brasilianischen Agrarkonzerne in die Hände spielt – und nie ein Mittel zur Bewahrung des Amazonasgebietes sein kann (wie uns das die Bundesregierung verkaufen will)!

Alle diese Forderungen müssen von einer ernsthaften Bewegung gegen den Klimawandel, wie es FFF beansprucht zu sein, aufgegriffen werden und anstelle der verfehlten Strategie von Verbraucher-Kritik gestellt werden! Machen wir Amazonastag am 5. September und Klimastreik am 20. September zum Beginn einer globalen Bewegung zur Enteignung des Kapitals, das als Ganzes diesen Planeten zerstört!




Bolsonaro wird Brasiliens neuer Präsident – Ein internationaler Sieg für die Reaktion!

von Jonathan Frühling, REVOLUTION Kassel

Seit gestern Nacht ist klar, was sich in den letzten Wochen abgezeichnet hat. Der ultrarechte Jair Bolsonaro gewann die Stichwahl in der brasilianischen Präsidentschaftswahl. Hinter ihm hatte sich das gesamte bürgerliche Lager gesammelt: Die Polizei, die Bourgeoisie, die Justiz und auch das Militär.

Die Wahl des reformistischen Kandidaten der PT wäre zwar richtig gewesen, um Bolsonaro aufzuhalten, allerdings hat sich die PT, selbst bis 2017 an der Regierung mit neoliberalen Kürzungsprogrammen total diskreditiert. Für Brasilien und die internationale Arbeiter_Innenklasse ist das eine totale Katastrophe. Das Land ist bis heute für seine verschiedenen sozialen Bewegungen bekannt. Dieses Jahr marschierten hunderttausende Frauen für Gleichberechtigung, es gibt eine mächtige Bewegung landloser Landarbeiter_Innen, in den letzten Jahren waren durch die Bildungsbewegung zwischenzeitlich tausende Schulen und über 300 Unis besetzt, die Gewerkschaften sind zwar reformistisch, aber militant und haben letztes Jahr zu einem Generalstreik mit 30 Millionen Menschen mobilisiert!

Für die herrschenden Klasse sind diese Bewegungen ein Hindernis bei der Umsetzung ihrer neoliberalen Ausbeutungspolitik. Bolsonaro machte deshalb von Anfang an klar, welche Politik seine Regierung umsetzen würde. Er versprach offen die existierenden sozialen Bewegungen restlos zu zerschlagen. Dafür will er die Rechte der Polizei erweitern, sich auf das Militär stützen und auch Folter und scharfe Munition einsetzen. Der Staat wird sich zweifelsohne wieder in Richtung einer faschistischen Militärdiktatur entwickeln, wie es sie von 1964-1985 in Brasilien gab, welche von Bolsonaro verehrt wird. Auch steht Bolsonaro für eine us-freundliche Außenpolitik, was innerhalb der momentan stattfindenden Blockbildung ebenfalls von internationaler Relevanz ist.

Was es jetzt braucht ist ein geeinter Widerstand in einer Einheitsfront aller Unterdrückten, um Bolsonaro und die herrschende Klasse, der er dient, aufzuhalten. Das von allen großen (zentristischen) Organisationen betriebene Sektierertum ist dagegen ein Verrat am Proletariat! Auch die Frage der Selbstverteidigung gegen den massiven Anstieg politischer Morde, sowie gegen Angriffe auf Demos oder Räumlichkeiten muss auf die Tagesordnung gesetzt werden. Letztlich müssen wir jedoch selbst zum Angriff übergehen und mit einem Generalstreik die Machtfrage stellen. Für den Sieg brauchen wir aber eine Organisation nach bolschewistischen Vorbild, die die Klasse auch in diesen schweren Zeiten führen und zum Sieg verhelfen kann.

Internationale Solidarität ist dabei sehr wichtig, um die Entschlossenheit und den Glauben an einen Sieg unter den Lohnabhängigen zu steigern. Wir verfolgen den Kampf unserer Klassenschwestern und -brüder mit großer Besorgnis, aber auch mit großer Hoffnung auf einen Sieg.

Ihr seid nicht alleine! Sieg dem Sozialismus! Hoch die internationale Solidarität!




Brasilien – neoliberales Wunderland?

Brasilien gehört heute zu den aufstrebenden Schwellenländern, den sogenannten BRIC-Staaten. Als dieser Begriff 2001 von der Rating-Agentur Goldman Sachs geprägt wurde, machten die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) zusammen 12 % am Welt-BIP aus. Heute liegt dieser Anteil bei satten 25 % – die Rolle dieser Länder in der Weltwirtschaft hat also enorm zugenommen. In welche Richtung die ENtwicklung Brasiliens geht erläutert Rico Rodriguez.

Das trifft auch auf Brasilien zu, das heute vor allem Rohstoffe (Metalle, Erze etc.) und Agrarprodukte (Soja, Fleisch, Kaffee etc.) in die ganze Welt exportiert, aber auch die größte Industrie in Lateinamerika besitzt. Brasilianische Konzerne wie Petrobras (Öl und Gas), Vale (Bergbau) und Embraer (drittgrößter Flugzeughersteller der Welt) und Banken wie Bradesco und Itau spielen vor allem in Lateinamerika, aber auch zunehmend darüber hinaus eine große Rolle.

Auf einem guten Weg?

Im Gegensatz zu China wird Brasilien heute von vielen auch eine positive politische Entwicklung unterstellt. Nach zwei Jahrzehnten Militärdiktatur (1964 – 1985) gilt das Land heute als vorbildliche Demokratie für Südamerika. In den letzten 10 Jahren hatte das Land fast ein konstantes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen, im Schnitt von ca. 5 %. 2010 nach der Finanzkrise konnte sogar ein Rekordwachstum von 7,5 % erreicht werden, was aber 2011 wieder recht harsch auf 4 % zurück fiel.

Die Finanzkrise konnte das Land bisher gut verkraften. Einerseits ist das Land weniger stark vom Export abhängig als andere Schwellenländer (der Export macht 13 % des BIP aus), andererseits hat das brasilianische Kapital auch von den hohen Weltmarkt-Preisen für Rohstoffe profitiert (in scharfem Gegensatz zu vielen Entwicklungsländern). Darüber hinaus haben viele Anleger aus den imperialistischen Ländern nach profitablen Anlegemöglichkeiten gesucht – und da ist gerade Brasilien hoch im Kurs. Als weiterer Grund spielt schließlich der relativ regulierte Bankensektor eine Rolle. Brasilianische Banken hatten ihre Finger relativ wenig bei globalen Finanzspekulationen im Spiel.

So konnte die Regierung auf ein solides Wachstum in den vergangenen 10 Jahren setzen und damit ein Ansteigen an Beschäftigung und des Binnenmarktes bei satten Gewinnen für die brasilianische Bourgeoisie verzeichnen.

Das Wachstumsmodell basiert auf einer stetigen Ausweitung des Konsums und einer Liberalisierung des Arbeitsmarktes und aller anderen Bereiche, also auf einem zügellosen Kapitalismus. Und das hat natürlich auch seine Schattenseiten, doch darauf kommen wir später.

Die PT-Regierung, sozial für die Arbeiter?

Dilma und Lula verstehen sich gut – untereinander und mit der Bourgeoisie

Seit 2001 regiert in Brasilien die Arbeiterpartei „Partido dos Trabalhadores“ (PT) mit einer Koalition aus anderen „linken“ Parteien. Als der Führer der PT Lula da Silva 2001 im vierten Anlauf die Wahlen gewann, war das eine Sensation in Brasilien, die gleichzeitig die Armen jubeln und die Reichen zittern ließ. Kein Wunder, Lula war Gewerkschaftsführer aus Sao Paulo. Die PT wurde 1983 im Zuge massiver Arbeitskämpfe gegründet, die auch einen politischen Charakter gegen die Militärdiktatur annahmen. Lula war Gewerkschafter in Sao Paulo und führte viele der damaligen Streiks an. Deswegen war er enorm beliebt unter den Arbeiter_innen im ganzen Land.

Außerdem war die PT schließlich eine Partei, die den Sozialismus zum Ziel hatte. Doch Lula hatte die Kapitalisten schon vor seiner Wahl beruhigt – die ganz großen Änderungen würden unter seiner Regentschaft nicht zu erwarten sein. Er machte ein Abkommen mit dem IWF, dass die Auslandsschulden weiter bediente und die Auflagen nicht brach. Nach seiner Wahl setzte er gleich Henrique Meirelles von der rechten Partei PSDB und Chef der „Bank Boston“ als Zentralbank-Chef ein. Ein „klares Signal“ an die einheimische und internationale Bourgeoisie.

So führte der „Arbeiterführer“ im Wesentlichen auch den neoliberalen Kurs seines Vorgängers Fernando Henrique Cardoso (FHC) fort. Er musste allerdings nicht mehr so viel privatisieren, das hatte sein Vorgänger schon erledigt. Die großen Versprechen hat er allesamt gebrochen. Er machte keine der Privatisierungen aus den 90ern rückgängig, eine konsequente Landreform wurde nie durchgeführt, die Mindestlöhne verbleiben auf einem niedrigen Niveau, der Raubbau an Mensch und Natur geht ungehindert weiter. Die Renten wurden unter seiner Regierung sogar weiter privatisiert: während FHC „lediglich“ die Renten für die Beschäftigten im privaten Sektor privatisiert hatte, dehnte Lula das auf die öffentlich Beschäftigten aus.

Auch seine Nachfolgerin Dilma, seit Ende 2010 Präsidentin, ebenfalls von der PT, setzt diesen Kurs fort. Gerade hat sie ein Konjunkturpaket für brasilianische Firmen aufgelegt. Insgesamt 26,3 Milliarden Euro werden der brasilianischen Bourgeoisie geschenkt, demgegenüber stehen Kürzungen im Haushalt 2011 von 20 und 2012 von 24 Milliarden Euro. Geld das natürlich vor allem im sozialen Bereich gespart wird. Gleichzeitig wurde ein neues Waldgesetz verabschiedet (Código Florestal), dass es den Agrarmultis erleichtert, weiter Wald für ihre Monokulturen zu roden.

Die Kehrseite der Medaille…

Das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre basiert auf der extrem neoliberalen Politik unter FHC in den 90ern. Damals wurden alle großen Staatsbetriebe privatisiert und der Arbeitsmarkt liberalisiert. So haben prekäre Beschäftigungsverhältnisse überall in Brasilien zugenommen. Jugendliche finden fast nur noch über Leiharbeit eine Anstellung, werden schlecht bezahlt und können jederzeit entlassen werden (das kommt uns irgend woher bekannt vor…).

Die Bewohner_innen des „Pinheirinho“ rüsten sich gegen die Räumung ihres Viertels, das dem Erdboden gleichgemacht werden soll…

Zwar können sich heute viele Arbeiter_innen Handys und Fernseher kaufen. Doch was nützt das, wenn man in ständiger Unsicherheit lebt, das Bildungs- und Gesundheitssystem immer mehr ausgedünnt werden und die Rentenversicherung privatisiert wird? Ein großes Problem in Brasilien ist auch der Verkehr. Immer mehr Leute können sich Autos kaufen, was auch extrem propagiert wird. Ein Auto ist gleichbedeutend mit Entwicklung und Wohlstand. Doch der Verkehr in den Großstädten wird immer schlimmer. Es gibt praktisch keine Stadt- und Verkehrsplanung, und die Straßen sind hoffnungslos überfüllt. Stundenlange Staus stehen für Stadtbewohner_innen an der Tagesordnung. Der öffentliche Nahverkehr wurde natürlich auch privatisiert. Seitdem ist er teuer, wird immer schlechter und

ausgedünnt.

… doch gegen die Militärpolizei, die das Viertel mit massiver Brutalität – Tränengas, Schlagstöcken und Gummigeschossen – räumt, haben sie letztlich keine Chance, vorerst.

So ist auch die Wohnsituation in den Großstädten bei gleichzeitiger Landflucht ein großes Problem in Brasilien. Die Mieten sind unglaublich hoch, heute bereits auf europäischem Niveau. Ein Apartment in Rio de Janeiro für eine Person kostet locker 300 Euro. Ein Lehrer an einer staatlichen Schule verdient dem gegenüber gerade mal 500 Euro! In diesem Zusammenhang wurde Anfang dieses Jahres eine illegale Siedlung in Sao Paulo geräumt. Die Siedlung „Pineirinho“ wurde auf einem verlassenen Gelände errichtet, das einem Kapitalisten gehört. Die Bewohner haben es 2004 aus Wohnungsmangel besetzt und seitdem haben sich dort 6000 Menschen angesiedelt, darunter viele Familien mit Kinder. Der Kapitalist wollte sein Land jetzt wieder haben. Die Siedlung wurde Ende Januar von 2000 Militärpolizisten geräumt, die Bewohner_innen vertrieben – mit Tränengas, Schlagstöcken und Gummigeschossen. Und das ist keineswegs ein Einzelfall, sondern Programm in Brasilien.

Die Fußball-Weltmeisterschaft

Gerade sind die Menschen in Europa wieder im nationalistischen EM-Fieber. 2014 wird die WM in Brasilien stattfinden. Glaubt man der Regierung und der FIFA – ein Segen für das Land. Doch wie immer werden hier knallharte Geschäfte gemacht, die tatsächlichen Gewinner sind große Konzerne. Milliarden werden in Stadien investiert, gleichzeitig weigert sich die PT-Regierung seit Jahren, den Mindestlohn der Lehrer_innen zu heben (siehe dazu auch unseren Artikel zur WM in Südafrika).

Die Wohnungsnot wird durch die WM massiv verschärft. In den Großstädten steigen die Mieten weiter, internationale Investoren wüten auf dem Wohnungsmarkt, die lokale Bevölkerung wird verdrängt. Und der Staat hilft kräftig nach. Unliebsame Siedlungen werden von der Regierung zerstört. In der Nähe der Stadien
liegen oft Favelas. Doch die Regierung will Brasilien der Welt als Land des Fußball und des Samba präsentieren: ärmliche Wohngegenden stören da nur. So wird den Bewohner_innen eine Ersatzwohnung im Randgebiet der Städte angeboten. Wenn sie dem Angebot nicht nachkommen, werden sie geräumt und die Wohnungen zerstört.

Dieses Schicksal erlitt z.B. die Favela „Metro“ in der Nähe des weltberühmten Stadions Maracana in Rio. Heute sind nur noch Reste der Häuser übrig.

Einige Arbeiter_innen der Stadienbaustellen dachten sich, sie wollen mehr von dem Kuchen abhaben. Also streikten sie für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Prompt wurde eine Gesetzesinitiative vorgebracht, die den Arbeiter_innen das Streiken verbieten soll – von einem Senator der PT! Begründung: die Weltmeisterschaft sei nationales Interesse und die Arbeiter_innen würden das zum persönlichen Vorteil ausnutzen. Bei allem Verrat der PT ein Satz, der einem die Sprache verschlägt.

Welche Aufgaben für die revolutionäre Linke?

Die Liste von Schweinereien und Problemen könnte noch weiter fortgesetzt werden. Bei all diesen Dingen wird klar: der Kapitalismus bietet auch für die brasilianische Arbeiterklasse und die Bauernschaft keine Perspektive. Er zerstört die Umwelt in rasantem Ausmaß und beutet die Menschen immer schärfer aus. Dass dabei bei hohem Wirtschaftswachstum ein paar Krümel vom Tisch fallen, darf darüber nicht hinweg täuschen!

Die PT hat mehr als bewiesen, dass von ihnen keine ernsthaften Änderungen zu erwarten sind. Sie sind heute treue Handlanger des Kapitals. Es ist zu erwarten, dass bei sinkendem Wirtschaftswachstum weitere Angriffe auf die Arbeiterklasse unter ihrer Regierung zu erwarten sind. Auch die 2004 gegründete Linkspartei PSOL stellt keine Alternative für die Arbeiterklasse dar. Sie hat zwar ein weit linkeres Programm als die PT, hat es aber nie über den Reformismus hinaus geschafft.

Was in Brasilien notwendig ist, ist der Aufbau einer revolutionären Partei der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der Jugend. Eine Partei, die den Sturz des Kapitalismus auf die Tagesordnung setzt und dafür ein Programm entwickelt. Eine sozialistische Revolution in dem wirtschaftlich starken und politisch bedeutsamen Brasilien würde eine unglaubliche Ausstrahlung auf ganz Lateinamerika haben, allen voran die Länder mit links populistischen Regierungen wie in Venezuela, Bolivien und Ecuador, deren Präsidenten der Bevölkerung seit Jahren „einen neuen Sozialismus“ versprechen.

Dafür muss vor allem eine Einheitsfront-Politik entwickelt werden. Ob wir es wollen oder nicht – die PT hat immer noch die Führung über die Arbeiterklasse inne. Deshalb muss die PT aufgefordert werden, ihre Versprechungen einzuhalten und umzusetzen. In der Praxis müssen die Arbeiter_innen erkennen, dass von dieser Regierung nichts mehr zu erwarten ist.

Gleichzeitig muss jedoch ohne Schonung der Kampf gegen die Angriffe der brasilianischen und internationalen Kapitalist_innen geführt werden – auch dort, wo die PT den Kampf verweigert. Das muss und kann der Ausgangspunkt für den Aufbau einer neuen, revolutionären Partei in Brasilien werden. REVOLUTION unterstützt und begrüßt daher die Gründung der neuen Sektion der „Liga für die fünfte Internationale“ in Brasilien und wird gemeinsam mit ihr für die Interessen der Jugend und der Arbeiterklasse in Brasilien eintreten.

Ein Artikel von Rico Rodriguez, REVOLUTION-Hamburg