Erster Mai in Israel – Ein Land ohne Arbeiterbewegung?
Zu den nationalen Festlichkeiten, die ich während meines einjährigen Aufenthalts in Israel als Freiwilliger erleben durfte zählte, neben dem HaJom Shoa (dem Holokaustgedenktag), dem Memorialday und dem Independenceday, auch der Tag der Arbeit, an dem ich mich anfang diesen Monats beteiligte.
Das Demonstrationsangebot war eher mager und beschränkte sich, ausgenommen einiger unbedeutender Minidemos, auf eine Großdemonstration durch das Zentrum Tel Avivs. Das erste, was meinen Blick kurz nach meiner Ankunft am Startpunkt der Demonstration, dem Kikar Rabin, fesselte, waren die aus dem bunten Haufen aus Arabern, Hippies und FDJ-ähnlich gekleideten Jugendgruppen herausstechenden Nordkoreaflaggen. Nachdem deren Träger anfangs mit lautem Gegröle und wildem Fahnenschwenken nach Aufmerksamkeit zu suchen schienen, waren diese mit dem Start des Demonstrationszuges jedoch vorläufig verschwunden und tauchten erst zur Abschlusskundgebung wieder auf.
Mir wurde später erzählt, dass es sich um die Provokation einer neoliberalen Studentengruppe gehandelt habe. Sich aufstellen durfte dem äußeren Anschein nach also jede Gruppe, in deren Name oder Programm irgendwie die Begriffe Sozialismus, Kommunismus oder Arbeiterklasse fallen.
So machten einen Großteil der Demonstration die Ultras des Fußballclubs Hapoel Tel Aviv (= Arbeiter Tel Avivs) aus, welche den Ursprung ihres Vereins in der israelischen Gewerkschaft Histadrut sehen und unter denen sich den Che Guevara Fahnen zu Folge auch einige versteckte Antiimperialisten zu tummeln scheinen. Gleich dahinter stellte sich die zahlenmäßig gut vertretene Hadaschpartei auf. Die 1977 gegründete jüdisch-arabische Partei bezeichnet sich selbst als kommunistisch und setzt sich für Arbeiterrechte, als auch die Beendigung der Besatzung von Gaza und Westbank, inklusive der Räumung aller jüdischen Siedlungen ein. Daneben war zwischen vielen kleinen schwer zu überblickenden und sich ziemlich ähnlich sehenden kleinen Gruppierungen und nicht organisierten Teilnehmern, noch ein anarcho-synikalistischer Block vorzufinden, dessen Teilnehmer klassisch Schwarz gekleidet und mit rotem Halstuch vermummt waren.
Angeführt und organisiert wurde die 1. Mai-Demo von einer uniformiert marschierenden, trommelnden, singenden, tanzenden Jugendbewegung mit dem Namen Hanoar Haoved Vehalomed, was so viel wie “Nationale Organisation der lernenden und arbeitenden Jugend” bedeutet. Ihr großes Aufgebot und auch die Tatsache, dass sie die einzige Jugendbewegung zu sein schienen interessierten mich, weshalb ich einem Mitglied mit dem Namen Scharon ein paar Fragen stellte. Zuerst wollte ich etwas von ihr über ihre Organisation wissen.
Ihre auf mich teilweise ein wenig konfus wirkenden Antworten lassen sich folgender Massen zusammen fassen: Hanoar Haoved Vehalomed ist eine vor 90 Jahren gegründete zionistisch-sozialistische Jugendbewegung, in welcher man bis zum Eintritt in die Armee Mitglied sein und sich dort sozial aber auch in Diskussionsrunden und Seminaren organisieren könne.
Auf meine Frage hin, was die Ziele seien, für die ihre Bewegung kämpfe, antwortete sie selbstbewusst mit: “Für eine gerechte Gesellschaft! Das Ideal unserer Bewegung ist die Gleichheit.” . Ich fragte sie, wie sie dieses Ideal mit der rassistischen Ideologie des Zionismus in Einklang bringen würde und sie räumte ein, dass das ein Dilemma wäre, in dem sie persönlich stecke. Jedoch beziehe sich der Zionismus ihrer Bewegung nicht auf den rassistischen und kapitalistischen Status Quo, sondern auf die “guten alten sozialistischen” Theoretiker wie zum Beispiel Theodor Herzl oder Ben Gurion. Beide verfolgten ihrer Meinung ebenso wie die Hanoar Haoved Vehalomed das Ziel einer friedlichen Koexistenz der Völker, wobei Israel lediglich ein sicherer Zufluchtsort für Juden aus aller Welt sein solle.
Israelischer Geschichtsunterricht scheint also ziemlich einseitig zu sein, denn die kolonialistischen Ideen Herzls und Gurions fanden in ihren Ausführungen keine Erwähnung. Das zionistische Prinzip der “Eroberung durch Arbeit” zum Beispiel, welches von Herzl einst formuliert und von Gurion praktisch realisiert wurde. Herzl schrieb dazu in seinem Tagebuch: “Den Privatbesitz der angewiesenen Ländereien müssen wir sachte exportieren. Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem Lande jederlei Arbeit verweigern.”(1) Ein Ausspruch, welcher eine Ideenwelt vermuten lässt, die ich nicht unbedingt einem Kommunisten zuordnen würde.
Das gleiche gilt für Gurion, dem ersten Premierminister Israels. Er war zwar innerhalb der Arbeiterbewegung aktiv und einer der Gründer der israelischen Arbeiterpartei. Allerdings war er wohl so sehr Sozialist, wie es Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder waren. Anstatt mit der internationalen Arbierklasse für die Revolution zu kämpfen, arbeitete er immer wieder offen mit unterschiedlichen imperialistischen Mächten – erst mit dem osmanischen Reich, später mit dem Britischen Empire – zusammen, um seine zionistischen Ideen um jeden Preis umzusetzen. Ausdruck genug ist ein Auszug aus einem Brief von 1938 an die Jewish Agency, in der er schrieb:„Ich bin für Zwangsumsiedlung (der Palästinenser); darin sehe ich nichts Unmoralisches.“
Ich fragte sie daraufhin, ob sie Leo Trotzki kenne, worauf sie antwortete “Ja, der Name sagt mir was. Ich glaube ich habe mal in einem Seminar was zu ihm gehört und es hat mir gefallen, wenn ich mich richtig erinnere.”
Zum Schluss wollte ich von ihr als Mitveranstalterin der Demo wissen, was der 1. Mai eigentlich für eine Bedeutung in Israel habe, ob er in irgendeiner Weise Bezug zur internationalen Arbeiterbewegung nehme und was die israelische Arbeiterklasse für zentrale Forderungen stelle. Ihrer Meinung nach handle es sich hier ganz schlicht um die “Israeli version” des 1. Mais. Es gäbe keine Verbindung zu anderen Arbeiterbewegungen oder Ähnlichem, vielmehr sei es ein Datum an dem die linken Kräfte der israelischen Gesellschaft lautstark und fröhlich auf die Straße gingen.
Diese Antwort überrascht kaum, wenn man sich einmal die israelische Klassensituation anguckt. Die großen Arbeiterparteien halten immer noch an derselben Ideologie fest, der sie im frühen 20. Jahrhundert entsprungen sind. Ihr zionistisches Erbe führt zur täglichen Verneinung der proletarischen Klasseninteressen im Namen der nationalen Einheit, wie auch israelische Historiker wie Zeev Sternhell eingestehen (2). So ist es nicht verwunderlich, dass die Arbeiterbewegung vielen als “Ad-hoc Erfindung zur Erreichung der Unabhängigkeit” (3) erscheint.
Klar ist aber, dass die zionistische und reformistische Politik in der Arbeiterbewegung keine Alternative zur starken israelischen Rechten, geschweige denn im Kampf für eine sozialistische Gesellschaft, darstellt. Eine Tatsache, die sich auch in den vergangenen Wahlen zeigte. Das Problem wird noch dadurch verstärkt, dass die Arbeiterklasse in der Region durch die chauvinistische Migrationspolitik der israelischen Kapitalist_innen stark gespalten ist. Jüdische Arbeiter_innen werden durch billigere palästinensische Arbeiter_innen; palästinensische Arbeiter_innen durch billigere und politisch besser unter Kontrolle zu haltende afrikanische oder thailändische Arbeiter_innen ersetzt.
Der Bruch mit der zionistischen Ideologie ist also eine gurndlegende Voraussetzung für eine revolutionäre und internationalistische Arbeiterbewegung in der Region. Und nur durch eine gemeinsame Bewegung der arabischen und jüdischen Arbeiterklasse gegen die Ausbeutung durch die israelischen Kapitalist_innen, gegen die rassistische Siedlungspolitik und den Krieg in den besetzten Gebieten, kann dem anhaltenden Leid ein Ende bereitet werden. Natürlich haben auch die politischen Ideen der palästinensischen Bourgeoisie unter Fatah und Hamas nichts zu suchen. Das (antideutscher) Argument vieler Linker in Europa, dass die Voraussetzung für Widerstand gegen den Zionismus sei, dass es keine reaktionären Ideen in den palästinensischen Gebieten mehr gäbe, ist falsch. Das gleiche Argument würde ja auch bedeuten, dass man so lange für einen Krieg in Afghanistan oder dem Irak sein müsste, nur weil der Widerstand gegen die Besatzer nicht revolutionär ist.
Natürlich ist es aber richtig, dass die Positionen von Fatah und Hamas einem politischen Klassenkampfs der Arbeiter_innen absolut feindlich gegenüberstehen und bekämpft werden müssen. Denn der Kapitalismus beweist immer mehr, dass er nicht einmal die grundlegendsten demokratischen Rechte, geschweige denn eine wirtschaftliche Grundlage bieten kann, auf der ein friedliches Zusammenleben im Nahen Osten möglich ist. Das Interesse der Arbeiter_innen kann daher nur eine revolutionäre Bewegung sein, deren Ziel ein multiethnisches sozialistisches Palästina und eine sozialistische Revolution im Nahen Osten ist,
in dem ethnische Minderheiten geschützt, der Staat sekulär, aber das Recht auf Religionsfreiheit durchgesetzt ist.
Bericht von Marvin Schutt, REVOLUTION
#(1) Schnieper, Marlene: Nakba. Die offene Wunde. Die Vertreibung der Palaestinenser 1948 und die Folgen, 2012 Rotpunktverlag, Zuerich
(2) Sternhell, Zeev: Le Monde diplomatique Nr. 9062 vom 11.12.2009
(3)# Schnieper, Marlene: Nakba. Die offene Wunde. Die Vertreibung der Palaestinenser 1948 und die Folgen, 2012 Rotpunktverlag, Zuerich