Warum Feminizide kein Zufall sind: Die Rolle von Staat und Kapital

von Martin Suchanek, November 2023, zuerst erschienen in der Neue Internationale der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Für das Jahr 2022 meldete die UN so viele Femizide wie seit 20 Jahren nicht, und das obwohl die Tötungsdelikte im Allgemeinen international zurückgingen. 50.000 oder mehr Femizide registrieren internationale Organisationen und Forschungsinstitute jährlich – und dies umfasst nur jene Morde, die in Partnerschaften oder durch Verwandte verübt wurden, und auch nur jene Länder, die gesonderte Statistiken überhaupt erstellen. Doch schon diesen Zahlen zufolge werden weltweit täglich mehr als 135 Frauen getötet. In Deutschland fällt jeden dritten Tag eine Frau oder ein Mädchen diesem Verbrechen zum Opfer.

Wir sprechen von Feminiziden, wenn es sich um geschlechtsbezogene Morde handelt, welche mit der Durchsetzung privatkapitalistischer, neokolonialer oder staatlicher Interessen verbunden sind und von Femiziden, wenn diese innerhalbe einer partnerschaftlichen, intimen oder verwandtschaftlichen Beziehung auftreten. Dabei ist der Täter in der Regel männlich, steht zum Opfer in einer persönlichen Beziehung. Er will seine Tat nicht öffentlich zur Schau stellen, sondern hofft vielmehr, der Strafverfolgung zu entkommen. Phänomene wie Ehrenmorde, die in der Regel dieser Form von Femiziden zugerechnet werden, stellen in gewisser Hinsicht ein Übergangsphänomen dar, als die Täter keineswegs Partner des Opfers sein müssen und ein, wenn auch tradierter Zweck verfolgt wird, nämlich die „Ehre“ der Familie auch öffentlich wiederherzustellen. Darüber hinaus verfolgt das aber keinen ökonomischen oder herrschaftlichen Anspruch.

Mord als Botschaft

Zu Feminiziden, die mit direkt ökonomischen Interessen verbunden sind, gehören beispielsweise Gewalt und Ermordung von Frauen im Zuge von Frauenhandel und Zwangsprostitution. Frauen oder trans Personen wird Gewalt bis zum Feminizid angetan, um ein Zeichen zu setzen: Wer sich gegen Verschleppung und Versklavung wehrt, muss damit rechnen, getötet zu werden. Der Mord ist also eine Botschaft an weitere potentielle Opfer, die für einen ökonomischen Zweck gefügig gemacht werden sollen – die Bereicherung des Zuhälters, anderer Krimineller und illegaler Geschäftemacher_Innen, die daraus Profit schlagen und die Prostitution und den Frauenhandel kontrollieren. Es gehört damit zum Zweck dieser Feminizide, dass die Täter als zuordenbare Gruppe anderen bekannt sind. Die Einschüchterung anderer funktioniert schließlich nur, wenn potentielle Opfer wissen, wer über sie Macht ausübt und durchsetzen kann.

Diese betrifft auch weitere Kapitaloperationen. So dienen Feminizide beispielsweise auch als Mittel zur Aneignung von Land indigener oder agrarischer Gemeinden durch das Agrobusiness oder extraktive Unternehmen in Lateinamerika oder Afrika. Vergewaltigungen oder Mord an Frauen sollen in diesen Fällen der Gemeinde, den zu Vertreibenden vor Augen führen, dass jeder Widerstand mit äußerst brutaler Gewalt niedergeschlagen wird. Die Täter führen so den Unterdrücken ihre Ohnmacht vor, knüpfen an einer patriarchalen Rollenverteilung an, indem sie auch den männlichen Mitgliedern des Dorfes oder der indigenen Gemeinde deutlich machen, dass sie nicht einmal in der Lage sind, „ihre“ Frauen zu schützen. Diese Form des Feminizids weist eine lange, koloniale Geschichte auf, die sich heute in neokolonialer und imperialistischer Ausbeutung fortsetzt. Mögen die Täter auch gedungene Mörder sein, so agieren sie nicht auf eigene Rechnung, sondern im Auftrag einer bestimmten Kapital- und Unternehmensgruppe, eines Grundbesitzers, eines multinationalen Konzerns oder von deren Mittelsmännern.

Weniger direkt, aber nichtsdestotrotz auf die Durchsetzung einer sozialen und ökonomischen Stellung bezogen sind Feminizide durch kriminelle Gangs, beispielsweise wenn es um die Kontrolle eines Stadtviertels geht. Diese verfolgen damit einen wirtschaftlichen Zweck. Der öffentliche Mord dient der Abschreckung.

Eine weitere Form des öffentlichen Feminizids stellt die Zunahme von Hexenmorden in einigen Ländern Afrikas und Indien dar. Um sich das Eigentum einer zumeist älteren, verwitweten Frau anzueignen, wird diese der Hexerei beschuldigt und mit dem Tod bestraft. Das Eigentum der Frau (z. B. Grund und Boden) geht nach der Tat an jüngere Angehörige oder an lokale Unternehmer über. Auch in diesem Fall erfolgt der Feminizid öffentlich, als Resultat einer (illegalen) Anklage, die von einem reaktionären Mob getragen wird.

Bei all diesen Formen ist nicht nur eine enge Verbindung zu Geschäfts- und Kapitalinteressen feststellbar, sondern oft auch zu staatlichen Institutionen wie der Polizei – sei es, indem diese selbst in unterdrückten Gemeinden ihre Stellung durch Mord zu unterstreichen suchen oder Feminizide an Marginalisierten, Sexarbeiter_Innen, trans Personen oder schwarzen und migrantischen Menschen nicht oder nur am Rande verfolgen.

Darüber hinaus finden wir indirekte oder direkte Formen staatlich sanktionierter Feminizide. Dazu gehören entweder durch reaktionäre, oft religiöse Institutionen und Kräfte forcierte öffentliche Tötungen von Frauen – z. B. Steinigung durch islamistische Mobs, aber auch Hexenverbrennungen, die von evangelikalen Fundamentalisten oder Hinduchauvinisten ermutigt werden. Andere Formen bilden Vergewaltigungen und Feminizide an national oder religiös unterdrückten Frauen. In bestimmten Fällen kann die Todesstrafe ein Feminizid sein, z. B. eine öffentliche Steinigung. In all diesen Fällen findet die Tat offen und öffentlich statt. Die Täter bilden eine reaktionäre, aggressive und mörderische Masse oder eine jubelnde Menge bei einer staatlich inszenierten Hinrichtung.

In diesen Fällen bildet der Feminizid ein Element zur Sicherung von Herrschaft, sei es, um durch die Mobilisierung einer kleinbürgerlichen Masse die politischen und gesellschaftlichen Gegner_Innen einzuschüchtern und eine erzreaktionäre politisches Kraft an die Macht zu bringen oder ein bestehendes Regime durch ritualisierten Mord zu festigen. Die sicherlich brutalste und extremste Form stellen dabei Vergewaltigung, Folter und Frauenmord als gezielt eingesetzte Mittel im Krieg und Bürger_Innenkrieg dar.

Die Verknüpfung mit Kapitalinteressen und staatlichen Institutionen erklärt auch, warum zu diesen viel weniger verlässliche Zahlen vorliegen. Deren Veröffentlichung ist selbst oft erst das Resultat von Kämpfen und durch Bewegungen erzwungenen öffentlichen Untersuchungen. Dass diese Frauenmorde überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein gelangen, als solche „anerkannt“ werden müssen, verdeutlicht, wie hartnäckig gerade der Feminizid politisch tabuisiert wird.

Folgerungen und Programm

Der Kampf gegen Femizide, Feminizide und deren Ursachen stellt eindeutig eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen Frauenunterdrückung weltweit dar. Zweifellos bildet dabei der Kampf um die Ächtung dieser Morde, was in vielen Ländern schon mit dem um die öffentliche Anerkennung ihrer Existenz beginnt, einen unerlässlichen Ausgangspunkt. Femizide müssen in ihrer gesamten Dimension oft überhaupt erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und das heißt vor allem auch der Arbeiter_Innenklasse gerückt werden. Damit verbunden stellt auch der Kampf um die effektive Verfolgung dieser Straftaten einen wichtigen Bezugspunkt dar.

Vom Standpunkt der Arbeiter_Innenklasse geht es dabei jedoch nicht um möglichst drakonische Strafsysteme, wohl aber darum, dass Täter nicht straflos davonkommen dürfen oder bei sexistischer und rassistischer Polizei und Gerichten recht milde Behandlung finden. Daher treten wir dafür ein, dass Untersuchungen von Femiziden unter Kontrolle von Frauenorganisation durchgeführt, Richter_Innen von Frauen, also potentiellen Opfern, gewählt werden und mindestens die Hälfte aus Frauen besteht. Zugleich muss sichergestellt werden, dass vor allem Frauen aus der Arbeiter_Innenklasse, der Bäuer_Innenschaft, von rassistisch und national Unterdrückten voll repräsentiert sind.

Nicht weniger wichtig ist der Schutz möglicher Opfer und die Prävention. Dazu gehören dringende Sofortmaßnahmen wie der massive Ausbau von möglichen Schutz- und Rückzugsräumen für Frauen, deren Kinder und für geschlechtlich Unterdrückte, die vom Staat finanziert und unter Kontrolle von Frauenorganisationen selbstverwaltet betrieben werden.

Diese Forderungen dienen letztlich den Frauen aller Klassen, vor allem aber natürlich jenen aus der Arbeiter_Innenklasse und der Bäuer_Innenschaft.

Der Kampf gegen Femizide muss darüber hinaus aber auch mit dem zur Sicherung der Reproduktion der Arbeiter_Innenklasse und Unterdrückter, von Indigenen oder Minderheiten gemeinsam mit Ersteren verbunden werden. Die zunehmende Verarmung und Verelendung breiter Schichten, die Ausbreitung von Arbeitsbedingungen und Löhnen, die die Existenz immer weniger sichern, bedeuten, dass der Kampf gegen Femizide wie überhaupt gegen jede Form der häuslichen Gewalt eng verbunden werden muss mit dem gegen Armutslöhne, informelle und Kontraktarbeit, Tagelöhnerei und die Zerschlagung sozialer Sicherungssysteme. Daher fordern wir Mindestlöhne, die die Existenz sichern und an die Inflation angepasst werden; die Abschaffung aller informellen und prekären Beschäftigung und ihre Umwandlung in tariflich gesicherte, von den Gewerkschaften und Arbeiter_Innenkomitees kontrollierte; Arbeitslosen-, Krankengeld und Renten in der Höhe des Mindestlohns; ein Programm öffentlicher, gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, das den massiven Ausbau von Kitas, Schulen, öffentlichen Betreuungseinrichtungen, Krankenhäusern, der Altenpflege, von Kantinen und anderen Einrichtungen zur Vergesellschaftung der Hausarbeit inkludiert.

Diese Forderungen richten sich gegen das Kapital als Klasse und stehen grundsätzlich im Interesse aller Unterdrückten, unabhängig von ihrem Geschlecht. Dennoch wäre es mechanisch und naiv, dass die proletarischen Männer in ihre Gesamtheit automatisch auf ihre Privilegien verzichten oder sexistische Verhaltens- und Denkweisen, die eng mit ihrer Geschlechterrolle verbunden sind, ablegen würden. Die proletarischen Frauen müssen daher das Recht haben, innerhalb der Arbeiter_Innenbewegung eigene Treffen zu organisieren, um den Kampf voranzutreiben und männlichen Chauvinismus zu bekämpfen. Sie müssen eine proletarische Frauenbewegung aufbauen, um so Rückständigkeit und Chauvinismus zu bekämpfen, aber auch die Führung im Kampf um die Befreiung der Frauen aller unterdrückten Schichten einzunehmen.

Diese vier Punkte bezogen sich vor allem auf den Kampf gegen intime und verwandtschaftliche Femizide und ihre gesellschaftlichen Ursachen. Wie wir gerade aus den beiden letzten Kapiteln ersehen, sind sie eng mit dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung verbunden. Dies trifft ebenso auf den Kampf gegen Feminizide im Herrschaft- und Kapitalinteresse zu.

Da hier die Auftraggeber der Morde oft auch ökonomische Interessen verfolgen, steht der Kampf auch hier im engen Zusammenhang mit der Frage nach Kontrolle ökonomischer Ressourcen und des Eigentums.

Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie bei der zweiten Form der Feminizide eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung. Um solchen Kräften entgegentreten zu können, bedarf es einer organisierten, von Massen oder Massenorganisationen getragenen Selbstverteidigung, letztlich des Aufbaus von bewaffneten Milizen der Arbeiter_Innen und Unterdrückten.

Die Verhinderung des Feminizids erfordert den Aufbau von Organen der Gegenmacht – und wirft somit die Machtfrage selbst auf. Dies betrifft letztlich auch die Frage der Sicherung der Reproduktionsbedingungen der Gesamtklasse wie der Enteignung von Kapital oder großer, illegaler Geschäftemacher, die systematisch in Frauenmorde verwickelt sind. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern, können Reformen im Interesse der Arbeiter_Innenklasse nur eine vorübergehende Besserung schaffen. Um Banden der Großgrundbesitzer, rechtspopulistischer oder protofaschistischer Kräfte das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.




Femizide, Feminizide und kapitalistische Krise

Martin Suchanek (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland)

50.000 oder mehr Femizide registrieren internationale Organisationen und Forschungsinstitute jährlich – und dies umfasst nur jene Morde, die in Partnerschaften oder durch Verwandte verübt wurden, und auch nur jene Länder, die gesonderte Statistiken überhaupt erstellen. Doch schon diesen Zahlen zufolge werden weltweit täglich mehr als 135 Frauen getötet. In Deutschland fällt jeden dritten Tag eine Frau oder ein Mädchen diesem Verbrechen zum Opfer.

Probleme der Erhebung

Schon diese Zahlen sind erschreckend genug. Sie geben jedoch den Umfang und damit das gesamte Ausmaß dieses extremen Ausdrucks der Unterdrückung aus mehreren Gründen nicht wieder. Erstens umfassen viele Erhebungen keine trans Personen und andere Menschen mit einer nicht-binären Geschlechtsidentität.

Zweitens basiert die Zuordnung zum Femizid oft auf einer relativ engen Definition, d. h. nur ein Teil der intentionalen Morde oder Todschläge an Frauen geht in die Statistik ein. Die Zahlen – so auch die oft genannte von 50.000 Femiziden im Jahr 2017 – beziehen sich in erster Linie auf eine bestimmte, in der Tat sehr bedeutende Form des Frauenmordes, den intimen (innerhalb einer Partnerschaft erfolgenden) und verwandtschaftlichen Femizid (z. B. Ehrenmord). Diese beiden Kategorien machen jedoch selbst nach den Erhebungen aus dem Jahr 2017 nur etwa die Hälfe aller vorsätzlichen Frauentötungen aus, also aller Verbrechen, wo es eine bewusste, intendierte Absicht war, eine Frau, ein Mädchen, eine trans Person wegen ihres Geschlechts oder ihrer Geschlechtsidentität umzubringen.

Intentionale Morde an Frauen oder geschlechtlich Unterdrückten, die außerhalb dieser Sphäre stattfinden und mit der Durchsetzung privatkapitalistischer, neokolonialer oder staatlicher Interessen verbunden sind, gehen in die Statistiken nicht ein. Eine Reihe linker, antikolonialer und antiimperialistischer, feministischer Autor:innen hat für solche Morde an Frauen und LGBTIAQ-Menschen den Begriffe des Feminizides geprägt, um der Verengung des Blicks auf Femizide im privaten und häuslichen Kontext entgegenzuwirken. Wir verwenden daher im folgenden Text die Begriffe Femizid und Feminizid in diesem Sinne, wohl wissend, dass eine eindeutige Zuordnung selbst problematisch ist, wie z. B. das Phänomen der Ehrenmorde verdeutlicht. Schließlich kommt hinzu, dass die Begriffe in der deutschsprachigen Literatur einfach synonym verwendet werden.

Drittens bildet die Kriminalstatistik eine Hauptquelle für länderübergreifende Vergleiche. Doch diese wird von verschiedenen Staaten sehr unterschiedlich geführt und Femizide/Feminizide werden oft erst gar nicht als solche erfasst. Das Ausmaß dieser Form der intentionalen Tötung von Frauen oder LGBTIAQ-Personen lässt sich schon deshalb oft nur schätzen. Somit gehen Verbrechen erst gar nicht ein, weil sie nicht erhoben oder gar verschleiert werden oder z. B. in Kriegen und Bürgerkriegen überhaupt keine Erhebungen mehr möglich sind.

Viertens haben nur wenige Länder formale Abkommen zur Bekämpfung von Femiziden ratifiziert. So wurde z. B. das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (besser bekannt als Istanbuler Konvention) nicht nur von der Türkei spektakulär aufgekündigt. Zahlreiche europäische Länder haben es erst nach Jahren (z. B. Deutschland und die Schweiz erst 2017) ratifiziert. Andere Unterzeichnerstaaten haben dies bis heute nicht getan (Großbritannien, Lettland, Litauen, Tschechien, Ungarn, Ukraine, Moldawien, Armenien), womit das Abkommen keine Rechtsverbindlichkeit besitzt. In Bulgarien wurde es vom Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt. Polen hat seinen Austritt angekündigt, wenn auch noch nicht vollzogen.

Umfang und Vergleich

Trotz dieser Schwierigkeiten wollen wir im Folgenden etwas näher auf die Zahlen eingehen. Dabei gibt es in Europa noch relativ verlässliche Statistiken, was intime und verwandtschaftliche Femizide betrifft. Diese zeigen ein lang anhaltend hohes Niveau und in einigen Fällen sogar einen Zuwachs in den letzten Jahren. So stieg die Anzahl in Österreich von 18 (2014), 17 (2015) seit 2016 (28) massiv und hält sich seither über 30 pro Jahr (2017: 36, 2018: 41, 2019: 39, 2020: 31) (Quelle: https://www.aoef.at/index.php/zahlen-und-daten).

Weiter unten werden wir uns mit den Ursachen für Femizide und deren Anwachsen beschäftigen. In jedem Fall liegt eine enge Verbindung zum Rechtsruck nahe, der 2017 zur Bildung der ÖVP-FPÖ-Regierung und damit zu Kürzungen in der Sozialpolitik führte, aber auch mit einem staatlich sanktionierten politischen, gesellschaftlichen und ideologischen frauenfeindlichen Rollback einherging.

Für die EU insgesamt lässt sich von 2015 – 2018 ein leichtes Absinken von Morden an Frauen von 0,75 auf 0,69 je 100.000 Einwohnerinnen feststellen, allerdings mit bedeutenden Unterschieden zwischen verschiedenen Ländern (https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/submitViewTableAction.do). Da es auch in Europa in etlichen Staaten keine gesonderten Statistiken für Femizide gibt, muss die Entwicklung der Frauenmorde insgesamt auch als Indikator für deren Umfang und für einen Vergleich betrachtet werden. Wo Daten vorliegen, wird immer auch deutlich, dass, global betrachtet, Morde durch Partner und Verwandte einen signifikanten Anteil darstellen, oft zwischen der Hälfte und einem Drittel.

In Europa bewegen sich Länder wie Italien, Spanien, Schweden oder die Niederlande über mehrere Jahre bei rund 0,5 Frauenmorden pro 100.000 Einwohnerinnen. Selbst dieser vergleichsweise „niedrige“ Anteil darf aber nicht vergessen lassen, dass wir in beiden Staaten noch immer von weit mehr als 100 Morden pro Jahr sprechen! Länder wie Deutschland, Frankreich oder auch Österreich gehören, betrachten wir den Anteil von Frauenmorden an der Bevölkerung, zum unrühmlichen europäischen Durchschnitt mit Schwankungsbreiten um die 0,6 bis 1 Frau(en) je 100.000 Einwohnerinnen. Besonders hohe Raten weisen über Jahre hinweg Länder wie Russland, Lettland, Litauen, Ukraine auf mit 1,5 bis 4 ermordeten Frauen und Mädchen pro 100.000 Einwohnerinnen auf (siehe: https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/submitViewTableAction.do und https://dataunodc.un.org/content/homicide-country-data).

Weit weniger statistisches Material steht für Asien und Afrika zur Verfügung. So finden sich z. B. in der UN-Datenbank zur Kriminalität (https://dataunodc.un.org/content/homicide-country-data) keine offiziellen statistischen Berichte aus dem Iran, Pakistan oder der Volksrepublik China, um nur einige bevölkerungsreiche Staaten zu nennen. Außerdem fehlen auch hier häufig Differenzierungen zwischen Morden an Frauen im Allgemeinen und Femiziden durch Partner und Verwandte. Grundsätzlich weisen aber viele Länder hohe bis sehr hohe Zahlen auf. Eine der höchsten weltweit finden wir in Südafrika: 2018 waren es 2.771 oder 9,46 Frauen pro 100.000 Einwohnerinnen. Indien weist z. B. in den Jahren 2015 – 2020 Raten von 2,47 (2020) bis 2,81 Frauen je 100.000 auf, was rund 17.000 Morden pro Jahr entspricht.

Vergleichsweise umfangreiches Datenmaterial und eine reichhaltige Literatur existiert in Lateinamerika. Dies hat zwei Gründe. Zum einen spiegelt es das Ausmaß des Problems wider, zum anderen aber die Existenz großer und politisch dynamischer Frauenbewegungen auf dem Kontinent, die seit Jahren den Kampf gegen Gewalt an Frauen ins Zentrum ihrer Tätigkeit rücken.

Die folgende Statistik gibt die Zahl der Femizide und Feminizide (nicht aller Frauenmorde) in Lateinamerika, der Karibik und Spanien im Jahr 2020 wieder. Darin zeigt sich ein besonders hoher Anteil pro 100.000 Einwohnerinnen in den Staaten Zentralamerikas und der Karibik. In absoluten Zahlen springt das schiere Ausmaß der Verbrechen in Brasilien und Mexiko in Auge.

Lateinamerika, Karibik und Spanien (19 Länder): Feminizide oder Femizide, letztes verfügbares Jahr (in absoluten Zahlen und Werten pro 100.000 Frauen), Quelle: CEPALSTATS, 2020 (aus: Alejandra Santillana Ortíz, Flora Partenio und Corina Rodríguez Enríquez, Feministische Überlegungen zur Gewalt, Buenos Aires 2021, Herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung)

Die Broschüre „Feministische Überlegungen zur Gewalt“, der die Tabelle entnommen wurde, führt darüber hinaus auch an, dass die Zahl der Morde wie generell die Gewalt gegen Frauen in der Pandemie deutlich zugenommen haben: „Zwischen Januar und Juli 2020 wurden in Mexiko 2.240 Frauen ermordet, was im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Vorjahr 2019 (laut dem Exekutivsekretariat des Nationalen Systems zur öffentlichen Sicherheit Mexikos) einen Anstieg von 7,7 % bedeutet; in Ecuador gab es zwischen dem 1. Januar und dem 16. November 2020 insgesamt 101 Femizide (darunter 5 Transfeminizide); in Argentinien belief sich die Zahl auf 168.“ (Feministische Überlegungen zur Gewalt, S. 46)

Als Ursachen führen die Autorinnen die Isolation der Frauen im privaten Haushalt während der Lockdowns, aber auch die zunehmende Gewalt gegen obdachlose, auf der Straße lebende Frauen, Sexarbeiterinnen und trans Menschen an.

Bemerkenswert an den Zahlen zu Femiziden und Feminziden in Lateinamerika und der Karibik ist schließlich auch ein Vergleich zur Lage in den USA. In den Jahren 2015 – 2020 fielen dort je 100.000 Einwohnerinnen 0,8 bis 0,84 Frauen einem häuslichen oder verwandtschaftlichen Femizid zum Opfer, allein 2020 waren das 1.420. Pro 100.000 Einwohnerinnen lag die Zahl der Frauenmorde in diesem Zeitraum konstant über der Zahl 2, betrug in absoluten Zahlen nie weniger als 3.333 (2015).

Auch wenn Daten bezüglich der Zunahme von Frauenmorden und Femiziden während der Pandemie bisher nur lückenhaft vorliegen, so dürften die signifikanten Zunahmen, wie sie sich in Mexiko zeigen, auch für die meisten anderen Länder und Regionen gelten, vor allem für die halbkoloniale Welt. Das legen andere Untersuchungen oder Belege für die Zunahme von häuslicher Gewalt nahe, die sich auch in der massiven Zunahmen von Notrufen ausdrückt. Zweitens haben wirtschaftliche Krise und Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 generell die Ursachen von Gewalt gegen Frauen und von Femiziden verschärft und erstere zugleich stärker an den Haushalt gefesselt.

Erklärungen und Ursachen

Zu Recht verweisen viele linke Feminist:innen und Aktivist:innen der Frauenbewegung darauf, dass die Beschränkung auf Femizide, partnerschaftliche („intime“) und verwandtschaftliche Morde zwar eine erschreckende und extreme Form häuslicher, patriarchaler Gewalt zum Vorschein bringt. Betrachten wir jedoch nur diese, verengt dies den Blick. Ein beträchtlicher Teil intentionaler Morde findet außerhalb dieser familiären Sphäre statt. Dies betrifft im Besonderen rassistisch, ethnisch oder nationale Unterdrückte und im Allgemeinen Frauen und Mädchen in den halbkolonialen, vom Imperialismus ausgebeuteten Ländern sowie Menschen, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität marginalisiert werden.

Familie, Geschlechterrollen, Akkumulation

Doch betrachten wir zunächst den intimen, partnerschaftlichen oder verwandtschaftlichen Femizid. Er findet an einem bestimmten gesellschaftlichen Ort, im Rahmen einer bestimmten Institution statt: der bürgerlichen Familie oder einer ihr ähnlichen Beziehung (z. B. der intimen Partner:innenschaft). Der Femizid bildet dabei häufig den Endpunkt einer langen Reihe von „partnerschaftlicher“ Gewalt und Missbrauch. Gewalt und Unterdrückung sind grundsätzlich der Familie inhärent, sei es als unmittelbares, „privates“ Verhältnis zwischen männlichen Tätern und weiblichen Opfern, sei es als Ort der Vermittlung und Rechtfertigung der Normen, Regeln, moralischen Werte und Geschlechterrollen. Doch das enthebt uns nicht der Notwendigkeit, zwischen der Ausprägung, Form und Ursache zwischen verschiedenen Klassen vor dem Hintergrund verschiedener gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Gesamtlagen zu unterscheiden. Nur so können wir historisch spezifische Veränderungen begreifen und den Kampf gegen Femizide als extremsten Ausdruck von Gewalt gegen Frauen zielgerichtet führen.

Zunächst unterscheiden sich die Familien verschiedener Klassen. Jene der herrschenden genießen natürlich das Privileg, dass für sie kein Arbeitszwang existiert. Alle ihre Mitglieder leben von der Aneignung der Arbeit anderer – und können auch im privaten Haushalt andere für sich arbeiten lassen.

Für die Arbeiter:innenklasse stellt sich das grundlegend anders dar. Der Mann oder Familienvater fungiert, jedenfalls dem Anspruch nach, als Ernährer, der den größten Teil des Haushalts- oder Familieneinkommens verdient. Die Frau gilt als Hausfrau. Auch wenn diese bürgerliche Familienform für das Proletariat erst im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus etabliert wurde und nie „rein“ existierte, wurde sie zur prägenden ideellen Form und damit auch zu einem Kern reaktionärer Geschlechterrollen. Die Verallgemeinerung dieser Ideologie basiert auf einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.

Um relativ friktionsfrei und dauerhaft auch in der Klasse der Lohnabhängigen weltweit etabliert und reproduziert werden zu können, ist sie aber an einen bestimmten Stand der Akkumulation des Kapitals gebunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte diese Familienform in den imperialistischen Metropolen, in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten und selbst unter den bessergestellten Schichten der Lohnabhängigen in den Halbkolonien etabliert werden, wenn auch oft nur ansatzweise. Zugleich unterhöhlte die Entwicklung der Kapitalakkumulation auch schon damals die bürgerliche Familie, weil die wirtschaftliche Expansion auch Lohnarbeiterinnen erforderte.

Dies unterminierte objektiv die Rolle des Mannes und bildete eine der Ursachen für die Entstehung der zweiten Welle der Frauenbewegung und für den Kampf um rechtliche Gleichheit sowie für die Thematisierung häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder ab Ende der 1960er Jahre. Allerdings fanden diese Veränderungen vor dem Hintergrund einer expansiven kapitalistischen Akkumulation statt, die während des sog. langen Booms die Ausdehnung des Konsumfonds der Arbeiter:innenklasse und Umverteilungsspielräume ermöglicht hatte. Dies betraf sowohl Lohneinkommen und Kaufkraft als auch die Ausdehnung des Soziallohnes (staatliche Dienstleistungen, Sozialversicherung, sog. Sozialstaat).

Mit der Wende zum Neoliberalismus und der kapitalistischen Globalisierung und erst recht in den letzten Jahrzehnten veränderte sich das Bild grundlegend – und das noch einmal seit der globalen Krise 2008.

Die Arbeiter:innenklasse wuchs zwar auch unter den Bedingungen der strukturellen Krise und der Überakkumulation des Kapitals weiter. Das Wachstum der Lohnabhängigen war und ist jedoch wesentlich eines in „unsicheren“, prekären Verhältnissen oder im informellen Sektor beschäftigten Teils. Das betrifft in besonderem Ausmaß den Zuwachs an lohnarbeitenden weiblichen Arbeitskräften. Zugleich ist für immer größere Teile der Klasse der Lohn so weit gesunken, dass der Mann längst nicht mehr alleine die Familien ernähren kann. Die Lohnarbeit der Frau, oft auch der Kinder wird zur Existenzbedingung der Reproduktion der Klasse – und selbst dies reicht oft nicht einmal aus.

Hierbei handelt es sich um kein konjunkturelles Phänomen, das mit Rezessionen kommt und geht. Vielmehr führten massive Veränderungen und Angriffe zu Deregulierung, Lohnsenkungen, Privatisierungen und zur Zerstörung von sozialen Sicherungssystemen, um so dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken und die Profite vor allem des imperialistischen Finanzkapitals zu sichern. Dass immer größere Teile der Arbeiter:innenklasse gezwungen sind, ihre Arbeitskraft unter den Reproduktionskosten zu verkaufen, stellt ein grundlegendes Kennzeichen der aktuellen Periode dar, vor allem für Lohnabhängige im globalen Süden und für rassistisch unterdrückte und migrantische Arbeitskräfte. Diese Entwicklung bedroht jedoch längst auch die Masse der Lohnabhängigen in den Metropolen und selbst Teile der Arbeiter:innenaristokratie.

Vor diesem Hintergrund können wir verstehen, warum häusliche Gewalt und Femizide in der gegenwärtigen Periode zunehmen, warum die strukturelle Krise des Kapitalismus sowie die Ausweitung neokolonialer, imperialistischer Ausbeutung und rassistischer Unterdrückung diese extremen Ausprägungen der Unterdrückung verstärken.

Die Krise unterminiert die Rolle des Familienoberhauptes, des männlichen Ernährers. Sein Rollenversprechen, die Familie zu versorgen, kann er, unabhängig von seinem Willen, nicht länger erfüllen. Anders als in der Periode realer ökonomischer Expansion, in der die Einkommen der Familie über das bisherige Niveau und damit die ökonomische Unabhängigkeit der Frau stiegen, ist mehr und mehr Frauen aus der Arbeiter:innenklasse dieser Weg unter den Bedingungen einer strukturellen Krise verwehrt. Sie sind wirtschaftlich enger an die familiäre Hölle gekettet.

Diese Krise der Familie, aus der es aufgrund sinkender Einkommen und der Zerstörung öffentlicher und sozialer Versorgungseinrichtungen kein Entkommen gibt, bildet die strukturelle Basis für die Zunahme häuslicher Gewalt bis hin zum Femizid in der proletarischen Familie oder Partner:innenschaft. Während der Kapitalismus die ökonomischen Grundlagen der Arbeiter:innenfamilien (und auch jener der armen Bauern und Bäuerinnen und unteren Schichten des Kleinbürger:innentums) und damit auch die damit einhergehenden Geschlechterrollen, die Charaktermasken der Familienmitglieder unterminiert, in die sie hineingeboren und hinein sozialisiert werden, verunmöglicht er eine Auflösung dieses Widerspruchs. Die bürgerliche Gesellschaft selbst erweist er sich als größtes Hindernis, diese unhaltbare Form zu überwinden. Einen fortschrittlichen Ausweg bietet hier nur der Kampf der Lohnabhängigen und vor allem der proletarischen Frauen. Wo diese Perspektive fehlt, dringt der Widerspruch, in dem die Familie gefangen ist, in Form „privater“ Gewalt an die Oberfläche. Der Mord bildet die ultimative, extremste Form, worin der demoralisierte, in seiner eigenen Rolle versagende Ernährer sich selbst und seiner Frau noch einmal seine „Überlegenheit“ beweist.

Hier wird deutlich, wie eng der Kampf gegen Femizide und häusliche Gewalt mit der kapitalistischen Krise zusammenhängt – und warum dies besonders die ärmsten, am stärksten unterdrückten und ausgebeutetsten Teile der Arbeiter:innenklasse betrifft. Die barbarisierenden Tendenzen der gegenwärtigen strukturellen Krise manifestieren sich auch in der Zunahme von Femiziden. Die Krise, die wesentlich auch eine Krise der Reproduktionsbedingungen der Klasse ist, befördert natürlich die Zunahme von Gewalt und ihrer Extremform, von Chauvinismus und Sexismus. Dies stellt jedoch keinen Automatismus dar, der unabhängig von Bewusstsein, vom Organisationsgrad und der Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse vor sich geht. Ob sich die reaktionären Tendenzen durchsetzen, ob sie zur Vertiefung der Spaltung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten führen, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die Klasse im Kampf gegen Femizide und ihre tieferen gesellschaftlichen Ursachen zu vereinen.

Liberalismus und Rechtsruck

Der Kapitalismus erzeugt nicht nur die prekären Verhältnisse, er wirkt zugleich als Brandbeschleuniger – und zwar nicht nur beim Abbau sozialer Leistungen und bei der immer weiteren Durchsetzung neoliberaler Angriffe.

Für den „demokratischen“, liberalen Flügel der Bourgeoisie und große Teile des bürgerlichen, westlichen Feminismus’ erscheint die Zunahme von Femiziden und häuslicher Gewalt vor allem als ein Phänomen der Rückständigkeit der Männer. Unbestreitbar lässt sich dies bei den Motiven der einzelnen Täter erkennen. Das Problem des bürgerlichen Feminismus besteht jedoch darin, diese Rückständigkeit bis hin zum offenen Frauenhass nicht als Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen, sondern als individuelle Eigenschaft und persönlichen Mangel an Bildung, Aufklärung und „Kultur“. Als Täter und Tatorte erscheinen daher vorzugsweise „verrohte“, proletarische oder subproletarische Männer und angeblich „rückständige“ Länder und Glaubensgemeinschaften.

Daher präsentieret liberaler, bürgerlicher Feminismus westliche Demokratie und Marktwirtschaft als Lösung zur Bekämpfung von Femiziden. Er individualisiert dabei im Grunde das Problem. Der Femizid erscheint als individuelle Gewalttat. Natürlich ist er auch immer eine solche. Dies leugnen weder Marxist:innen noch linke Feminist:innen. Aber der wesentliche Unterschied besteht darin, dass es diesen darum geht, nicht nur den Blick auf die einzelne Tat zu richten, sondern auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang.

Dieser wird von bürgerlich-liberalen oder selbst von bürgerlich-reformistischen Kräften allenfalls als zusätzlicher Nebenfaktor in Betracht gezogen, in der Regel ausgeblendet. Und das aus gutem Grund. Würden die gesellschaftlichen Ursachen betrachtet, so müssten auch die Profiteur:innen dieser Verhältnisse, die großen (und auch kleineren) Ausbeuter:innen, vor allem aber die großen kapitalistischen Konzerne, ihre Regierungen und Institutionen, die für die Verelendung der proletarischen Männer und Frauen verantwortlich sind, ins Visier genommen werden. Da der bürgerliche, liberale Feminismus jedoch selbst auf dem Boden dieser Ausbeutungsverhältnisse und imperialistischen Ordnung steht, also den Klassenstandpunkt des Kapitals einnimmt, muss er sich notwendig als unfähig erweisen, die tieferen Ursachen von Femiziden zu begreifen. Im Gegenteil: Er muss letztlich jene gesellschaftlichen Verhältnisse beschönigen und verteidigen, die immer wieder erst systematische Gewalt gegen Frauen und Femizide hervorbringen.

Doch damit nicht genug. Im Zuge der Krise und Unterminierung der Familien und ihrer Rollenbilder tritt auch eine reaktionäre, bürgerliche und kleinbürgerliche Gegenoffensive als Teil eines generellen Rechtsrucks auf den Plan.

Von dieser geht zwar in der Regel niemand so weit, individuelle Femizide offen zu rechtfertigen. Wohl aber verklären Rechte und reaktionäre, antifeministische Kräfte sie zur Reaktion auf die Zerstörung der angeblich natürlichen Rolle des Mannes (und der Frau). „Feminismus“, „Genderwahn“, feministische und Frauenbewegungen sowie der Queer-Aktivismus hätten gewissermaßen die natürliche Ordnung der Dinge zerstört, würden die „normalen“ Männer (und Frauen) unterdrücken und an den Rand drängen, die an ihren tradierten Normen, ihrer Arbeitsteilung, Lebensweise samt einer gewissen Dosis Machismus und Sexismus festhalten wollten.

Diese Ideologie, dieses „Narrativ“ stellt die Realität nicht nur auf den Kopf. Sie blendet zugleich auch die wirklichen Ursachen für die Unterminierung der bürgerlichen Familien durch Kapital, Markt und Konkurrenz aus. Auch das ist kein Zufall. Verschiedenste rechtspopulistische, rechtskonservative und rechtsextreme Kräfte, ob nun Trump oder Bolsonaro, AfD, FPÖ, Identitäre oder reaktionäre Islamisten, vertreten einen aggressiven Antifeminismus. Zugleich verteidigen sie die Marktwirtschaft – und sei es in einer idealisierten, kleinbürgerlichen, nationalistischen oder völkischen Version.

Die durchaus reale Krise der Familie und damit verbundene Unterhöhlung der tradierten Geschlechterrollen werden nicht als Resultat der Entwicklungslogik des Kapitalismus begriffen. Sie erscheinen vielmehr als Ausdruck des Angriffs auf das natürliche, vorgeblich harmonische Verhältnis zwischen Mann und Frau. Der Femizid wird folglich als allenfalls tragisches Resultat des „widernatürlichen“ Angriffs auf eine angeblich natürliche Ordnung verstanden, ja letztlich entschuldigt.

Die reaktionäre Kur ist auch einfach: Rückkehr zur tradierten Ordnung! Würden sich Frauen gemäß ihrer natürlichen Rolle verhalten, gebe es, dieser Sicht zufolge, auch keinen Grund mehr für Männer, auszurasten oder ihre Liebste in Rage zu bringen.

Ergänzt wird dieses Narrativ v. a. im Westen durch einen guten Schuss Rassismus, indem zwischen Femiziden von Männern der eigenen imperialistischen Nation und jenen der „rückständigeren“ Völker unterschieden wird. Unter weißen deutschen oder US-Amerikaner:innen stellt demzufolge der Femizid letztlich die Tat eines Einzeltäters, vorzugsweise aus „zerrütteten“, asozialen Verhältnissen dar. Der gute Deutsche behandelt seine Frau trotz ständigen feministischen Kulturkrieges und Genderwahns gut. Solche moralische Höhe attestiert die politische Rechte freilich nur der herrschenden Nation. Bei migrantischen Männern, Schwarzen oder Muslimen liegt die Sache anders. Sie mordeten, weil sie rückständig und letztlich Menschen 2. Klasse seien. Dieser Rassismus verträgt sich nicht nur gut mit Imperialismus und Sozialchauvinismus. Er bildet zugleich eine ideologische Brücke zu bürgerlich-feministischen Kräften.

Die rechten Strömungen begnügen sich freilich längst nicht damit, reaktionäres Gedankengut zu verbreiten und ebensolche Forderungen zu stellen. Sie verklären und verharmlosen nicht nur die Ursachen von Femiziden. Sie begünstigen diese aktiv, indem sie ein entsprechendes politisch-ideologisches Klima schaffen. Indem sie das patriarchale Familienoberhaupt, dessen reaktionäre, unterdrückerische Rolle durch den Kapitalismus selbst unterminiert wird, zu einem „Opfer“ stilisieren, proklamieren sie zugleich deren Wiederherstellung als zentrales Ziel. Damit nehmen sie nicht nur in Kauf, dass manche Männer dies als zusätzliche Rechtfertigung ansehen, die Wiederherstellung der „Ordnung“ in die eigene Hand zu nehmen. Sie agieren auch als Bewegung, die sich den Rollback von Frauenrechten auf ihre Fahnen schreibt und aggressiv durchzusetzen versucht. Darüber hinaus begünstigen etliche dieser Bewegungen direkt bestimmte Formen von Femiziden, die außerhalb der Sphäre von Partnerschaft, Familie und Verwandtschaftsbeziehungen stattfinden.

Feminizide im Herrschafts- und Kapitalinteresse

Bisher haben wir uns mit partnerschaftlichen, intimen und verwandtschaftlichen Femiziden beschäftigt. Dabei ist der Täter in der Regel männlich, steht zum Opfer in einer persönlichen Beziehung. Der Täter will seine Tat nicht öffentlich zur Schau stellen, sondern hofft vielmehr, der Strafverfolgung zu entkommen. Phänomene wie Ehrenmorde, die in der Regel dieser Form von Femiziden zugerechnet werden, stellen in gewisser Hinsicht ein Übergangsphänomen dar, als die Täter keineswegs Partner des Opfers sein müssen und ein, wenn auch tradierter Zweck verfolgt wird, nämlich die „Ehre“ der Familie auch öffentlich wiederherzustellen. Darüber hinaus verfolgt das aber keinen ökonomischen oder herrschaftlichen Anspruch.

Diese Form der Frauenmorde bildet aber nur einen großen Teil aller Femizide/Feminizide. Einen zweiten, großen Bereich stellen solche dar, die zur Durchsetzung eines Ausbeutungs- und/oder Herrschaftsinteresses außerhalb der Familie, Parter:innenschaft oder Verwandtschaftsbeziehung begangen werden.

Zu Feminiziden, die mit direkt ökonomischen Interessen verbunden sind, gehören beispielsweise Gewalt und Ermordung von Frauen im Zuge von Frauenhandel und Zwangsprostitution. Frauen oder trans Personen wird Gewalt bis zum Feminizid angetan, um ein Zeichen an andere zu senden. Wer sich gegen Verschleppung und Versklavung wehrt, muss damit rechnen, getötet zu werden. Der Mord ist also eine Botschaft an weitere potentielle Opfer, die für einen ökonomischen Zweck gefügig gemacht werden sollen – die Bereicherung des Zuhälters, anderer Krimineller und illegaler Geschäftemacher:innen, die daraus Profit schlagen und die Prostitution und den Frauenhandel kontrollieren. Es gehört damit zum Zweck dieser Feminizide, dass die Täter, wenn schon nicht persönlich, so doch als zuordenbare Gruppe anderen bekannt sind. Die Einschüchterung anderer funktioniert schließlich nur, wenn potentielle Opfer wissen, wer über sie Macht ausübt und durchsetzen kann.

Diese betrifft auch weitere Kapitaloperationen. So dienen Feminizide beispielsweise auch als Mittel zur Aneignung von Land indigener oder agrarischer Gemeinden durch das Agrobusiness oder extraktive Unternehmen in Lateinamerika oder Afrika. Vergewaltigungen oder der Mord an Frauen soll in diesen Fällen der Gemeinde, den zu Vertreibenden vor Augen führen, dass jeder Widerstand mit äußerst brutaler Gewalt niedergeschlagen wird, dies auch allen anderen droht. Die Täter führen so den Unterdrücken ihre Ohnmacht vor, knüpfen an einer patriarchalen Rollenverteilung an, indem sie auch den männlichen Mitgliedern des Dorfes oder der indigenen Gemeinde deutlich machen, dass sie nicht einmal in der Lage sind, „ihre“ Frauen zu schützen. Diese Form des Feminizids weist eine lange, koloniale Geschichte auf, die sich heute immer wieder in neokolonialer und imperialistischer Ausbeutung fortsetzt. Mögen die Täter auch gedungene Mörder sein, so agieren sie nicht auf eigene Rechnung, sondern im Auftrag einer bestimmten Kapital- und Unternehmensgruppe, eines Grundbesitzers, eines multinationalen Konzerns oder von deren Mittelsmännern.

Weniger direkt, aber nichtsdestotrotz auf die Durchsetzung einer sozialen und ökonomischen Stellung bezogen sind Feminizide durch kriminelle Gangs, beispielsweise wenn es um die Kontrolle eines Stadtviertels geht. Diese verfolgen damit einen wirtschaftlichen Zweck. Der öffentliche Mord dient der Abschreckung.

Eine weitere Form des öffentlichen Feminizids stellt die Zunahme von Hexenmorden in einigen Ländern Afrikas und Indien dar. Um sich das Eigentum einer zumeist älteren, verwitweten Frau anzueignen, wird diese – in einigen Ländern Afrikas mit Zutun von evangelikalen Sektenführern – der Hexerei beschuldigt und mit dem Tod bestraft. Das Eigentum der Frau (z. B. Grund und Boden) geht nach der Tat an jüngere Angehörige oder an lokale Unternehmer über, die dieses anderweitig nutzen wollen, für eine Produktion, die weniger auf Selbstversorgung, sondern einen städtischen oder globalen Markt ausgerichtet ist. Auch in diesem Fall erfolgt der Feminizid öffentlich, als Resultat einer (illegalen) Anklage, die von einem reaktionären Mob getragen wird. Er wird in der Regel öffentlich vollzogen.

Bei all diesen Formen ist nicht nur eine enge Verbindung zu Geschäfts- und Kapitalinteressen feststellbar, sondern oft auch zu staatlichen Institutionen wie der Polizei – sei es, indem diese selbst in unterdrückten Gemeinden ihre Stellung durch Mord zu unterstreichen sucht oder Feminizide an Marginalisierten, Sexarbeiter:innen, trans Personen oder schwarzen und migrantischen Menschen nicht oder nur am Rande verfolgt.

Wie beim Mord durch die Bande ist der Feminizid hier eng mit der Etablierung der gewalttätig oder auch ideologisch abgesicherten Vorherrschaft der Täter über eine bestimmte Gemeinschaft verbunden.

Darüber hinaus finden wir indirekte oder direkte Formen staatlich sanktionierter Feminizide. Dazu gehören entweder durch reaktionäre, oft religiöse Institutionen und Kräfte forcierte öffentliche Tötungen von Frauen – z. B. Steinigung durch islamistische Mobs, aber auch Hexenverbrennungen, die von evangelikalen Fundamentalisten oder Hinduchauvinisten ermutigt werden. Anderer Formen bilden Vergewaltigungen und Feminizide an national oder religiös unterdrückten Frauen, z. B. an Muslima in Indien durch rechte und protofaschistische Hindufundamentalisten. In bestimmten Fällen kann die Todesstrafe ein Feminizid sein, z. B. eine öffentliche Steinigung. In all diesen Fällen findet die Tat offen und öffentlich statt. Die Täter bilden eine reaktionäre, aggressive und mörderische Masse oder eine jubelnde Menge bei einer staatlich inszenierten Hinrichtung.

In diesen Fällen bildet der Feminizid ein Element zur Sicherung von Herrschaft, sei es, um durch die Mobilisierung einer kleinbürgerlichen Masse die politischen und gesellschaftlichen Gegner:innen einzuschüchtern und eine erzreaktionäre politisches Kraft an die Macht zu bringen oder ein bestehendes Regime durch ritualisierten Mord zu festigen. Die sicherlich brutalste und extremste Form stellen dabei Vergewaltigung, Folter und Frauenmord als gezielt eingesetztes Mittel im Krieg und Bürger:innenkrieg dar.

Die Verknüpfung von Feminiziden mit Kapitalinteressen und staatlichen Institutionen erklärt auch, warum zu diesen viel weniger verlässliche Zahlen vorliegen. Die Veröffentlichung von Berichten und Zahlen ist selbst oft erst das Resultat von Kämpfen und durch Bewegungen erzwungene/n öffentliche/n Untersuchungen. Das 2021 erschienene Buch „Feminizide and global accumulation“ dokumentiert exemplarisch wichtige Beispiele und Kämpfe, die auf einer internationalen feministischen Konferenz dargestellt und diskutiert wurden. Dass diese Frauenmorde überhaupt erst ins öffentliche Bewusstsein gelangen, als solche „anerkannt“ werden müssen, verdeutlicht, wie hartnäckig gerade der Feminizid im Interesse von Kapital und reaktionären Kräften politisch tabuisiert wird.

Folgerungen und Programm

Der Kampf gegen Femizide, Feminizide und deren Ursachen stellt eindeutig eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen Frauenunterdrückung weltweit dar. Zweifellos bildet dabei der Kampf um die Ächtung dieser Morde, was in vielen Ländern schon mit dem um die öffentliche Anerkennung ihrer Existenz beginnt, einen unerlässlichen Ausgangspunkt. Femizide, ihr Ausmaß und ihre Ursachen dürfen nicht nur nicht relativiert oder weggeredet werden, sie müssen vielmehr in ihrer gesamten Dimension oft überhaupt erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und das heißt vor allem auch der Arbeiter:innenklasse gerückt werden. Damit verbunden stellt auch der Kampf um die effektive Verfolgung dieser Straftaten einen wichtigen Bezugspunkt dar.

Vom Standpunkt der Arbeiter:innenklasse geht es dabei jedoch nicht um möglichst drakonische Strafsysteme, wohl aber darum, dass Täter nicht straflos davonkommen dürfen oder bei sexistischer und rassistischer Polizei und Gerichten recht milde Behandlung finden. Daher treten wir dafür ein, dass Untersuchungen von Femiziden unter Kontrolle von Frauenorganisation durchgeführt, Richter:innen von Frauen, also potentiellen Opfern, gewählt werden und mindestens die Hälfte aus Frauen besteht. Zugleich muss sichergestellt werden, dass vor allem Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, von rassistisch und national Unterdrückten voll repräsentiert sind.

Nicht weniger wichtig ist der Schutz möglicher Opfer und die Prävention. Dazu gehören dringende Sofortmaßnahmen wie der massive Ausbau von möglichen Schutz- und Rückzugsräumen für Frauen, deren Kinder und für geschlechtlich Unterdrückte, also Bau und Errichtung von Frauenhäusern, die vom Staat finanziert und unter Kontrolle von Frauenorganisationen selbstverwaltet betrieben werden.

Diese Forderungen dienen letztlich den Frauen aller Klassen, vor allem aber natürlich jenen aus der Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft.

Der Kampf gegen Femizide muss darüber hinaus aber auch mit dem zur Sicherung der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückter, von Indigenen oder Minderheiten gemeinsam mit letzteren verbunden werden. Die zunehmende Verarmung und Verelendung breiter Schichten, die Ausbreitung von Arbeitsbedingungen und Löhnen, die die Existenz immer weniger sichern, bedeuten, dass der Kampf gegen Femizide wie überhaupt gegen jede Form der häuslichen Gewalt eng verbunden werden muss mit dem gegen Armutslöhne, informelle und Kontraktarbeit, Tagelöhnerei und die Zerschlagung sozialer Sicherungssysteme. Daher fordern wir Mindestlöhne, die die Existenz sichern und an die Inflation angepasst werden; die Abschaffung aller informellen und prekären Beschäftigung und ihre Umwandlung in tariflich gesicherte, von den Gewerkschaften und Arbeiter:innenkomitees kontrollierte; Arbeitslosen-, Krankengeld und Renten in der Höhe des Mindestlohns; ein Programm öffentlicher, gesellschaftlich nützlicher Arbeiten, das den massiven Ausbau von Kitas, Schulen, öffentlichen Betreuungseinrichtungen, Krankenhäusern, der Altenpflege, von Kantinen und anderen Einrichtungen zur Vergesellschaftung der Hausarbeit inkludiert.

Diese Forderungen richten sich gegen das Kapital als Klasse und stehen grundsätzlich im Interesse aller Unterdrückten, unabhängig von ihrem Geschlecht. Dennoch wäre es mechanisch und naiv, dass die proletarischen Männer in ihre Gesamtheit automatisch auf ihre Privilegien verzichten oder sexistische Verhaltens- und Denkweisen, die eng mit ihrer Geschlechterrolle verbunden sind, ablegen würden. Die proletarischen Frauen müssen daher das Recht haben, innerhalb der Arbeiter:innenbewegung eigene Treffen zu organisieren, um den Kampf voranzutreiben und männlichen Chauvinismus zu bekämpfen. Sie müssen eine proletarische Frauenbewegung um diese Kämpfe aufbauen, um so Rückständigkeit und Chauvinismus zu bekämpfen, aber auch die Führung im Kampf um die Befreiung der Frauen aller unterdrückten Schichten einzunehmen.

Diese vier Punkte bezogen sich vor allem auf den Kampf gegen intime und verwandtschaftliche Femizide und ihre gesellschaftlichen Ursachen. Wie wir gerade aus den beiden letzten Kapiteln ersehen, sind sie eng mit dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung verbunden. Dies trifft ebenso auf den Kampf gegen Feminizide im Herrschaft- und Kapitalinteresse zu.

Da hier die Auftraggeber der Morde oft auch ökonomische Interessen verfolgen (Ausbeutung bestimmter Arbeitskräfte, gewaltsame Aneignung von Ressourcen wie Grund und Boden) steht der Kampf auch hier im engen Zusammenhang mit der Frage nach Kontrolle ökonomischer Ressourcen und des Eigentums.

Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie bei der zweiten Form der Feminizide eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung. Um solchen Kräften entgegentreten zu können, bedarf es einer organisierten, von Massen oder Massenorganisationen getragenen Selbstverteidigung, letztlich des Aufbaus von bewaffneten Milizen der Arbeiter:innen und Unterdrückten.

Die Verhinderung des Feminizids erfordert den Aufbau von Organen der Gegenmacht – und wirft somit die Machtfrage selbst auf. Dies betrifft letztlich auch die Frage der Sicherung der Reproduktionsbedingungen der Gesamtklasse wie der Enteignung von Kapital oder großer, illegaler Geschäftemacher, die systematisch in Frauenmorde verwickelt sind. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern, können Reformen im Interesse der Arbeiter:innenklasse nur eine vorübergehende Besserung schaffen. Um Banden der Großgrundbesitzer, rechtspopulistischer oder protofaschistischer Kräfte des Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.




Femizide – Frauenmorde international, Widerstand international

Jonathan Frühling, Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Femizide

Der Begriff des Femizids (engl. femicide) wird
seit Beginn des 19. Jahrhunderts benutzt in Abgrenzung zum englischen Begriff
„homicide“ (Mord, Totschlag). Die feministische Soziologin Diana Russell
definiert den Femizid als einen Mord an einer weiblichen Person durch einen
Mann aufgrund der Tatsache, dass sie weiblich ist. Diese Definition schließt
die Tötung von Kindern mit ein. Außerdem wird damit die geschlechterspezifische
Motivation der Morde verdeutlicht, die Frauen durch Männer widerfährt. Der
Femizid stellt noch vor der Vergewaltigung die höchste Manifestation der
Unterdrückung der Frau dar.

2017 wurden laut UNO 87.000 Frauen Opfer von Mord,
50.000 wurden dabei durch eigene Familienmitglieder oder den Partner getötet,
wobei 38 % dieser Morde auf den eigenen (Ex-)Partner entfallen.

Die meisten Femizide werden nicht bestraft, was an
dem limitierten Zugang von Frauen zu Gerichtsbarkeit und der benachteiligten
Stellung in polizeilicher Ermittlungsarbeit liegt. Allgemein ist die
statistische Lage zu Femiziden allerdings sehr schlecht, da in Mordstatistiken
meist nicht einmal das Geschlecht, geschweige denn der Tötungsgrund erfasst
werden.

Gründe für Femizide

Der allgemeinste, auch in der bürgerlichen
Gesellschaft anerkannte Grund für Femizide ist der Wille der Männer das Leben,
den Körper und die Sexualität der Frauen zu kontrollieren. Versuchen sich
Frauen, dem zu widersetzen, nehmen die Männer auch die Tötung der Frau in Kauf,
um ihre Vormachtstellung zu erzwingen.

Die Morde an homosexuellen Frauen werden ebenfalls
als Femizide bezeichnet. Eine weitere Form der Femizide sind die sogenannten
Ehrenmorde. Dabei werden Frauen ermordet, weil sie z. B. vor der Ehe Sex
hatten oder vergewaltigt wurden und somit aus der Sicht der Sexisten die „Ehre“
der Familie verletzt haben.

Femizide passieren aber auch, weil Frauen der
Hexerei bezichtigt werden, was besonders im Südpazifikraum ein Problem
darstellt. Vor allem in Südasien werden Frauen wiederum in Zusammenhang mit
einer als zu gering angesehenen Mitgift getötet. Obwohl Mitgiften eigentlich
allgemein z. B. in Indien verboten sind, ist es in vielen Ländern immer
noch üblich, dass die Frau, um eine Ehe schließen zu können, teure Geschenke an
die Familie des Mannes machen muss. Allein in Indien wurden zwischen 2007 und
2009 8.200 Mitgiftmorde registriert.

Zudem sterben Frauen an erzwungener Abtreibung,
erzwungener Mutterschaft, Genitalverstümmelung oder Sexsklaverei. Diese
Tötungen müssen laut Diana Russell ebenfalls als Femizide bezeichnet werden.

Ein dem Femizid ähnliches Phänomen ist die
gezielte Abtreibung von Mädchen, welche vor allem in Südchina und Indien
Anwendung findet. Es wird dabei weiblichen Menschen grundsätzlich das Recht auf
Leben verwehrt. Da die pränatale Geschlechtsbestimmung für viele arme Familien
nicht zugänglich ist, werden viele weibliche Säuglinge direkt nach der Geburt
ermordet. In diesem Fall kann ganz klar von einem Femizid gesprochen werden.

Situation in
Lateinamerika

Unter den 25 Ländern mit der höchsten Femizidrate
befinden sich 14 lateinamerikanische. Jeden Tag werden dort 12 Frauen Opfer von
Femiziden. Besonders schlimm ist die Lage in Mittelamerika. Die Folge davon war
nach öffentlichem Druck die Einführung der rechtlichen Kategorie des Mordes mit
geschlechterspezifischen Gründen.

Sieben Länder mit der höchsten Femizidrate
befinden sich in Europa, drei in Asien und nur eins in Afrika. Das beweist,
dass Frauenmorde auch in der sogenannten westlichen Welt ein weitverbreitetes
Problem darstellen. In Europa wird jedes Jahr jede 250.000 Frau Opfer eines
Femizids.

Situation in Deutschland
und Österreich

Deutschland hat die Definition von Femiziden der
WHO nicht übernommen und kennt den Femizid als Straftatbestand nicht. In
Deutschland gab es von 2012–2017 laut polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) 849
Morde von Frauen in (Ex-)Partnerschaften und 1212 versuchte Tötungen. Die
Statistiken über Gewalt gegen Frauen sind allerdings unzureichend. Ob es sich
dabei wirklich um Femizide handelt, ist z. B. unbekannt, da die Tatmotive
nicht erfasst werden. Deutschland hat bisher auch die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt
gegen Frauen und häuslicher Gewalt),
die Staaten europaweit zum Kampf gegen Gewalt gegen Frauen verpflichtet, nicht
unterzeichnet, sondern 2017 lediglich ratifiziert. Diese Konvention forderte
unter anderem, eine Kommission einzurichten, die Daten zur Gewalt gegen Frauen
zu erfassen, zu bewerten und zu verbreiten.

Österreich hat europaweit die höchste Rate von
Femiziden (41 in 2018). Ein Grund dafür könnte in der massiven Bagatellisierung
der Gewalt gegen Frauen durch die Justiz liegen. Einschüchterung, Misshandlung,
Bedrohung und sexuelle Gewalt gehen dem Femizid meistens voraus. Die Täter
planen zumeist ihre Tat und sprechen Morddrohungen aus. Wird dies nicht ernst
und werden die potentiellen Täter nicht in Untersuchungshaft genommen, sondern
z. B. nach einer Trennung auf freien Fuß gesetzt, besteht für Frauen eine
enorme Gefahr. Wie schlimm die Lage ist, zeigt sich auch daran, dass nur
10 % der gewalttätigen Männer nach der Anzeige durch eine Frau verurteilt
werden.

Die Bewegung „Ni Una
Menos“

Als Reaktion auf einen Femizid in Argentinien
wurde 2015 das Kollektiv „Ni Una Menos“ (Nicht eine weniger), bestehend aus
Journalistinnen, Künstlerinnen und Aktivist_Innen, gegründet. Unter dieser
Parole sind am 3. Juni 2015 Hunderttausende gegen Femizide auf die Straße
gegangen. Die Bewegung wurde in der Folgezeit in einer Vielzahl von Ländern
adoptiert, vor allem in Lateinamerika (z. B. Chile, Peru, Mexiko), aber
auch in Spanien oder Italien. Wie mächtig diese Bewegung ist, zeigt z. B.,
dass die „Ni Una Menos“-Demonstration in Peru am 13. August 2016 die größte in
der Geschichte dieses Landes war. Am 19. Oktober 2016 gab es den ersten
massenhaften Frauenstreik, der 8 Länder Lateinamerikas umfasste. Die Bewegung
sprengt schaffte es also, nationale Grenzen zu sprengen.

Am 20. Dezember 2019 beteiligten sich in 200
Städten über die ganze Welt verteilt vor allem Frauen an Flashmobs und
Demonstrationen gegen Frauenmorde und sogenannte „Rapeculture“.1
Besonders brisant ist dabei, dass die Proteste maßgeblich von Chile ausgehen,
wo die Frauenkampfbewegung im Rahmen mächtiger Proteste gegen die neoliberale
Regierung stattfindet. Es kann dort eindrucksvoll beobachtet werden, wie sich
verschiedene Bewegungen z. B. gegen Sexismus, Umweltzerstörung und
Neoliberalismus zu einer Bewegung für eine bessere Gesellschaft vereinen.

Perspektive im Kampf
gegen Femizide

Wie die mächtigen Frauenkampfbewegungen in Spanien
und Lateinamerika gezeigt haben, ist es möglich, Fortschritte zu erkämpfen. So
hat z. B. Spanien 2010 damit begonnen, Statistiken zu Femiziden zu führen,
was das Bewusstsein für das Problem gesteigert hat. In 16 lateinamerikanischen
Ländern wurde der Femizid als Straftatbestand oder als strafverschärfendes
Merkmal aufgenommen, was auch zu einer Erfassung der Aburteilungsquote führte.

Prävention und direkte Hilfe müssen natürlich
massiv ausgebaut werden. Eine feministische Bewegung muss gegen den eklatanten
Mangel an Frauenhausplätzen ankämpfen. In Deutschland müssten laut der
Istanbuler-Konvention 21.400 Betten in Frauenhäusern verfügbar sein. Momentan
gibt es nur 6.800, weswegen Frauen oft wieder zu ihren gewalttätigen Partnern
geschickt werden. Auch eine ordentliche gesundheitliche und psychische
Betreuung, Vermittlung in Jobs, ein höheres Arbeitslosengeld oder die
konsequentere Eintreibung von Unterhaltszahlungen sind wichtige Forderungen.
Sie können Frauen helfen und motivieren sich von einem gewalttätigen Partner zu
trennen.

Dies kann natürlich im Kampf gegen Femizide nur
der Anfang sein. Letztlich müssen vor allem die Macho-Kultur und das Patriarchat
angegriffen werden, um der Unterdrückung der Frauen als Ganzes zu begegnen. Die
„Ni Una Menos“-Bewegung in Lateinamerika oder der heroische Kampf der
argentinischen Frauen für bessere Abtreibungsrechte können als glänzende
Beispiele dienen. Diese Bewegungen müssen verstetigt und ausgeweitet werden,
wenn sie dauerhaft eine Wirkung haben wollen. Entscheidend ist aber auch, dass
sie sich mit den Bewegungen der landlosen Bauern und Bäuerinnen oder der
Arbeiter_Innenklasse verbinden. Was wir brauchen, ist eine vereinte Bewegung
gegen den Kapitalismus. Die bürgerliche Gesellschaft basiert nämlich auf der
Familie und diese wiederum auf der Ausbeutung und Unterdrückung der Frau. Nur
wenn der bürgerlichen Familie ihre kapitalistische Grundlage entzogen wird, kann
eine Bewegung gegen Femizide erfolgreich sein.

Für Marxist_Innen stellen Femizide nur die Spitze
des Eisbergs der Frauenunterdrückung dar. Der „Wille“ der Frauenmörder und
–vergewaltiger basiert also auf den Jahrtausende alten gesellschaftlichen Mechanismen,
die wir an anderer Stelle in dieser Zeitung charakterisiert haben. Nur der
Umsturz der Klassengesellschaft und die Errichtung einer klassenlosen können
den Rahmen für das Ausrotten dieser Umtriebe bilden.

Ein Programm dafür kann sich nicht auf bürgerliche
Polizei, Justiz und Staat verlassen. Die Familie muss in einer höheren Form des
sozialen reproduktiven Zusammenlebens aufgehoben werden. Deshalb fordern wir
die Sozialisierung der Reproduktionssphäre, beginnend mit der unbezahlten Haus-
und Sorgearbeit. Dafür brauchen wir eine neue revolutionäre 5.
ArbeiterInneninternationale und eine kommunistische als Bestandteil einer
allgemeinen proletarischen Frauenbewegung. Die Bewegung in Lateinamerika wirft
diese Frage auf, stellt ein ideales Terrain dar, auf dem dieses Programm
fruchtbar werden kann. Eine reine Vernetzung, ein Zusammentreffen mit anderen
sozialen Bewegungen löst sie aber nicht von allein, solange die Unterdrückten
noch von einem nichtkommunistischen Bewusstsein geprägt bleiben.

In der Logik der Sozialisierung der Hausarbeit
liegen Forderungen wie nach Unterhaltszahlungen durch den Staat statt durch die
Expartner, die oft genug eine andere Familie unterhalten müssen, was für
Lohnabhängige unmöglich macht, auch noch ihre ehemalige finanziell zu
versorgen. Diese müssen mit einer Progressivsteuer auf Besitz, Vermögen und
Erbschaften verknüpft werden, die die Reichen zur Kasse für die Finanzierung
dieser gesellschaftlichen statt familiär-privaten Aufgabe – wie im Kapitalismus
– bittet. Das Gleiche trifft auf Frauenhäuser zu. Diese sollten zudem unter
Kontrolle der Nutzerinnen und der Arbeiter_Innenbewegung gestellt werden. Zum
Schutz gegen gewalttätige Übergriffe muss letztere sich für staatlich
finanzierte Selbstverteidigungskurse für Frauen einsetzen.

In diese Übergangslogik, die die Hand auf den
Reichtum der Herrschenden legt und die Klasse zur Kontrolle des sozialen
Geschehens und zur Selbstverteidigung auffordert, können solche Teilforderungen
eingereiht zum Sprungbrett für den Kampf um Sozialismus und Arbeiter_Innenmacht
geraten und kann damit der Anfang vom Ende des männlichen Chauvinismus
eingeleitet werden.

1 Mit dem Begriffe „Rapeculture“ wird kritisch
darauf hingewiesen, dass Vergewaltigungen faktisch überall auf der Welt
grausame Normalität sind (und fast immer straffrei bleiben).

https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/040/1904059.pdf

http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/100/1910062.pdf

http://www.oas.org/es/mesecvi/docs/DeclaracionFemicidio-EN.pdf

https://www.ohchr.org/Documents/Issues/Women/WRGS/OnePagers/Gender_motivated_killings.pdf

https://www.tagesschau.de/inland/frauenhaeuser-103.html

https://www.aljazeera.com/news/2019/12/chile-rapist-path-chant-hits-200-cities-map-191220200017666.html