Non-Binary in der Schule: Wie ist das so?

Interview mit Flo, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Flo ist 15, geht zur Schule – und bevorzugt für sich keine Pronomen. Flo ist nämlich nicht-binär. Wie haben die Schulkolleg*innen reagiert? Gab es Probleme mit Lehrer*innen? Wir haben Flo um Einblicke gebeten. Das Interview führte Aventina Holzer.

Wann hattest du erstmals das Gefühl, dass „männlich“ oder „weiblich“ dich nicht wirklich beschreiben?

Man stellt es sich oft bisschen so wie in den Filmen vor, oder? Man steht vorm Spiegel und realisiert, dass man eigentlich lieber einen Penis möchte, oder sich nicht wohl mit Brüsten fühlt. Also so war es bei mir eher nicht. Es waren stattdessen viele unterschiedliche Dinge. Angefangen damit, dass ich mich schon im Kindergarten mit der Unterteilung in männlich und weiblich nicht wohlgefühlt habe. Und dass mich später Leute gefragt haben, ob ich männlich oder weiblich bin. Das hat mich damals schon geärgert. Aber auch Momente wo ich selbst gesehen habe, dass ich ausschaue wie ein Bursche und mich damit plötzlich wohlgefühlt habe.

Wusstest du gleich, dass du non-binary bist?

Nein. Ich habe mir viele Dokus angeschaut, speziell zum Thema inter Personen. Dort wurde das Thema „nicht (nur) Mann und Frau sein“ aufgegriffen. Das habe ich dann auch mit meiner Mutter diskutiert, die das nicht ganz verstanden hat. Ihre Antwort auf meine Frage, ob es noch was anderes als weiblich und männlich gäbe, war „nein!“. Das hat mich damals auch ziemlich enttäuscht und den Gedanken zu meiner eigenen Nicht-Binärität nach hinten geschoben. Später habe ich dann über TikTok und Instagram viele Leute gefunden, mit deren Content ich mich identifiziert habe – und so auch mehr über meine Geschlechtsidentität herausfinden konnte. Wie hat dein Umfeld darauf reagiert? Damit hatte ich viel Glück, weil ich zu dem Zeitpunkt schon politisch aktiv war – damals bei Fridays for Future. Davor habe ich kaum queere Menschen gekannt und dann waren plötzlich alle dort gay. Ich wusste zu dem Zeitpunkt schon, dass ich nicht-binär bin und konnte das in diesem Rahmen auch zum ersten Mal äußern. Da habe ich mich dann auch zum ersten Mal getraut, meine Pronomen zu sie/er zu ändern (Anm: mittlerweile verwendet Flo keine Pronomen). Meine Eltern waren ein bisschen schwieriger, weil sie das alles nicht kannten.

Wie lief dein Outing in der Familie?

Ich war ur nervös als ich ihnen gesagt habe, dass ich keine Pronomen mehr verwende und nur bei meinem richtigen Namen genannt werden möchte. Die nächsten eineinhalb Jahre hatten wir viele Gespräche darüber und ich wurde tausendmal ge-deadnament und misgendert. Das hat auch immer wieder intentional gewirkt. Meine Oma und Tante waren dann relativ cool. Sie haben auch begonnen, keine Pronomen für mich zu verwenden und neue Begriffe für Nichte/Neffe, Enkel/Enkelin zu erfinden. In der Schule wurde mein Coming-out hingegen zum Großteil ignoriert. Vor allem weil die Leute es nicht so richtig verstanden haben, einige haben es aber auch ganz gut akzeptiert.

Wie geht es dir dir mit dem Umgang mit deiner Geschlechtsidentität in der Schule?

Naja, da ist das Namens-Ding. Wenn Lehrer*innen die „richtigen“ Namen verwenden. Mein Name ist auf keiner Liste geändert – und darum weigern sich einzelne Lehrpersonen, meinen Namen zu lernen. Eine meinte sogar, dass wir uns jetzt ja nicht erwarten sollen, dass sie unsere neuen Namen oder diese „komischen Pronomen“ lernt. Und beim Elterngespräch wurde von manchen Lehrer*innen das Thema die ganze Zeit auf Transidentität gelenkt, statt darüber zu reden, weswegen das Gespräch eigentlich stattfindet – meiner Noten. Leute gehen davon aus, dass trans Personen einfach ein allgemeines Thema sind, über das alle jetzt plötzlich reden können und mitentscheiden, was ihre körperliche Selbstbestimmung angeht. Jede*r hat eine Meinung dazu und jede trans Person muss auch immer sofort darüber diskutieren.

Wie fühlst du dich, wenn du so darüber ausgefragt wirst?

Schüler*innen sind oft verwirrt – was auch voll ok ist. Jede*r sollte nachfragen, wenn man sich bei etwas nicht sicher ist. Aber viele Leute stellen auch sehr persönliche Fragen über Transitions, die einer cis Person nie gestellt werden würden. Meine Schule selbst ist aber zum Glück eigentlich eh sehr queer geprägt. Transmaskuline Menschen können etwa bei den Burschen mitturnen zum Beispiel. Es wäre sicher an vielen anderen Schulen viel schlimmer. Trotzdem fühlt man sich als trans Person oft als Vorführexemplar.

Was hättest du dir in der Schule als Unterstützung gewünscht?

Eine Vertrauensperson, die beim Thema ausgebildet ist, wäre sehr wichtig. Die Person sollte sich auskennen, weil man sich sonst immer erklären muss und die Hürde dann sehr hoch ist, sich an diese Person zu wenden. Am Anfang wäre es auch wichtig von der Lehrer*innen-Seite aus auch zu fragen, wie die Eltern dazu stehen und das mitein-zubeziehen. So kann vermieden werden, trans Personen in unangenehme Situationen zu bringen oder auch ein Coming Out zu erzwingen.

Würde eine Thematisierung im Unterricht helfen?

Gibt es sowas aktuell? Thematisierung von trans-Identität im Unterricht ist momentan meistens freiwillig. Es heißt „wir können darüber reden, wenn es Leute interessiert“ und wenn es dazu kommt, ist es nicht besonders informiert. Es ist doch nicht nur eine Interessensfrage, es gibt so viel Falschinformation in den Medien – da braucht es eine Fixierung im Lehrplan! Schulungen zu dem Thema wären auch eine gute Sache, sonst werden queere Schüler*innen die ganze Zeit als Lexikon verwendet.

Hast du Tipps an Lehrer*innen und Mitschüler*innen, wie man am besten mit einem Coming Out umgeht?

Die eigenen Pronomen sagen hilft auf jeden Fall mal, es ist zum Beispiel cool, wenn Lehrer*innen das im Rahmen von Vorstellungsrunden aufbringen. Es ist nämlich nervig, immer selbst auf Lehrer*innen zukommen zu müssen. Fragen zu der Person und Geschlechtsidentität zu stellen, ist voll ok. Aber man sollte sich vielleicht zuerst fragen: „Kann man es googeln?“, oder: „Sind manche Fragen doch zu intim? Würdest du die einer cis Person wirklich genauso stellen?“. Zum Beispiel Fragen zu Genitalien und zum Sexualleben. Aber Fragen stellen ist natürlich schon auch sehr wichtig, speziell, wenn man Probleme beim Verstehen von Pronomen hat. Man vertut sich am Anfang, das ist nicht so tragisch, man sollte sich einfach selbst korrigieren, weitermachen und nicht voll das Drama draus machen. Das bringt sonst trans Menschen nur in eine unangenehme Situation und lenkt vom eigentlichen Thema ab. Wichtig ist eben auch, dass Information nur weitergegeben werden, wenn explizit darum gebeten wird – zum Beispiel im Rahmen von Coming-outs. Oft heißt es, nicht-binär zu sein, sei ein Jugend-Trend.

Können cis-Personen helfen, dagegen aufzuklären?

Auf jeden Fall! Wenn diese Diskussion aufkommt und man als cis Person das Gefühl hat, dass die trans Person sich eh gut auskennt, macht es trotzdem Sinn sich in die Diskussion einzuschalten. Sonst bleibt es immer an trans Personen hängen diese Diskussionen zu führen und man fühlt sich sehr alleine.

Was sind gute Argumente dagegen?

Zum Beispield, dass das Wort „nicht-binär“ zwar relativ neu ist, aber das Konzept nicht. Die Geschichte ist voll mit trans Personen und auch in den Medien gibt es einige Leute, die sich nicht wohlfühlen mit der Geschlechtsbinärität, wie sie momentan aufrechterhalten wird. Als ältere Person kann man sich sicher auch zurückerinnern an Leute, die nicht reingepasst haben in die Binärität von männlich und weiblich, die sich damit nie speziell assoziiert haben oder die vielleicht auch schon früh wussten, dass ihr biologisch zugeschriebenes Geschlecht nicht dazu passt, wie sie sich fühlen. Jetzt gibt es eben Wörter dafür.

Wie stark werden non-binary-Menschen generell heutzutage diskriminiert?

Bis heute gibt es keine gesetzliche Gleichstellung. Stigmatisierung ist immer noch ein Thema, war aber früher auch noch viel stärker. Im Kontext von der Aids-Krise sind unglaublich viele queere Menschen gestorben und da die Gesellschaft früher noch viel homophober und transphober war, waren viel weniger queere Leute bereit, sich zu outen oder überhaupt lang genug am Leben. Das hat sich mit der Zeit verändert bzw. verändert sich immer noch. Bevor man solche Aussagen trifft, wie, dass es sich um einen „Trend“ handelt, sollte man erstmal nachdenken, warum gerade jetzt Menschen sich wohl genug fühlen ihre Identität öffentlich zu diskutieren. Und natürlich gibt es durch das Internet auch mehr Zugang zu Informationen und Möglichkeiten sich anonym Ratschläge und Unterstützung zu holen. Das ist einfach eine neue Art zu kommunizieren und sie bringt auch viele neue Möglichkeiten, mit der Welt in Interaktion zu treten. Und eigentlich ist es schön, dass jetzt viel mehr Menschen zu ihrer Identität finden und zu ihr stehen können.

Über Flo

Flo ist Akivist*in beim Jugendrat und Schüler*in. Flo ist seit ein paar Jahren politisch aktiv und engagiert sich einerseits in der Klimabewegung, aber auch gegen Kapitalismus und für eine befreite Gesellschaft. Der Jugendrat ist eine politische Organisation von jungen Menschen, die sich aus der Fridays for Future Bewegung gegründet hat. Klimagerechtigkeit ist ein zentraler Grund für seine Gründung. Klimagerechtigkeit kann aber nur erreicht werden, indem man mit dem kapitalistischen System bricht, welches nur nach Profitgier Entscheidungen trifft. Deshalb ist der Jugendrat auch unabhängig von politischen Parteien, um radikal für unsere Zukunft kämpfen zu können.




Pakistan: Rechte versucht, minimalen Schutz für trans Personen rückgängig zu machen

Vom Revolutionary Socialist Movement (Pakistan), Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Während im Iran die Arbeiter:innenklasse gegen das diktatorische, patriarchale Regime auf die Straße geht, wird über die Attacke der fundamentalistischen Rechten auf trans Personen in Pakistan, die ohnehin schon massiv unterdrückt werden, geschwiegen.

Ebenso wie die Mullahs im Iran versuchen, Frauen daran zu hindern, selbst zu entscheiden, was sie tragen, will das pakistanische Äquivalent mit seiner protofaschistischen Basis die kleinen Erfolge des Gesetzes zum Schutz von trans Personen aus dem Jahr 2018 zurücknehmen. Es war zwar kein großer Wurf, kann jedoch als kleiner Fortschritt angesehen werden. Es gewährt trans Personen zum Beispiel nicht das Recht, sich entgegen ihrem eingetragenen Geschlecht als Mann oder Frau zu identifizieren. Dennoch erlaubt es ihnen, sich selbst dem dritten Geschlecht im Unterschied zu ihrem bei Geburt zugeschriebenen zuzuordnen. Dies gilt auch für Ausweisdokumente.

Die religiöse Rechte begehrt, wie zu erwarten war, bewaffnet gegen dieses Gesetz auf und verbreitet eine Deutung, die wie gewöhnlich in Betrug und Verderbtheit wurzelt, die typisch für ihresgleichen ist. Als Begründung gibt sie an, dass die amtliche Änderung des Geschlechts als Möglichkeit genutzt werden könne, das Verbot von Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare zu umgehen, indem sie vorgeben, ein anderes Geschlecht zu repräsentieren. Doch das ist unwahr.

Die Kräfte, die gegen dieses Gesetz mobilisieren, welches im Jahr 2018 verabschiedet wurde, sind dafür bekannt, seit langem protofaschistische Tendenzen zu umfassen. Sie sind ebenfalls dafür bekannt, ein extrem patriarchales und rückschrittliches Frauenbild zu vertreten. Die Partei Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft; JI) spielte eine zentrale Rolle für die drakonischen Gesetze, die der Diktator Zia-ul-Haq (1978 – 1988) während der Militärdiktatur eingeführt hat. Die Jamiat Ulema-e-Islam (Fazl) (JUI-F; Versammlung Islamischer Kleriker), deren Führer Maulana Fazal-ur-Rehman ist, wurde vor kurzem, als die PDM (Pakistan Democratic Movement; Pakistanische Demokratische Bewegung; Parteienkoalition gegen Expremierminister Imran Khan, 2020 gegründet) in Opposition zu Imran Khan gegründet wurde, als  Held:in der reformorientierten und liberalen Linken Pakistans gefeiert. Doch sie pflegt die hässliche Tradition, die Gesichter von Frauen, die in öffentlichen Anzeigen zu sehen sind, mit schwarzer Farbe zu beschmieren. In der Zwischenzeit hat sich noch eine weitere Partei, die Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) der widerwärtigen Hasskampagne angeschlossen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Vorsitzende und ehemalige Premierminister Imran Khan ein Frauenhasser vom selben Schlag ist.

Senator Mushtaq Ahmad Khan von der Partei Jamaat-e-Islami steht an der Spitze der derzeitigen Hasskampagne gegen die Rechte von trans Menschen, die zumindest auf dem Papier bestehen. Er hat vorgeschlagen die Gesetzeslage dahingehend zu ändern, dass Gremien von Ärzt:innen geschaffen werden sollen, die dann wiederum die Entscheidungsmacht darüber hätten, ob eine Person „komplett“ männlich oder weiblich sei. Dies solle mit einer invasiven körperlichen Untersuchung einhergehen. In seiner Vorstellung sollten nur die, bei denen das Geschlecht auf Basis der Fortpflanzungsanatomie bei Geburt „unklar“ sei, das Recht dazu haben, über ihr Geschlecht zu entscheiden. Kurz gesagt sollten lediglich Menschen mit mehrdeutigen Genitalien (Anm.: in der Regel sog. Intersexuelle) wählen dürfen und auch nur, wenn sie sich vorher der Tortur einer Leibesuntersuchung durch eine ärztliche Instanz unterzögen. In einem Land, wo die meisten Ärzt:innen (Anm: in der Regel Männer) bereits massiv in die Privatsphäre ihrer Patient:innen durch wertende Kommentare eingreifen, bspw. wenn es um Themen rund um Sex geht, kann man sich ausdenken, was das für Leben und Gesundheit von trans Personen an Belastung mit sich bringt.

Die Begründung Mushtaq Ahmad Khans hat gezeigt, dass sowohl Frauenunterdrückung als auch die Geschlechterungleichheit und die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten eine Klassenfrage darstellen. So gab er bei Voice of America zu, dass die eigenständige Wahl des Geschlechtes „eine Gefahr für die Familie und das Erbschaftssystem darstellt“ und es „die Tür dafür öffnet, dass 220 Millionen Menschen auswählen zu können, irgendwas zu sein“. Die Familie ist in der bürgerlichen Gesellschaft der Garant für das Überleben des kapitalistischen Systems, denn sie dient in erster Linie dazu, das Privateigentum dort zu halten. Für Pakistan ist wichtig anzumerken, dass insbesondere in islamischen Gesellschaften Frauen den halben Anteil des Mannes am Erbe erhalten. Die mickrige Hälfte, die ihnen zusteht, wird dennoch als Teil angesehen, der der Familie des Mannes zustünde. Die Ängste, dass Privatbesitz anders verteilt würde, und die Bedrohung, die das Gesetz offensichtlich für das „Familiensystem“ darstellt, zeigen, wie die Institutionen der Familie, des Klerus und des Gesetzes zusammenwirken, um die Existenz und den Fortbestand des Systems des Privateigentums zu sichern. Dieses System sorgt dafür, dass die Reichen reich und die Armen arm bleiben. Es sorgt dafür, dass der Sohn eines Kapitalisten auch nach dem Tod des Vaters Eigentümer des Familienunternehmens bleibt und der Sohn eines Arbeiters auch nach dem Tod seines Vaters zu einem Hungerlohn arbeiten muss. Die regressive Anhäufung von Reichtum in wenigen Händen kann ohne Familiensystem nicht fortbestehen. Das derzeitige Gesetz zum Schutz von trans Personen sieht vor, dass eine Person, die sich als trans Mann identifiziert, auch doppelt so viel Erbe erhält wie eine trans Frau. In einem Land, in dem es üblich ist, dass Brüder ihre Schwestern emotional so manipulieren, dass sie auf ihren ohnehin schon geringen Anteil am Erbe verzichten, oder es sich einfach ohne ihre Zustimmung aneignen, kann man sich vorstellen, welche Ängste das Gesetz bei reaktionären Männern auslöst, die nun mit der Bedrohung konfrontiert sind, dass ihre leiblichen Schwestern sich möglicherweise in Männer „verwandeln“. Auch wenn es keine Zahlen gibt, die solche lächerlichen Befürchtungen untermauern, ist die Klassenbasis dieser Ängste mehr als deutlich.

Obwohl sie unbegründet sind, bedeuten sie in der Realität eine Bedrohung für das Leben und die Sicherheit von trans Personen. Im Jahr 2021 wurden nachweislich mindestens 20 trans Personen in Pakistan umgebracht. Das pakistanische Religionsgericht sowie der ständige Ausschuss für die Überprüfung im Senat prüfen die Argumente zum Gesetz. Der Rat für Islamische Ideologie (ein weiteres Verfassungsorgan Pakistans), dessen Aufgabe es ist, die pakistanischen Gesetze im Lichte des Islam zu überprüfen, hat das Gesetz aus dem Jahr 2018 für unislamisch erklärt. Wenn das Gesetz geändert wird, um die religiöse Rechte und ihre frauenfeindlichen Verbündeten in fast allen etablierten Parteien Pakistans zu besänftigen, käme das einer großen Niederlage für die Arbeiter:innenklasse und die unterdrückten Menschen in Pakistan gleich. Heute haben sie es auf trans Personen abgesehen. Morgen könnten sie versuchen, den Hidschab (Verschleierung oder Kopfbedeckung nach islamischem Gesetz) im Namen des Islam durchzusetzen wie ihre benachbarten Kleriker im Iran. Es ist ein Teufelskreis, in dem die imperialistischen Mächte diese Beispiele nutzen werden, um zu Hause weiter mit der Islamophobie hausieren zu gehen, während die arbeitenden Massen sowohl in den imperialistischen Kernländern als auch in den Halbkolonien weiter leiden.

Daher rufen wir Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, Gewerkschaften und alle fortschrittlichen Kräfte in Pakistan auf, sich gegen diese dogmatischen Kräfte zu stellen. Wir können nur selbst etwas bewirken, denn die Bourgeoisie wird keinen Finger rühren. Mushtaq Khan hatte bereits 2021 versucht, seine unsägliche Agenda durchzusetzen. Doch es schlug damals dank des Einsatzes von Shireen Mazari (pakistanische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin, Vorsitzende der Parlamentskommission für die Ernennung der/s Chef:in der Wahlkommission und ihrer Mitglieder) fehl. Gegenwärtig braucht die pakistanische Bourgeoisie eine Angst, die sie über ihre Medien und Kleriker in den Köpfen der Massen hervorrufen kann, um von den wirklichen Problemen der Wirtschaftskrise, den verheerenden Überschwemmungen und der ständig wachsenden Auslandsverschuldung abzulenken. Jamaat-e-Islami spielt langjährig die Rolle der Schutzmacht eines sich auflösenden kapitalistischen Systems. Ohne selbst je an die Macht kommen zu können, besteht darin ihr einziger Job, um sich ihren Anteil an den Pfründen zu sichern. Denn die Gruppe, auf die sie sich in der Gesellschaft stützt, ist überschaubar. Es sind vor allem kleine Geschäftsleute und Händler:innen, also Kleinbürger:innen. Historisch gesehen sind das genau diejenigen, die dazu mobilisiert werden können, auch mit Gewalt gegen die Arbeiter:innenklasse und ihre Organisationen vorzugehen. Genau deswegen ist es unsere Aufgabe, sie nicht gewähren zu lassen und uns mit all unserer Kraft gegen diese Attacken (auf Rechte von trans Personen) als Ausdruck patriarchaler Gewalt durch reaktionäre Kräfte zu stellen. Unsere Brüder und Schwestern im Iran weisen uns den Weg!




USA: Anstieg von Femiziden nach Verschärfung von Abtreibungsgesetzen

von Veronika Schulz, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Die Angriffe auf hart erkämpfte Errungenschaften, Grund- und Bürgerrechte im Zuge des Aufstiegs von Rechtspopulist:innen weltweit gehen weiter – und erste Folgen sind jetzt schon spürbar. Trotz der Abwahl von Donald Trump und der neuen Bundesregierung unter Joe Biden erleben wir in den USA einen enormen Angriff auf Frauenrechte.

Insbesondere reproduktive und Selbstbestimmungsrechte von Frauen werden immer häufiger infrage gestellt. Damit wird Frauen der Zugang zu Beratung sowie Abtreibung im Falle ungewollter Schwangerschaften bewusst erschwert oder gleich gänzlich kriminalisiert, was neben finanziellen Belastungen und gesundheitlichen Risiken im Falle nun illegal durchgeführter Abbrüche weitere Auswirkungen mit sich führt: In den USA lässt sich bereits ein deutlicher Anstieg von Femiziden feststellen, insbesondere an schwangeren Frauen.

Hintergründe

Der Begriff Femizid (engl. femicide) wird seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Abgrenzung zum englischen Begriff „homicide“ (Mord, Totschlag) benutzt. Die feministische Soziologin Diana Russell definiert Femizid als einen Mord an einer weiblichen Person durch einen Mann auf Grund der Tatsache, dass sie weiblich ist. Diese Definition schließt auch die Tötung von Kindern mit ein. Dadurch wird die geschlechtsspezifische Motivation der Morde verdeutlicht, die Frauen durch Männer erleiden. Der Femizid stellt, noch vor der Vergewaltigung, die höchste Manifestation der Unterdrückung der Frau und eine extreme Form patriarchaler Gewalt dar.

Auch wenn Boulevardmedien mit reißerischen Schlagzeilen das Gegenteil suggerieren, so sind Femizide keine rein individuellen Tragödien. Während die Täter beim Frauenmord in familiärem oder partnerschaftlichem Kontext zwar einzelne Individuen oder kleine Gruppen sind, repräsentieren sie [beim Feminizid, dem organisierten, massenhaften Femizid] eine gesellschaftliche Kraft, in deren Interesse sie agieren – z. B. eine bestimmte Sorte von Unternehmen, eine reaktionäre Bewegung.

Die gesellschaftliche Dimension von Femiziden, also Morden an Frauen, weil sie Frauen sind, erfordert eine Betrachtung der Ursachen für die Zunahme dieser Gewalttaten.

Der von konservativen Richter:innen dominierte Supreme Court (Oberster Gerichtshof) der USA hatte im Juni 2022 das fast 50 Jahre geltende Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“ aufgehoben. Dieses garantierte bisher das landesweite Grundrecht auf Abtreibung. Durch die Entscheidung des Supreme Court können Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche nun einschränken oder gänzlich verbieten, was mehrere konservativ regierte bereits getan haben. Das Urteil wurde deshalb nicht nur in den USA von Abtreibungsgegner:innen als Sieg gefeiert.

Betroffen sind rund 40 Millionen Frauen im gebärfähigen Alter, die in US-Bundesstaaten leben, in denen Abtreibungen entweder bereits verboten oder nur in eng gefassten Ausnahmefällen möglich sind bzw. in absehbarer Zeit verboten oder stark eingeschränkt werden.

Zunahme von Femizide an Schwangeren

Bereits Ende 2021, noch vor dem Urteil des Supreme Court und den darauffolgenden Restriktionen, gab es Bedenken bezüglich einer Zunahme von partnerschaftlicher Gewalt und Femiziden als mögliche Folgen: „Einige Experten befürchten, dass die Einschränkung des Zugangs zum Schwangerschaftsabbruch gefährdete Frauen noch mehr in Gefahr bringen könnte.“ So hatten Studien ohnehin belegt, dass partnerschaftliche Gewalt durch bzw. während Schwangerschaften zunimmt. Frauen war es oft nicht möglich, ihre Schwangerschaft fortzusetzen, und sie entschieden sich aufgrund häuslicher Gewalt zur Abtreibung. Die USA hatten demnach bereits eine sehr hohe Rate an Müttersterblichkeit: „Im Jahr 2018 kamen in den USA auf 100.000 Lebendgeburten 17 Müttersterblichkeitsfälle – mehr als doppelt so viele wie in den meisten anderen Ländern mit hohem Einkommen.“

Forscher:innen der Harvard School of Public Health kommen zu dem Ergebnis, dass es in den USA für Schwangere oder Frauen, die vor kurzem entbunden haben, wahrscheinlicher ist, ermordet zu werden, als durch schwangerschafts- oder geburtsbedingte Komplikationen zu sterben. Tötungsdelikte an Schwangeren sind somit häufiger als solche Todesfälle durch Bluthochdruck, Blutungen oder Sepsis, wie die Forscher:innen in einem Leitartikel beschreiben.

Die Verbreitung von Gewalt in der Partnerschaft ist in den USA ohnehin höher als in vergleichbaren Ländern. Die Gewalt endet oft tödlich und häufig sind Schusswaffen im Spiel. Eine weitere Studie der Tulane University bestätigt diesen Trend, wonach Tötungsdelikte eine der häufigsten Todesursachen bei Schwangeren und Wöchnerinnen in den USA sind.

Die genannten Studien können durch Zahlen belegen, dass neben schwangeren Jugendlichen insbesondere schwarze Schwangere ein wesentlich höheres Risiko hatten, getötet zu werden, als weiße oder hispanische. Dies verwundert nicht, da schwarze Arbeiter:innen in den USA auch heute noch strukturell benachteiligt sind, schlechter bezahlte Jobs haben, oft in beengten Wohnsituationen leben und seltener krankenversichert sind. Die ökonomischen Bedingungen wirken sich daher für diese Bevölkerungsgruppe besonders negativ aus.

Ähnliche Entwicklungen konnten auch in Deutschland im Zuge der Lockdowns der Coronapandemie beobachtet werden, wo aufgrund der schlechteren wirtschaftlichen Lage und der erzwungenen Nähe auf engstem Raum partnerschaftliche Gewalt um ein Vielfaches zugenommen hat.

Somit war bereits vor den Verschärfungen und Verboten, die auf das Grundsatzurteil des Supreme Court in einigen US-Bundesstaaten folgten, die Ausgangslage für Schwangere alles andere als sicher. Gesetze, die den Zugang von Frauen zu Abtreibung einschränken, können sie weiter gefährden, da die Kontrolle über die reproduktiven Entscheidungen einer Frau oft eine Rolle bei Gewalt in der Partnerschaft spielt. Die Autor:innen der Studie der Harvard School of Public Health weisen explizit darauf hin, dass schwangerschaftsbedingte Tötungsdelikte vermeidbar sind, z. B. indem im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen von Schwangeren gewaltgefährdete Frauen identifiziert und Hilfestellungen angeboten werden können.

Arbeiter:inneneinheitsfront für freie Abtreibung und körperliche Selbstbestimmung

Doch wie kann, gemessen an diesen permanenten Angriffen und vielfältigen Problemen, eine erfolgreiche Pro-Choice-Bewegung aufgebaut werden? Statt nur auf Verschlechterungen zu reagieren, müssen wir selbst Verbesserungen erkämpfen. Wir dürfen nicht auf den Staat vertrauen oder Illusionen in die Demokratische Partei hegen. Diese konnte bzw. wollte die derzeitigen Angriffe auf bestehende Frauenrechte nicht verhindern. Daher müssen wir unabhängig von ihr gegen den Abbau von Frauenrechten kämpfen. Dabei kommt es auf den Kampf als Klasse an, was bedeutet, dass er durch die Arbeiter:innenklasse geführt und von ihren Organisationen unterstützt werden muss.

Wir fordern daher die Gewerkschaften auf, für eine gemeinsame Kampagne zu mobilisieren. Betriebsräte könnten beispielsweise Betriebsversammlungen einberufen, wo diese Themen und Fragen diskutiert werden. Darüber hinaus können Gewerkschaften mit Streik als Kampfmittel, anders als Einzelpersonen oder andere Gruppen, ökonomischen und politischen Druck auf Kapital und Regierung aufbauen.

Im Rahmen von Aktionstagen und für die Durchführung eines politischen Streiks wäre es außerdem wichtig, Streik- und Aktionskomitees zu gründen, die vor Ort mobilisieren, kollektive Erfahrungen ermöglichen und auf diese Weise auch zur Stärkung und Demokratisierung des gemeinsamen Kampfes beitragen. Ebenso sind Gewerkschaften personell und finanziell in der Lage, internationale Kooperation und Koordination zu gewährleisten, z. B. durch die Organisation zentraler, internationaler Aktionstage zum Thema Abtreibungsrechte und Selbstbestimmung. Dies ist wichtig, da die Unterdrückung nicht nur in einem Land existiert und zusammen mehr Druck aufgebaut werden kann.

Das alles darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Einbindung von Gewerkschaften auch einige Probleme mit sich bringt. Gerade im Dienstleistungsbereich, in dem hauptsächlich Frauen arbeiten, organisieren sich nur wenige Arbeiter:innen in ihnen. Ebenso agieren Gewerkschaften häufig reformistisch und beschränken sich auf die Besitzstandswahrung im eigenen Interesse, anstatt Fortschritte für die gesamte Klasse zu erkämpfen. Es existiert eine Gewerkschaftsbürokratie, die ihren Frieden mit dem jetzigen System geschlossen und ihre Rolle selbst auf das Feilschen um Lohn und Arbeitsbedingungen reduziert hat. Revolutionäre Kommunist:innen müssen sich deshalb für eine klassenkämpferische, antibürokratische Basisbewegung einsetzen, die sich der bürokratischen Spitze entgegenstellt, um die Gewerkschaften zu einem Glied in den Reihen des Kampfes für den Sozialismus umzugestalten.

Des Weiteren rufen wir alle bestehenden Pro-Choice-Bündnisse und -Bewegungen aktiv dazu auf, auch weiterhin gegen den bestehenden Abbau von Frauenrechten zu kämpfen und den Protest erneut auf die Straße zu tragen. Lasst uns die bisher bestehenden Bündnisse und Mobilisierungen bündeln und einen gemeinsamen Aktionstag für den Kampf für Frauenrechte ausrufen!

Gegenwehr

Zur Verhinderung von Femiziden ist der Aufbau von Organen der Gegenmacht erforderlich. Um die Verelendung der Klasse zu verhindern und rechtspopulistischen oder protofaschistischen Kräften das Handwerk zu legen, müssen wir Mittel des Klassenkampfes einsetzen, die notwendigerweise die Machtfrage selbst aufwerfen. Einmal mehr zeigt sich, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung in all ihren Formen untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden ist.

Zur Abwehr weiterer Angriffe auf Abtreibungsrechte, aber auch zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper, welches selbst in Staaten mit liberaler Gesetzgebung bisher eingeschränkt ist, haben wir einige Forderungen aufgestellt, die es zu erkämpfen gilt – national und international:

  • Für die Aufhebung aller Abtreibungsverbote! Uneingeschränktes Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil der öffentlichen Gesundheitsversorgung! Abtreibungen müssen sicher und von den Krankenkassen/öffentlichen Gesundheitsdiensten finanziert werden!
  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Für uneingeschränkten und transparenten Zugang zu Informationen, Ärzt:innen und Kliniken!
  • Schluss mit der internationalen Stigmatisierung von abtreibenden Frauen! Raus mit jedweder Religion und „Moral“ aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Das Leben einer Frau muss immer über dem eines ungeborenen Fötus stehen!
  • Vollständige Übernahme aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat bzw. die Krankenversicherung!
  • Ausbau von Kitas und Kinder-/Jugendbetreuungsangeboten, um Eltern zu entlasten!
  • Für viel mehr finanzielle und gesellschaftliche Unterstützung von insbesondere (jungen) Frauen und Alleinerziehenden und dafür, dass minderjährige Frauen mit einer Schwangerschaft nicht alle Chancen auf eine gute Zukunft verlieren!
  • Langfristig: Für die Kollektivierung der Kindererziehung in der Gesellschaft!
  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!

Ärzt:innen dürfen die Entscheidung zur Geburtshilfe (Entbindung) bei überlebensfähigen Föten treffen. Gegen leibliche Zwangselternschaft für so geborene Kinder! Der Staat soll für sie aufkommen und sich um sie kümmern bzw. zur Adoption freigeben! Adoptionsvorrang für leibliche/n Vater und/oder Mutter, falls sie das Kind später großziehen wollen und dieses zustimmt!

Quellen:

Baumgarten, Reinhard (2022): Weitere Rechte auf der Kippe?, online unter https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/abtreibung-usa-supremecourt-101.html

Chang, Leila (2020): Pro Choice: Für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper!, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/05/pro-choice-selbstbestimmung/

Chang, Leila (2022): Our bodies, our choice, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/14/our-bodies-our-choice/

Der Standard (2005): USA: Mord als eine der häufigsten Todesursachen für Schwangere, online unter https://www.derstandard.at/story/1962393/usa-mord-als-eine-der-haeufigsten-todesursachen-fuer-schwangere

Frühling, Jonathan (2020): Femizide – Frauenmorde international, Widerstand international, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/05/femizide-frauenmorde-international/

Harvard School of Public Health (2022): Homicide leading cause of death for pregnant women in U.S., online unter https://www.hsph.harvard.edu/news/hsph-in-the-news/homicide-leading-cause-of-death-for-pregnant-women-in-u-s/

Insider (2021): Homicide is the leading cause of death for pregnant women in the United States, a new study found, online unter https://www.insider.com/pregnant-women-in-the-us-homicide-leading-cause-of-death-report-says-2021-12

National Institute of Child Health and Human Development (2022): Science Update: Pregnancy-associated homicides on the rise in the United States, suggests NICHD-funded study, online unter https://www.nichd.nih.gov/newsroom/news/091622-pregnancy-associated-homicide

Sanctuary for Families (2022): The Silent Epidemic of Femicide in the United States, online unter https://sanctuaryforfamilies.org/femicide-epidemic/

Suchanek, Martin (2022): Femizide, Feminizide und kapitalistische Krise, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, online unter https://arbeiterinnenmacht.de/2022/03/17/femizide-feminizide-und-kapitalistische-krise/

The Guardian (2022): Estimated 45,000 women and girls killed by family member in 2021, UN says, online unter https://www.theguardian.com/global-development/2022/nov/23/un-femicide-report-women-girls-data




Indiens reaktionäres Regime und die Lage von Frauen

Jonathan Frühling, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

1,4 Milliarden Menschen zählt die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Laut Prognosen des IWF könnte Indien bereits im Jahr 2027 auf Rang vier aufzurücken – und damit Deutschland überholen. Doch Größe allein bedeutet nicht Reichtum. Indien ist ein Land voller Widersprüche, ein extremes Beispiel für die kombinierte und ungleichzeitige Entwicklung im Rahmen des imperialistischen Weltsystems. So entsteht das Bild einer aufstrebenden Macht, die zwischen Hightechindustrie und massiver Armut der Bevölkerung hin- und herpendelt. Im Folgenden wollen wir uns dabei die Lage von Frauen genauer anschauen. Doch bevor wir dazu kommen, wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Regierung und ihres Regimes geben.

Das Regime der BJP

Seit 2014 wird das Land von der Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP), einer der rechtesten Regierungsparteien der Welt, regiert. Die BJP hängt einer Ideologie an, die als Hindutva (hinduistischer Nationalismus, kurz Hindunationalismus) bezeichnet wird. Der Hinduismus wird als einzig legitime Kultur im indischen Staat angesehen. Alle anderen Kulturen, Religionen, Nationalitäten, Indigene und untere Kasten gelten als feindliche und schädliche oder jedenfalls als untergeordnete Elemente, die oder deren Widerstand bekämpft werden müssen. Das betrifft vor allem Muslim:innen, Kashmiri, Sikhs, Dalits (unterste Kaste) und Adivasi (Indigene).

Sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik werden als Kulturkampf inszeniert. Nach außen werden die Kulturen anderer Staaten als Gefahr angesehen, im Inneren werden die anderen Religionen, d. h. vor allem der Islam, Ziel der Hetze des Hindunationalismus. Die Funktion dieser Ideologie besteht darin, Feindbilder zu schaffen, um gleiche Hindu verschiedener Klassen bzw. Kasten an den Staat und seine kapitalistische und neoliberale Politik zu binden.

Denn es ist gerade die neoliberale Politik, die den Premierminister Narendra Modi Zustimmung unter den Kapitalist:innen einbringt. Während wichtige Teile des indischen Großkapitals lange in der Kongresspartei ihre politische Vertretung sahen, schwenkten in den letzten 10 – 15 Jahren fast alle Großkonzerne zur BJP um. Und diese agiert ganz in deren Interesse.

So erfolgten während der ersten Amtszeit Modis massive Angriffe auf die Gewerkschaften und Arbeitsschutzgesetze wie die Aufhebung des Rechtsschutzes für Festanstellungen und von Arbeitszeitbeschränkungen. Doch das ist nicht alles. Im Zuge von Modis Amtszeit hat sich das politisch-gesellschaftliche Klima extrem nach rechts verschoben.

Aufrufe zum Mord an Menschen muslimischen Glaubens durch hohe hinduistische Kleriker waren nur die Spitze des Eisberges an Volksverhetzung. Diese politische Stimmung hat auch bereits schon zu Pogromen geführt, wie z. B. 2020 in Delhi. Damals griff ein hinduistischer Mob muslimische Viertel an, um Protest gegen ein antimuslimisches Gesetz zu verhindern. Es starben dabei 26 Muslim:innen und 15 Hindus.

Bei der BJP handelt es sich zwar nicht um eine genuin faschistische Organisation, aber sie stützt sich sehr wohl auf rechte faschistoide Milizen wie die Bajrang Dal (Brigade Hanuman; Jugendflügel der Vishva Hindu Parishad; VHP. Diese ist wiederum auf dem rechten Flügel der Sammlungsbewegung Sangh Parivar angesiedelt) und die Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationale Freiwilligenorganisation; RSS). Die RSS ist eine paramilitärische, rechtsgerichtete hindunationalistische Gruppe, die über 50.000 Zweigstellen und Waffenausbildungslager besitzt. Sie wurde in den 1920er Jahren als antibritische, aber auch streng hinduistische und antimuslimische Organisation gegründet. Stark von Mussolini und Hitler beeinflusst, soll sie heute zwischen 5 bis 6 Millionen Mitglieder zählen. Sangh Parivar (Familie der Verbände) ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Hinduorganisationen, die von der RSS hervorgebracht wurden, wobei die Regierungspartei BJP eng mit ihr verbunden ist, sich auf sie stützt und ihre Agenda bedient.

Anders als ein faschistisches Regime kamen Modi und die BJP nicht infolge der Machteroberung einer kleinbürgerlich-reaktionären Massenbewegung an die Regierung. Sie zerschlugen auch nicht die organisierte Arbeiter:innenbewegung. Aber unter Modi etablierten sie einen parlamentarisch-demokratisch legitimierten Bonapartismus. Die rechten Verbände wie die RSS stellen zwar nicht den Kern der Regierungsmacht und des Staatsapparates dar, wohl aber organisierte kleinbürgerliche Hilfstruppen, vor allem gegen religiöse und nationale Minderheiten.

Während Modis Regime den großen Kapitalen enorme Zugewinne brachte und versucht, Indien in deren Interesse als Machtfaktor zu etablieren, so ist seine Regierung auch für die Masse der Frauen in Indien eine Kampfansage.

Die Lage von Frauen

Die widersprüchliche Situation innerhalb Indiens wird deutlich, wenn man die Lage von Frauen betrachtet. Aus dem Artikel „Why Indian women may lead the tech world of tomorrow“, von  Times of India am 4. Mai 2020 veröffentlicht, geht hervor, dass Frauen fast 50 % aller Studierenden im MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)-Bereich umfassen und Indien mit 42 % den höchsten Anteil an weiblichen MINT-Absolvent:innen auf der ganzen Welt hat.

Ihr Anteil an den Beschäftigten in Wissenschaft, Technik und technologischen Forschungsinstituten liegt aber bei nur 14 % und zeigt damit ein zentrales Problem des Landes auf. Denn sieben Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen in Indien noch immer gering, teilweise sogar rückläufig.

1990 waren noch 35 % aller Frauen beschäftigt. Heute sind es nur noch 25 %, womit Indien auf Platz 145 von 153 Ländern liegt. Hierbei ist anzumerken, dass diese Zahl vor allem so gering ist, da Frauen wesentlich häufiger im informellen Sektor arbeiten, also keine offiziellen Verträge (und damit einhergehenden Arbeitsschutz) haben. Interessant ist jedoch, dass der Anteil der Frauen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, in den Städten geringer ist als in den ländlichen Gebieten, obwohl es dort eigentlich mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Löhne gibt. Der entscheidende Grund dafür ist aber, dass die Familien von Kleinbauern/-bäuerinnen und Arbeiter:innen in diesen Regionen ohne weibliche Erwerbsarbeit nicht überleben könnten.

Ein ähnliches Szenario ist auch bei den alphabetisierten Frauen zu beobachten. 35,5 % aller Frauen sind Analphabetinnen (und nur 19,1 % aller Männer). Obwohl die Alphabetisierung die Erwerbstätigkeit von Frauen fördert, ist in den meisten Bundesstaaten nur ein geringer Anteil der gebildeten Frauen in der Stadt erwerbstätig. Auf der anderen Seite ist der Anteil der alphabetisierten Frauen auf dem Lande in verschiedenen Bereichen der bezahlten Arbeit viel höher als in den Städten.

Auch wenn keine offiziellen Zahlen verfügbar sind, so ist davon auszugehen, dass die Coronapandemie die Situation nochmal drastisch verschlechtert hat. Mit einem Minus von 7,7 % hat die Wirtschaft in Indien deutlichere Einbußen hinnehmen müssen als in anderen Ländern. Allein der Tourismusbereich ist um rund 58 % eingebrochen. Die Arbeitslosenquote stieg von 5,3 auf 8,0 %. Die Inflationsrate ist von zuvor 3,7 auf nun 6,6 % angestiegen und extrem viele Jobs im informellen Sektor sind weggefallen.

Das zeigt schon mal eines: Frauen in Indien sind keine homogene Masse, sondern ihre Situation ist stark von ihrer Herkunft geprägt, von ihrer Klassen- und Kastenzugehörigkeit, ihrer Nationalität oder Religion. Dies kann man auch an der Frage der häuslichen Gewalt nachvollziehen. Laut Regierungsumfragen ist jede dritte Frau häuslicher Gewalt ausgesetzt. Besonders betroffen sind dabei Dalitfrauen, die ungefähr 16 % aller Frauen ausmachen. Sie haben beispielsweise einen sehr eingeschränkten Zugang zur Justiz und in Fällen, in denen der Täter einer dominanten Kaste angehört, herrscht für diesen weitgehende Straffreiheit. Dalitfrauen gelten daher als leichte Zielscheibe für sexuelle Gewalt und andere Verbrechen, da die Täter fast immer ungestraft davonkommen. So zeigen beispielsweise Studien, dass in Indien die Verurteilungsquote bei Vergewaltigungen von Dalitfrauen unter 2 % liegt, während sie bei Vergewaltigungen aller Frauen in Indien 25 % beträgt.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Probleme: Frauen und besonders Mädchen leiden auch deutlich öfter an Mangelernährung, da es üblich ist, dass Frauen erst nach den männlichen Teilen der Familie essen und für diese oft nicht mehr genug übrig bleibt. Frauen werden massiv für ihre Menstruation diskriminiert, die als unrein angesehen wird und zum Teil sogar dazu führt, Tempel nicht mehr betreten zu können. Die Folge dieses Tabus und natürlich der Armut ist eine katastrophale Menstruationshygiene, auf die 70 % aller Unterleibserkrankungen bei Frauen zurückzuführen sind. Nur ca. 18 % aller Menstruierenden haben ausreichend Zugang zu Hygieneprodukten.

Arrangierte Ehen sind bis heute die Regel in Indien. Manche Quellen gehen von bis zu 90 % aus. Arrangiert werden die Heiraten traditionell von den Familien und Angehörigen, in den letzten Jahren aber auch zunehmend von Daitingseiten (im Auftrag beider Partner:innen), um so eine standes- und statusgemäße Heirat zu erzielen. So sind Hochzeiten von Angehörigen verschiedener Kasten bis heute mit nur rund 5 % eine Rarität, Heiraten über religiöse Grenzen hinaus sind mit nur 2 % noch seltener.

Die Lage unter der BJP

Trotz gesetzlicher Verbote wird die Gabe einer Mitgift (Geld und/oder teure Geschenke, die die Familie der Braut an die Familie des Bräutigams zahlen muss) bei der Verheiratung einer Frau gesellschaftlich erwartet. Wird die Mitgift als zu niedrig angesehen, läuft die Braut Gefahr, ermordet zu werden. Ca. 25.000 Mädchen und Frauen erleiden jedes Jahr dieses Schicksal. Die Geburt vieler Mädchen kann deshalb eine Familie finanziell ruinieren. Zum Teil müssen die Frauen auch selbst jahrelang arbeiten, um die Mitgift an die Familie des Mannes selbst bezahlen zu können.

Die Folge dieses Umstandes ist, dass Mädchen häufig abgetrieben oder geborene getötet werden. 52,1 % aller Kinder zwischen 0 und 6 Jahren sind Jungen. Dieses Problem versuchte die Modi-Regierung, seit 2015 mit der Kampagne „Beti Bachao, Beti Padhao“ (Rettet die Tochter, erzieht die Tochter) zu adressieren. Dass dies jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, zeigen die Daten der Regierung selber. Mehr als 56 % der Gelder wurden von 2014/15 bis 2018/19 für „medienbezogene Aktivitäten“ ausgegeben. Im Gegensatz dazu wurden weniger als 25 % der Mittel an die Bezirke und Staaten ausgezahlt und über 19 % von der Regierung gar nicht erst freigegeben.

Dies fasst die Politik der BJP recht gut zusammen. Auf den ersten Blick wirkt es so, als ob in Modis Regime Frauen einen Platz haben. So wurden in seiner Amtszeit auch teilweise Gesetze verabschiedet, die ihre Situation punktuell verbessern. 2021 wurde das Gesetz über den medizinischen Schwangerschaftsabbruch (MTP) abgeändert. Zwar sind Abtreibungen in Indien seit 1971 legal, allerdings nur unter bestimmten Vorraussetzungen. Diese wurden im Rahmen der Reform abgeändert. Beispielsweise ist es nun auch für unverheiratete Frauen möglich, legal abzutreiben. Ebenso wurden die Beratungsbedingungen angepasst, sodass es nun möglich wäre, dass Frauen statt nur bis zur 20. bis zur 24. Schwangerschaftswoche abtreiben können. 2017 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den bezahlten Mutterschaftsurlaub von 12 auf 26 Wochen für Beschäftigte aller Unternehmen, die mehr als 10 Mitarbeiter:innen beschäftigen, verlängert. Dies gilt jedoch nur für die ersten beiden Kinder, danach verkürzt sich die Elternzeit wieder auf 12 Wochen.

Doch fundamental verbessern diese Gesetze die Situation von Frauen nicht. Anrecht auf Kinderbetreuung haben beispielsweise nur Frauen, die in Betrieben mit 50 oder mehr Beschäftigten arbeiten. In einem Land, in dem ein großer Teil der weiblichen Erwerbstätigen entweder selbstständig ist oder im informellen Sektor arbeitet, führen diese Bedingungen zwangsläufig dazu, dass viele Frauen von den Leistungen (wie auch bei MBAA, der Reform zum Mutterschaftsurlaub) ausgeschlossen werden.

In der Praxis führt das jedoch dazu, dass laut einer Umfrage von India Today-Axis My India (das Meinungsforschungsinstitut, das die Ergebnisse der nationalen Wahlen im Mai 2019 am genauesten vorhersagte) 46 % der Frauen für die BJP und ihre Verbündeten stimmten, 27 % für den Kongress und seine Verbündeten und 27 % für andere Parteien. Im Vergleich dazu stimmten 44 % der Männer für die BJP und ihre Verbündeten. Bei der letzten Wahl stimmten also mehr Frauen als Männer für die BJP, auch wenn es nur 2 % waren.

Die BJP inszeniert sich also bewusst als „frauenfreundliche“ Kraft, macht Zugeständnisse, wo sie kann, und schafft es so, Wählerinnen zu mobilisieren. Gleichzeitig macht sie aber nicht Politik im Interesse „aller“ Frauen, sondern konzentriert sich überwiegend (nicht ausschließlich) auf wachsende Mittelschichten und agiert im Interesse der herrschenden Klasse.

Vor allem aber wendet sich das Modi-Regime an die Frau als Hindu. Ideologisch bezieht sie sich auf das tradierte Bild der Hindufrau als Mutter, Fürsorgerin und Göttin. So forderte beispielsweise der BJP-Abgeordnete Sakshi Maharaj im Jahr 2015 alle Hindufrauen auf, mindestens vier Kinder zu gebären, um die hinduistische Religion zu schützen (India Today, 2015). Mehrere Bundesstaaten haben auch Antikonversionsgesetze verabschiedet, die auf den so genannten „Liebesdschihad“ abzielen und die Angst schüren, dass muslimische Männer die Ehe nutzen, um Hindufrauen zum Islam zu bekehren, wodurch interreligiöse Ehen kriminalisiert werden. Darüber hinaus sind Parteiführer häufig wegen frauenfeindlicher Äußerungen in den Schlagzeilen und einige ihrer Landesregierungen haben wegen der schlechten Behandlung von Vergewaltigungsfällen weltweit Schlagzeilen gemacht.

Veränderung ist möglich

Trotz aller Hindernisse sind Frauen in Indien eine wesentliche Kraft bei Protesten. 2019 wurde bei einem symbolischen Protest eine 620 km lange Menschenkette gebildet, an der mehrere Millionen Frauen teilnahmen oder beispielsweise beim Kampf um sauberes Trinkwasser oder bei den Protesten gegen das CAA (neues Staatsbürgerschaftsgesetz), bei dem vor allem muslimische Frauen präsent waren.

Dabei muss klar sein: Gesetze und Urteile von Gerichten können Aufmerksamkeit schaffen, ändern werden sie die Situation von Frauen aber nur marginal, wenn der bürgerliche Staat sich weigert, die Gesetze umzusetzen oder schlichtweg nicht das Interesse hat, die Wurzel der Frauenunterdrückung anzugreifen. Frauen schützen, patriarchale Strukturen vernichten und eine reale Verbesserung erzwingen können wir nur, wenn wir uns gemeinsam organisieren: auf der Straße, in den Betrieben, an den Schulen, Unis und auch im Haushalt! Gegen die massive Gewalt gegen Frauen bedarf es des Aufbaus einer Bewegung, die beispielsweise auch für demokratisch-organisierte Selbstverteidigungskomitees eintritt. Sie muss in den Betrieben und Stadtteilen verankert sein und auch die Gewerkschaften zur Organisierung und Unterstützung auffordern.

Eine erfolgreiche Bewegung muss auf den Interessen der Arbeiter:innenklasse basieren und darf sich nicht der herrschende Klasse und deren Parteien unterordnen – natürlich nicht der BJP, aber auch nicht der Kongresspartei.

Das bedeutet auch, offen für die Rechte von Unterdrückten wie Muslim:innen, Dalits, Kaschmiris oder LGBTIA-Personen einzustehen und gemeinsame Kämpfe zu organisieren. Besonders braucht es aber auch einen gewerkschaftlichen Kampf gegen die miserablen Arbeitsbedingungen im informellen Sektor. Frauen können hier eine wichtige Rolle spielen und so ihre Situation verbessern und außerdem Mut und Motivation für weitere Kämpfe erlangen.

All dies erfordert nicht nur den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung, sondern auch eine politischen Alternative zum Reformismus der Communist Party of India (CPI): eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.




Widerstand: Aber wie?

Leonie Schmidt / Katharina Wagner, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

In den letzten Jahren haben die weltweiten Krisen immer mehr zugenommen. Seien es zum einen die Auswirkungen der Coronapandemie, Umweltzerstörung und zunehmender Klimawandel oder zum anderen der derzeit stattfindende Ukrainekrieg mit einhergehender Inflation und Energiekrise. Ursache von alle dem: der Kapitalismus. Die Kosten und Konsequenzen werden natürlich auf dem Rücken der Arbeiter:innenklasse ausgetragen. Zusätzlich kommen rechtskonservative Kräfte  in vielen Ländern an die Regierung oder rechte Bewegungen erlangen mehr Relevanz. Oftmals wollen diese Kräfte traditionelle, reaktionäre Rollenbilder vertreten und das Kapital stärken.

Die Wirtschaftskrise 2007/08 hatte bereits für einen starken Rollback gegen Frauen gesorgt und die Coronapandemie diesen zusätzlich verstärkt: erstens aufgrund einer neuen Wirtschaftskrise, welche durch die zugespitzte Lage katalysiert wurde; zweitens durch die Lockdowns, welche häusliche Gewalt verstärkten, sowie die Überlastung der Pflege, in welcher ebenfalls mehrheitlich Frauen beschäftigt sind. Hinzu kommen nun noch der seit Februar 2022 geführte Ukrainekrieg und die damit einhergehende Energiekrise, was zusammen genommen zu weltweiter Inflation und enormen Preissteigerungen geführt hat.

Auch diesmal leisten Frauen weltweit massiven Widerstand dagegen. So zum Beispiel im Iran, wo sie seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa (kurdischer Name Jina) Amini nach ihrer Verhaftung durch die „Sittenpolizei“ im September 2022 weiterhin ihren Protest unter dem Motto „Jin, Jiyan, Azadi“ (kurdisch für „Frauen, Leben, Freiheit“) gegen das religiöse, unterdrückerische Regime und die herrschende Diktatur auf die Straße tragen. Und das trotz enormer Repression, zahlreicher Verhaftungen, Folter und bereits vollstreckter Todesurteile. Mittlerweile konnten sie eine breite gesellschaftliche Unterstützung quer durch alle Altersgruppen und Geschlechter für ihren Kampf erreichen und damit enormen Druck auf das Regime ausüben.

Anlässlich des internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen am 25. November gingen ebenfalls weltweit Frauen auf die Straße, um gegen ihre Unterdrückung zu kämpfen. Eine weiterer großer Aktionstag unter dem Slogan „One Billion Rising“ fand am Valentinstag statt, an dem sich weltweit rund 1 Milliarde Frauen an dem Flashmob beteiligten, um gegen Gewalt an Frauen und für Gleichberechtigung einzutreten.

Darüber hinaus gab es in den letzten Jahren immer wieder große Proteste: Ob nun im Rahmen der letzten Sommer stattfindenden Verschärfungen des Abtreibungsrechts in den USA oder anlässlich des Austritts der Türkei aus der Istanbuler Konvention zum Schutz von Frauen im Juli 2021  – überall auf der Welt demonstrierten Millionen Frauen für ihre Rechte.

Des Weiteren spielen Frauen auch im Kampf gegen den derzeitigen Ukrainekrieg eine zentrale Rolle. So organisieren sie in Russland beispielsweise innerhalb der Bewegung „feministischer Widerstand gegen den Krieg“ (Feminist Anti-War Resistance; FAR) vielfältige Proteste gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine.

Was all diese feministischen Proteste eint, ist, dass sie meist (spontan) um aktuelle  Vorfälle entstehen und spezifische Forderungen aufstellen. Sie werden allerdings meist nicht mit anderen bestehenden Bewegungen wie z. B. der Klimabewegung oder Kämpfen gegen Preissteigerungen und Inflation koordiniert. Daher bleiben sie häufig national isoliert und stark hinter ihren Mobilisierungsmöglichkeiten zurück.

Was brauchen wir?

Für eine internationale, erfolgreiche Frauenbewegung müssen wir anerkennen, dass der Kampf um Frauenbefreiung (und die Befreiung anderer geschlechtlich Unterdrückter) eng mit dem gegen den Kapitalismus verknüpft sein muss, denn die Frauenunterdrückung wurzelt in der Klassengesellschaft und ihre materiellen Ursachen müssen abgeschafft werden, um diese selber vollständig verschwinden zu lassen.

Einen Fokus stellt dabei die Reproduktionsarbeit in der Arbeiter:innenfamilie dar, in welcher die Ware Arbeitskraft (re)produziert wird, also durch Hausarbeit, Erziehung, Carearbeit etc. Diese ist  wichtig für den Fortbestand des Kapitalismus und wird vornehmlich von Frauen ausgeführt. Es ist dabei wesentlich, deren Vergesellschaftung und gleiche Verteilung auf alle selbst als Teil des Klassenkampfes zu begreifen, als Kampf der gesamten Arbeiter:innenklasse.

Entgegen den bürgerlichen Vorstellungen einer alle Klassen umfassenden Frauenbewegung muss berücksichtigt werden, dass es auch unter Frauen gegensätzliche Klasseninteressen gibt und diese in einer solchen Bewegung nicht einfach „ausgeglichen“ werden können. So verfolgen Frauen des (höheren) Kleinbürgertums und der Bourgeoisie andere Interessen, wie bspw. Frauenquoten und Plätze in der Chefetage, während das für proletarische Frauen nicht relevant ist. Während letztere um existenzsichernde und gleiche Löhne kämpfen müssen, wollen bürgerliche „Schwestern“ und jene aus den gehobenen Mittelklassen diese möglichst gering halten, um die Profite und Einkommen ihrer eigenen Klasse zu sichern.

Ähnlich wie kleinbürgerliche Ideologien erkennen sie den engen Zusammenhang von Kapitalismus und Privateigentum mit der Frauenunterdrückung nicht, von der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ganz zu schweigen. Sie erblicken vielmehr in deren ideologischen Ausdrucksformen (Stereotypen, Geschlechterrollen, sexuellen Vorurteilen, Heterosexismus … ) die Ursache der Unterdrückung. Ihre Strategie erschöpft sich in verschiedenen Formen des liberalen, radikalen oder reformistischen Feminismus, was ihre relativ privilegierte Stellung als Kleineigentümer:innen oder Akademiker:innen (Bildungsbürger:innen) gegenüber der Masse der werktätigen Frauen widerspiegelt. Dementsprechend ist eine klare antikapitalistische Ausrichtung relevant sowie die Verknüpfung von Kämpfen der Frauenbewegung und der Arbeiter:innenklasse.

Angesichts des globalen Rechtsrucks ist es dabei unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbeziehung in den Produktionsprozess!

Auch wenn gefeiert worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zu dem des Mannes.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und der politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist diese Forderung für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine essentielle Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Dies kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung!

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da das Patriarchat und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße Cisfrau“ geht. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrückten in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden. So bspw. mit der Organisierung von Streiks im öffentlichen Dienst, der Umweltbewegung oder der Bewegung gegen Rassismus. Beispielsweise könnte auch der gemeinsame Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen oder den Ukrainekrieg relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen führen.

Entscheidend ist jedoch, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und Führung kämpfen.

Eng damit verbunden damit ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Eine Bewegung braucht nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in aktuellen feministischen Bewegungen und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen.  Wir müssen uns auch in aktuelle Tarifauseinandersetzungen beispielsweise im öffentlichen Dienst einschalten. Auch die Unterstützung von Klimaaktivist:innen oder Aktionen zum Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen sind eine wichtige Aufgabe von Revolutionärinnen. Zudem müssen wir unter jenen Kräften, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen ansprechen, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




Skizze der Weltlage

Emilia Sommer, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Nach der Pandemie Luft holen? Kaum möglich. Das letzte Jahr bot ein breites Repertoire an kapitalistischen Krisensymptomen. Angefangen mit dem noch immer anhaltenden Krieg in der Ukraine über große Aufstände wie im Iran oder in Sri Lanka, die mit massiver und gewaltsamer Repression bekämpft wurden und immer noch werden, bis hin zur Inflation und damit einhergehenden massiven Preissteigerungen. Als ob das nicht genug wäre, so merken wir schon jetzt sehr deutlich die Auswirkungen des Klimawandels wie beispielsweise bei der Flut in Pakistan, die im Spätsommer 2022 ein Drittel der Landesfläche überflutete. Es scheint, als würde eine Krise die nächste jagen, und dazwischen gibt es keine Zeit zum Aufatmen. Doch warum ist das so? Woher kommt das und wie wirkt es sich auf die ohnehin prekäre Lage von Frauen aus?

Es herrscht Krise – aber warum?

Ökonomische betrachtet, besteht der zentrale Grund für die gegenwärtige Krisenperiode darin, dass die Ursachen der Finanzkrise 2007/08 nie gelöst wurden. Die Regierungen haben nur deren Auswirkungen im Zaum gehalten. Im Kapitalismus erfordern Krisen eigentlich die Vernichtung von überschüssigem Kapital, um einen neuen Wachstums- und Expansionszyklus einzuleiten. Doch das hätte auch die Vernichtung von industriellem und Finanzkapital aus den imperialistischen Metropolen in großem Stil erfordert.

Stattdessen wurden sie mit der Politik des „billigen Geldes“ und massiven Schulden gerettet. Die Krisenkosten wurden durch soziale Kürzungen, steigende Preise und die Ausdehnung prekärer Arbeit (wie zum Beispiel Leiharbeit, Zeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse) auf den Rücken der Arbeiter:innenklasse abgewälzt – und natürlich auch auf die bäuerlichen Massen im globalen Süden.

Die Niedrigzinspolitik, die zunehmende Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, eine massive globale Verschuldung und viele weitere „Maßnahmen gegen die Krise“ schafften es nicht, eine neue ökonomische Dynamik zu entfachen, und die Wirtschaft stagnierte. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass nun der Spielraum, die aktuelle Situation abzufedern, wesentlich geringer ist.

Durch die Coronapandemie wurde die sich vorher schon anbahnende erneute Wirtschaftskrise ausgelöst und massiv verschärft. Denn durch das Virus haben sich die Finanz- und die Gesundheitskrise synchronisiert. Im Zuge dessen stieg die Verschuldung auf das Dreifache des Welt-BIP (Bruttoinlandsprodukt aller Länder). Die Verwertung des Kapitals stagniert und es kommt zu einer zunehmenden Blasenbildung (Ausdehnung des spekulativen und fiktiven Kapitals).

Das Ergebnis: massiv steigende Konkurrenz zwischen imperialistischen Kräften im Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Denn niemand verfolgt das Interesse, als „Krisenopfer“ von anderen übertrumpft zu werden. In diesem Zusammenhang muss auch die reaktionäre russische Invasion in der Ukraine betrachtet werden. Die Karten der internationalen Beziehungen werden neu gemischt und zugleich haben sie erhebliche Auswirkungen auf die globale Wirtschaftsordnung.

Dabei konnte die NATO unter Führung der USA ihre eigenen Interessen stärken und beispielsweise den Block der EU dazu bringen, die Wirtschaftsbeziehungen gegenüber dem russischen Imperialismus auf Eis zu legen. Durch den Krieg sowie die Sanktionen der G7 sind die Folgen der Unterbrechung der Getreide-, Gas- und Ölversorgung weit über Europa spürbar. Insbesondere die Inflation befeuert die aktuelle Lage.

Derzeit befinden wir uns bereits in einer globalen Hochinflationsphase, die laut einer Studie von Economic Experts Survey (EES), internationalen Wirtschaftsexpert:innen, bis 2026 anhalten könnte. Allerdings gibt es hier sehr große Unterschiede. Die höchsten Inflationsraten weltweit mit deutlich über 20 % werden in diesem Jahr in Nord- und Ostafrika, Teilen Asiens und Südamerika erwartet. Europa und Nordamerika haben durchschnittlich mit rund 10 % Inflationsrate zu kämpfen. In 50 asiatischen und afrikanischen Ländern ist die Ernährungssicherheit gefährdet. Infolge der erneut gestiegenen Lebensmittelpreise sind Hungersnöte und Hungerkrisen neben Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse weltweit zu erwarten, was wiederum Regierungskrisen wie in Sri Lanka befeuert.

Konkrete Verschlechterung

Wie bereits geschrieben, hat die Coronapandemie  eine weltweite Krise ausgelöst, die die Situation der Frauen massiv verschlechterte. Dabei haben sie beispielsweise in  informellen Beschäftigungsverhältnissen schon während des ersten Monats der Pandemie 70 % ihres Einkommens verloren. Weltweit ging die Beschäftigung von Frauen zwischen 2019 und 2020 um 4,2 % zurück, während sie bei Männern um „nur“ 3 % sank, so ein Kurzbericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aus dem Jahr 2021. Darüber hinaus haben die Doppelbelastung durch Carearbeit und die Gewalt gegen Frauen massiv zugenommen.

Das Problem an der aktuellen Lage besteht darin, dass vielerorts der Stand vor der Pandemie nicht wieder erreicht worden ist. Der Krieg in der Ukraine, der die Preissteigerungen befeuert, verschärft also die Situation erneut. Der Zustand einzelner Bereiche wie die Belastung in der häuslichen Carearbeit hat sich zwar gebessert, dennoch gibt es viele, in denen es zu einer Überlappung der Krisenfolgen kommt oder die Auswirkungen sich erst später bemerkbar machen wie beispielsweise bei der Frage der Altersarmut.

Beschäftigung und Armut

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) gibt in ihren Trends für 2023 an, dass Frauen und junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt deutlich schlechter dastehen als der Durchschnitt der Lohnabhängigen. Weltweit lag die Erwerbsquote der Frauen im Jahr 2022 bei 47,4 Prozent, während sie bei den Männern 72,3 Prozent betrug. Dieser Unterschied von 24,9 Prozentpunkten bedeutet, dass auf einen nicht erwerbstätigen Mann zwei nicht erwerbstätige Frauen kommen. Konkret bedeutet das, dass mehr Frauen aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen wurden und nun einen schwereren Einstieg haben.

Längerfristig verstärkt dies die kaum verwunderliche Tendenz, dass weltweit Frauen  häufiger von Armut betroffen sind als Männer. Hinzu kommt eine generelle verstärkte Altersarmut bei Frauen, die dadurch begünstigt wird, dass sie weniger im gleichen Beruf verdienen, durch Schwangerschaften teilweise aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und danach meist für weniger Geld wieder integriert werden und generell häufiger in Teilzeitbeschäftigung gedrängt werden und somit weniger verdienen, um die Reproduktionsarbeit im Haushalt verrichten zu können.

Inflation und Energiepreise

Die aktuelle Lage mit der Teuerung von Lebensmitteln sowie Energiepreisen bedeutet, dass Frauen zum einen verstärkter in Armut leben. Im April 2022 publizierten die Vereinten Nationen den Bericht „Global Gendered Impacts of the Ukraine Crisis on Energy Access and Food Security and Nutrition“. Hieraus geht eindeutig hervor, dass der Ukrainekrieg global die Versorgung mit Lebensmitteln und Energie massiv verschlechtert hat. Dies liegt an der Schlüsselrolle Russlands und der Ukraine auf den globalen Märkten für Energie und Grundnahrungsmittel.

So sind die Lebensmittelpreise seit Januar 2022 um über 50 Prozent gestiegen, während Rohöl um über 33 Prozent teurer geworden ist. Über 90 Prozent des Weizens in Armenien, Aserbaidschan, Eritrea, Georgien, der Mongolei und Somalia wurden aus Russland und der Ukraine importiert. Dadurch sind diese Länder in hohem Maße von Ernährungsunsicherheit bedroht. Außerdem bildet die Ukraine eine wichtige Weizenquelle für das Welternährungsprogramm (WFP), das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern unterstützt. Dabei ist zu betonen, dass dieser Engpass langfristig auftreten wird. Schätzungen gehen davon aus, dass 30 Prozent der ukrainischen landwirtschaftlichen Flächen aufgrund des Krieges nicht mehr nutzbar sind. Hinzu kommen schlechtere Ernten durch fehlende Kapazitäten, Felder instand zu halten, was die Situation perspektivisch verschärfen könnte.

Carearbeit – bezahlt und unbezahlt

Bekanntlich stellt der Sozial- und Pflegesektor ein wichtiges Beschäftigungsfeld für Frauen dar. Das wird auch deutlich, wenn man sich die Studie der ILO „The gender pay gap in the health and care sector: A global analysis in the time of COVID-19” aus dem Jahr 2022 genauer ansieht. Ihr zufolge liegt der Anteil der Arbeitskräfte im Gesundheits- und Pflegesektor an der weltweiten Gesamtbeschäftigung bei 3,4 % und ca. 67 % aller Beschäftigten in diesem Bereich sind weiblich. Herauszustreichen ist dabei, dass der Durchschnittsverdienst in diesem Sektor niedriger ausfällt als in anderen Segmenten des Arbeitsmarktes. Hinzu kommt, dass das geschlechtsspezifische Lohngefälle mit 24 % im Durchschnitt höher ist als in anderen Sektoren, was darin begründet liegt, dass auch hier Frauen wesentlich stärker in den schlecht bezahlten Bereichen arbeiten sowie miesere Bedingungen für den Wiedereinstieg nach einer Schwangerschaft vorfinden. Betont sei, dass die Pandemie die Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert hat. Insbesondere die Situation in Krankenhäusern spitzt sich weiter zu.

Ebenso angespannt war sie bezüglich der unbezahlten Reproduktionsarbeit. Besonders betroffen waren hierbei Eltern sowie jene, die Angehörige zu Hause pflegen, durch den Wegfall von Schulen, Kitas und weiteren Unterstützungsangeboten. Dabei gaben  Mütter fast dreimal so häufig wie Väter an, dass sie den Großteil oder die gesamte zusätzliche unbezahlte Betreuungsarbeit aufgrund Schließung von Schulen oder Kinderbetreuungseinrichtungen übernommen haben: 61,5 % der Mütter von Kindern unter 12 Jahren geben an, dass sie den größten Teil oder die gesamte zusätzliche Betreuungsarbeit übernommen haben, während nur 22,4 % der Väter tun. So ist es kaum verwunderlich, dass besonders diese Mütter die Gruppe verkörpern, die zwischen dem vierten Quartal 2019 und dem dritten Quartal 2020 im Durchschnitt der OECD-Länder am ehesten von der Erwerbstätigkeit in die Nichterwerbstätigkeit wechselten. Zwar hat sich die Situation unmittelbar durch die Öffnung der Betreuungsangebote wieder erholt. Doch die Pandemie hat die bereits existierende Kluft in der unbezahlten Reproduktionsarbeit verstärkt und durch die schlechtere Position von Frauen auf dem Arbeitsmarkt nachhaltig verschlechtert.

Warum eigentlich?

Wie wir an diesen Beispielen sehen, trifft es Frauen in Krisensituation wesentlich stärker. Denn gerade in solchen Perioden wird die Reproduktionsarbeit im Kapitalismus systematisch ins Private gedrängt. Kosten für v. a. öffentliche Kindererziehung, Kranken- und Altenpflege erscheinen als unnütze, unproduktive Arbeit, da sie oft keinen Mehrwert für ein Kapital schaffen. Diese Arbeiten sind zwar gesellschaftlich notwendig und letztlich auch für die Reproduktion des Gesamtkapitals erforderlich, aber sie werfen meistens keinen Profit für Einzelkapitale ab. Daher drängen diese darauf, dass die staatlichen Kosten dafür als erste gekürzt oder Leistungen ausgelagert und privatisiert werden. Diese werden also „eingespart“ oder teurer und somit für die ärmeren Schichten unerschwinglich.

Statistisch trifft dies daher Frauen besonders, da sie häufiger prekäre Arbeitsplätze wie Leiharbeits- und Teilzeitstellen besetzen oder im informellen Sektor arbeiten und so Schwankungen des Arbeitsmarkts stärker ausgesetzt sind. Dies findet häufig unter dem Deckmantel von mehr Zeit für die Familie statt. In Wirklichkeit nehmen Frauen aber häufiger diese Angebote an, da sie weniger Geld als ihr Partner verdienen. und wenn es dann darum geht, wer zu Hause bleibt und Reproduktionsarbeit verrichten soll, ist das praktische Ergebnis, dass es den Part trifft, der weniger verdient. So wird die geschlechtliche Arbeitsteilung weiter reproduziert, bedeutet aber auch, dass Frauen stärker von Krisen getroffen werden.

Die Ursache des Problems liegt also in der unbezahlten Reproduktionsarbeit, die versucht wird, ins Private hineinzudrängen, sowie in der geschlechtlichen Arbeitsteilung an sich. Das Sinnbild der bürgerlichen Kleinfamilie mit ihren Stereotypen verkörpern der Mann, als Hauptverdiener und Versorger; die Frau, die sich um die Kinder kümmert.

Perspektiven

Die aktuelle Weltlage spitzt sich immer weiter zu, die Krise breitet sich aus, die Fronten der imperialistischen Mächteblöcke verhärten sich und das offene Aufrüsten derer lässt vermuten, dass sich auch in Zukunft kriegerische Auseinandersetzungen häufen könnten. Die Ausbeutung und Unterdrückung halbkolonialer Länder nimmt stetig zu und die Klimakrise scheint mit aktuellen Taktiken der Regierungen unabwendbar. Damit einhergehend verstärken sich die Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse und damit auch allen voran auf Frauen. Die Auswirkungen der Krise, die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückung der Frau, stehen also in einem engen Verhältnis zueinander und bedingen sich teils gegenseitig. Um gegen kommende Krisen kämpfen zu können, braucht es ein Antikrisenprogramm, mit welchem in aktuelle ökonomische und soziale Kämpfe interveniert werden muss. Doch der Kampf gegen Frauenunterdrückung, Krisen und für die Umwelt kann nur Hand in Hand mit dem gegen den Kapitalismus erfolgen.




Fünf Argumente gegen TERFS

von Miel de la Rosa, Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Die Erfinderin der Harry-Potter-Serie fiel in den letzten Jahren mit ihrer Transfeindlichkeit auf, indem sie auf Twitter durchblicken ließ, dass sie das binäre Geschlechtersystem für unantastbar hält. Da steht sie nicht nur in einer Reihe mit Alice Schwarzer, sondern auch vielen Konservativen und Rechten. Doch anders als diese fühlen sich viele TERFs als Teil der linken oder feministischen Bewegung. TERF ist ein Akronym für „Trans-Exclusionary Radical Feminist“ (radikaler Feminismus, der trans Personen ausschließt).

Was sind überhaupt TERFs?

TERFs hängen – stark verkürzt – einer Strömung des Second-Wave-Feminismus an. Die Unterdrückung von Frauen wird als fundamentalste gesellschaftliche verstanden und existiere seit Anbeginn des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Auch wenn radikalfeministische Aktivist_Innen und Denker_Innen auf wichtige Themengebiete (beispielsweise Rape Culture) aufmerksam machen konnten, verfolgen sie keinen revolutionären, antikapitalistischen Ansatz, sondern verbleiben oftmals auf einer individualistischen Ebene. In letzter Zeit hat sich insbesondere in Onlineräumen nun eine gar nicht so kleine Schar an Radikalfeminist_Innen gebildet, die nun nicht mehr Männer, sondern trans Personen zu Hauptfeind_Innen der eigenen Befreiung auserkoren hat. Während die meisten TERFs vor allem in „sozialen Medien“ durch Shitstorms und Hassattacken auffallen, griffen einzelne sogar trans Personen auf Demonstrationen in Großbritannien an.

Sie werfen ihrem Gegenüber gerne mal folgende Sätze an den Kopf:

1. Pseudoargument: „Am Ende bleibst du biologisch ein Mann, auch wenn du Hormone nimmst.“

Manche TERFs vertreten ein bioessentialistisches Weltbild: Weil eine Person einen Penis besitzt, habe sie ein innewohnendes Bedürfnis danach, „biologische Frauen“ zu unterdrücken, und stelle deshalb auch eine Gefahr für diese dar. Dies würde im Umkehrschluss aber auch bedeuten, dass Gewalt und Unterdrückung nicht nur von Geburt aus in Männern angelegt sind, sondern auch eine andere Gesellschaft nicht möglich ist. Dies ist ein äußerst deterministisches, aber auch pessimistisches Weltbild, welches Frauen als „das Gute“ und Männer als „das Böse“ stilisiert.

Darauf wollen TERFs auch hinaus, wenn sie anmerken, dass eine trans Frau immer ein „biologischer Mann“ oder eine „falsche Frau“ bleibe, egal ob sie wolle oder nicht. Denn warum ist dies so wichtig zu betonen, wenn biologische Geschlechter nicht unter einem solch deterministischen Blickwinkel betrachtet werden würden? Wir hingegen erklären Frauen- und LGBTQ+-Unterdrückung aus dem kapitalistischen System heraus. Frauen werden ökonomisch sowie politisch benachteiligt. Sie werden in Krisenzeiten zuerst entlassen und sind gleichzeitig der Part, der für die Reproduktion des herrschenden Gesellschaftssystems zuständig ist. Denn Reproduktionsarbeit wird vor allem von ihnen geleistet. In der klassischen Rollenverteilung steht ihre Rolle als Hausfrau und Mutter im Vordergrund. Diese vorherrschenden Geschlechterrollen haben sich aus diesen historischen Spezifitäten entwickelt und stützen das kapitalistische System. LGBTQ+-Personen lassen sich schwerer in die altbekannte Zweiteilung einordnen – ein Grund, weswegen diese zusätzliche Unterdrückung erfahren.

2. Pseudoargument: „Ich unterstütze, dass du trans bist, aber ich will nicht, dass du deinem Körper schadest und die Veränderungen, die du vornimmst, permanent sind, weil du deine Meinung ändern könntest.“

Jüngere Menschen werden zusätzlich mit Misstrauen konfrontiert. Man unterstellt ihnen, zu jung oder nicht reif genug zu sein. Implizit werfen TERFs trans Personen damit vor, dass es eine Meinung wäre und nicht eine Geschlechtsidentität ist, die man sich nicht aussuchen kann. Trans Jugendliche müssen sich ihr Recht, Hormone zu nehmen, um ihren Körper ihrem Geschlecht anzupassen, lange und schmerzhaft erkämpfen. Ohne ärztliche sowie psychologische Unterstützung geht das nicht, weil man diese Anpassung nicht selbst vornehmen kann. Allein diese Auseinandersetzung zu führen, zeigt Reife und lässt Raum für mögliche Bedenken. Doch wenn Letztere auftreten, gehen sie TERFs einen Scheißdreck an.

3. Pseudoargument: „Du machst nicht die gleiche Erfahrung wie ,echte Frauen’, weißt nicht, wie es ist, Misogynie zu erleben.“

Natürlich überschneiden sich die Erfahrungen von trans und cis Frauen nicht vollständig. Doch auch nicht alle cis Frauen haben einen gemeinsamen Erfahrungshaushalt. Klasse, Herkunft, Hautfarbe, Alter sowie Gesundheitszustand führen zu unterschiedlichen Leben(släufen) sowie Arten der Diskriminierung und Ausbeutung durchs kapitalistische System: So kann sich eine reiche, weiße Frau beispielsweise die Arbeitskraft einer armen migrantischen Frau kaufen, um sich vom Reproduktionsarbeitssystem zu befreien. Das heißt nicht, dass es deswegen Sinn ergeben würde, bestimmte (in gesellschaftlichen Kämpfen anerkannte) Begriffe aufzulösen. Das heißt nur, dass man die Komplexität von Begriffen wie „Frau“ einsehen und die Frage stellen kann: Was ist denn eine „echte“ Frau? Was geht mit Frausein einher?

4. Pseudoargument: „Trans Menschen sollten keinen Zugang zu Schutzräumen von Frauen (bspw. Frauenhäuser) bekommen.“

Zunächst einmal: trans Frauen sind Frauen. Allerdings wird neben bioessentialistischen Ansätzen häufig Sozialisation ins Spiel gebracht: Man sei ein Mann, weil man als solcher sozialisiert worden und somit Quelle der Gewalt gegen Frauen sei. Die spezifischen Erfahrungen von trans Personen in der Jugend lassen sich aber damit nicht aushebeln. Es ist eine spezielle Situation, wenn junge trans Menschen permanent dafür kritisiert werden, dass sie ja nicht dem Männlichkeits- oder Weiblichkeitsbild entsprechen, in das sie die Gesellschaft versucht hineinzudrängen. Das ist keine einfache Sozialisation als Mann oder Frau, sondern führt vielmehr zu eigenen Erfahrungen und spezifischer Verinnerlichung von Konzepten, die nicht männlicher oder weiblicher Sozialisierung gleichen.

Personen können zusätzlich auch später noch eine andere Sozialisierung durchlaufen. Wenn eine trans Frau auf der Straße, im Beruf und im Freundeskreis von den meisten Personen als Frau wahrgenommen wird, wird sie eben auch als solche behandelt.

Spezifisch transfeindlicher Gewalt sind sie zusätzlich ausgesetzt, wenn sie als trans „erkannt“ werden. Das Projekt „Trans Murder Monitoring“ vermerkt weltweit mindestens 327 Morde an trans- und genderdiversen Personen zwischen Oktober 2021 und September 2022, wobei die Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte. 95 % der Ermordeten waren trans Frauen oder transfeminin. Angesichts der Lebenserfahrungen, die viele trans Personen machen müssen, wirkt es also fast schon zynisch, wenn bestimmte TERFs vorgeben, ja nur cis Frauen vor trans Personen schützen zu wollen.

5. Pseudoargument: „Du darfst schon trans sein, aber mach das im Privaten.“

TERFs weigern sich auffällig oft, nicht den Deadname (Name, der bei der Geburt von den Eltern vergeben wurde), sondern das gewählte Pronomen zu nutzen. Es ist heute belegt, dass es nicht nur cis Männer und cis Frauen gibt. Doch das Weltbild von TERFs basiert auf einer binären Geschlechtervorstellung.

Nun kann man versuchen, TERFism aus sexistischer Unterdrückung heraus zu erklären. Gerade wenn cis Frauen unter den rigiden Erwartungshaltungen an ihr Geschlecht leiden oder für sich eine Identität als Bitchfrau (wörtlich: Schlampe, Zicke, Miststück; im übertragenen Sinn: selbstbewusste Frau) finden mussten, kann es zum Beispiel ein Dorn im Auge sein, wenn sich eine trans Frau sehr stereotyp feminin kleidet. Dass die meisten trans Frauen Feminität nicht unmittelbar mit Frau-sein gleichsetzen, sondern sich bestimmter Symbole bedienen, um gesellschaftlich als Frau erkannt zu werden und transfeindlichen Angriffen zu entgehen, wird jedoch nicht beachtet. Genauso werden trans Frauen abgelehnt, wenn sie sich maskuliner kleiden oder keine Transition vornehmen. TERFs nehmen trans Personen hier das Recht zur freien Entfaltung und argumentieren genauso, wie Gegner_Innen von Homosexualität es lange getan haben.

Die ähnlichen Argumente und Strategien kommen nicht von ungefähr, schaut man sich an, was aus einstigen bekannten bürgerlichen Feminist_Innen wie Alice Schwarzer geworden ist, die man heutzutage wohl schlecht noch irgendeiner linken Strömung zuschreiben kann. Immer wieder aufs Neue neigen TERFs zumindest in der Frage von Geschlecht zu konservativen und rechten Kreisen. Der Angriff auf das binäre Geschlechtersystem wird als einer auf die bürgerliche Familie und den Kapitalismus selbst gesehen. Allerdings sind die einzelnen Argumentationsmuster mannigfaltig und nicht alle vertreten daneben nur rechte Positionen.

So sehr man also versucht, auf bestimmte Argumente von TERFs einzugehen, bleibt TERFism eine auf Kritik am Individuum basierende (und im Extremfall gewaltvolle) Ideologie, die die tatsächliche Wurzel von Sexismus nicht anzugreifen vermag. Doch gesellschaftliche Befreiung kann nur gemeinsam erreicht werden, weil cis Frauen und trans Personen vom gleichen, ausbeuterischen System unterdrückt werden. Wir müssen aber gegen die Klasse kämpfen, die uns tatsächlich ausbeutet und unsere Unterdrückung Tag für Tag möglich macht – die Kapitalist_Innen. Das Miteinbeziehen von trans Personen in einen antisexistischen Klassenkampf untergräbt diesen nicht, sondern kann ihn nur stärker machen!




OnlyFans – Sexarbeit ohne Zwänge?

von Meret MartowaArtikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Ein paar Bilder hochladen und schnell reich werden? So stellen sich viele die Arbeit von Sexarbeiter:innen auf OnlyFans vor. Doch ist es wirklich so einfach? Und bringt OnlyFans eine Demokratisierung der Pornobranche mit sich? Das wollen wir im Folgenden klären.

Was ist OnlyFans?

OnlyFans existiert seit 2016 und ist eine Internetseite, auf der vor allem erotische und pornografische Bilder und Videos von einzelnen Creator:innen hochgeladen werden. Theoretisch kann aber auch jeder Inhalt draufgestellt werden. Der starke Fokus auf sexualisierte Inhalte kam durch den Einstieg vom Haupteigentümer der Website MyFreeCams.com, Leonid Radvinsky, der 2018 rund 75 % von OnlyFans aufkaufte und damit die Ausrichtung der Seite nachhaltig veränderte. Die Inhalte werden zum Beispiel auf der Instagramseite der darstellenden Personen beworben und dann kostenpflichtig in Form eines Monatsabos, auf „Pay per view“-Basis oder in privaten Chats auf OnlyFans bereitgestellt. Dabei tummeln sich auf der Plattform neben Stars der Pornobranche auch Influencer:innen und viele, die es  werden wollen. Sie stellt quasi einen niedrigschwelligen Eintritt in die Sexarbeit dar. Während der Coronapandemie erlebte OnlyFans einen enormen Zuwachs, den sie trotz aufkommender und bestehender Konkurrenz wie BestFans, Patreon oder auch Pornhub noch ausbauen konnte.

Wachstumsspritze Pandemie

Waren es vor dem weltweiten Beginn der Coronapandemie mit ihren Ausgangsbeschränkungen und anderen sozialen Einschränkungen im März 2020 noch etwa 62 Millionen Besuche auf der Website, verdoppelte sich die Zahl im April 2020 bereits auf ca. 117 Millionen Besucher:innen. Die Konsument:innen sind dabei überwiegend Männer (Schätzung similarweb.com: 79,77 % männlich) aus den „westlichen“ imperialistischen Zentren im Alter von 18 bis 34 Jahren. Inzwischen halten sich die Besucher:innenzahlen recht konstant bei über 300 Millionen pro Monat (similarweb.com: Jan 2023, 346 Millionen Visits) und damit ist OnlyFans unter den Top 50 der meist besuchtesten Websites der Welt. So ist auch möglich, dass der Eigentümer von OnlyFans monatlich eine Dividende (= Gewinnbeteiligung der Aktionär:innen) von 45 Millionen US-Dollar auszahlen lassen soll. Doch wie kann ein Typ so viel Geld auszahlen?

Das geht hier durch die Ausbeutung von rund 1,5 Millionen Creator:innen der Plattform. Denn das Geld, welches die Konsument:innen bezahlen, geht dabei nicht allein an diese. 20 % der Einnahmen beansprucht OnlyFans für sich. Bisher gibt es keine einsehbaren Statistiken über die Demographie der Creator:innen. Sie können individuelle Sexarbeiter:innen sein, die quasi selbstständig sind und sich selbst um Vermarktung, Produktion, Auswahl der Konsument:innen und anderes  kümmern. Es kann sich aber auch um Agenturen und Pornohersteller:innen handeln, bei denen es u. a. auch durch Zwangsprostitution zur Erstellung der pornographischen Inhalte kommt.

Konkurrenz zum traditionellen Angebot?

Es zeichnet sich aber nicht ab, dass OnlyFans anderen Pornoseiten wie Pornhub den Rang abläuft. XVideos und Pornhub liegen mit ihren kostenfreien pornographischen Inhalten weit vorne in der Kategorie der „Erwachsenen“-Websites und kommen von aller besuchten Seiten sogar unter die ersten 15 im Ranking. So hatte etwa XVideos weltweit ca. 3 Milliarden Besucher:innen allein im Januar 2023! Was man schon mal festhalten kann, OnlyFans ist dennoch enorm etabliert und erwirtschaftet viel Kohle auf Kosten von oft jungen Sexarbeiter:innen, egal ob durch eigene Entscheidung, ökonomischen Zwang oder sogar Zwangsprostitution.  Das führt uns zur Frage: Hilft OnlyFans, den Pornographiemarkt zu demokratisieren?

Bessere Bedingungen?

OnlyFans hat seine Beliebtheit bei eigenständigen Sexarbeiter:innen dadurch erlangt, dass es zum einen überhaupt möglich gewesen ist, pornografische Inhalte hochzuladen, und zum anderen die zu zahlende Provision relativ gering ist. Ebenso bietet die „eigene Vermarktung“ die Möglichkeit, klarer eigene Vorlieben und Interessen in den Vordergrund zu stellen. Das ist auch einer der Gründe, warum OF teilweise einen feministischen Anstrich hat. Dabei muss klar gesagt werden: Creator:innen, die bereits berühmt sind oder zumindest über eine andere Plattform wie Instagram eine gewisse Anzahl von Follower:innen besitzen, haben es wesentlich leichter. Denn das eine ist es, die Inhalte für OnlyFans zu generieren. Das andere ist es, Nutzer:innen zu finden, die beständig zahlen. Es ist also entgegen der Vorstellung vieler nicht einfach, schnell „ein paar Bilder hochladen“, sondern bedeutet auch, regelmäßig auf anderen Kanälen aktiv zu sein und sich eine Community aufzubauen. In dem Sinne es nicht groß anders als andere Influencertätigkeiten.

Gleichzeitig sind die Chancen für Erfolg – oder ein stetiges Nebeneinkommen –  davon abhängig, wie man sich vermarktet – und damit eben auch abhängig vom existierenden gesellschaftlichen Bewusstsein. Klar, kann sich jede/r so geben, wie er/sie will und Sexarbeiter:innen, die bestimmte Nischen abdecken, haben es leichter, sich zu vermarkten und Abnehmer:innen zu finden, vor allem, da man sich weltweit vermarkten kann. Leichter werden es dennoch jene haben, die in das vorherrschende, weiße Schönheitsideal passen und OnlyFans wird dies nicht ändern.

Die Darsteller:innen, die nicht anderweitig angestellt sind, werden letzten Endes zu Scheinselbstständigen – und abhängig von der Plattform selbst. Diese ist jedoch gar nicht so frei, wie sie sich gerne gibt. So gab es im August 2022 kurzzeitig die Meldung, dass die Plattform alle pornographischen Inhalte bannen wollen würde, da Mastercard & Co die weitere Zusammenarbeit aufkündigen wollten. Darüber hinaus gibt es eine Liste mit ca. 150 Wörtern, die weder in Beschreibungstexten noch privaten Nachrichten benutzt werden dürfen. Eingeführt wurde diese Maßnahme, um sicherzustellen, dass die Richtlinien der Seite eingehalten werden und bspw. Kinderpornographie verhindert wird. Deswegen sind Wörter wie Kind, minderjährig oder „meet“ (eng. „sich treffen) nicht verfügbar. Aber eben auch „AdmireMe“, eine alternative Bezahlseite für sexuelle Dienstleistungen, oder Worte wie „menstruieren“ oder „Cervix“. Sieht man sich die ganze Liste an, so erscheint es als plumper Versuch, mittels künstlicher Intelligenz Grenzüberschreitungen zu verhindern. Diese kann einfach umgangen werden durch Synonyme oder alternative Schreibweisen, während es gleichzeitig eine Einschränkung gibt, wie über Sexualität geredet wird.

Zusammengefasst heißt das: Ja, insbesondere für bessergestellte Schichten von Sexarbeiter:innen stellt OnlyFans eine Verbesserung dar und hat es geschafft, während der Pandemie ein Angebot zu schaffen, der Arbeit trotzdem nachzugehen. Man sollte die Plattform jedoch nicht zur Selbstbefreiungsmöglichkeit erklären. Denn letzten Endes ist sie eine sehr stark individualisierte Lösung, die die prekären Arbeitsbedingungen von Sexarbeiter:innen weiter manifestiert. Denn was passiert im Krankheitsfall oder bei Übergriffen? Wer kontrolliert das, was gezeigt und gesagt wird?

Was braucht es also?

Statt dass Eigentümer und Aktionär:innen von OnlyFans massiv Kohle  auf dem Rücken der Creator:innen scheffeln, braucht es die Enteignung von OnlyFans unter Kontrolle der Beschäftigten. Um dies umzusetzen – nicht nur für OnlyFans, sondern auch für die gesamte Erotikbranche – braucht es eine Gewerkschaft, die deren Interessen in der Branche vertritt sowie eine politische Vertretung darüber hinaus. So können die Probleme in der Branche effektiv angegangen werden:

1. Die effektivsten Maßnahmen gegen Zwangsprostitution und Menschenhandel sind nicht etwa das Verbot von Sexarbeit, Prostitution oder Pornographie. Es sind offene Grenzen und Staatsbürger:innenrechte für alle, sowie ein Mindesteinkommen gekoppelt an die Inflation.

2. Gegen Übergriffe seitens sexistischer Freier (die auch im digitalen Raum stattfinden können) oder den Druck von Zuhältern braucht es Meldestellen unabhängig von der Polizei sowie demokratisch organisierte Selbstverteidigungsstrukturen von Sexarbeiter:innen und der Arbeiter:innenbewegung.

3. Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Berufsfreiheit statt Opferrolle! Statt Stigmatisierung, Ausgrenzung und Kriminalisierung seitens des Staates werden flächendeckende, kostenlose und anonyme gesundheitliche Vorsorgeuntersuchungen sowie kostenlose psychologische Angebote benötigt!

4. Statt Flatratebordellen und Preisdumping bedarf es der Kontrolle der Beschäftigten selber:  Mindestlohn ist das Minimum. Darüber hinaus sollte es Preiskontrollkomitees durch die Beschäftigten geben. Ebenso bedarf es Komitees, bei denen Unterdrückte durch Rassismus, Sexismus oder LGBTIA+-Diskriminierung miteinbezogen werden, um einen Umgang mit diskriminierenden Darstellungen zu finden!

Doch wie gehen wir als Marxist:innen mit Sexarbeit generell um?

Einige Teile des liberalen Feminismus werfen die These in den Raum, dass Sexarbeit grundsätzlich „empowernd“, selbstermächtigend sei, während Teile des Radikalfeminismus die Ansicht vertreten, dass jede Sexarbeit Zwangsprostitution wäre, das Patriarchat direkt unterstützen würde und somit zu unterbinden sei. Beide Annahmen ignorieren die Realität von Sexarbeitenden. Denn natürlich ist sie nicht grundsätzlich empowernd, nur weil sich die Person freiwillig dazu entscheidet und der ökonomische Zwang ignoriert wird. Grundsätzlich sind im Kapitalismus überhaupt keine Lohnarbeit und Form der Ausbeutung selbstermächtigend. Auf der anderen Seite ist auch nicht jede Form der Sexarbeit Zwangsprostitution, nur weil ökonomischer Druck herrscht, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen. Denn das trifft im Kapitalismus auf alle zu, die der Arbeiter:innenklasse angehören, und ist etwas, das sie auszeichnet. Das nennt man auch den „doppelt freien Charakter der Ware Arbeitskraft“. Man ist frei, seine Arbeitskraft zu verkaufen – oder eben auch frei zu verhungern.

Als Marxist:innen muss uns bewusst sein, dass es unterschiedliche Formen der Tätigkeiten innerhalb der Branche gibt, die – wie sonst in der Gesellschaft auch – von Klassen geprägt sind. Dabei muss klar gesagt werden, dass nur kleiner Teil der in dem Bereich Arbeitenden sich die Beschäftigung ausgesucht hat. Meist haben sie auch andere Berufsabschlüsse, theoretisch die Möglichkeit, Freier abzulehnen, und einen kleinbürgerlichen Hintergrund.

Weltweit gesehen kommt der Großteil hingegen durch Zwangsverhältnisse in die Branche. Doch wie bereits oben aufgeführt, wird sich ihre Stellung nicht dadurch ändern, indem man Verbote ausspricht.  Es ist notwendig, den Personen, welche unter dem ökonomischen Zwang und den teilweise sehr schlechten Arbeitsbedingungen leiden, eine Möglichkeit zu bieten, ohne größere Probleme auszusteigen. Dahingehend müssen wir uns für kostenfreie und seriöse Beratungsstellen und bezahlte Umschulungen, für Aus- und Weiterbildungen sowie für berufliche Alternativen einsetzen. Nur wenn der ökonomische Zwang und die Illegalisierung entfallen, können Ausstieg und Umschulung eine attraktive reale Option werden. Ansonsten bleiben sie eine schöne, aber letztlich leere Versprechung.

Langfristig muss das Ziel von Marxist:innen darin bestehen, die materielle gesellschaftliche Basis umzugestalten und somit die ökonomischen Zwänge zu zerstören, die Menschen dazu nötigen, sexuellen Dienstleistungen aufgrund von Gewalt oder Not nachzugehen. Da Prostitution und Sexarbeit Ergebnis der patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft sind, lassen sie sich auch nicht so ohne weiteres abschaffen. Der Kampf gegen Zwangsprostitution muss deswegen über die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen gehen.  Dementsprechend ist es natürlich auch nötig, eine Massenbewegung aufzubauen, in welcher Sexarbeiter:innen Seite an Seite mit allen Unterdrückten gemeinsam für das Ende von Kapitalismus und Patriarchat kämpfen können, ohne stigmatisiert zu werden.




Pflegenotstand in Österreich

von Aventina Holzer,  Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Österreich ist ein Land, das nicht unbedingt für seine Arbeitskämpfe berühmt ist. Aber die drohende Krise und speziell die Covidpandemie mit ihren Auswirkungen für den Reproduktionssektor haben vermehrt dazu geführt.

Speziell in der Pandemie wurde viel Aufmerksamkeit auf die Pflege und andere Krankenhausmitarbeiter:innen gelegt, die unter sehr schwierigen Arbeitsbedingungen essenzielle Tätigkeiten verrichten. Neben diesen wurde auf den Pflegenotstand aufmerksam gemacht. So werden bis 2030 76.000 zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht sowie bessere Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie gefordert. Es gibt momentan auch Kampagnen, die verlangen, dass Pflege als Schwerstarbeit kategorisiert wird, um die tatsächlichen Auswirkungen der Arbeit aufzuzeigen.

Die Wiener Partei LINKS, in der die Genoss:innen des Arbeiter*innenstandpunkts aktiv sind, hat zur Unterstützung dieser Arbeitskämpfe eine Kampagne gestartet, in der versucht wird, die Situation in der Pflege im Spital mit der der häuslichen zu verbinden und aufzuzeigen, was hier alles falsch läuft.

Das sind aber nicht die einzigen Aktivitäten im Reproduktionsbereich in Österreich. Im letzten Jahr streikten Elementar- und Freizeitpädagog:innen mehrmals, um gegen Personalmangel, fehlende Ressourcen und Gelder für Erziehung und die schlechte Bezahlung anzukämpfen. Die Forderungen richten sich auch konkret an die türkis-grüne Regierung. Die korrupte, türkise und rechtskonservative Volkspartei steht schon seit Jahren auf Kriegsfuß mit der öffentlich-staatlichen Förderung von Bildung. Die Grünen opfern ihre Versprechen dem Erhalt ihre Regierungssitze. Bemerkenswert ist, dass die Streiks ausstrahlten und immer mehr Sektoren und zusammenhängende Bereiche gemeinsam in den Ausstand treten.

So fand am 8. November 2022 ein Streiktag der Sozialwirtschaft Österreich statt, wo von der Pflege bis hin zur Nachmittagsbetreuung viele Arbeiter:innen des sozialen (und reproduktiven) Bereichs auf die Straße gegangen sind und bessere Kollektivvertragsabschlüsse gefordert haben. Von den geforderten 15 % wurden 8 % zugestanden. Angesichts einer Inflationsrate von 8,6 % im Jahr 2022 bleibt dieser Abschluss jedoch unter der aktuellen Preissteigerung. Es kommt daher nicht nur darauf an, weiter die Kämpfe auf die Straße zu bringen und sie miteinander zu verbinden. Notwendig ist ein politischer, unbefristeter Massenstreik für die automatische Anpassung der Löhne und Gehälter, der Renten und anderen Transferleistungen an die Preissteigerung – kontrolliert von demokratisch gewählten Ausschüssen der Beschäftigten.




Frauengesundheit: Who cares?

von Resa Ludivien,  Artikel aus der FIGHT 2023, unserer Zeitung gemeinsam mit der Gruppe Arbeiter:innenmacht (und anderen Sektionen der LFI) zum 8. März 2023

Im Carebereich arbeiten mehrheitlich Frauen. Wir sind die Ersten in der Familie, die angerufen werden, wenn mal wieder jemand kränkelt oder emotionale Arbeit geleistet werden muss. Aber wer denkt eigentlich an uns?

Vielfältige Aspekte der Frauengesundheit

Frauengesundheit umfasst vieles. Neben dem Zugang zu Medikamenten, der körperlichen Unversehrtheit und Schutz vor Gewalt betrifft sie auch die sexuelle Gesundheit. Gemeint ist damit neben dem Zugang zu Verhütungsmitteln, der Aufklärung über sexuell übertragbare Krankheiten auch die Sicherstellung medizinischer Versorgung bei Geburten.

In Zeiten der Krise werden diese Angebote geringer und konservative Ideologien sind auf dem Vormarsch. Hinzu kommen teilweise enorme Staatsschulden, vor allem in Halbkolonien. Schauen wir beispielsweise nach Afghanistan, so ist die Ausgangslage der Frauen auch beim Thema Gesundheit verheerend. Nicht nur, dass sie nach der Machtübernahme der Taliban aus weiten Teilen der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Durch die unsichere Lage haben sich auch westliche Hilfsorganisationen (NGOs) weitestgehend zurückgezogen. Vor Ort ist nicht mal mehr die alltägliche Nahrungsmittelversorgung gewährleistet. Wie soll Mädchen und Frauen dann noch Schutz vor sexualisierter Gewalt oder eine sichere Geburt ermöglicht werden?

Auch die weltweite Coronapandemie hat uns relativ schnell gezeigt, dass besonders Frauen und ihre Gesundheit wenig im Fokus stehen. Neben der Mehrfachbelastung durch Lohn- und Reproduktionsarbeit barg die Zeit in Isolation und Lockdown für uns Frauen noch eine besondere Gefahr: häusliche Gewalt. Frauen, die in solch einer Situation leben, konnten diesem Umfeld kaum bzw. überhaupt nicht entfliehen oder sich entsprechende Hilfe suchen. Zusätzlich führte der gesamtgesellschaftliche Stress in der Pandemie dazu, dass häusliche Gewalt generell angestiegen ist. Doch auch ohne Pandemie bestehen viele weitere Faktoren, welche die Gesundheit von Frauen bedrohen. Denken wir allein an die vielen Betroffenen sexualisierter Gewalt und deren  Auswirkungen auf Körper und Psyche.

Auch der Zugang zu Medikamenten und allgemeiner Gesundheitsversorgung ist für Frauen generell schlechter als für Männer und nimmt in Krisenzeiten weiter ab. So konnte man beispielsweise inmitten der Coronapandemie einen deutlichen Anstieg der Müttersterblichkeit um bis zu 30 % verzeichnen. Gründe hierfür waren überlastete Krankenhäuser, Mangel an Hebammen oder schlicht ein unzureichendes und nicht flächendeckendes Gesundheitssystem. Auch Rassismus im Kreissaal ist häufig anzutreffen. So ist die Sterblichkeit schwarzer Frauen während der Geburt in den USA doppelt so hoch wie bei weißen, unabhängig von weiteren Faktoren wie etwa dem Einkommen. Hinzu kommt, dass Hilfsangebote zu Schwangerschaftsvorsorge und Familienplanung ebenso wie  Anlaufstellen zur Beratung bei Schwangerschaftsabbrüchen oder Fällen von körperlicher/sexualisierter Gewalt deutlich reduziert wurden. In vielen Ländern gibt es nach wie vor für Mädchen und Frauen keinen gesicherten Zugang zu Verhütungsmitteln oder der „Pille danach“. Zusätzlich kommt hinzu, dass geschlechtsspezifische Symptomatiken bei verschiedenen Krankheiten noch kaum beachtet werden. Beispielsweise werden bei Frauen weitaus häufiger Herzinfarkte übersehen, weil hier meist der charakteristisch ausstrahlende Schmerz fehlt.

Neben dem Geschlecht und der Klassenzugehörigkeit spielt leider auch die Hautfarbe häufig eine Rolle. Viele Mediziner:innen sind noch bis vor kurzem davon ausgegangen, dass schwarze Menschen ein geringeres Schmerzempfinden hätten. Dies führte meist zu einem ungenügenden Zugang zu ausreichend starken Schmerzmitteln während Behandlungen im Krankenhaus.

Inflation und steigende Preise

Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind wir weltweit mit Inflation und steigenden Preisen konfrontiert. So beträgt sie im Iran derzeit rund 51 %, in der Türkei erreichte sie im November 2022 sogar mehr als 84 %. Auch hier sind wir Frauen mal wieder besonders hart betroffen. Sich bei hohen Lebensmittelpreisen im Krankheitsfall Medikamente leisten zu können, wird für Arbeiter:innen immer schwieriger. Vor allem auch deshalb, weil Frauen im Zuge der Pandemie deutlich häufiger von Entlassungen betroffen waren als Männer. Zusätzlich begegnen uns derzeit an jeder Ecke Lieferengpässe. Besonders präsent waren sie vor Weihnachten in den Medien, als Fiebermittel für Kinder, aber auch weitere Schmerzmittel knapp wurden. Etwas, das man in Deutschland bisher so nicht kannte. Ursache hierfür sind globale Logistik und die herrschende Wertschöpfungskette. Die Produktion günstiger Inhaltsstoffe, wie Ibuprofen oder verschiedener Antibiotika, wird meist nach Asien ausgelagert. Die wertschöpfenden Schritte am Ende, z. B. Abfüllung und Verpackung, finden dagegen weiterhin in den westlichen Industriestaaten statt. In manchen Ländern wie dem Iran erschweren zusätzlich Sanktionen den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten.

Gesundheit im Kapitalismus

Zunächst einmal arbeiten Pharmakonzerne im Kapitalismus natürlich profitorientiert. Das heißt, dass sich die Erprobung und Testreihen an der gesellschaftlich herrschenden Gruppe orientieren: weiße cis-Männer. Die Verträglichkeit von Medikamenten wird an ihnen erprobt, Frauen oder gar Kinder werden bei der Entwicklung von neuen Medikamenten kaum berücksichtigt. Hier benötigen wir eine geschlechtsspezifische Medikamentenentwicklung. Die Betonung von „Cis“ ist in diesem Kontext wichtig, weil queere Menschen nicht nur beim regulären Besuch von Arztpraxen und Krankenhäusern ständiger Diskriminierung ausgesetzt sind, vom Blutspenden über das Infragestellen der geschlechtlichen Identität. Ebenso sind die Behandlungskosten häufig sehr hoch und muss deren Bezahlung in langen Prozessen erstritten werden. In halbkolonialen Ländern kommen noch ihre Verfolgung und Unterdrückung dazu, die sie häufig komplett von der Gesundheitsversorgung ausschließen.

Eine Ursache für die angesprochenen Probleme für Frauen und queere Menschen ist zum einen deren besondere Stellung innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise. Im Kapitalismus existiert eine Trennung zwischen gesellschaftlicher Produktion und der im Privaten meist von Frauen geleisteten Reproduktionsarbeit. Dies führt zu einem deutlich schlechteren Zugang zum Arbeitsmarkt, geringeren Löhnen und häufig zu einer finanziellen Abhängigkeit vom Partner. Hinzu kommt, dass durch die geschlechtsspezifische Rollenverteilung vorherrschende Stereotype weiter reproduziert werden. Kapitalismus ist daher, auch aufgrund globaler Konkurrenz, eng mit Sexismus und Rassismus verwoben. Hinzu kommt, dass im Gesundheitswesen deutlich weniger Profit generiert werden kann und daher die Kosten hierfür gerne auf die Gesamtgesellschaft abgewälzt werden. Um die angesprochenen Ursachen zu beseitigen, muss der Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen mit dem gegen den Kapitalismus verbunden werden. Wir brauchen ein Gesundheitssystem unter Arbeiter:innenkontrolle, welches sich nicht an Profiten, sondern an den tatsächlichen Bedürfnissen orientiert. Die Pharmaindustrie muss enteignet und ebenfalls unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt werden. Die bestehenden Patente müssen enteignet und nationale Produktionsstätten in Halbkolonien aufgebaut werden. Ebenso sind Ausbau und Förderung von Gendermedizin mit Berücksichtigung aller unterdrückten Gruppen der Gesellschaft unter Arbeiter:innenkontrolle von zentraler Bedeutung.